Kleine Dramen - Arno Holz - E-Book

Kleine Dramen E-Book

Arno Holz

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Beschreibung

Dieser Band enthält die folgenden dramatischen Werke des deutschen Schriftstellers: Die Familie Selicke Sozialaristokraten Traumulus Arno Holz, der 1929 in berlin verstarb, war insgesamt neunmal für den Nobelpreis für Literatur nominiert. Sein bekanntestes Werk ist wohl die Gedichtsammlung "Phantasus".

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Kleine Dramen

Arno Holz / Johannes Schlaf/ Oskar Jerschke

Inhalt:

Arno Holz – Biografie und Bibliografie

Die Familie Selicke

Personen.

Erster Aufzug

Zweiter Aufzug

Dritter Aufzug

Sozialaristokraten

Personen.

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Vierter Akt

Fünfter Akt

Traumulus

Personen.

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Vierter Akt

Fünfter Akt

Kleine Dramen, A. Holz

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849628253

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Dieses Werk bzw. Inhalt und Zusammenstellung steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Die Details der Lizenz und zu der Weiterverwertung dieses Werks finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/. Der Inhalt und die Zusammenstellung oder Teile davon wurden der TextGrid-Datenbank entnommen, wo der Inhalt und die Zusammenstellung oder Teile davon ebenfalls unter voriger Lizenz verfügbar sind. Eine bereits bestehende Allgemeinfreiheit der Texte bleibt von der Lizensierung unberührt.

Arno Holz – Biografie und Bibliografie

Dichter und Schriftsteller, geb. 26. April 1863 zu Rastenburg in Ostpreußen, verstorben am 26. Oktober 1929 in Berlin. Für seine Liedersammlung »Klinginsherz« (1883), in der sich Schönheitsstreben im Sinne der ältern Kunst verriet, und »Das Buch der Zeit, Lieder eines Modernen« (Zürich 1885; 2. Aufl., Berl. 1892) erhielt er von der Augsburger Schillerstiftung Preise zuerkannt. Aber als Bekenner des »konsequenten Realismus«, wie er seine Kunstrichtung nannte, wandte sich H. der extremsten, ungeläuterten Wirklichkeitsdichtung zu, mit der er nach dem kurzen Lärm, den seine Theorien machten (»Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze«, Berl. 1891; neue Folge 1893), fast allein blieb. Literarhistorisch bedeutsam war der »konsequente Realismus« nur deswegen, weil er den Stil der ersten Dramen Gerhart Hauptmanns bestimmte, der ihn in H. ' Erzählung »Papa Hamlet« (1889) kennen lernte. H. veröffentlichte ferner: »Deutsche Weisen« (mit Oskar Jerschke, Berl. 1884); das Gedenkbuch »Emanuel Geibel« (das. 1884); das Drama »Die Familie Selicke« (mit Johannes Schlaf, das. 1890); »Neue Gleise« (mit demselben, das. 1891); »Der geschundene Pegasus« (mit Bildern von Joh. Schlaf, das. 1892); »Berlin. Das Ende einer Zeit in Dramen. Sozialaristokraten« (Rudolst. 1896). Seine Schrift »Revolution der Lyrik« (Berl. 1899), worin er formloser Unkunst das Wort redete, erfuhr lebhaften Widerspruch. Auf die beiden Hefte »Phantasus« (Berl. 1898–99) und eine heftige Streitschrift gegen »Dr. Richard M. Meyer« (das. 1900) folgten eine Absage gegen seine einstigen Strebensgenossen: »Johannes Schlaf. Ein notgedrungenes Kapitel« (das. 1902) und »Die Blechschmiede« (Leipz. 1902), endlich die »Lieder auf einer alten Laute« (das. 1903), »Aus Urgroßmutters Garten. Ein Frühlingsstrauß aus dem Rokoko« (Dresd. 1903) und »Dafnis. Lyrisches Porträt aus dem 17. Jahrhundert« (Münch. 1904). Mit Oskar Jerschke schrieb er »Traumulus« (Münch. 1905), eine sogen. tragische Komödie, in der die Verblendung und schließliche Aufklärung eines allzu vertrauensseligen Schulmanns ergreifend geschildert wird. Einseitige Theorien und vielfache Polemik haben die gesunde Entwickelung von H.' starkem Talent zeitweilig geschädigt.

Die Familie Selicke

Drama in drei Aufzügen

Personen.

Eduard Selicke, Buchhalter.

Seine Frau.

Toni, 22 Jahre alt,

Albert, 18 Jahre alt,

Walter, 12 Jahre alt,

Linchen, 8 Jahre alt, ihre Kinder.

Gustav Wendt, cand. theol. Chambregarnist bei ihnen.

Der alte Kopelke.

Zeit: Weihnachten. Ort: Berlin N.

Erster Aufzug

Das Wohnzimmer der Familie Selicke.

Es ist mäßig groß und sehr bescheiden eingerichtet. Im Vordergrunde rechts führt eine Tür in den Korridor, im Vordergrunde links eine in das Zimmer Wendts. Etwas weiter hinter dieser eine Küchentür mit Glasfenstern und Zwirngardinen. Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, großgeblumtes Sofa ein, über welchem zwischen zwei kleinen, vergilbten Gipsstatuetten »Schiller und Goethe« der bekannte Kaulbachsche Stahlstich »Lotte, Brot schneidend'« hängt. Darunter im Halbkranze, symmetrisch angeordnet, eine Anzahl photographischer Familienporträts. Vor dem Sofa ein ovaler Tisch, auf welchem zwischen allerhand Kaffeegeschirr eine brennende weiße Glaslampe mit grünem Schirm steht. Rechts von ihm ein Fenster, links von ihm eine kleine Tapetentür, die in eine Kammer führt. Außerdem noch, zwischen den beiden Türen an der linken Seitenwand, ein Tischchen mit einem Kanarienvogel, über welchem ein Regulator tickt, und, hinten an der rechten Seitenwand, ein Bett, dessen Kopfende, dem Zuschauerraum zunächst, durch einen Wandschirm verdeckt wird. Am Fußende des Bettes, neben dem Fenster, schließlich noch ein kleines Nachttischchen mit

Medizinflaschen. Zwischen Kammer- und Küchentür ein Ofen; Stühle.

FRAU SELICKE etwas ältlich, vergrämt, sitzt vor dem Bett und strickt. Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer, Hornbrille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause. Seufzend. Ach Gott ja!

WALTER noch hinter der Szene, in der Kammer. Mamchen?! Frau Selicke hat in Gedanken ihren Strickstrumpf fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der Tasche, bückt sich drüber und schneuzt sich.

WALTER steckt den Kopf durch die Kammertür. Pausbacken, Pudelmütze, rote, gestrickte Fausthandschuhe. Mamchen? darf ich mir noch schnell 'ne Stulle schneiden?

FRAU SELICKE ist zusammengefahren. Ach, geh, du ungezogner Junge! Erschrick einen doch nich immer so! Ist aufgestanden und an den Tisch getreten, auf den sie ihre Brille legt. Kannst du denn auch gar nich 'n bißchen Rücksicht nehmen?! Siehst du denn nich, daß das Kind krank ist?

WALTER ist unterdessen aufs Sofa geklettert und trinkt nun nacheinander die verschiedenen Kaffeereste aus. Den Zucker holt er sich mit dem Löffel extra raus. Aber ich hab doch noch solchen Hunger, Mamchen?

ALBERT ebenfalls noch hinter der Szene, in der Kammer, deren Tür jetzt welt aufsteht. Man sieht ihn vor einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt. Knüpft sich grade seine Krawatte um. Hemdärmel. Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber 'n Katzenkopp un denn is jut!

FRAU SELICKE die jetzt Walter die Stulle schneidet. Na, du, Großer, sei doch man schon ganz still! Du verdienst ja noch alle Tage welche! Ich denk, ihr seid überhaupt schon lange weg?

ALBERT ärgerlich. Ja doch! Gleich! Aber ich wer' mir doch wohl noch erst den Rock abbürschten können?

FRAU SELICKE. Na ja, gewiß doch! Steh du man immer recht vorm Spiegel und vertrödle recht viel Zeit! Da werd't ihr ja euern lieben Vater sicher noch finden! Der wird heute grade noch auf 'm Kontor sitzen!

ALBERT. Ach Jott! Nu tu doch man nicht wieder so! Vor sechs kann er ja doch heute sowieso nich aus 'm Geschäft!

FRAU SELICKE. So! Na! Und wie spät denkste denn, daß es jetz' is? Hat während des Streichens der Stulle einen Augenblick innegehalten, den Schirm von der Lampe gerückt und nach dem Regulator gesehen. Jetz' is gleich drei Viertel!

ALBERT. Ach, Unsinn? Die jeht ja vor!

FRAU SELICKE für sich, fast weinend. Hach nee! Ich sag schon! Sicher is er nu wieder weg, und vor morgen früh wer'n wir 'n ja dann natürlich nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann! So ein Mann! ...

ALBERT noch immer in der Kammer und vorm Spiegel. Hurrjott, Mutter! Räsonier doch nicht immer so! Du weißt ja noch gar nich!

FRAU SELICKE. Ach was! Laß mich zufrieden! Beruf mich nich immer! Ich weiß schon, was ich weiß! Unwirsch zu Walter. Da – haste! Klapp se dir zusammen und dann macht, daß ihr endlich fortkommt! Aus euch wird auch nischt! Es klingelt. Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der Tür, die ins Entree führt.

FRAU SELICKE endlich. Na? Machste nu auf, oder nich?

Walter hat die Stulle liegenlassen und läuft auf die Tür zu. Er klinkt diese auf und verschwindet im Entree.

ALBERT der eben aus der Kammer getreten ist, in der er das Licht ausgelöscht hat, zieht sich noch gerade seinen Überzieher an. Aus der Brusttasche stecken Glacés, zwiscben den Zähnen hält er eine  brennende Zigarette, an einem breiten, schwarzen Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern gescheitelt. Hut und Stöckchen hat er einstweilen auf den Stuhl neben dem Sofa plaziert. Zu Frau Selicke, indem er mit dem Fuße die Tür hinter sich zudrückt. Nanu? Das kann doch unmöglich schon der Vater sein?

FRAU SELICKE die sich wieder mit dem Kaffeegeschirr zu tun macht, unruhig. Ach wo!

Unterdessen ist draußen die Flurtür aufgegangen, und man hört die Stimme des alten Kopelke: »Brrr ... is det heit 'n Schweinewetter?!« – Die Tür klappt wieder zu, und jetzt schreit Walter laut auf, ausgelassen: »Ach! Olle Kopelke! Olle Kopelke!« – »Nich doch, Kind, nich doch; du tust mir ja weh! Du drickst mir ja! Du mußt doch abber ooch heern! Da – nimm mir mal lieber hier 'n bißken det Menneken ab! ... Brrr ... nee ... äh!«

ALBERT zu Frau Selicke, sich die Handschuhe zuknöpfend. Ach, der alte Quacksalber?!

FRAU SELICKE. Na, du Großmaul, wirst doch nich immer gleich das Geld geb'n für 'n Dokter!

ALBERT aufgebracht. Ach, Blech! Nich wahr? Nu fang wieder davon an! ...

WALTER noch halb im Entree. Au, Mamchen, sieh mal! 'n Hampelmann! Mamchen, 'n Hampelmann!  Er kommt mit ihm ins Zimmer getanzt. Zum alten Kopelke zurück. Wah? Den schenken Se mir?

KOPELKE behutsam hinter ihm drein. Klein, kugelrund, freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasiert. Sammetjoppe, Pelzkappe, Wollschal. Sachteken! Sachteken!

ALBERT hat sich den Stock schnell unter den Arm geklemmt und sich den Kneifer aufgesetzt, affektiert. Ah, gut'n Abend, Herr Kopelke!

KOPELKE. 'n Abend! 'n Abend, junger Herr! Reicht Frau Selicke die Hand. 'n Abend! Nach dem Bett hin. Na? Und meene kleene Patientin? Ick muß doch mal sehn kommen?

FRAU SELICKE weinerlich. Ach Gott ja! Na, ich kann wohl schon sagen!

KOPELKE sie beruhigend. Ach wat, wissen Se! Det ... det ... e ...

WALTER hat sich unterdessen mit seinem Hampelmann abgegeben, ihm die Zunge gezeigt, »Bah!« zu ihm gemacht und tänzelt nun mit ihm um den alten Kopelke rum, diesen unterbrechend. Olle Kopelke! Olle Kopelke!

KOPELKE sanft abwehrend. Ach, nich doch, Kind! Det 's jo unjezogen! Du mußt nich immer Olle Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!

WALTER Rübchen schabend. Oh ...! Olle Kopelke! ...

ALBERT. Hörst du denn nich, du Schafskopp? Du sollst still sein!

WALTER den Ellbogen gegen ihn vor. Nanu? Du hast mir doch jar nischt zu sagen?

Albert holt mit der Hand aus.

FRAU SELICKE mit dem Strickstrumpf, den sie unterdessen wieder aufgenommen hat, dazwischen. Nein! Nein! Nun sehn Sie doch bloß! Die reinen Banditen! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!

ALBERT der sich achselzuckend wieder abgewandt hat. Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch immer! Dem läßt du ja alles durchgehn! Der kann ja machen, was er will! Aus dem Bürschchen erziehst du ja schon was Rechtes! Vater hat janz recht!

FRAU SELICKE. Nein! Nein! Nu hören Se doch bloß! Und da soll man sich nich gleich schlag rührend ärgern?

KOPELKE zu Albert. Sachteken, werter junger Herr, sachteken ... Zu Frau Selicke. Immer in Jiete, Mutter! Det ville Jehaue un det ville Jeschumpfe nutzt zu janischt, zu reen janischt! ... Ibrijens ... Er hat sich mitten in die Stube gestellt und schnuppert nun nach allen Seiten in der Luft rum. ... wat ick doch jleich noch sagen wollte ... det ... det ... riecht jo hier so anjenehm nach Kaffee? ... Hm! Pf! Brrr! ... Nee, dieset Schweinewetter?! Ick bin – wahrhaftijen Jott – janz aus de Puste! Er hat sich seinen großen, dicken Wollschal abgezerrt und schlenkert ihn nun nach allen Seiten um sich rum. Kopp weg! Zu Walter, den er dabei getroffen hat. He? Wah det deine Neese?

WALTER der sich den Schnee von den Backen wischt, vergnügt lachend. Hohohoo!

ALBERT bereits äußerst ungeduldig, den Hut in der Hand.Na, jedenfalls ich jeh jetzt! Wir kommen ja sonst wahrhaftig noch zu spät!

FRAU SELICKE. Ja, ja! Macht man, daß ihr fortkommt!

KOPELKE zu Albert. Aha! Wol zu Papa'n uf 't Kontor?

ALBERT ausweichend. Ach! Ja! Das heißt ... eh ... wir wollten so ... bloß 'n bißchen vorbeijehn!

KOPELKE ihm mit einer Handbewegung gutmütig zublinzelnd, verschmitzt. Weeß schon! Zu Frau Selicke, halb ins Ohr. Edewachten kenn ick doch? ... Wieder zu Albert. Na, denn ... eh ... denn beeilen sick man! So wat looft weg!

ALBERT schon unter der Tür stehend zu Walter, der sich eben seinen Hampelmann an die Jacke knöpft. Na, willst nu so jut sein oder nich?

WALTER gibt dem alten Kopelke die Hand. Atchee!

KOPELKE. Atchee, mein Sohn, Atchee! Un jrieß ooch Vatern!

FRAU SELICKE. Na, und die Stulle? Reicht sie ihm noch schnell nach, Walter beißt sofort in sie hinein. Und dann, sagt, er soll gleich hierherkommen! Sagt, Toni is auch schon da! Wir warten schon!

Albert hat die Tür bereits aufgeklinkt und macht nun zum alten Kopelke hin eine stumme, zeremonielle Verbeugung.

KOPELKE. War mich sehr anjenehm, werter junger Herr! War mich sehr anjenehm!

Die beiden verschwinden. Draußen im Entree schlägt Walter hin. Schreit. Albert: »Na, du Ochse!«

FRAU SELICKE. Ei Herrgott! Was is denn nu schon wieder ... Will auf die Korridortür zu, draußen schlägt die Flurtür zu. Hach! Gott sei Dank, daß man die Gesellschaft endlich los ist!

KOPELKE sich die Hände reibend, schmunzelnd. Jo! Wah is't! 'n bißken wiewe sind se! Abber – Jotteken doch! Det is doch nu mal nich anders! Det ...

Vom Bett her Geräusch und Husten.

FRAU SELICKE wirft ihr Strickzeug in das Kaffeegeschirr und eilt auf das Bett zu. Ach, nein! Ich sag schon! Nu haben sie ja das arme Kind glücklich wieder wachkrakeelt! ... Na, mein liebes Herzchen? ... Wie ist dir, mein liebes Linchen, he? Kleine Pause. Frau Selicke hatte sich übers Bett gebeugt, leises Stöhnen. Hast du Schmerzen, mein liebes Puttchen?

LINCHEN feines, rührendes Stimmchen. Ma – ma – chen?

FRAU SELICKE. Ja, mein Herzchen? Hm?

LINCHEN. Ma – ma – chen?

FRAU SELICKE. Hast du Appetit, mein Schäfchen? ... Nein? Ach, du mein Mäuschen!

LINCHEN. Ich – bin – so – müde ...

FRAU SELICKE. Ach, mein Herzchen! Aber, nicht wahr? Du willst jetzt noch einnehmen?! Onkel Kopelke ist ja da!

LINCHEN. On – kel – Ko – pel – ke?

Kopelke hat sein rotbaumwollenes Schnupftuch gezogen und schneuzt sich.

FRAU SELICKE halb zu ihm zurückgewandt. Wollen Sie se mal sehn? Ich misch solange die Tropfen! Läßt ihn ans Kopfende treten und mischt während des Folgenden am Fußende des Bettes, auf dem Nachttischchen, die Medizin.

KOPELKE hat sich jetzt ebenfalls über das Bett gebeugt. Täppisch-zärtlich. Na, Lin'ken? Kennste mir noch? Ach Jotteken doch, die Ärmken! Nich wah? Det – watt doch mal, Kind, 'n Oogenblickchen! – Det ... tut doch nich weh? ... Na, sehste!! Ick sag ja! Det ... det is allens man auswendig! Det 's janich so schlimm! Uf de Woche kannst all dreist widder ufstehn! Denn jehste for Mama'n bei'n Koofmann! Denn jehste mit ihr uf 'n Marcht! Inholen! He? Weeßte noch? Uf 'n Pappelplatz? Der mit 't Schielooge? »Jungens«, sag ick, »Bande! Wer't ihr wol det Meechen sind lassen?« Abber da?? Heidi! Wat haste, wat kannste! ... Nich wah? Nu nehmste abber ooch sauber in? Zu Frau Selicke, während er diese ans Bett treten läßt. Wat de Kind bloß for 'n Schwitz hat?!

FRAU SELICKE besorgt. Nich wahr? Ach Gott ja!

KOPELKE beruhigend. Abber det ... eh ... wissen Se! ... Det ... det is immer so! Det is nu mal nich anders! Det ... Schneuzt sich abermals.

FRAU SELICKE kommt mit dem Löffel. Na, Linchen? Ist dir wieder besser?

LINCHEN. Ach – ich – will – nicht – einnehmen!

FRAU SELICKE. O ja, meine Kleine! Du willst doch wieder gesund werden!

LINCHEN. Es – schmeckt – so – bitter!

FRAU SELICKE. Nicht weinen, mein Schäfchen! ... Komm! ... Sonst zankt der Herr Doktor wieder! Nicht wahr, Onkel Kopelke?

KOPELKE eifrig nickend. Ja, ja, Kindken! Det muß nu mal so sind! Det jeheert sick!

FRAU SELICKE. Nicht wahr? Hörst du? Komm mein Liebling! Ja?

LINCHEN. Es – schmeckt – so – bitter!

FRAU SELICKE. Aber nachher kannst du ja wieder spazierengehn, mein Mäuschen?! Und Emmchen zeigt dir auch ihre Bilderbücher! Ja? ... Komm! ... Na, nu mach doch, Linchen! ... Du mußt doch aber auch folgen! ... Gucke doch! ... Ich verschütte ja das ganze Einnehmen? ... Sie hat ihr leise die Hand unters Köpfchen geschoben.

LINCHEN. Au! Au! ... Du – ziepst – mich!

FRAU SELICKE. Oh! ... Na so! ... Nicht wahr? ... Fest! Drück die Augen zu! ... Schlucke! Tüchtig! ... Siehst du? ... Nicht weinen, nicht weinen! ... So! Nicht wahr? Nu is alles wieder gut! Nu is alles vorbei!

LINCHEN dreht sich jetzt unruhig in ihren Kissen rum und hustet gequält.

FRAU SELICKE. Mein armes, armes Herzchen! Der alte, böse Husten! ... So! ... Nu rücken wir bloß noch 'n bißchen das Kissen höher, nicht wahr? Und dann schläfst du schön wieder ein! Bückt sich über sie und küßt sie. Ach, du mein süßes Puttchen! Nachdem sie den Wandschirm jetzt noch näher ans Bett gerückt, zum alten Kopelke. Ach, Gott nein! Nu sagen Se doch bloß? Muß man da nich rein verzweifeln? Das geht nu schon tagelang so! Sie wacht geradezu nur noch auf Minuten auf!

KOPELKE die Hände in den Taschen seiner Joppe, nachdenklich vor sich hin. Hm! ...

FRAU SELICKE. Und aus dem Doktor wird man auch nicht mehr klug! Der sagt einem ja nichts! Der kommt kaum noch! Und ... und ... na ja, wenn wir Sie nicht noch hätten ...

KOPELKE leichthin. Jo! ... na! ... Wissen Se: Det kommt jo bei mir nich so druf an! Begütigend. Det verseimt mir jo weiter nich! Det's jo man immer so in Vorbeijehn! Det – ach wat! Det hat jo janischt zu sagen! Det's jo Mumpitz!! ... Abber det, wissen Se, det mit die Dokters, verstehn Se, da hab'n Se eejentlich wol nich so janz unrecht! Ick ... nu ja! Se wissen ja! Ick bin man sozusagen 'n janz eenfacher Mann ... Abber det kann 'k Ihn' versichern: jeholfen hab 'k schon manchen! ... Jott! Ick kennt jo wat bei verdienen! Wat mee'n Se woll! Abber sehn Se ... will 'k denn? Ick ... nu ja! Ick bin nu mal so! Eifrig. Wissen Se? De Hauptsach is jetz': man immer scheen warm halten! Det ibrije, verstehn Se, det ibrije jibt sick denn janz von alleene! Janz von alleene! Ick sag: man bloß nich immer so ville mang der Natur fuschen, sag ick! ... Det mit die olle Medizin da zum Beispiel ...

Es klopft an Wendts Tür.

FRAU SELICKE. Bitte, Herr Wendt, bitte! Treten Sie nur ein!

WENDT ist mehr als mittelgroß und sehr schlank. Feine, bleiche Gesichtszüge, das halblange, schwarze Haar einfach hintenübergekämmt. Dunkle, peinlich saubere Kleidung, kein Pastoralschnitt. Die Tür hinter sich schließend zu Frau Selicke. Verzeihen Sie! Ich dachte ... Zum alten Kopelke, ihm die Hand reichend. Ah! 'n Abend, Herr Kopelke! Wie geht's?

KOPELKE geschmeichelt. 'n Abend, werter junger Herr! Och, ick danke! Immer noch uf een langet un een kurzet Been! ... Is mich sehr anjenehm ... is mich sehr anjenehm ... Hört nicht auf, Wendts Hand zu schütteln.

WENDT zu Frau Selicke rüber. Fräulein Toni wollte doch heute etwas früher kommen?

FRAU SELICKE die Achseln zuckend. Ja! Na – Sie wissen ja! Wie das so is!

KOPELKE Wendt zublinzelnd und ihm scherzhaft mit dem Finger drohend. Freilein Toni? Na, wachten Se man, Sie kleener Scheeker! ... Frau Selicken? Ick sage: passen Se mir ja uf die beeden jungen Leite uf! Wieder zu Wendt. Det is mich doch schon lange so? ... he? Sie?

FRAU SELICKE lächelnd. Ach, lieber Gott, ja!

WENDT der ebenfalls gelächelt hat, zum alten Kopelke. Na, aber Scherz beiseite! Ich wollte ihr mal – da sehn Sie mal! – das da zeigen! Er hat ein großes, zusammengeknifftes Papier aus der inneren Brusttasche gezogen und es dem alten Kopelke überreicht.

KOPELKE. Oh! ... He! ... Na – ick ... eh ... Se meen'n, ick soll det hier – lesen, meen'n Se?

WENDT aufmunternd. Gewiß, gewiß, Herr Kopelke! Ich bitte Sie sogar darum!

KOPELKE. Oh! ... He! ... Na, ick – bin so frei! Ist mit dem Papier zur Lampe getreten. Zu Frau Selicke. Man ... eh ... Hab'n Se da nich wo Ihre Brille, Frau Selicken?

FRAU SELICKE umhersuchend. Meine Brille? Ach Gott ja! Ich ...

KOPELKE. Lassen Se man, ick hab ihr schon! Setzt sie sich auf. So! Na! Nu kann't losjehn! Hat das Papier sorgfältig entfaltet und liest es nun, die Arme weit von sich weg. Nach einer kleinen Pause, über die Brille zu Wendt hinüberschielend. Nanu?

WENDT der ihn lächelnd beobachtet. Na?

FRAU SELICKE neugierig. Was denn?

WENDT lächelnd. Ja, ja, Frau Selicke!

FRAU SELICKE wie ungläubig. Ach?

KOPELKE hat das Papier unterdessen wieder sorgfältig zusammengefaltet und gibt es nun wieder an Wendt zurück. In komischem Pathos. Nee, wissen Se! Det kennen Se von mir nich verlangen! Dazu jratulieren Se sick man alleene!

WENDT lachend, das Papier wieder einsteckend. Na, na!

FRAU SELICKE zum alten Kopelke. Was denn? Was denn, Herr Kopelke?

KOPELKE zu Frau Selicke, komisch. Paster! Land paster! Mit 'ne Bienenzucht un 'ne lange Pfeife! Wieder zu Wendt. Nee, wissen Se! Da kennen Se sagen, wat Se wollen, verstehn Se, abber for die Brieder sind Se ville zu schade!

FRAU SELICKE die Hände zusammenschlagend. Aber Herr Kopelke?!

KOPELKE. Ach wat! Hat sich wieder sein Schnupftuch hervorgezogen und schneuzt sich.

WENDT ihm vergnügt auf die Schulter klopfend. Na, lassen Sie man! 'n hübsches Weihnachtsgeschenk bleibt's doch! Was, Frau Selicke?

FRAU SELICKE immer noch ganz erstaunt. Ach, nein! ... wahrhaftig? Also Sie sollen jetzt wirklich Pastor werden?

WENDT. Nun ja! Und ... wie Sie sehn! Ich freue mich sogar von Herzen drüber!

FRAU SELICKE. Ach ja! Und Sie waren ja auch immer so fleißig! Ich habe Sie wahrhaftig manchmal recht bedauert! Wenn ich so denke, so die ganzen letzten Wochen, Tag und Nacht, immer hinter den Büchern ...

WENDT. Ach, ich bitte Sie! Was hing aber auch nicht alles davon ab? Alles! Alles! Geradezu alles! – Und dann, was ich Ihnen noch gleich sagen muß, ich reise jetzt natürlich nicht erst Drittfeiertag, sondern schon morgen!

FRAU SELICKE. Schon morgen?

WENDT. Ja! Na, die Sachen sind ja schon alle so gut wie gepackt, und ... e ... aber ich vergesse ganz! Zum alten Kopelke. Sie sprachen vorhin von Linchen?

KOPELKE. Ick? Nu ja! Ick.. det heest.. ick ... e ... Sieht zu Frau Selicke hinüber.

FRAU SELICKE. Aber setzen Sie sich doch, Herr Kopelke! Woll'n Se sich nicht setzen? Ich mach Ihnen noch schnell 'ne Tasse Kaffee!

KOPELKE zu Wendt. Hm ... ja ... sehn Se, ick ... Plötzlich zu Frau Selicke. 'ne Tasse Kaffee? In sich hineinschmunzelnd, sich vergnügt die Hände reibend. Hm! ... 'ne Tasse Kaffee is jo wat sehr wat Scheenet! Wat sehr wat Scheenet! ... Abber ... Nee, Frau Selicken! Nee! Heite nich! Det verlohnt sick nich! Wahhaftijen Jott! Abber ick muß heite noch unjelogen hinten in de Druckerei! ... Se wissen ja! Det mit die ollen, deemlichen Krankenkassen! ...

FRAU SELICKE nach der Küche hin. Na, denn werd ich wenigstens noch 'n paar Kohlen unterlegen! Mit einem Blick auf die Uhr. Toni muß ja jeden Augenblick kommen! Verschwindet durch die Küchentür, hinter der bald darauf Licht aufblitzt. 'n Augenblickchen!

KOPELKE mit krummgezogenem Puckel, sich schmunzelnd die Hände reibend. Scheeniken! Scheeniken!

WENDT langt seine Zigarrentasche vor. Aber ich darf Ihnen doch wenigstens 'ne Zigarre anbieten?

KOPELKE. Oh! ... He! ... Na! Ick bin so frei, von Ihr jietijet Anersuchen – mbf! – Jebrauch zu machen, werter, junger Herr! Abber.. e ... – Winkt Wendt zu sich heran; dieser beugt sich ein wenig zu ihm hin, Kopelke hält ihm die hohle Hand ans Ohr. – ... ick meen man! Ick beraube Ihnen!

WENDT. Oh, ich bitte Sie!

KOPELKE. Na, wissen Se! So 'n junger Student hat det ooch nich immer so dicke! ... Na, ick meen man!

WENDT. Junger Student?! Oho!

KOPELKE. Ach so! Blinzelt ihm zu. Na! Ibrijens bin ick darin durchaus keen Unmensch! Kneift sich mit den Fingernägeln die Spitze von der Zigarre und bückt sich über die Lampe. Abber ... nee, wissen Se! Mit einem Blick zum Bett hin. Ick weer' ihr man doch lieber draußen roochen! Se nehmen mir det doch nich iebel?

WENDT. Bewahre, Herr Kopelke! Im Gegenteil! Hier hätten Sie sie ja doch sowieso nicht rauchen können! Selbstverständlich!

KOPELKE. Ja, um denn – na ja! Wat ick also noch sagen wollte! ... Se meen'n mit det Kind, meen'n Se?

WENDT. Ja! Ich ... e ... Sie können sich ja denken, wie mich das unmöglich gleichgültig lassen kann! ... Der Arzt scheint sich ja, wenigstens soviel ich darüber weiß, überhaupt nicht äußern zu wollen ...

KOPELKE klopft sich mit der Zigarre auf dem Daumen herum. Ja, wissen Se! Offen jestanden! Abber det kann ick den Mann eejentlich janich verdenken! Denn, Se könn'n sagen, wat Se wollen – ick bin man sozusagen 'n janz eenfacher Mann, verstehn Se! Abber det kann 'k Ihn'n sagen: mit det Kind is 't retour jejangen! Schon wenn se een'n immer so anseht, verstehn Se! – wahhaft'jen Jott, abber so wat kann eenen durch un durch jehn!

WENDT finster. Hm ... Also Sie meinen, daß wirklich Gefahr vorliegt?

KOPELKE ausweichend. Jott! Det nu jrade! Det will ick nu jrade nich jesagt haben! Abber, wie det so is, verstehn Se! Et mangelt hier den Leiten an't Neethichste, wissen Se! Macht die Bewegung des Geldzählens. Die kennen ooch man nich immer so wie se wollen!

WENDT geht erregt ein paarmal auf und ab. Ach Gott, ja! ... Na! Es wird ja mal ... anders werden!

KOPELKE. Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag't ja wol noch jehn! Ja! Det liebe Jeld! ... Nehm'n Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uf'n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen'n Se woll?!.. Abber de Umstände, wissen Se! De Umstände! Et half nischt! Vater ließ mir Schuster weer'n! ... Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! ... Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so 'ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozusagen allens un janischt! ... Ja! ... Da bring 'k mal een'n durch 'n Prozeß, da wird mal 'n bißken jeschustert, dann mal mit de Homöopathie und denn mit det Silewettenschneidern, wie det jrade so kommt, verstehn Se! Ja! ... Freilich! Se haben alle nischt, die armen Deibels, den'n ick ...

Die Uhr schlägt sechs.

KOPELKE. Wat!? Sechsen schon?! Hurrjott! ... Wickelt  sich schnell den Schal um. ... den'n ick jeholfen hab, meen ick! ... Umhersehend. Hanschuh'n hat ick ja wol zufällig keene jehabt? ... Na, abber man krepelt sick so durch! Wendts Hand schüttelnd. Wah mich sehr anjenehm, werter junger Herr, wah mich sehr anjenehm! ... Dunnerwettstock, det wird ja die allerheechste Eisenbahn! Macht ein paar eilige Schritte auf die Korridortür zu, besinnt sich dann aber wieder und kehrt um. Na, ick kann ja denn ooch man jleich hintenrum! Schon in der Küchentür. Un denn, det ick det nich verjesse: Verjniegte Feierdage! Morjen frieh seh ick Ihn' doch noch?

WENDT. Oh, danke, danke! Natürlich!

KOPELKE. Scheeniken! Atchee! Klinkt die Küchentür auf. 'n Abend, Frau Selicken!

FRAU SELICKE hinter der Szene in der Küche. Was? Sie wollen schon gehn?

KOPELKE während er die Küchentür wieder hinter sich zudrückt. Na, wat meen'n Se woll? ...

WENDT einen Augenblick allein. Sieht sich zuerst aufatmend im Zimmer um und tritt dann vorsichtig an das Bett Linchens. Eine kleine Weile beobachtet er sie, dann klingelt es plötzlich im Korridor, und er geht hastig aufmachen. Ah, endlich!

Toni tritt ein. Sie trägt ein großes, in ein schwarzes Tuch eingeschlagenes Bündel vor sich her. – Sie ist mittelgroß, schlank, aber nicht schwächlich. Blond. Schlichter, ein wenig ernster Gesichtsausdruck. Einfaches, dunkles Kleid, langer, braungelber Herbstmantel. Schwarze, gestrickte Wollhandschuhe.

WENDT mit ihr zugleich eintretend und nach dem Bündel fassend. Geben Sie!

TONI abwehrend. Ach, lassen Sie ... ich kann ja ...

WENDT nimmt ihr das Paket ab. Geben Sie doch! Indem er es aufs Sofa trägt. Und das haben Sie vom Alexanderplatz bis hierher getragen?

TONI sich die Handschuhe ausziehend, nickt lächelnd. Etwas scherzhaft-wichtig. Getragen! Ja!

WENDT. Bei der ...?

TONI. Nun – ja! Es war etwas unbequem bei der Kälte! Hat die Handschuhe auf den Tisch zwischen das Kaffeezeug gelegt und tritt nun, indem sie sich ihren Mantel aufknöpfelt, an das Bett Linchens. Sie schläft? Ach, das arme Puttelchen! Ist wieder etwas zurückgetreten. Aber ... nein! Ich will doch erst lieber.. ich habe die Kälte noch so in den Kleidern! Zu Wendt, der ihr jetzt behilflich ist, den Mantel abzulegen. Danke, danke schön, Herr Wendt! Wollen Sie so gut sein, da an den Nagel? Reicht ihm auch noch ihren Hut hin und stellt  sich nun an den Ofen. Ach, ist der schön.

WENDT der unterdessen Hut und Mantel an die kleine Kleiderknagge zwischen der Korridortür und dem Wandschirm gehängt hat. Wissen Sie auch, Fräulein Toni, daß ich heute schon auf Sie gewartet habe?

TONI. Ach nein! Wirklich? Auf mich?

WENDT hat sich, die Arme gekreuzt, mit dem Rücken gegen den Tisch, ihr gegenübergestellt, aber so, daß das Licht der Lampe noch auf sie fällt. Ja! Und ... na? Raten Sie mal, weshalb.

TONI lächelnd. Ach, das rat ich ja doch nicht! Sagen Sie's mir lieber!

WENDT. Ja? Soll ich's sagen?

TONI. Ja!

WENDT zieht sich wieder das Papier aus der Tasche und reicht es ihr. Na ... da! Lesen Sie mal!

TONI. Was denn? Sie hat sich, noch immer am Ofen, mit dem Papier etwas gegen die Lampe gebückt und liest nun. Ah! Grade heute zum Heil'gen Abend! Hat das Papier sinken lassen und sieht einen kleinen Augenblick in die Lampe. Langsam, leise. Ja! Das ist ja recht schön! Da können Sie sich recht freuen!

WENDT. Nicht wahr?

FRAU SELICKE aus der Küche, deren Tür sie eben aufgemacht hat. Toni? Wo bleibst du denn solange? Mit einem Blick auf das Bündel auf dem Sofa. Ach, du hast wieder ... Armes Mädchen! ... Wart! Ich bring dir gleich noch 'n bißchen heißen Kaffee! Sie will wieder in die Küche zurück.

TONI die unterdessen das Papier auf den Tisch gelegt hat, auf sie zutretend. Mutterchen?! – Wart mal! ... Hier! Man hört Geld klappern. Eins – zwei – drei ...

FRAU SELICKE. Ach, Gott ja! ... Das liebe bißchen! ... das wird wieder weg sein, man weiß nicht, wie!

TONI. Ist denn der Arzt dagewesen?

FRAU SELICKE. Ach, nein! Du weißt ja! Der alte Kopelke!

TONI. So? Was sagt er denn?

FRAU SELICKE. Bist du ihm nicht unten begegnet? Er sagt ... – Zuckt die Achseln. – ... nichts Bestimmtes! Man wird ja aus keinem Menschen mehr klug! Ach Gott! Ich hab so eine Ahnung! Du sollst sehn, wir behalten sie nicht! Schluchzt.

TONI tröstend. Ach Gott! Mutterchen! Nach einer Weile. Ist denn der Vater noch nicht da?

FRAU SELICKE. Ach, der!

TONI abermals nach einer kleinen Pause. Und die Jungens?

FRAU SELICKE. I! Die wollten 'n vom Kontor abholen! Aber die treiben sich ja doch wieder auf dem Markt rum, die Schlingels! Das is ja doch die Hauptsache! Die können's auch nich satt kriegen! ... Na, ich will nun ... Du bist ja ganz durchfroren! Geht wieder in die Küche zurück.

TONI die wieder zum Ofen getreten ist. Dann ... dann reisen Sie nun wohl bald?

WENDT der unterdessen ans Fenster getreten war und die ganze Zeit über auf den Hof hinabgesehn hatte. Er hat sich wieder umgedreht und sieht nun, sich mit den Händen hinten aufs Fensterbrett stützend, wieder zu Toni hinüber. Ja! Morgen!

TONI leicht erschreckt. Morgen schon?

WENDT. Ja!

TONI nach einer kleinen Pause. Ach, die Handschuhe! Holt sie sich und tritt mit ihnen an das kleine Tischchen links, in dessen Schublade sie sie hineintut. Lächelnd. Sehn Sie mal! Da hat er wieder den Spiegel neben 's Bauer gestellt ... Der Vogel soll denken, es is noch 'n andrer da, mit dem er sich unterhalten kann ... Der Vater spricht mit dem Vogel, als wenn er ein Mensch wär!

WENDT ist vom Fenster weggetreten und steckt sich nun das Papier vom Tisch wieder in seine Rocktasche. Ja! Ja! ...

TONI. Hm? ... Mätzchen! Mätzchen! ... Ordentlich zärtlich ist er mit ihm! Der Vater ist ein großer Tierfreund!

WENDT der unterdes auf sein Zimmer links im Vordergrund zugegangen ist, sieht ihr, die Hand auf der Klinke, einen Augenblick lang unentschlossen zu. Zögernd. Ja! Ich ...

TONI ihn unterbrechend. Ach, sagen Sie doch! Wie spät ist's denn? Mit einem Blick auf den Regulator. Der kann doch unmöglich richtig gehn?

WENDT der jetzt die Tür aufgeklinkt hat. Etwas nach sechs!

TONI. Nach sechs? Da müßte er doch nun ...

Seufzt.

Wendt geht langsam in sein Zimmer. – Toni, die ihm nachgesehn hat, bleibt einen Augenblick in Gedanken stehen, seufzt und geht wieder auf den Sofatisch zu. Sie nimmt das Bündel auf den Teppich runter und knotet es auf. Frau Selicke kommt mit dem Kaffee.

FRAU SELICKE. Hier! Nu trink erst! Setzt die Kanne auf den Tisch.

TONI die sich vor dem geöffneten Bündel auf dem Teppich niedergekauert hat. Ja! Gleich!

FRAU SELICKE hat sich leicht auf den Sofatisch gestützt und sieht ihr zu. Mäntel? ... Da kannst du wieder die ganzen paar Feiertage sitzen! Ach ja! Du hast doch auch gar nichts von deinem Leben!

TONI immer noch mit dem Ordnen der Zeugstücke  beschäftigt. Na! 's ist doch wenigstens ein kleiner Nebenverdienst!

FRAU SELICKE aufseufzend. Ach ja, ja!

TONI. Aber ein Leben auf den Straßen? Kaum zum Durchkommen!

FRAU SELICKE nickend. Das glaub ich! ... Du wirst dich schön haben schleppen müssen mit dem alten Bündel! Bist du denn nicht wenigstens ein Stück mit der Pferdebahn gefahren?

TONI. Ach, alles voll! Alles voll! Da war gar nicht anzukommen!

FRAU SELICKE ihr die Tasse zuschiebend. Aber du trinkst ja gar nicht! Trink doch erst!

TONI. Ja! Erhebt sich und schenkt sich den Kaffee ein. Ihn schlürfend, von der Tasse zu Frau Selicke aufsehend. Schön warm!

FRAU SELICKE. Bist du der Mohr'n vorhin begegnet?

TONI. Ja, auf der Treppe! Sie hielt mich an!

FRAU SELICKE. Sie wollte wieder mal horchen? Nicht wahr?

TONI. Ja! ... Sie fing natürlich von Linchen an! Und, was wir diesmal für 'n schlechtes Weihnachten durchzumachen hätten und so, na du weißt ja! Sie bückt sich wieder zu ihren Mänteln.

FRAU SELICKE. Nein, solche Menschen! Um was die sich nich alles kümmern!

TONI. Na, von mir bekommt sie nichts raus!

FRAU SELICKE. Die mögen schön über uns schwatzen! ... Solche Menschen! Die sollten sich doch lieber an ihre eigene Nase fassen! Die! Die trinkt Bier wie 'n Kerl! Den richtigen Bierhusten hat sie schon! Hast du noch nicht gemerkt?

TONI. Na, ja! Laß doch man, Mutterchen! Laß sie alle machen, was sie wollen! Sie geben uns ja doch nichts dazu! Ist aufgestanden und steht nun, die Hände unter der Tischplatte, da. Rück doch mal 'n bißchen den Tisch! Ich möchte mir da die Mäntel zurechtlegen! Frau Selicke hilft ihr. Der Vater kann doch jetzt unmöglich mehr auf dem Kontor sein?

FRAU SELICKE hat vom Tisch wieder ihren Strickstrumpf aufgenommen und sich die Brille aufgesetzt. Vom Stuhl vor dem Bette Linchens her. I, ich dachte gar! ... Wer weiß, wo der jetzt wieder steckt!

TONI hinter dem Tisch, auf dem Sofa die Zeugstücke ordnend. Na, er wird auf dem Weihnachtsmarkt sein und ein bißchen etwas einkaufen, für Linchen!

FRAU SELICKE. I, jawohl doch! Und ... du lieber Gott, was soll nicht alles von den paar Groschen bezahlt werden! Wer weiß übrigens, ob er diesmal soviel zu Weihnachten kriegt wie sonst! ... Er tut wenigstens so! ... Das heißt, auf den kann man sich ja nie verlassen! Der sagt einem ja nie die Wahrheit! ... Andre Männer teilen ihren Frauen alles mit und beraten sich, wie's am besten geht, aber unsereiner wird ja für gar nichts ästimiert! Der weiß ja alles besser! ... Nein, so ein trauriges Familienleben, wie bei uns ... Paß mal auf: Der hat heute wieder ein paar Pfennige Geld in der Tasche und kömmt nu vor morgen früh nich nach Hause!

TONI. Na, ich dachte gar! ... Das wäre doch! ... Heute!

FRAU SELICKE. Na, du wirst ja sehn! Vergangne Nacht hat mir wieder mal von Pflaumen geträumt, und dann kann ich jedesmal Gift darauf nehmen, daß es Skandal gibt!

TONI. Ach Gott! Darauf kann man doch aber nichts geben!

FRAU SELICKE. Na, paß auf! Meine Ahnungen trügen mich nie!

TONI. Aber wie kann man bloß so abergläubisch sein, Mutterchen!

FRAU SELICKE. Abergläubisch? Nein, gar nicht! Ich bin gar nicht abergläubisch! Aber es ist doch komisch, daß es bis jetzt jedesmal eingetroffen ist!

TONI. Ach, Mutterchen!

FRAU SELICKE. Nein, nein! Du sollst sehn! Ich kann mich heilig drauf verlassen! Weinerlich. Paß mal auf! Paß mal auf!

TONI. Ach siehst du, Mutterchen! Wenn du dich vorher schon immer so ängstlich machst, dann ist es ja gar kein Wunder! ... Mach's wie ich! Laß ihn kommen! Widersprich ihm mit keinem Worte! ... Laß ihn räsonieren soviel wie er will! Einmal muß er dann doch aufhören, und durch sein Räsonieren wird's ja doch nicht besser.

FRAU SELICKE. Ach Gott ja! Eigentlich ist's auch wahr! Man müßte gar nicht drauf hören! Wenn ich nur nich so nervös wäre! Wenn ich ihn dann aber so sehe, in seinem Zustande, und er kommt dann auch noch mit seinen Ungerechtigkeiten, dann kann ich mich nich halten! ... Es ist mir rein unmöglich! ... Dann läuft mir jedesmal die Galle über!

TONI. Siehst du! Aber grade dadurch wird es immer erst schlimm! Laß ihn schimpfen, die Augen rollen, Fäuste machen: Du mußt es gar nicht beachten! Schließlich tut er ja doch nichts! ... Siehst du. Du mußt mich nicht falsch verstehn! Aber ich glaube, du hast ihn von Anfang an nicht recht zu behandeln gewußt, Mutterchen!

FRAU SELICKE. Ja! 's is auch wahr! ... Er hätte nur so eine recht Resolute haben sollen!

TONI. Ach, nein! So meinte ich's nicht! ... Ach!

FRAU SELICKE. Nein! 's is ja wirklich wahr! ... Da soll man sich nu nich empören! ... Hier liegt das arme Kind krank, man weiß nich vor Sorgen wohin? Andre Leute freuen sich heute, und wir ... Na! Und dann soll man ihm auch noch freundlich entgegenkommen? ... Das kann ich einfach nicht! Das kann ich nicht!! ...

TONI seufzend.