Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Roman über den Mut, gemeinsam aufzustehen in Zeiten von Globalisierung und Wirtschaftskrise: Der Architekt Sebastian verliert erst seine Arbeit, dann auch Ehefrau und Kinder – dennoch hilft er Sophia beim Wiederaufbau der Kinderbetreuung im Viertel. Eine Großmutter stellt schon im September den Weihnachtsbaum auf, um ihrer Familie Mut zu machen. Alt und Jung, Singles und Familien, Spanier und Einwanderer, sie alle leben hier nebeneinander im Zentrum von Madrid. Und sie alle entdecken die unerwartete Kraft der Solidarität, als die Schließung des Gesundheitszentrums droht. „Kleine Helden" ist das bunte, ergreifende Porträt ihres Viertels im heutigen Madrid.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 379
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Das bunte, ergreifende Porträt eines Viertels im heutigen Madrid, wo Bürger sich zusammenschließen, um gegen Ungerechtigkeit und Elend aufzubegehren: Ein Mittvierziger trauert um seine Frau, die ihn verlassen hat – trotzdem hilft er Sofía bei der Einrichtung eines Mittagstischs für Mädchen und Jungen aus bedürftigen Familien. Laura kehrt zurück nach Madrid, nachdem ihr Neuanfang in Deutschland gescheitert ist. Und alle entdecken die unerwartete Kraft des Kollektivs, als die Schließung des Gesundheitszentrums droht. Almudena Grandes erzählt von Menschen, deren Lebens- und Liebesgeschichten sich kreuzen, und die nicht nur Wut und Empörung erfahren, sondern auch Solidarität, Humor und Beharrlichkeit.
Hanser E-Book
ALMUDENA GRANDES
KLEINE HELDEN
Roman
Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda
Carl Hanser Verlag
Für meine Kinder, die nie Brot küssen mussten.
Arm war mein Vater,
bettelarm,
wie der Vater meines Vaters,
und arm bin ich.
(…)
Nichts zu haben saugt dir das Blut aus, hier in Spanien, und den Geruch der Armut wirst du nie wieder los, am Ende verwandelt man deine Armut in Schuld, alles nur ein moralischer Trick.
Arm und schuldig,
der Vater meines Vaters,
mein Vater und ich.
Manuel Vilas, »Geschichte Spaniens«,
aus: Poesía completa (1980–2015)
INHALT
I
VORHER
II
JETZT
III
DANACH
I
VORHER
Wir befinden uns in einem Viertel im Zentrum von Madrid. Sein Name ist nicht von Bedeutung, es könnte irgendeins der wenigen alten Viertel sein, mit ehrwürdigen und anderen, eher altmodischen Plätzen. Es gibt nicht viele Sehenswürdigkeiten, aber es gehört zu den schöneren, vielleicht weil es so lebendig ist.
Die Straßen in meinem Viertel sind ganz unterschiedlich. Manche sind breit und haben dicht belaubte Bäume, die ihre Schatten auf die Balkone der unteren Wohnungen werfen; die meisten jedoch sind schmal. Auch hier wachsen Bäume, aber sie stehen enger beieinander und sind stets gut beschnitten, denn Platz ist hier selbst in der Luft knapp. Sie sind grün, zart im Frühling und angenehm im Sommer, wenn das Gehen auf den frisch gesprengten Bürgersteigen am frühen Morgen ein unbezahlbarer Luxus ist, eine Freude, die nichts kostet. Die zahlreichen Plätze sind nicht besonders groß, doch jeder hat seine Kirche und seine Helden- oder Heiligenstatue in der Mitte, seine Sitzbänke, seine Schaukeln und Zäune, um Hunde fernzuhalten. Sie alle sehen sich irgendwie ähnlich und sind das Ergebnis irgendeiner Ausschreibung, nach deren Ursprung man besser nicht fragt. Die wenigen bezaubernden Gässchen aber, die heimlichen Liebespaaren und jugendlichen Schulschwänzern Schutz bieten, widerstehen Jahr um Jahr der Zerstörungswut der Städteplaner im Gemeinderat. Und so sind sie geblieben, lebendig wie das Viertel selbst.
Das Allerschönste sind die Bewohner, die genauso unterschiedlich und bunt, chaotisch und ordentlich sind wie die Häuser, in denen sie wohnen. Viele von ihnen haben schon immer hier gelebt, in den besseren mit Concierge, Aufzug und Eingängen aus Marmor oder in den bescheideneren, die nur eine schlichte Pförtnerloge neben dem Hauseingang haben, und manche nicht einmal das. In diesem Viertel gibt es Marmoreingänge und Gipswände, reiche und arme Leute. Die alten Bewohner trotzten der Fluchtwelle der siebziger Jahre, als es Mode war, aus der Stadtmitte zu fliehen, überstanden die Movida der achtziger Jahre, als der Verfall der Mietpreise eine Welle neuer Bewohner anzog, mit Bücherregalen vom Flohmarkt, Che-Guevara-Postern und indischen Stoffen, die als Wandschmuck, Überdecken für Betten oder Bezüge für auseinanderfallende Sofas vom Sperrmüll dienten, und sie überlebten auch die neunziger Jahre, als es zu Beginn der Immobilienblase cool war, wieder ins Stadtzentrum zu ziehen.
Danach brachte die Realität alles ins Wanken. Anfangs spürte man ein Beben, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen, hielt es jedoch für eine Täuschung. So schlimm wird es schon nicht kommen, sagten sich die Leute, doch das war ein Irrtum. Nach außen schien sich nichts zu ändern, während der Straßenbelag Risse bekam und heißer, ungesunder Dampf die Luft verpestete. Niemand nahm diese Risse wahr, doch alle spürten, wie die Ruhe, das Wohlbefinden, die Zukunft durch sie entwich. Nicht alle reagierten gleich. Wer keinen Widerstand leistete, lebt heute nicht mehr hier. Die anderen kämpfen weiter gegen das Ungeheuer, jeder mit seinen eigenen Waffen, jeder auf seine Weise.
Die Älteren haben weniger Angst.
Sie erinnern sich daran, dass vor nicht allzu langer Zeit die Dienstmädchen an eisigen Wintermorgen nur im Laufschritt durch die Straßen von Madrid liefen, mit vor der Brust verschränkten Armen, um die Wärme einer Wolljacke zu speichern, mit nackten Beinen, ohne Socken, immer in Eile in ihren schlichten Espadrilles. Sie erinnern sich auch an gewisse finstere Männer, die langsam gingen, mit hochgeschlagenem Kragen und einem Pappkoffer in der Hand. Wir Kinder beobachteten sie und fragten uns, ob ihnen denn nicht kalt wäre. Wir bewunderten ihre Beharrlichkeit und behielten unsere Neugier für uns.
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war Neugier ein gefährliches Laster für spanische Kinder. Wir wuchsen mit Fotos von lächelnden jungen Menschen auf, die wir nicht kannten. Die Fotos standen gerahmt auf Kommoden oder waren in Schubladen versteckt.
»Und wer ist das?«
»Nun …« Es waren Tanten oder Verlobte, Cousinen oder Brüder, Großeltern oder Freundinnen der Familie, und sie waren tot.
»Wann ist er denn gestorben?«
»Uff!« Da wurden die Erwachsenen nervös. »Das ist lange her.«
»Und wie, warum, was ist passiert?«
»Das war im Krieg oder danach, eine üble Geschichte, sehr traurig, reden wir lieber nicht davon.« Hier, an diesem geheimnisvollen Konflikt, über den niemand zu sprechen wagte, obwohl er in den Augen der Erwachsenen brannte wie eine offene, von Angst oder Schuld entzündete Wunde, endeten alle Gespräche. »Was ist? Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Dann geh spielen, oder besser in die Badewanne, na los, später wollt ihr nur alle gleichzeitig baden und das Wasser im Boiler reicht nicht …«
So lernten wir Kinder damals, keine Fragen zu stellen, auch wenn die Spanier von heute sich ungern daran erinnern. Ungern erinnern sie sich auch daran, dass sie in einem armen Land lebten, aber das war nichts Neues. Wir Spanier waren schon immer arm, auch als die spanischen Könige die Welt beherrschten und das Gold aus Südamerika beim Durchqueren der Halbinsel auf dem Weg nach Flandern, wo es die Schulden der Krone bezahlte, nichts weiter als eine Staubwolke hinterließ. Im Madrid der fünfziger und sechziger Jahre, als ein Mantel ein Luxus war, den sich weder ein Dienstmädchen noch ein Tagelöhner leisten konnte, der in den Straßen herumlungerte und die Zeit totschlug, bis ein Zug ihn weit weg zur Weinlese nach Frankreich oder zu einer Fabrik in Deutschland brachte, war Armut nach wie vor ein vertrautes Schicksal, das einzige Vermächtnis, das viele Eltern ihren Kindern hinterließen. Und trotzdem barg dieses Erbe einen Reichtum, der uns Spaniern von heute abhandengekommen ist.
Deshalb haben die Älteren weniger Angst. Sie denken an ihre Jugend und erinnern sich an alles, an die Kälte, an die Krüppel, die in den Straßen bettelten, an das Schweigen, an die Nervosität ihrer Eltern, wenn sie an einem Polizisten vorbeikamen, und an einen alten, inzwischen vergessenen Brauch, den sie ihren Kindern nicht vermitteln konnten oder wollten. Wenn ein Stück Brot auf den Boden fiel, zwangen die Erwachsenen die Kinder, es aufzuheben und zu küssen, ehe sie es wieder in den Brotkorb legten – so sehr hatten die Familien gehungert, damals, als jene Angehörigen gestorben waren, von denen uns niemand erzählen wollte.
Kinder, die wie wir lernten, das Brot zu küssen, erinnern sich an eine Kindheit und an das Vermächtnis eines Hungers, der längst Vergangenheit ist, an die ekelhaften Omeletts, die unsere Großmütter machten, um das geschlagene Ei nicht zu verschwenden, das nach dem Panieren des Fischs übrig geblieben war. Nur an die Traurigkeit erinnern wir uns nicht mehr.
Dafür an die Wut, an die wie in Stein gemeißelten Gesichter, die zusammengebissenen Zähne, an Männer und Frauen, die in einem einzigen Leben so viel Unglück angehäuft hatten, dass sie sechsmal darin hätten untergehen können, und sich trotzdem auf den Beinen hielten. Denn noch vor dreißig Jahren erbten die Kinder in Spanien das Elend, aber auch die Würde ihrer Eltern, jene Art, arm zu sein, ohne sich gedemütigt zu fühlen, ohne ihren Stolz zu verlieren oder aufzuhören, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Sie lebten in einem Land, in dem Armut kein Grund war, sich zu schämen, geschweige denn, sich geschlagen zu geben. Nicht einmal Franco konnte in den siebenunddreißig Jahren brutaler Diktatur, die jener von ihm selbst angezettelte verfluchte Krieg hervorgebracht hatte, verhindern, dass seine Feinde allen Widrigkeiten zum Trotz heranwuchsen, sich verliebten, Kinder bekamen, glücklich waren. Es ist noch gar nicht lange her, da stellte die Freude in diesem Viertel auch eine Art von Widerstand dar.
Später sagte uns jemand, man solle vergessen, die Zukunft bestehe darin, alles zu verdrängen, was passiert war. Um die Demokratie aufzubauen, sei es unerlässlich, den Blick nach vorn zu richten und so zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Und mit dem Schlechten vergaßen wir Spanier auch das Gute. Es schien nicht wichtig, denn plötzlich waren wir gutaussehend, modern, fortschrittlich … Warum sich an den Krieg, den Hunger, hunderttausende Tote und so viel Elend erinnern?
Indem die Bewohner dieses Viertels, das sich von denen in vielen anderen spanischen Städten unterscheidet und dann auch wieder nicht, die Frauen ohne Mantel, die Pappkoffer und das Küssen des Brotes verleugneten, verloren sie die Verbindung zu ihrer eigenen Tradition, zu Fähigkeiten, die ihnen jetzt helfen könnten, die neue Armut zu überwinden. Hinterrücks wurden sie von ihr überfallen, aus dem Herzen eines Europas, das sie reich machen wollte und damit um einen Schatz brachte, den man mit Geld nicht kaufen kann.
Deshalb sind die Bewohner dieses Viertels nicht nur verarmt, sondern fühlen sich verloren, gelähmt und wehrlos, verwirrt wie verhätschelte Kinder, denen man das Spielzeug weggenommen hat und die nicht wissen, wie sie dagegen protestieren, ihr Eigentum zurückfordern, den Diebstahl anprangern, die Diebe aufhalten sollen.
Könnten unsere Großeltern uns sehen, würden sie sich erst totlachen und dann vor Kummer vergehen. Für sie wäre dies keine Krise, sondern nur eine kleine Unannehmlichkeit. Doch wir Spanier, die wir während vieler Jahrhunderte gelernt hatten, die Armut in Würde zu ertragen, wussten nicht, was es heißt, fügsam zu sein.
Bis heute.
Dies ist die Geschichte vieler Geschichten, die Geschichte eines Madrider Viertels, das bemüht ist, sich im Auge des Hurrikans treu zu bleiben, in dieser Krise, die es zu zerbrechen droht, es bisher aber noch nicht geschafft hat.
In diesem Viertel leben ganze Familien, Pärchen mit und ohne Hund, mit und ohne Kinder, Alleinstehende, junge und alte Menschen, Spanier und Ausländer, die manchmal glücklich, manchmal unglücklich, aber fast immer beides gleichzeitig sind. Manche sind untergegangen, aber die meisten leisten Widerstand, für sich und für die anderen, und bestehen hartnäckig darauf, ihre früheren Gewohnheiten und Rituale zu bewahren, um zu bleiben, wer sie sind, damit ihre Nachbarn sie weiterhin bei ihren Namen kennen.
Es ist die Geschichte von Amalias Friseursalon, der kurz vor der Schließung stand, als direkt gegenüber ein chinesischer Laden für Maniküre eröffnete. Amalia musste ihre Preise senken, obwohl die Kundinnen ihr treu blieben.
Auch Pascuals Bar ist noch da und verwandelt sich von Tag zu Tag mehr in eine Art Treffpunkt: für Nachbarn, die darum kämpfen, ihre Sozialwohnungen zu retten, nachdem der Gemeinderat sie hinter ihrem Rücken an einen Hedgefonds veräußert hat; für Mitglieder vom Frauenverein, der seine Räumlichkeiten schließen musste, weil er keine Subventionen mehr erhielt; für Leute der Elternvereinigung AMPA, die nachmittags geschlossen bleibt, weil man ihr die Gelder für außerschulische Veranstaltungen gestrichen hat … All das spielt für den Besitzer der Bar keine Rolle. Pascual lässt sich nicht beirren, er ist der gelassene, immer gut gelaunte Mensch geblieben, der er schon immer war. Ihm reicht es, wenn jeder dritte, egal welchem Verein er angehört, gelegentlich ein Bier bestellt. Den beiden anderen serviert er ein Glas Wasser und ein Lächeln.
Viele alte Geschäfte mussten schließen. Neue haben eröffnet, meistens Billigläden, nicht immer von Asiaten geführt. Der Churro-Stand, die Apotheke, das Schreibwarengeschäft, der Markt sind geblieben, das ja, so wie andere neuralgische Punkte des einstigen und heutigen Viertels.
Im Übrigen fängt im September das neue Schuljahr an, Dezember ist Weihnachten, im April schlagen die Bäume aus, im Sommer wird es heiß, und unterdessen geht das Leben weiter.
II
JETZT
Familie Martínez Salgado kehrt aus dem Urlaub zurück, und sofort scheint sich das Viertel mit Leben zu füllen.
Drei Wagen kommen hintereinander in der Stadt an, in derselben Reihenfolge, in der sie heute Morgen das Dorf an der Küste fast 400 Kilometer von Madrid entfernt verließen.
Im ersten, der bereits zwei Mal durch den TÜV musste, aber noch immer groß und extrem sauber ist, sitzt Pepe Martínez mit seinen Eltern und seiner Tochter Mariana.
Im zweiten, etwas bescheideneren, ohne sichtbare Aufkleber, aber so verdreckt, als hätte seine Besitzerin den halben Strand als Andenken mitgebracht, Diana Salgado mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Pablo, der ihnen die Fahrt alle zwei oder drei Kilometer immer wieder mit derselben Frage versüßt hat: Wie weit ist es noch?
Im dritten, der zuerst Pepe, danach Diana gehörte und über die Jahre hinweg Aufkleber in allen Farben gesammelt hat, bis die stattliche Sammlung auf der rechten Seite der Windschutzscheibe komplett war, Jose, der ältere Sohn, mit seiner Freundin und Tigre, dem Familienkater, in einer Folterkammer, die man heute Transportbox nennt.
»So, da wären wir wieder«, ruft Pepe aus, als er den letzten Koffer in den Aufzug seiner Eltern trägt. »Wie schnell doch jedes Mal die Ferien zu Ende sind! Wirklich schade.«
»Ach ja!« Aurora umarmt ihn und küsst ihn mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck auf die Wangen. »Es war so schön …«
»Vielen Dank für alles, mein Junge.« Sein Vater umarmt ihn nur kurz, seit Pepes zehntem Geburtstag war es, als schämte er sich, ihn an sich zu drücken. »Fahr los, sonst kriegst du noch ein Knöllchen, weil du in der zweiten Reihe parkst.«
Pepe kehrt zum Wagen zurück und wartet, bis sein Vater auf dem Balkon auftaucht und ihm mit einer Geste bedeutet, dass alles in Ordnung ist, dann gibt er Gas. Er ahnt nicht, was seine Mutter von hinten ruft, während ihr Mann noch winkt.
»Mein Gott, bin ich froh! Weißt du, was ich gleich tun werde?«
»Und ob ich das weiß.« Er geht auf sie zu und nimmt sie in die Arme. »Den BH ausziehen.«
»Nein, das kommt danach. Zuerst gehe ich runter, kaufe das größte Schweineohr, das ich finde, und weiche die Linsen ein …«
»O ja!« Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. »Kein Spinatsalat und keine rohen Champignons mehr.«
»Und zum Abendessen gibt es Putenbrust. Dazu mache ich uns ein Bauernomelett mit Chorizo, Schinken und Erbsen …«
»Großartig! Dann lege ich zur Feier des Tages Bambino auf.«
»Prima!« Sie lacht, hebt den Rock ein Stück an und macht zwei Rumbaschritte zum Rhythmus einer Musik, die nur in ihrem Kopf spielt. »Wie hab ich das Chillen satt …«
Kurz darauf begleitet Diana ihre Mutter trotz deren Proteste bis zur Wohnungstür.
»Tja, da wären wir wieder«, sagt sie, während sie die letzte Tasche in der Diele der Wohnung abstellt, in der sie aufgewachsen ist. »Schade, nicht wahr, Mamá? Die Ferien sind immer so kurz.«
Mit einer einzigen fließenden Bewegung umarmt Adela sie, gibt ihr einen dicken Kuss und drängt sie wieder in den Treppenflur hinaus.
»Ja, aber jetzt geh, das Kind ist allein im Wagen, und mir geht es gut, ich brauche nichts, wirklich …«
Sie schließt die Tür, streift die Sandalen ab, ohne darauf zu achten, wo sie landen, und tritt auf den Balkon hinaus, um ihrem Enkel zuzuwinken. Als sie den Wagen ihrer Tochter aus den Augen verliert, streckt sie die Arme aus, dreht sich einmal um die eigene Achse und atmet tief durch.
»Mein Gott, bin ich froh!«
Anschließend öffnet sie den Koffer, steckt die Hand tief hinein, als wüsste sie genau, wo sich befindet, was sie sucht. Sie zündet sich eine Zigarette an und nimmt mit geschlossenen Augen drei tiefe Züge. Vor dem vierten geht sie rüber in die Küche, und nach dem fünften kocht sie sich einen Kaffee, so schwarz wie die Seele des Teufels, was ihre Tochter ihr strengstens verboten hat. Mit der Tasse in der Hand geht sie ins Arbeitszimmer, schaltet den Computer an und klickt mit der Maus auf ein Icon in Gestalt eines Kriegers aus der Antike. Als das Gedudel erklingt, das sie so vermisst hat, blüht sie auf.
»Verfluchte Griechen …«, murmelt sie, während sie sich in das Spiel Troja soll brennen! Online-Multiplayer-Strategiespiel einloggt. »Andromache ist zurück!« Dann zündet sie sich eine neue Zigarette an und nimmt die Partie da wieder auf, wo sie sie vor den Ferien abgebrochen hatte. »Na warte, Achilles!«
Pepe kommt vor seiner Frau zu Hause an und findet den armen Tigre noch immer in seiner Transportbox auf dem Teppich.
»Verdammter Bengel!«, murmelt er, während er das Tier aus der Box befreit und sein Hemd mit feuchten, nach Katzenpisse stinkenden Katzenhaaren versaut. »Wieso hat er es immer so eilig?«
»Papá …« Mariana, siebzehn und überaus lebendig, saust an ihm vorbei, wirft ihm einen kurzen Blick über die Schul-ter zu und ruft, nachdem sie bereits die Tür ihres Zimmers hinter sich zugeschlagen hat: »Manchmal bist du wirklich dämlich!«
»Ich weiß.«
Er stellt den Kater auf den Boden, sieht sich um und ist drauf und dran, Marianas Worte zu wiederholen, während sie ihren Computer einschaltet, der mit allem möglichen Schnickschnack ausgerüstet ist und über eine superschnelle Verbindung verfügt. Bevor er auch nur den Mund aufmachen kann, hat sie sich schon bei Google eingeloggt.
»Mann, bin ich froh!«
Jetzt muss sie sich nicht länger das einzige Handy mit dem Rest der Familie teilen, mit ihrem Bruder in einem Zimmer schlafen, warten, bis sie dran ist, wenn sie nach dem Strand duschen will, oder an der Hand beider Großmütter ins Wasser gehen, als wäre sie immer noch fünf.
»Mann, bin ich froh!«, wiederholt sie leise für sich, als müsste sie sich an ihr Glück erst noch gewöhnen, während sie die Maus bewegt, die Tastatur streichelt und liebevoll auf den Bildschirm starrt, bis sie ihren Facebook-Account öffnet und auf eine Anfrage stößt, die sie in Rage versetzt. »Andromache! Schon wieder Andromache? Wie ätzend!«
Sie löscht sie aus allen Kontakten, aber wie üblich taucht sie immer wieder auf, hartnäckig wie ein Ölfleck an der Küste des Mittelmeers.
»Wer ist bloß diese Tusse?«
Mittlerweile hat Pepe Zeit gehabt, sich für den nächsten Tag mit zwei Freunden zu verabreden, um ins Fußballstadion zu gehen. Es ist das erste Heimspiel der Saison, obendrein gegen einen Aufsteiger, mit den üblichen Bierchen davor und einem Glas Wein danach, und am Montag geht es wieder zur Arbeit, herrlich, wo er ganz allein in seinem klimatisierten Büro Flugzeugmotoren und -systeme entwerfen wird, also das machen kann, wovon er etwas versteht, statt Sonnenschirme aufzustellen, die der Wind mitnimmt, dutzendweise Koteletts zu grillen, die verbrennen, mit alten Herrschaften spazieren zu gehen, die müde werden, oder eine halbe Stunde im Supermarkt in der Schlange zu stehen, nur damit seine Tochter ihn später anschnauzen kann, weil das Verfallsdatum der Joghurts fast abgelaufen ist, außerdem habe ich dich gebeten, mir die mit Ballaststoffen zu bringen, nicht mit Soja, die mit Soja sind für Mamá, wann kapierst du das endlich?
»Mein Gott, bin ich froh!«, sagt er schließlich, während er zum Kühlschrank geht und ein Bier herausfischt, um sich schon mal auf das morgige Spiel einzustimmen.
Vom Küchenfenster aus sieht er den Wagen seiner Frau vorbeifahren, die jetzt irgendwo auf der Straße parken muss, weil er seinen bereits in die Garage gefahren hat.
Pablo wartet natürlich nicht ab, bis seine Mutter einen freien Parkplatz gefunden hat.
Im Nullkommanichts ist er aus dem Wagen gesprungen, denn seine Freunde warten bereits auf ihn und kommen fast im gleichen Augenblick angelaufen, Felipe mit einem Basketball, Alba mit ausgestreckten Armen. Die drei umarmen sich im Hauseingang, als wären Jahre vergangen und nicht bloß drei Wochen, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben. Pablo läuft in sein Zimmer, pfeffert die Tasche in die Ecke und verschwindet mit seinen Freunden und der üblichen Erklärung:
»Papaaa, ich bin dann weg!«
Er ist der Einzige in der Familie Martínez Salgado, der an diesem Nachmittag nicht Mann, bin ich froh! ruft. Aber auf dem Treppenabsatz sagt er stattdessen was Ähnliches.
»Ein Glück bin ich wieder hier! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie krass das war … Keine Minute länger hätte ich es mit diesem Verein ausgehalten, ich schwöre!«
Mit Verein meint er seine Großmutter Aurora, die sein Kinn umfasst – »Was habe ich bloß für einen hübschen Enkel!« –, seine Großmutter Adela, die ihm durchs Haar fährt und der anderen zuruft: »Hast du gesehen, was für einen hübschen Enkel wir haben?«, seinen Großvater Pepe, der sich unbedingt von ihm zeigen lassen will, wie man einen Zauberwürfel zusammenbaut, seinen Vater, der ihn ermahnt: »Pablo, spiel doch ein bisschen mit dem Opa«, seine Mutter: »Mensch Pablo, du brichst dir keinen Zacken aus der Krone, wenn du mit deinem Großvater spielst!«, seine Schwester: »Der arme Opa, erklär es ihm doch, Pablo«, und seinen Bruder: »Mensch, sei nicht so blöd, Pablo, zeig Opa endlich, wie es geht!«
Diana ist die Letzte, die wieder ganz zu Hause ankommt. Sie muss die Koffer öffnen, packt sie allerdings nicht ganz aus, denn morgen kommt ja die Hilfe, wie sie sich lächelnd erinnert.
Die schmutzige Wäsche wirft sie in den entsprechenden Korb, stellt aber nicht die Waschmaschine an, morgen kommt ja die Hilfe, und ihr Lächeln wird noch breiter.
Danach inspiziert sie den Kühlschrank und macht eine Einkaufsliste, geht aber nicht zum Supermarkt, morgen kommt ja die Hilfe, und außerdem habe ich noch eine ganze Woche Ferien. Inzwischen grinst sie von einem Ohr zum anderen.
»Hat jemand was dagegen, wenn wir zum Abendessen Pizza bestellen?«, ruft sie in den leeren Flur.
Niemand antwortet, und niemand erinnert sie daran, dass sie als Endokrinologin Übergewichtige behandelt, deshalb verschwindet sie in ihrem Zimmer, schaltet den Deckenventilator an, zieht sich aus, streckt alle viere von sich und lächelt erneut.
»Mein Gott, bin ich froh!«
Als sie das erste Mal das leise Wimmern hört, weiß Sofía Salgado nicht, was es ist.
Das Apartment ist hässlich, klein und stickig. Das Meer, das nicht einmal blau zu sein scheint, ist so weit entfernt, dass es für den Verstand eines Madrilenen kaum zu begreifen ist, wie es sein kann, dass alles hier drin, Wände, Fenster, Laken und die provenzalischen Möbel aus dem Sonderangebot – Richten Sie Ihre gesamte Wohnung für 500 Euro ein! –, so viel Feuchtigkeit aufnimmt, trotz der glühenden Sonne, die sie auf den zweihundert Metern bis zur Wohnung förmlich versengt hat. Das Erste, was Sofía beim Betreten der Wohnung sieht, ist ein grässlicher trauriger Clown aus buntem Glas auf einer Konsole und ein Dreieck aus Zigarettenlöchern auf einem abscheulichen ziegelroten Teppich, doch sie sagt nichts. Ihre Freundin Marita, energisch und effizient wie immer, reißt die Vorhänge auf, lässt den Clown in einer Schublade verschwinden, legt ihr die Arme um die Schultern und schüttelt sie heftig.
»Besser so?«
Sofía nickt, versucht zu lächeln und gibt nicht auf, bis es ihr gelingt. Schließlich ist ihre frühere beste Schulfreundin Marita nicht schuld daran, dass ihr Leben eine Katastrophe ist.
Auch Marita hat eine unglückliche Ehe hinter sich, auch sie hat sich nach vielen Jahren Ehe von ihrem Mann getrennt. Auch sie hat einen Sohn, der die letzten Augusttage bei seinem Vater verbringt, doch sie hat mehr Glück als Sofía. Marita hatte ihren Mann satt, schon Jahre bevor dieser beschloss, dass ihm eine andere besser gefiel, und sie musste ihn nicht nackt mit seiner persönlichen Trainerin im Büro erwischen, wo die beiden ihre Turnübungen auf den Teppich verlegt hatten.
Genau das war der Grundschullehrerin Sofía vor einigen Monaten passiert. Eines schönen Frühlingsmorgens, als sie früher als erwartet aus einer Konferenz kam, war ihr nichts Besseres eingefallen, als bei Augustín vorbeizuschauen, um sich von ihm zum Mittagessen einladen zu lassen. Wenn sie sich jetzt daran erinnert, würde sie am liebsten den traurigen bunten Glasclown wieder aus der Schublade nehmen und anstarren, nur um dann in Tränen auszubrechen, so wie an dem Tag, als sie Hals über Kopf aus dem Büro ihres Mannes stürzte und bei Marita Zuflucht suchte.
»Aber das Allerschlimmste …«, erzählte sie ihr noch am selben Nachmittag, »… dreißig Jahre, Superkörper, blonde Locken mit goldenen Strähnen, die wie ein Wasserfall über die Brüste fallen … wie Botticellis Venus, als würde sie sich nicht einmal zurechtmachen müssen, weißt du? Als wäre sie mit diesem Haar auf die Welt gekommen, die Schlampe …«
»Na und?«, unterbrach Marita sie, noch ehe sie erzählen konnte, dass die Brüste nicht mal so aussahen, als hätte sie sie vergrößern lassen. »Du bist sechsunddreißig, Sofía, und dein BH ist bestimmt zwei Nummern größer als ihrer, wetten? Es wird deinem Mann teuer zu stehen kommen, wenn er jetzt für dich Unterhalt zahlen muss. Soll er sich ins Knie ficken!«
»Ja, das sagt sich so leicht …«
Und es stimmte. So leicht, dass Marita den Mund hielt und das Thema nicht weiter erwähnte. Sie beschränkte sich darauf, ihr Gesellschaft zu leisten und viel Zeit mit ihr zu vergeuden, bis sie ihr einen besseren Plan vorschlagen konnte.
»Pass auf! Ich habe mir was überlegt. Wir beide sollten eine Woche ans Meer fahren. Was meinst du? Nur faulenzen, gut essen, trinken und uns ein paar attraktive Kerle anlachen …«
So sind sie in dieser schrecklich heißen Wohnung gelandet, die Sofía nicht mehr ganz so schrecklich vorkommt, als sie abends aus dem Dorf zurückkehren, ohne attraktive Kerle im Schlepptau, aber mit ein paar Gläsern zu viel. Trotzdem hat sie Mühe einzuschlafen. Keine drei Monate sind vergangen, seit ihr Mann mit seiner Trainerin schläft, und allein ins Bett zu gehen ist für sie noch immer eine Qual.
Während sie versucht, gegen die schmale Matratze und die feuchten Laken anzukämpfen, hört sie zuerst ein leises Geräusch, das sich wie ein dunkles rhythmisches Stöhnen anhört, das plötzlich stärker und schärfer wird und anschließend in ein ersticktes Winseln übergeht. In der ersten Nacht kann sie es nicht identifizieren, ein Hund, denkt sie, oder ein Kind, aber nein, sie weiß, wie sich das Weinen von Kindern anhört. Noch ehe sie das Rätsel lösen kann, schläft sie ein, und beim Frühstück fragt sie Marita, doch die hat wie ein Murmeltier geschlafen, das ist bei mir immer so, wenn ich am Meer bin, ich habe nichts gehört. Tagsüber – Strand, Chiringuito, gebratene Sardinen, Mojitos und mehr Strand, mehr Chiringuito, mehr Mojitos – vergisst Sofía das geheimnisvolle Geräusch in der Wohnung nebenan, doch in der Nacht hört sie es wieder, und da begreift sie, was auf der anderen Seite der Wand vor sich geht.
Seitdem achtet sie mehr auf ihren Nachbarn als auf ihre eigenen Freizeitaktivitäten. Das beharrliche, untröstliche Wimmern spiegelt die Verfassung eines einsamen Mannes Mitte vierzig wider, der sich den Schädel kahl rasiert, um von seiner Glatze abzulenken, der Bauch kaum sichtbar, dank des unermüdlichen Lauftrainings morgens und nachmittags, von dem er schweißgebadet und mit wackligen Beinen zurückkehrt. Er ist weder schön noch hässlich, aber attraktiv auf diese raue, fast erstaunliche Art von kahlköpfigen Männern, die beim Gehen offenbar instinktiv Testosteron ausschütten. Und traurig. Ja, vor allem traurig.
Der hat bestimmt seine Frau mit ihrem persönlichen Trainer erwischt, denkt Sofía, und jeden Tag sammelt sie neue Indizien, die ihr recht zu geben scheinen. Die Wohnung ihres Nachbarn hat nämlich drei Zimmer, doch nur in einem steht das Fenster auf.
»Wo sind denn Javi und Elena?« Eines Tages beobachtet sie ihn im Hauseingang, wo er sich mit ein paar Kindern aus dem Dorf unterhält. »Wann kommen sie?«
»Hm …« Er blickt zu Boden, während er antwortet. »Ich glaube nicht, dass sie dieses Jahr noch kommen. Tut mir leid, aber ich sage ihnen, dass ihr nach ihnen gefragt habt.«
An einem anderen Tag laufen sie sich im Supermarkt über den Weg, und Sofía sieht, wie er einen Karton mit sechs Packungen Vollmilch aus dem Regal nimmt. Er legt ihn in seinen Einkaufswagen, starrt einen Augenblick darauf, stellt ihn dann wieder zurück ins Regal und nimmt eine einzige Milchpackung mit Omega 3. Und obendrein hast du auch noch zu viel Cholesterin, denkt sie, du Armer, und spürt einen merkwürdigen Anflug von Mitleid für den Unbekannten.
»Du wirst doch nicht mit dem anbändeln wollen, oder?«, fragt Marita und provoziert sie damit zu einer übertrieben theatralischen Geste, korrigiert sich jedoch im Weitergehen gleich wieder. »Vielleicht gar keine schlechte Idee …«
»Unsinn«, entgegnet Sofía. »Das ist es nicht.«
Das ist es nicht, und trotzdem begleitet die Trostlosigkeit des Mannes, der auf der anderen Seite der Wand schläft, sie selbst dann, wenn er aufhört zu schluchzen und die Geräusche eines friedlicheren Wachseins, das Klicken des Lichtschalters, das Quietschen der Sprungfedern, die Schritte zwischen Bett und Badezimmer sie Nacht für Nacht wie ein Schlaflied einlullen.
Sie traut sich nicht, ihn anzusprechen, weiß nicht einmal, wie er heißt. Am ersten Septembertag, der durch und durch sommerlich und überwältigend ist, wie es nur letzte Ferientage sein können, begegnen sie sich zufällig auf der Treppe, Sofía mit ihrem Koffer, der Nachbar mit einem Schild. ZUVERKAUFEN, steht da in Großbuchstaben, und darunter eine Madrider Telefonnummer. Die Treppe ist zu schmal für so viel Zeug. Er lässt sie mit einem Lächeln vorbei, sie erwidert sein Lächeln und geht wortlos weiter.
»Sieh mal, Sofi …« Marita zeigt mit dem Finger auf das Gebäude, bevor sie den Wagen anlässt. »Er hat das Schild aufgehängt. Soll ich die Nummer aufschreiben?«
»Nein. Fahr endlich los und lass den Blödsinn.«
Auf der Treppe hat Sofía Salgado Zeit genug gehabt, um aus dem Augenwinkel den Namen der Immobilienfirma zu lesen, die mit dem Verkauf der Wohnung beauftragt ist.
Sie würde nie im Leben daran denken, bei Soluciones Inmobiliarias Prisma anzurufen, kehrt aber erheblich besser gelaunt nach Madrid zurück.
Carlos schließt die Wohnungstür auf und spürt im gleichen Moment, dass etwas anders ist als sonst.
»Omi?«
Seit er angefangen hat zu arbeiten, kommt er fast jeden Tag zum Mittagessen in den dritten Stock dieses ruhigen alten Hauses. Die Holzböden glänzen, so gut sind sie gebohnert, und den gepflegten Möbeln sieht man ihr Alter nicht an. Vom Eingangsbereich aus führt ein langer Gang, von dem auf einer Seite die Küche abgeht, bis zu den Balkonen des Wohnzimmers mit Spitzengardinen und einer Unmenge von Geranien in allen Farben. Die Eigentümerin ist fast achtzig, aber ihr sieht man das nicht an. Niemand weiß besser, wie rüstig sie ist, als ihr Enkel, denn keiner kümmert sich um ihn und verwöhnt ihn mehr als sie.
»Omi …«
Am Ende des Gangs sieht er ein komisches buntes Blinken, dessen Ursprung er sich nicht erklären kann. Zunächst vermutet er, dass es das Neonlicht irgendeines neuen Geschäfts auf der anderen Straßenseite sein muss, doch es ist erst halb drei, noch dazu an einem milden, strahlend hellen, sonnigen Herbsttag. Bei den horrenden Strompreisen würde niemand so verschwenderisch sein, um diese Zeit seine Neonreklame einzuschalten. Carlos geht vorsichtig weiter, Schritt für Schritt, und als er den Dreck auf dem Boden sieht, bekommt er es mit der Angst zu tun. Hier stimmt etwas nicht. Dreck, egal welcher Art, passt nicht zu seiner Großmutter, und als er sich bückt, entdeckt er ein paar kleine weiße Schnipsel, etwas weiter noch mehr. Sie sehen aus wie Brotkrümel, aber als er sie mit dem Fingernagel zerdrückt, entdeckt er, dass es Styropor ist, Verpackungsmaterial. Das ist dermaßen ungewöhnlich, dass er jetzt zum dritten Mal laut nach seiner Großmutter ruft. Diesmal benutzt er ihren Vornamen.
»Martina!«
Er geht weiter, bis ihm ein Duft in die Nase steigt, bei dem er stehen bleibt. Seine Großmutter hört ziemlich schlecht, aber sie kocht noch immer himmlisch, und aus der Küche riecht es nach Eintopf. Nicht nach irgendeinem wie dem seiner Mutter, die ihn in der Küchenmaschine macht, ohne die sie nicht leben kann, und die alles zu einem orangefarbenen Brei zermatscht, in dem die Paprika nicht von den Zucchini zu unterscheiden sind. Das ist der Eintopf seiner Großmutter, der nach richtigen, separat gebratenen Tomaten duftet, bei dem die Paprika nach Paprika schmecken, die Zwiebeln nach Zwiebeln, ganz zu schweigen von den Zucchini … Ein köstliches Gericht, in dem alles, was weich sein muss, auch weich ist, und das, was hart sein muss, hart. Es schmeckt unglaublich gut. All das nimmt Carlos’ Nase wahr, ein herrliches Aroma, das ihn beruhigt, bis er plötzlich auf die Idee kommt, seine Großmutter könnte in Ohnmacht gefallen sein, nachdem sie die Tomaten mit den Zwiebeln für die Soße gebraten hat. Er läuft in die Küche und findet sie verlassen vor.
»Huch, hast du mich erschreckt, mein Schatz!« Er fährt herum und sieht, wie sie mit der Hand auf der Brust in der Tür steht. »Warte, ich schalte das Hörgerät ein …« Nachdem sie eine Weile an ihrem Ohr herumgefummelt hat, kommt sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Wie geht es dir, mein Kleiner? Was macht das Studium?«
Carlos umarmt sie und küsst sie mehrmals, ehe er ihr gesteht, dass sie ihm auch einen Schreck eingejagt hat, einen ziemlich großen sogar, weil irgendetwas Seltsames in der Wohnung vorgeht.
»Dann ist es dir aufgefallen!« Martina lächelt wie ein unartiges Mädchen. »Du bist ein kluges Kerlchen, Carlitos! Ich zeig’s dir, aber mach die Augen zu, ja? Es ist nämlich eine Überraschung.«
Bereitwillig gehorcht er, genießt die Erleichterung nach dem Schreck und reicht seiner Großmutter die Hand, damit sie ihn führt, so wie damals, als er klein war. Sie geleitet ihn durch den Gang, macht ihn unterwegs auf Hindernisse und Umwege aufmerksam, und ihr Enkel merkt rasch, dass sie ins Wohnzimmer gehen, auf das bunte Blinken zu, mit dem alles begann.
»Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen.« Er gehorcht. »Tä-tää!«
Der riesige Weihnachtsbaum, den er selbst erst in drei Monaten hätte aufstellen sollen, ist voll mit Kugeln, Sternen, kleinen Engeln, Kobolden, Knusperhäuschen und Unmengen von blinkenden Birnchen zwischen Lametta und Glas. Carlos betrachtet den Baum mit offenem Mund, erkennt den Schmuck wieder, die glänzende Kugel, die seine Eltern aus den Flitterwochen mitbrachten, die kleinen Porzellanengel, die seine Großmutter zu jedem ersten Weihnachten ihrer Enkel kaufte, den Pappstern, den er in der Schule gebastelt hat, den wunderschönen bunten Weihnachtsschmuck aus Kristall, lang und spitz wie schillernde Flammen, den Martina seit ihrer Kindheit aufbewahrt … Da versteht er alles, das Blinken am Ende des Ganges, den Dreck auf dem Boden, das Schweigen seiner Großmutter, doch es beruhigt ihn nicht. Sie merkt es und lächelt erneut.
»Keine Bange, ich habe nicht den Verstand verloren … Ich weiß genau, dass es September ist, mein Kopf ist völlig in Ordnung, krieg keinen Schreck, aber … Du bist viel unterwegs, nicht? Kommst herum, amüsierst dich, ich dagegen … sitze den lieben langen Tag zu Hause, höre im Radio oder im Fernsehen, dass es keine Zukunft gibt, dass es keine Arbeit gibt, dass man die Krankenhäuser privatisiert, dass man uns das medizinische Versorgungszentrum schließen will, dass man mir die Rente kürzen wird … Wenn ich das Haus verlasse, dann höchstens, um zum Friseur zu gehen, und dort kriege ich immer dasselbe zu hören … Lass dir doch Strähnen ins Haar machen. Aber nein, ich habe kein Geld dafür. Und deine Schwester? Kommt sie nicht mehr? Man hat ihren Mann entlassen. Meinem hat man zum Ende des Monats gekündigt. Tja, mein Sohn hat auch noch immer nichts gefunden. Immer dasselbe, eine wie die andere. Nur Elend und noch mehr Elend …«
Martina hält inne und setzt sich auf die Sessellehne. Sie nimmt ein Taschentuch aus der Schürzentasche, tupft sich damit die Augen ab, obwohl sie trocken sind, und sieht Carlos an.
»Bis deine Mutter ihre Arbeit verlor, ging es ihr gut. Arme Marisa, sie ist so klug, so fleißig, macht alles so gut! Das ist nicht gerecht, nicht wahr? So viele Jahre im selben Betrieb und plötzlich, von einem Tag auf den anderen … Dabei war sie doch verbeamtet, nicht? Wie kann es sein, dass man die Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entlässt?«
»Ganz einfach, man muss nur die Gesetze ändern, um es möglich zu machen, Omi.« Carlos setzt sich neben sie und legt den Arm um sie. »Früher oder später wird Mamá eine Stelle finden, mach dir keine Sorgen.«
»Ich weiß nicht, in ihrem Alter …« Ihr Enkel merkt, dass seine Großmutter tatsächlich eine Menge Nachrichten hört. »Was da draußen vor sich geht, ist schrecklich, wir sind so egoistisch geworden! Wir sehen zu, wie einer nach dem anderen ins Unglück stürzt, und denken, na ja, solange es mich nicht trifft … Und jetzt hat es auch uns erwischt, klar, es musste ja so kommen. Wie hätten wir davonkommen sollen, wenn alle anderen um uns herum ihre Arbeit verlieren? Wenn ich jünger wäre, würde ich mir nicht so viele Sorgen machen, ich habe viele Krisen durchgemacht, mein Kleiner. Wir wurden damit fertig, wir waren stark, wir waren es gewohnt zu leiden, auszuwandern, zu kämpfen, aber jetzt … Sei mir nicht böse, aber ihr seid zu weich. Ihr schafft es noch, in einem Glas Wasser zu ertrinken, und da habe ich mich gefragt, was ich tun könnte, um mir und anderen Mut zu machen. Was könnte ich tun, damit sie verstehen, dass man nicht resignieren darf, die Dinge nicht so nehmen darf, wie sie kommen, dass man sich wehren und dagegenhalten muss, statt dieses Elend einfach zu akzeptieren. Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich habe es satt, nur traurige und resignierte Menschen zu sehen, und da mir nicht mehr viel Zeit bleibt …«
»Sag nicht so was, Omi.«
»Ach nein? Was willst du hören? Ich bin fast achtzig. Wie viele Jahre bleiben mir noch, fünf? Zehn?«
»Mindestens zwanzig«, sagt Carlos, ohne ihr in die Augen zu sehen.
»Na schön, dann zwanzig.« Martina lächelt über den Optimismus ihres Enkels. »So alt bist du jetzt, und hast kaum etwas vom Leben gehabt. Jedenfalls will ich die Zeit, die mir bleibt, nicht damit verbringen, zuzusehen, wie die Traurigkeit um mich herum überhandnimmt. Darauf habe ich keine Lust, also habe ich mir gesagt, na gut, als Erstes wehre ich mich gegen den Kalender. Du weißt ja, wie viel Spaß es mir macht, den Baum zu schmücken, die Kerzen anzuzünden und überhaupt Weihnachten.«
Der Blick ihres Enkels wandert von ihr zu dem Baum und wieder zu ihr zurück.
»Na dann: Frohe Weihnachten im September, Omi!«
Sie fängt an zu lachen und umarmt ihn.
»Frohe Weihnachten, mein Schatz. Frohe Weihnachten …«
Urplötzlich waren die Chinesinnen aufgetaucht, fast lautlos.
»Amalia, muss die Farbe nicht langsam raus?«
»Aber nein, zehn Minuten dauert es schon noch …«
Eines schönen Tages, als Amalia den Friseursalon aufschließt, bemerkt sie das Durcheinander in dem Geschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Tür steht offen, ein Lieferwagen parkt auf der Straße in der zweiten Reihe. Acht schlanke junge Frauen mit glattem, kinnlangem Haar laden Farbeimer aus. Sie sind alle gleich angezogen, weiße T-Shirts, weiße Hosen. Sie tragen identische Schuhe, Espadrilles, ebenfalls makellos weiß, und einen Mundschutz. Sie bewegen sich so anmutig wie Feen in einem Märchen. Toll, denkt Amalia, so schnell konnten sie die Hähnchenbude wieder vermieten, was für ein Glück sie haben.
»Warum starrst du sie so an?«
»Was geht es dich an, was ich tue oder lasse? Du musst noch …« Sie wirft einen Blick auf die Uhr. »Acht Minuten. Lies deine Zeitschrift und lass mich in Ruhe.«
Noch am selben Tag fangen sie mit dem Streichen an. Ernst, diszipliniert, unermüdlich wie Ameisen. Sie tun sich zu vier Paaren zusammen, eins für jede Wand, und legen los, eine streicht die obere Hälfte der Wand mit einem an einer langen Teleskopstange befestigten Pinsel, die andere nimmt die Rolle in die Hand. Vom Schaufenster des Friseursalons aus bewundert Amalia sie mit offenem Mund. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass Chinesen, geschweige denn Chinesinnen, auch Malerarbeiten verrichten. Vielleicht könnte sie sie im Sommer damit beauftragen, ihrem Salon einen neuen Anstrich zu verpassen, sie hat noch nie jemanden so schnell und zugleich so gut Wände anstreichen sehen. »Wirklich, es macht einfach Spaß, ihnen bei der Arbeit zuzuschauen«, sagt sie, an ihre Angestellten und Kundinnen gewandt, und lädt sie ein, sich selbst ein Bild von dem Spektakel zu machen. In diesem Moment ahnt sie nicht, wie oft sie sich später bei der Erinnerung an ihre Bemerkung wünschen wird, sie hätte den Mund gehalten.
»So, jetzt setz dich ans Waschbecken, damit sie dir das Haar wäscht.«
»Sind die acht Minuten denn schon vorbei? Bist du sicher? Nicht dass die Haarwurzeln grau bleiben.«
Achtundvierzig Stunden später wendet sich das Blatt. Dieselben jungen Frauen in derselben weißen Kleidung und denselben makellosen Espadrilles entladen erneut einen Lieferwagen, doch dieses Mal sind es keine Farbeimer, sondern Stapel von weiß lackierten Holzbrettern. Also keine Anstreicherinnen, denkt Marisa, aber was sind sie dann? Schreinerinnen, sagt sie sich im nächsten Augenblick, das heißt, Schreinerinnen und Anstreicherinnen, denn mit der gleichen bewundernswerten und ernsten Effizienz, die sie zwei Tage zuvor an den Tag gelegt haben, bauen sie nun, immer paarweise, kleine Möbel zusammen, die eine Mischung aus Tisch und Theke darstellen, was bei Amalia plötzlich Argwohn hervorruft.
»Sie will nur wissen, ob es immer dieselben sind oder andere …«, murmelt Lorena der neugierigen Frau ins Ohr, während sie ihr das Haar wäscht.
»Aber warum denn?«
Bis sie die Tische und Stühle sieht, die die Chinesinnen zusammenbauen, glaubt Amalia, dass sich die alte Hähnchenbude in einen dieser »Chinesen« verwandelt, einen Lebensmittelladen mit Nippes oder in einen Nippesladen mit ein paar Konserven und Kühlschränken voller kalter Getränke. Als sie merkt, dass sie sich geirrt hat, ist sie eher verwirrt als enttäuscht, als wären die jungen Frauen, die ihre Aufmerksamkeit erregen, nicht befugt, einen anderen Laden aufzuziehen als den, den sie vermutet hat. Wenn das, was sie vor sich sieht, kein Chinese ist, weiß sie nicht, was es sonst sein soll, was für ein Geschäft zwei Reihen mit jeweils vier Tischen erfordert, jeder mit zwei verschiedenen Arbeitsflächen und leeren Stühlen davor.
»Man müsste sie anzeigen, verdammt, nicht die Mädchen, nur ihre Arbeitgeber oder den Kerl, der sie angestellt hat, was weiß ich. Aber wahrscheinlich wäre es zwecklos, weil alle gleich aussehen, egal, wie lange man sie anstarrt.«
»Also wenn du mich fragst … das sieht nach einem Bumslokal aus.«
Ein Bumslokal, eine zwielichtige Diskothek, selbst ein Supermarkt mit Drogenverkauf im Hinterzimmer wäre besser gewesen, denkt Amalia, während sie hinübersieht und so tut, als hörte sie das Gemurmel am Waschbecken nicht. Denn was die Chinesinnen da drüben machen, ist reiner Terrorismus, Permanent-Maniküre für acht Euro, darum also geht’s, stehlen, betrügen, unlauterer Wettbewerb, gerichtet gegen sie und alle anderen Friseurläden des Viertels.
An dem Tag, an dem eine Neonreklame, MANIKÜRESHANGHAI, ihre letzten Zweifel ausräumte, wurde Amalia wieder zum Kind. Stundenlang schrie sie, weinte, trat um sich und trank Unmengen von Lindenblütentee. Am nächsten Tag ging sie nicht zur Arbeit, sondern erschien um acht Uhr morgens in der Stadtverwaltung, um Anzeige zu erstatten. Man wimmelte sie ab, erklärte, die Chinesen hätten alle erforderlichen Papiere vorgelegt, und seitdem klebt sie mit der Nase am Schaufenster und nimmt jeden Abend zwei Baldriantabletten, um schlafen zu können.
»Das kann einfach nicht sein …«
Amalia löst sich vom Schaufenster und dreht sich zu ihren Kundinnen im Salon um. Es sind heute nur drei, und sie wollen sich lediglich das Haar färben lassen. Zum Frisieren kommt eh keine mehr.
»Unmöglich, ich verstehe es einfach nicht. Ich meine, ich zahle alle meine Steuern, Gewerbesteuer, die Sozialbeiträge für die Angestellten, Strom, Wasser … Und die arme Mercedes musste ich entlassen, denn trotz der Sonderangebote und allem müssen wir für Permanent-Lack achtzehn Euro nehmen, drunter geht es nicht, und dabei habe ich euch nicht einmal die erhöhte Mehrwertsteuer aufgebrummt, die übernehme ich, das wisst ihr. Und die da? Wie können die acht Euro verlangen, wenn sie genauso viel Steuern zahlen wie ich? Es ist mir ein Rätsel, wirklich, ich verstehe es nicht. Was geht hier vor?«
Niemand antwortet. Lorena, die vor dem Sommer als Auszubildende angefangen hat, konzentriert sich auf den Kopf, den sie gerade wäscht, weil sie nur sehr wenig verdient und ihre Chefin nicht auf falsche Gedanken bringen will. Marisol, die älteste Angestellte, erinnert sich an die arme Mercedes, während sie die Lockenwickler in Señora Domínguez’ Haar befestigt. Sandra, die jüngste und nervöseste, weil ihre Entlassung weniger kosten würde als die ihrer Kollegin, fuchtelt so heftig mit Bürste und Föhn, dass sie sich um ein Haar verletzt hätte. Und nicht nur sich.
»Aua! Du hast mich schon wieder verbrannt.«
Es muss stimmen, denn María Gracia beklagt sich sonst nie. Sie kommt auch nicht allzu oft her. Sie ist Spanierin, wanderte als Kind mit ihren Eltern nach Venezuela aus, daher der karibische Akzent und der Doppelname, und kommt auf einen Stundenlohn, der nicht höher sein dürfte als der der Chinesinnen, obwohl sie sich bestimmt mehr dafür abrackert. María Gracia arbeitet stundenweise als Putzhilfe und schuftet sich halb tot, kann sich aber nur zwei luxuriöse Dinge erlauben, die nicht allzu viel kosten: Morgens frühstückt sie in einer Bar in der Metrostation, und hin und wieder kommt sie in den Friseursalon, aber natürlich nur zum Färben.
»Tut mir leid, entschuldige.« Sandra wirft ihr im Spiegel einen Blick zu und lächelt. »So werden wir früher fertig, du hast es ja immer so eilig.«
Amalia dreht sich hastig um und schaut sie an. Wäre das Ganze wirklich ein Zeichentrickfilm, denn so kommt es ihr vor, und die Chinesinnen von gegenüber wären Feen, hätte in diesem Augenblick ein Birnchen in ihrem Kopf aufgeleuchtet.
»Ach übrigens, María Gracia, wenn du Doña Martina siehst, sag ihr doch, dass sie hin und wieder bei uns vorbeischauen soll.« Sie führt eine Liste mit allen Kundinnen, die nicht mehr kommen, denen, die inzwischen einen billigeren Friseur gefunden haben, und denen, die sich vor ihren Schulden drücken. »Ihr Haar muss inzwischen fast weiß sein, so lange war sie nicht mehr hier.«