Kleine Zeichen vom Schicksal - Evelyn Birk - E-Book

Kleine Zeichen vom Schicksal E-Book

Evelyn Birk

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Beschreibung

Glaubst du an Schicksal? Yasmin Hardwood glaubt nicht daran. Sie ist eine erfolgreiche Psychologin und hat in ihrer Kindheit viele traumatische Erfahrungen gemacht. Vom Thema Liebe hat sie komplett die Finger gelassen. Sie ist emotional und psychisch dazu nicht in der Lage. Schafft es der ehemalige Soldat Steve Roberts, der selbst noch nicht die Ereignisse des letzten Einsatzes überwunden hat, diese Einstellung zu ändern? Eine spannende Liebesgeschichte mit psychologischem Hintergrund.

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Für Papa und Mama, die mich seit der ersten Sekunde an immer unterstützt haben. Und für meinen liebevollen und verständnisvollen Freund, der mir immer die Liebe und Energie gibt, um meine Ziele zu erreichen.

INHALTSVERZEICHNIS

EINS DER ALBTRAUM

ZWEI DIE NEUEN FÄLLE

DREI NACHFORSCHUNGEN

VIER DAS NACHBEBEN

FÜNF STEVE ROBERTS

SECHS MÄDELSABEND

SIEBEN DER TAG DANACH

ACHT DIE SITZUNG

NEUN DIE ABRECHNUNG

ZEHN NORMALITÄT?

ELF DIE WENDE

ZWÖLF AUFKLÄRUNG

DREIZEHN DIE RACHE

VIERZEHN SCHICKSAL

EINS DER ALBTRAUM

Durch meinen Schrei werde ich wach. Wie immer derselbe Albtraum, der mich jede Nacht verfolgt. Mein Blick landet auf dem Wecker: 3:35 Uhr. Auch diesen Tag werde ich dann wohl wieder mit wenig Schlaf starten müssen – etwas anderes bin ich aber auch nicht mehr gewohnt. Ich könnte versuchen, wieder einzuschlafen, in der Hoffnung, nicht wieder vom selben Albtraum heimgesucht zu werden. Oder aber ich lese mich in meinen neuen Fall ein. Dem Patienten habe ich kurzfristig gestern kurz vor Feierabend noch zugestimmt. Ein schwerer Schicksalsschlag! Was ich bisher über ihn aus Erzählungen weiß: Die Familie war nachts mit dem Auto auf dem Weg zu ihrer Ferienwohnung in Italien, als ein betrunkener Lastwagenfahrer von der Spur abkam. Das Auto wurde frontal und ungebremst mitgenommen. Er hat überlebt. Seine Frau und seine dreijährige Tochter hatten nicht so viel Glück. Seitdem ist er schwer depressiv, hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie eine posttraumatische Belastungsstörung und Angstzustände. Nach und nach haben sich Psychosen bei ihm entwickelt, die immer schlimmer und schlimmer wurden. Er ging nicht mehr aus dem Haus und traute sich nicht, in ein Auto zu steigen. Dadurch hat er Freunde, seinen Arbeitsplatz und seine Wohnung verloren. Eine Zeit lang hat er auf der Straße gelebt und sich aufgegeben. Er hatte nichts mehr, wofür es sich in seinen Augen zu leben lohnte… Doch dann hat er die Rache für sich entdeckt. Eines Abends, als er gerade einen neuen Schlafplatz gesucht hatte, wurde er auf einen Streit aufmerksam. Eine Frau hatte ihren Lebenspartner vor die Tür gesetzt. Der Partner war betrunken, er konnte kaum laufen oder ein Satz sprechen. Trotz betrunkenen Zustands schaffte er es aber, die Frau zu packen und gegen die Wand zu drücken. Gerade als er mit der Faust ausholte, um zuzuschlagen, erstach mein neuer Patient den Mann mit einer Glasscherbe, die er auf dem Boden gefunden hatte. Das war der erste Tod, der auf ihn zurückzuführen ist. Dies war kein geplanter Mord, sondern eine Affekthandlung seinerseits. Trotzdem kam er dadurch auf den Geschmack. Seine Ziele? Alle männlich und zum Todeszeitpunkt nachweislich betrunken. Anfangs beobachtete er seine Ziele noch. Er hatte vor einer Bar seinen neuen Schlafplatz eingerichtet. Männer, die regelmäßig tranken, waren anfangs sein Ziel, später war es ihm zunehmend egal, wie oft seine Opfer Alkohol zu sich nahmen. Allein, dass sie getrunken hatten, verurteilte er. So wollte er wahrscheinlich seiner Frau und Tochter gerecht werden, indem er alle trinkenden Männer beseitigte. Sein jüngstes Opfer war gerade 15 geworden. Er und seine Kollegen hatten es geschafft, sich Bier zu besorgen, und haben es heimlich draußen getrunken. Laut Aussagen der Jungs war es das erste Mal Alkohol in ihrem Leben. Auf dem Rückweg nach Hause wurde der 15-jährige Junge abgefangen. Sein Name war Theo. Durch Theos Vater bin ich auf meinen neuen Patienten aufmerksam geworden. Für viele ist es schwer vorstellbar, dass der Vater mir diesen Fall ans Herz gelegt hat. Auch ich fand es anfangs merkwürdig. Im Gespräch habe ich es aber verstanden. Der Patient hatte schon mehrere gerichtlich angeordnete Sitzungen bei Psychologen und war auch schon in Einrichtungen stationiert. Das Urteil des Gerichts war Unzurechnungsfähigkeit mit einer lebenslänglich angesetzten stationären Behandlung in einer psychiatrischen Einrichtung. Viele denken, dass Herr Kowalski zu milde bestraft wurde. Die Hinterbliebenen der Opfer hatten eine lebenslange Haft gefordert. Dort hätte er aber nicht die Hilfe bekommen, die er so dringend braucht, und lebenslang eingesperrt ist er trotzdem. Aus der Einrichtung wird er nie wieder entlassen werden. Jedoch wird er dort nur unter Drogen gesetzt, weshalb er schon etliche Male versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Er verabscheut Drogen. Kein Wunder – Alkohol ist eine Droge. Durch Alkoholkonsum sind seine Frau und Tochter tödlich verunglückt. Der Vater wollte ihn etwa ein Jahr nach dem Gerichtsurteil, am Todestag von Theo, nochmal zur Rede stellen. Er wollte antworten, warum ihm sein Sohn genommen worden war. Was er dort aber sah, war eine gequälte, kranke Seele, der geholfen werden muss. So will er den Tod seines Sohnes wahrscheinlich verarbeiten, indem die kranke Person, die dafür verantwortlich ist, verschwindet. Das konnte ich als Psychologin zumindest in unserem kurzen Gespräch feststellen. Verschwinden wird die verantwortliche Person, wenn der Patient wieder zu seinem alten Ich, vor dem tragischen Tod von Frau und Kind, wiederfindet. Das wird keine leichte Aufgabe für mich, befindet sich allerdings genau in meinem Spezialgebiet. Ich kann verstehen, warum der Patient so gehandelt hat. Nicht, dass ich es befürworte oder jemals so gehandelt hätte, aber ich kennen den Schmerz. Ich weiß, wozu dieser Schmerz verleiten kann, denn ich habe ihn selbst erfahren. Ich habe weitaus mehr als nur diesen Schmerz erlebt. Ich selbst leide unter Angst- und daraus folgenden Schlafstörungen, die ich noch nicht loswerden konnte. Mein Gehirn versucht immer noch, die Geschehnisse von damals zu verarbeiten, woraus der immer wiederkehrende Albtraum resultiert.

Es ist spät und ich habe morgen viel zu tun. Daher beschließe ich, mich nicht in den Fall einzulesen, und gebe mein Bestes, um wieder einzuschlafen.

Durch den klingelnden Wecker werde ich wach. Ich habe tatsächlich noch weitergeschlafen. Wirklich erholt bin ich trotzdem nicht, aber besser als nichts. Ich gehe in die Küche und lasse mir meinen Kaffee raus. Als morgendliche Lektüre habe ich mir die Fallakte meines Patienten geschnappt. Mich erstaunt es, wie viele Morde er begehen konnte, ohne geschnappt zu werden. Er wurde bereits nach dem ersten Mord von der Polizei gesucht. Es handelte sich zwar um Verteidigung zum Schutz der Frau, gestorben ist die Person dennoch und er entfernte sich damals unerlaubt vom Tatort. Die Frau, die den betrunkenen Lebensgefährten hinausgeworfen hatte, hat schließlich mit angesehen, wie mein Patient ihn getötet hat. Durch ihre Aussage und Beschreibung meines Patienten konnte eine Phantomzeichnung erstellt werden. Leider wurde der Polizei die Verbindung zwischen diesem Tod und den Morden viel zu spät bewusst. Die Bilder seiner Opfer haben mir den Appetit verdorben. Der Termin meines Patienten findet in der psychiatrischen Einrichtung statt. Ich entscheide mich trotzdem dazu, morgens noch kurz in die Praxis zu gehen, bevor ich zur Sitzung fahre.

Ich stehe vor der Praxis, in der ich arbeite: die Praxis für Psychotherapie Dr. Roland Schmid. Ich will gerade den Schlüssel für die Tür suchen, da macht mir schon Derik die Tür auf.

„Guten Morgen, meine Schöne. Gut geschlafen?“, begrüßt er mich.

Schon bereue ich es, noch kurz bei der Arbeit vorbeigeschaut zu haben. Er ist mein Arbeitskollege und ich kann ihn nicht ausstehen!

„Morgen, Derik. Ich habe dir schon so oft gesagt, ich bin nicht deine Schöne, ich habe keine Lust auf ein Date und nein, wir werden heute auch nicht gemeinsam Mittag essen. Ich habe einen neuen Fall und bin nachher unterwegs“ erwidere ich und schaue ihn dabei böse an.

„Deine gute Laune ist wie immer ansteckend. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht so leicht aufgeben werde. Irgendwann bekomme ich meine Essensverabredung mit dir schon.“ Zwinkernd und grinsend läuft er aus der Tür. „Bis morgen, Yasmin, ich wünsche dir noch einen wunderschönen Tag und viel Erfolg bei deinem neuen Fall!“

Ich kann Derik wirklich nicht ausstehen. Als Psychologe bringt er gute und neue Ansätze und geht, auch wenn seine Methoden hart sind, gut mit den Patienten um. Sein Charakter aber ist kaum zu ertragen. Seit seinem ersten Tag hier versucht er, mich ins Bett zu bekommen. Er ist ein klassischer Frauenheld. Mit seinen großen, braunen Augen, blonden, zurückgegelten Haaren und seinem trainierten Körper landet er sicher bei vielen Frauen. Schlau ist er dazu auch noch. Ich Date aber nicht, habe ich noch nie. Und selbst wenn ich an Dates interessiert wäre, würde ich mich nicht auf ihn einlassen. Ich stehe zwar nicht explizit auf einen Typ Mann, aber er ist es sicherlich nicht! Um aber wieder zur Sache zu kommen: Ich kann ihn nicht aussehen und in letzter Zeit meide ich Derik noch mehr als sonst. Vor einem Monat ist er zu weit gegangen. Er belästigt mich schon seit Tag eins hier und will immer mit mir essen gehen. Doch letzten Monat hat er mich am Hintern angefasst und mich schamlos und arrogant angemacht – es haben sich alle Nackenhaare bei mir aufgestellt und ich bin durchgedreht. Am nächsten Tag habe ich mich krankgemeldet, wegen einer Panikattacke durch die sexuelle Belästigung. Eine der vielen schlimmen Dinge, die mir zugestoßen sind, ist eine Vergewaltigung. Früher hatte ich schon panische Angst, sobald mir ein Mann nur zu nah kam. Das hat sich mittlerweile gebessert. Inzwischen trifft diese Angst nur noch auf fremde Männer, die sich mir zu sehr nähern, beziehungsweise mich berühren, zu. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich mich dazu entschieden habe, den Weg meines Dads zu verfolgen. Das Psychologiestudium hat mir geholfen, meine Ängste und meine Probleme zu überwinden. Gleichzeitig war es auch beruhigend für mich zu wissen, dass ich Menschen durch meine Arbeit durchschauen kann, was mir eine gewisse Art Sicherheit verschafft. Der wichtigste Aspekt ist aber, dass ich mich durch die Arbeit meinem Dad verbunden fühle. Ich war immer ein Papakind. Viele, die meine Geschichte kennen, verstehen nicht, wieso ich mich ausgerechnet für diesen Lebensweg entschieden habe. Die Arbeit meines Dads hat am Ende mein Leben zerstört und das Leben meiner beiden Eltern genommen.

Durch das Klingeln meines Telefons werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Oberkommissar Wieland ruft an; ich betreue ihn schon länger als Patienten. Was er wohl will?

„Hallo, Herr Wieland, ich bin überrascht, so früh von Ihnen zu hören. Wie geht es Frau und Kind?“

Er ist bei mir in Therapie, da sein Sohn seit einem Motorradunfall querschnittsgelähmt ist, wofür seine Frau ihm die Schuld gibt. Er hat sie damals überredet, den Motorradführerschein zu erlauben und hat seinem Sohn die Maschine gekauft. Mit diesem Motorrad hatte der dann den unglücklichen Unfall, der zur Lähmung geführt hat. Er wurde von einem Autofahrer in der Kurve geschnitten und stürzte. Der Autofahrer hatte die Kurve zu eng genommen und der Sohn war zu schnell gefahren. Schuld hat der Autofahrer bekommen, er wurde verurteilt zu Haft und Schadensersatz – wenig Trost für den Sohn, der nie wieder laufen können wird. Die letzte Stunde ist eigentlich sehr gut verlaufen, daher verwundert mich der Anruf. „Hoffentlich ist bei Ihnen alles gut!“

„Sehr gut. Zuhause hat sich die Situation seit der letzten Stunde sogar verbessert. Meine Frau und ich haben unseren Hochzeitstag zusammen verbracht. Wir waren schick essen, es lief auch sehr gut. Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal so lange allein waren und geredet haben. Ich musste mir auch schon lange keine Vorwürfe mehr anhören!“

Ich atme erleichtert auf. Das sind gute Neuigkeiten, ein großer Erfolg bei den beiden. Seine Frau hat es gemieden, mit ihm allein Zeit zu verbringen. „Klingt nach einem guten Fortschritt! Ich hatte schon Angst, dass etwas vorgefallen ist. Unsere nächste Sitzung ist schließlich erst in einem Monat. Weswegen rufen Sie denn dann an?“

„Ich rufe nicht aus privaten Gründen an, sondern tatsächlich geschäftlich und hätte als Hauptkommissar eine Bitte an Sie. Hätten Sie dafür kurz Zeit?“

„Klingt ziemlich ernst! Ich habe gleich einen Termin außer Haus. Kurz können wir aber telefonieren. Wie kann ich denn helfen?“

„Unsere Polizeipsychologin ist ausgefallen…. Um ehrlich zu sein, halte ich nicht viel von ihr. Sie macht ihren Job nur mittelmäßig bis schlecht und meiner Meinung nach ist sie nicht geeignet, um schwierige Fälle zu übernehmen. Aber um zum Punkt zu kommen: Ich habe einen jungen Kommissar, der unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Er darf im Dienst eingesetzt werden, aber Voraussetzung dafür sind wöchentliche Therapiestunden. Nach jeder Stunde benötigt er eine schriftliche Bestätigung der leitenden Therapeutin, dass er einsatzfähig ist. Wir sind aktuell unterbesetzt und er macht seinen Job sehr gut. Wir brauchen definitiv mehr Männer wie ihn! Es handelt sich hierbei um Kommissar Roberts. Er war Soldat, eingesetzt im Afghanistan-Krieg. Er wurde dort schwer verletzt, daher darf er nicht mehr im Militär tätig sein. So ist er zu uns gekommen. Den Unfall und die Folgen konnte er nie hinter sich lassen. Unsere Polizeipsychologin sorgt im Grunde nur dafür, dass er im Dienst erscheinen kann. Langfristig wird ihm so aber nicht geholfen. Daher habe ich schon länger mit dem Gedanken gespielt, den Fall an Sie zu übergeben… Können Sie ihn als neuen Patienten aufnehmen? Ich weiß, Sie haben viel zu tun. Ihm muss aber wirklich langfristig geholfen werden!“

Während des Gesprächs werfe ich einen schnellen Blick auf die Uhr. Es ist schon 09:13 Uhr. Ich muss langsam los zur psychiatrischen Einrichtung fahren.

„Ich nehme an, Sie können mir auf die Schnelle nicht seine Fallakte zukommen lassen, oder?“

„Da die Psychologin krank ist, aktuell nicht. Sobald ich die Akte erhalte, lasse ich sie Ihnen zukommen und sorge dafür, dass Sie offiziell Kommissar Roberts zugeteilt werden. Ich denke, ihr Stundenhonorar ist wie immer? Auch wenn ihm langfristig geholfen werden muss, sollte er diese Woche noch eine Therapiestunde bekommen, die ihm angerechnet wird, damit er im Dienst erscheinen darf. Ich weiß, so arbeiten Sie nicht, ich würde Sie aber wirklich nicht bitten, wenn es nicht dringend wäre!“

„Ja, mein Stundenlohn bleibt unverändert. Ohne seine Fallakte und die Infos, welche Erfolge die aktuelle Therapeutin erzielt hat bzw. welche Ansätze verfolgt wurden, würde die Therapie wieder bei null anfangen. Das wäre auch nicht unbedingt sinnvoll. Ich bin daher auf die Akten angewiesen. Ich muss jetzt leider langsam auflegen, sonst komme ich noch zu spät zu meinem Termin. Fürs Erste kann ich Ihnen anbieten, ein Kennenlerngespräch mit Kommissar Roberts zu führen. Dann kann ich ihn guten Gewissens für den Dienst freigeben. Gleichzeitig können wir uns näher kennenlernen und ich kann schonmal ein paar Eindrücke sammeln. Diese Woche sieht es bei mir aber bedauerlicherweise eher schlecht aus, ich kann Ihnen nur heute einen Termin anbieten. Weil es ein Kennenlerngespräch ist, braucht es nicht viel Vorbereitung. Könnte Kommissar Roberts um 16:15 Uhr zu mir in die Praxis kommen?“

„Das klingt gut, vielen Dank! Den Termin gebe ich Kommissar Roberts direkt weiter, er wird kommen! Machen Sie vor Ort bitte direkt einen festen wöchentlichen Termin aus für die Sitzungen. Bis zur nächsten Sitzung liegen Ihnen dann alle Informationen vor, darum kümmere ich mich persönlich!“

„Perfekt, der Termin ist eingetragen. Um eins klarzustellen – Herr Roberts wird nie wieder so leicht eine Diensttauglichkeit von mir erhalten! Da Sie schon länger ein Patient von mir sind und ich weiß, wie engagiert Sie in Ihrer Arbeit sind, tue ich Ihnen diesen einen Gefallen. Wie Sie schon gesagt haben, so arbeite ich eigentlich nicht und ich befürworte auch so eine Arbeit bei anderen nicht. Ich verstehe aber, dass Sie unterbesetzt sind und ich schätze es, dass Sie sich für Ihr Team so einsetzten und auch schauen, dass es Ihnen langfristig gut geht. Ich muss jetzt aber auch wirklich los. Auf Wiedersehen, Herr Wieland.“ „Vielen Dank für Ihr Verständnis Frau Hardwood ich werde Sie auch nie wieder um so einen Gefallen bitten. Versprochen!“

ZWEI DIE NEUEN FÄLLE

Obwohl ich schon länger als Psychologin arbeite, kann ich mich an die Security Checks, um in die psychiatrische Einrichtung zu kommen, nie gewöhnen. Man kommt sich wie ein Verbrecher vor und das, obwohl man hier nur seiner Arbeit nachgeht.

„Bitte hier Platznehmen, Herr Kowalski kommt gleich. Bitte fassen Sie den Patienten nicht an oder kommen ihm zu nahe. Für den Notfall ist ein Panikknopf unter dem Tisch. Sie werden zusätzlich noch von mir vor der Tür beobachtet, daher sollte eigentlich nichts Schlimmes passieren.“

Eigentlich… schöne Beschreibung. Daraus schließe ich, dass es schon einen Vorfall mit dem Patienten gegeben hat. Sehr beruhigend. Ich bin tatsächlich zu spät zu dem Termin gekommen. Pünktlichkeit war noch nie meine Stärke. Auch ohne Herrn Wielands Anruf hätte ich es sicher geschafft, mich irgendwie zu verspäten. Zum Glück ist das spätere Erscheinen nicht weiter tragisch. Ich schlage die Akten von Herrn Kowalski auf. Erst Termine machen mich immer nervös. Man kennt den Patienten noch nicht, daher kann man ihn auch schlechter einschätzen als in allen darauffolgenden Terminen. Die Akten verraten zwar viel über das Verhalten und den Charakter des Patienten, aus ihnen geht jedoch nicht hervor, wie der Patient auf einen selbst reagiert. Dazu kommt, dass die Informationen aus den Akten nicht von mir selbst stammen. Nichts gegen meine Kollegen und Kolleginnen, aber niemand ist perfekt. Es kann immer zu falschen Einschätzungen, Diagnosen und Therapieansätzen kommen. Daher sind die Akten immer ein guter Ansatz, auf den man bauen muss, komplett darauf verlassen darf man sich aber nicht!

Ich sollte meine Gedanken auf den Fall lenken und mich auf das Erstgespräch vorbereiten.

Jürgen Kowalski ist 43 Jahre alt. Seine Frau Marlen Kowalski lernte er schon sehr früh kennen. Sie waren als Kinder Nachbarn. Seine erste Beziehung und direkt die große Liebe – so viel Glück hat nicht jeder. Sie heirateten recht schnell, danach konzentrierten sich beide auf die Karriere. Sie war Anwältin, er hat ein Bauunternehmen aufgebaut und geleitet. Mit 35 Jahren ist er Vater von Eileen geworden. Während der Schwangerschaft beschlossen beide, bei der Arbeit kürzerzutreten. Seine Frau nahm zwei Jahre später wieder die Arbeit auf, aber nur noch halbtags. Herr Kowalski wollte sich einen Partner in die Firma holen, damit die Arbeitsbelastung nicht mehr nur auf ihm liegt. Der Unfall passierte im Sommer 2018. Die Familie hatte ein Ferienhaus in Italien gemietet. Auf dem Weg dahin passierte der tödliche Unfall. Mit dem Unfall ist auch der liebevolle Familienvater gestorben. Laut der Akten hat Herr Kowalski sich nicht um die Beerdigung gekümmert und ist nicht einmal aufgetaucht. Sein Geschäftspartner hat dies für ihn übernommen. Sie müssen meiner Meinung nach daher mehr als nur Geschäftspartner gewesen sein. Allerdings habe ich in den Unterlagen nichts darüber gefunden, wie die beiden Herren zueinander stehen. Es steht allgemein für meinen Geschmack zu wenig über den Partner, Herrn Brunner, in den Akten. Über ihn habe ich nur Folgendes herausgefunden: Er ist 39 Jahre alt und hat einen Sohn, der zwei Jahre alt ist. Von der Mutter ließ er sich nach der Geburt recht schnell scheiden. Ums Sorgerecht hat er nie gekämpft. Als die Scheidung durch war, wagte er einen Neuanfang. Er wechselte die Stadt und war auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Beruflich fand er diese als Geschäftspartner im Bauunternehmen von Herrn Kowalski. Welche beruflichen Erfahrungen er vor der Baufirma gesammelt hatte, wird durch die Akte nicht wirklich beantwortet, wie auch viele andere Sachen. Vermerkt wurde hier nur „Business Partner“. Kennengelernt haben sie sich in einer Sportsbar. Herr Kowalski durfte nicht zuhause Fußball schauen, wenn die Tochter schlief, da er immer laut fluchte. Daher war er an dem Abend in der Bar, um das Spiel seiner Lieblingsmannschaft zu verfolgen. Herr Brunner war ebenso anwesend, um die Gegenmannschaft anzufeuern. Warum genau Herr Kowalski entschied, ihn als Miteigentümer in die Firma zu holen, ist nicht bekannt. Das ist auch eine der Fragen, die ich unbedingt klären will. Die Fakten zu Herrn Brunner sind alle vage und zusammenhangslos. Ich verstehe nicht, warum das vor mir niemand gesehen oder niemanden interessiert hat. Ich habe heute Morgen jedenfalls beschlossen, Herrn Brunner bald in der Firma einen Besuch abzustatten. An seinen Absichten stimmt etwas nicht. Denn erst hat er Herrn Kowalski unterstützt und die Planung und Bezahlung der Beerdigung übernommen. Er hat ihn sogar zu verschiedenen Psychologen geschickt und begleitet. Doch damit war im November 2018 Schluss. Herr Brunner drängte Herrn Kowalski aus der Firma und kurz darauf verlor dieser seine Wohnung. Im März 2019 tötete Herr Kowalski den Betrunkenen, der seine Frau schlagen wollte. Ab hier wurde er polizeilich gesucht. Im April 2019 wurde er dann zum Serienmörder. Insgesamt hat er neun Morde begangen. Die ersten sechs Morde waren noch durchdacht. Er beobachtete seine Opfer und wählte Menschen, die regelmäßig tranken und in seinen Augen ein Alkoholproblem hatten. Die letzten drei Morde waren eher zufällig und ungeplant. Er suchte einfach Leute heraus, die er beim Trinken gesehen hatte. Es war ihm egal, ob das Trinken suchtbedingt war oder nicht. Mit den Morden wollte er Frau und Tochter gerecht werden. Er sah seine Taten nicht als Morde an, sondern als Segen. Seiner Meinung nach hat er mit den neun Morden verhindert, dass weitere Leben zerstört werden. Sein Leben wurde von einem Mann zerstört, der Alkohol getrunken hatte, weshalb er Männer loswerden wollte, die dem Mörder seiner Familie ähnelten. Das sind zumindest die Theorien meiner Vorgänger. Konkret dazu geäußert hat sich Herr Kowalski jedoch nie. Der Mörder seiner Familie war ein LKW-Fahrer, der für eine italienische Spedition arbeitete. Er war alkoholsüchtig. Neben Alkohol konsumierte er gerne auch andere Drogen und dealte auch. Er war polizeilich kein unbeschriebenes Blatt. Die Fahrten für die Spedition trat er wahrscheinlich nie nüchtern an. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er 28 Jahre alt. Er überlebte den Unfall und wurde verhaftet. Im Gefängnis folgte dann der kalte Entzug. Nüchtern ertrug er den Gedanken allerdings nicht, das Leben zweier Menschen genommen zu haben. Nach nur zwei Jahren Haft beging er Suizid. Er erhängte sich in seiner Zelle.

„Bitte hier hinsetzen, Herr Kowalski. Sie kennen die Regeln! Halten Sie sich nicht daran, folgen Konsequenzen!“, höre ich auf einmal. Ich bin so tief in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht gehört habe, wie die Tür geöffnet wurde.

„Er gehört Ihnen, Frau Hardwood. Ich bin vor der Tür, falls etwas sein sollte“ sagt der Betreuer zu mir und schließt direkt danach die Tür hinter sich. Herr Kowalski und ich sind allein im Raum.

„Hallo, Herr Kowalski, ich freue mich, Sie kennenlernen zu dürfen. Ich bin froh, dass es so kurzfristig geklappt hat. Ich bin-“

Direkt werde ich unterbrochen.

„Ich verstehe nicht, warum ich hier sitze. Sie sind eine von vielen Therapeuten. Sie alle können mir doch sowieso nicht helfen. Sie sind alle gleich, haben nur verschiedene Namen. Ich darf immer meine Geschichte erzählen und bekomme dann wieder Medikamente verschrieben. Jedes Mal andere, die aber dasselbe bewirken sollen. Ich möchte das nicht! Ich möchte nicht mit Ihnen reden. Damit ist die Sitzung vorbei. Sie können mich wieder abholen kommen!“

Mit diesen Worten geht auch direkt die Tür auf und der Betreuer ist bereit, ihn wieder mitzunehmen. Das sehe ich aber nicht ein.

„Einen Moment, bitte geben Sie mir noch kurz“ schreite ich ein und symbolisiere mit meiner Hand, dass er stoppen soll. Der Betreuer steht nur regungslos in der Tür. Mit meinem bösen Blick zeige ich nochmals deutlich, dass er gefälligst die Tür schließen soll, was er dann auch zum Glück macht. Ich hole kurz Luft und beruhige mich wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell eskalieren würde.

„Nochmal auf Anfang und bitte lassen Sie mich ausreden. Ich kann verstehen, dass Sie das Vertrauen in uns Psychologen verloren haben. Das hätte ich an Ihrer Stelle auch! Ich habe mir Ihre Akten genau angeschaut. Meiner Meinung nach wurden Sie bisher kein einziges Mal richtig behandelt. Sie waren, auch vor Ihrer gerichtlichen Einweisung hier, bei vielen Psychologen und alle hatten denselben Ansatz. Man wollte Sie ruhigstellen, unter anderem mit Beruhigungsmitteln. Ein Fehler in meinen Augen!“

Endlich hebt er seinen Kopf und schaut mich das erste Mal direkt an. Er scheint überrascht und ich habe wohl seine Aufmerksamkeit, also mache ich langsam weiter.

„Sie können sich sicher sein, dass ich Ihren Schmerz vollkommen verstehen und nachvollziehen kann. Das unterscheidet mich von den anderen Psychologen.“

„DAS KÖNNEN SIE NICHT. DAS KANN NIEMAND!“, schreit er aufgebracht.

Dabei klopft er seine gefesselten Hände auf den Tisch. Witzigerweise habe ich jetzt erst gemerkt, dass seine Hände gefesselt sind – beim nächsten Mal muss ich den Betreuer bitten, diese zu entfernen.

Leise entgegne ich: „Meine Eltern wurden vor meinen Augen ermordet. Glauben Sie mir, ich verstehe wirklich Ihren Schmerz!“

Sein Gesichtsausdruck wird direkt weicher. Vom schreienden und zornigen Mann ist nichts mehr zu sehen. Er packt seine gebundenen Hände wieder unter den Tisch.

„Hören Sie, ich will Ihnen wirklich helfen und das nach Möglichkeiten ohne Beruhigungsmittel. Das hängt aber von Ihnen allein ab. Ich darf die Dosierung senken und eventuell auch komplett absetzten, aber das nur mit Absprache und Genehmigung Ihrer Betreuer hier. Ich denke, Sie wissen selbst, wie schwer diese zu überzeugen sind. Deswegen müssen wir gute Ergebnisse in den Therapiestunden liefern. Dann kann ich die Senkungen begründen und Ihnen zeigen, wie Sie mit Ihrem Schmerz weiterleben können. Mein Ziel ist es nicht nur, die Dosierung zu minimieren, sondern auch, Sie von den Suizidgedanken abzubringen. Ich will, dass Sie Ihr Leben für lebenswert halten, auch unter den gegebenen Umständen!“

Sein Blick senkt sich wieder und er murmelt: „Hatten Sie schon einmal Suizidgedanken…?“

„Nicht nur Gedanken, ich habe es einmal, zum Glück erfolglos, versucht. Überdosis Schlafmittel. Die Aufpasserin im Pflegeheim hat mich gefunden und direkt einen Krankenwagen gerufen. Als das in meiner Akte stand, wollte mich keine Familie mehr in Pflege nehmen oder gar adoptieren. Es war eine schwere Zeit für mich und ich sah darin meinen Ausweg. Zum Glück denke ich nicht mehr so und habe auch nur eine kurze Phase lang in meinem Leben gedacht, dass dies ein Ausweg wäre.“

Er schaut mich wieder direkt an. Ich kann sein Mitleid sehen und fühlen. Ich hasse es, Mitleid von Menschen zu bekommen.

Zögerlich äußert er: „Sie waren im Kinderheim? Wie alt waren Sie denn, als Sie Ihre Familie verloren haben?“

Ich atme tief durch: „8 Jahre.“

Er schluckt und seine Augen werden glasig. Nach einer kurzen Pause entgegnete er nur: „Wer...?“

„Mein Dad war damals auch Psychologe, nur war er bei der Polizei angestellt und nicht wie ich in einer Praxis tätig. Er erstellte unter anderem Täterprofile für die Polizei, war also als Profiler tätig. Mein Dad analysierte die Verbrechen und konnte so auf das Verhalten, die Vorgehensweisen und die Absichten des Täters schließen. Auch konnte er anhand der Angaben genaue Aussagen zum Aussehen oder zu Charaktereigenschaften des Täters treffen und dadurch konnte die Polizei diese besser schnappen. Mein Dad liebte seine Arbeit. Damals musste er ein Täterprofil für eine Gruppe erstellen, die Kinder verkaufte. Man entführte Kinder aus intakten Familien im Alter von bis zu einem Jahr, um sie an Leute zu verkaufen, die nicht so viel Glück und das nötige Kleingeld dafür hatten. Mein Dad gab eine Pressekonferenz im Fernsehen. Das Täterprofil passte 1:1– das fand der Chef der Bande nicht gut. Damit wurde mein Dad zum Ziel. Sie wollten sich dafür rächen, dass er so über sie geredet hatte. Die Gruppe stieg in mein Elternhaus ein, fesselte meine Eltern an Stühle und setzte sie gegenüber, sodass sich beide in die Augen schauen konnten. Meinen Dad einfach zu töten, erschien ihnen zu leicht, also folterte die Gruppe vor den Augen meines Dads meine Ma. Zu der Zeit war ich im Ballettunterricht. Die Halle, indem der Kurs stattfand, war nicht weit weg, daher durfte ich die Strecke immer allein gehen. Als ich nach Hause kam, überraschte ich die Bande. Ich war geschockt. Meine Ma war übelst zugerichtet. Als sie mich sahen, gingen sie auf mich los. Ich rannte weg… war aber nicht schnell genug. Da kam dem Chef eine Idee. Was ist das Schmerzvollste, was du einem liebevollen Vater nur antun kannst? Richtig! Den Vater in dem Wissen sterben zu lassen, dass er es nicht geschafft hat, sein eigenes Kind zu beschützen, und es Qualen durchleiden muss, während man selbst erlöst wird. Der Chef bedankte sich bei meinem Vater mit den Worten: „Wir haben schon länger eine Putzfrau gebraucht“ und erstach erst meine Ma und dann ihn. Die Bande missbrauchte mich dann ein halbes Jahr als Sklavin. Doch das war dem Chef irgendwann nicht mehr genug. Am Tag meiner Flucht kam er auf die Idee, uns ein Hotelzimmer zu mieten. Ich wäre ja fast erwachsen, da könnte man mich endlich auch für mehr „gebrauchen“… Währenddessen gelang es mir, sein Messer aus seiner Hosentasche zu greifen. Nachdem er mich fertig „benutzt“ hatte, rammte ich ihm beim Anziehen das Messer in die Weichteile. Er fiel direkt zu Boden. Hinter dem Hotel war ein Wald. Dort versteckte ich mich. Sie suchten mich im Wald und das sehr lange und bewaffnet, haben mich zum Glück aber nie gefunden. Irgendwann kamen sie dann zum Entschluss, dass ich weitergerannt sein musste, und machten sich woanders auf die Suche. Ich lag nur regungslos da. Nach zwei Tagen nahm ich meinen Mut zusammen und ließ mir vor Ort von einer Frau helfen. Sie hatte gerade im Hotel ausgecheckt und sah vertrauenswürdig aus… Vor allem war sie aber eine Frau...“

Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Ich hasse es, wenn ich meine Geschichte erzählen muss. Klar, habe ich es in diesem Fall freiwillig getan, aber anders hätte er mir nicht geglaubt. Nach einer kurzen Pause füge ich hinzu.

„Ich kann Ihren Schmerz also wirklich verstehen... Ich musste auch lernen, mit diesem Schmerz zu leben.“

Eine Träne kullert ihm die Wange hinunter. Ich bilde mir ein, auch den Betreuer vor der Tür weinen zu hören. Das ignoriere ich aber weitestgehend und fahre fort:

„Die Therapeuten, die ich in meiner Kindheit hatte, waren genauso unfähig wie Ihre. Darum unter anderem habe ich mich für meinen Beruf entschieden. Ich kann Ihnen wirklich helfen, aber Sie müssen mich lassen und vor allem müssen Sie mir vertrauen. Schaffen Sie das?“

Er schluckt und atmet schwer.

Leise entgegnet er: „… Ich versuche es.“

Ich bin sichtlich erleichtert. Für mich ist das heute trotzdem zu viel gewesen. Ich beschließe daher, die Stunde abzubrechen und beim nächsten Mal richtig zu beginnen. Ich habe sein Vertrauen gewonnen, das muss fürs Erste reichen.

„Gut, ich würde sagen, wir machen für heute Schluss.“

Er schaut mich fragend an.

Ich beruhige ihn: „Es war heute genug Aufregung für einen Tag, wir fangen beim nächsten Mal richtig an. Ich lasse Ihnen meine Akten zukommen. Dann können Sie offiziell nachlesen, was mir passiert ist und verstehen hoffentlich, dass ich Ihren Schmerz wirklich fühle! Erst, wenn Sie mir vertrauen, können wir richtige Erfolge erzielen. Ich verspreche Ihnen, dass wir direkt die Dosierung angehen werden, wenn sie kooperieren. Ohne Ihre Hilfe wird es aber nicht funktionieren. Nächste Woche zur selben Zeit treffen wir uns hier und dann komme ich auch pünktlich. Passt das für Sie, Herr Kowalski?“

Er nickt. Ich bin froh, dass die Sitzung vorbei ist, daher stehe auf und will gehen.

„Was ist mit der Bande passiert…?“, wirft er ein, als ich schon fast aus der Tür bin.

„Sie wurden nie von der Polizei geschnappt… Aber sie haben später ein Kind eines Mafiabosses entführt. Sagen wir mal so, die Bande hat das nicht überlebt und der Mafiaboss hat sein Sohn wieder…“

Er nickt nachdenklich und wir verabschieden uns.

Im Auto muss ich mich beruhigen – das Kennenlernen mit Herrn Kowalski war heftig. Ich musste meine Geschichte erzählen, von seiner Seite aus wäre sonst nie Vertrauen entstanden. Der Betreuer vor der Tür hat mich beim Hinausgehen mit einem mitleidigen Blick angeschaut. Ich kann so etwas nicht ausstehen. Ich stieg deswegen auch direkt in mein Auto ein.

Herr Salmon, der Betreuer, klopft an meiner Autotür, nachdem ich sie geöffnet habe, sagt er zu mir: „Sie haben Herrn Kowalski wahrscheinlich wirklich berührt mit Ihrer Geschichte. Ich glaube, das war nicht gespielt… Mein Beileid zu Ihrer Kindheit…“

Ich sehe ihn an. Auf die Konversation habe ich wirklich keine Lust und will ihn einfach schnell abspeisen. Persönlich finde ich es auch ein bisschen dreist, jemanden an die Autotür zu klopfen, aber wenn wir schon in der Situation sind, kann ich dies direkt zu meinem Vorteil nutzen.

„Danke… Ich habe für die nächste Sitzung eine Bitte. Bin ich bei Ihnen da richtig?“

Er schüttelt den Kopf.

„Gerade bei Herrn Kowalski entscheiden immer die Chefs, was genehmigt wird. Auch in Bezug auf Sie waren die Chefs sehr deutlich. Aber Sie können mir Ihr Anliegen gerne mitteilen, ich werde es entsprechend weiterleiten und bis zur nächsten Sitzung klären!“

Ich schaue ihn verwundert an: „Mit den Chefs direkt kann ich nicht sprechen? Muss ich wirklich Sie als Vermittler nutzen?“

Er nickt. Schön, dass mir die Einrichtung die Arbeit mit Herrn Kowalski noch schwerer macht als sowieso. Ich rolle meine Augen.

„Okay, gut. Klären Sie bitte bis nächste Woche ab, ob die nächsten Termine ohne Handfesseln geführt werden können. Ich weiß, es handelt sich um einen Patienten, der viel Schuld auf seinen Schultern trägt, aber geben Sie als Argument bitte an, dass ich so das Vertrauen und die Verbindung stärken möchte. Ich denke, wenn Sie von der heutigen Stunde berichten, dann sehen sie hoffentlich, dass ich es schon geschafft habe, in ihm Mitleid zu wecken. Damit bin ich sicher schon weiter als manch andere Psychologen gekommen! Außerdem fragen Sie bitte, ob wir ab der nächsten Stunde die Medikamentendosierung minimieren können. Natürlich erst nach der Stunde und auch nur, wenn ich Erfolge erzielt habe, das versteht sich hoffentlich von selbst.“

„Gebe ich so weiter, ich teile Ihnen dann nächsten Dienstag vor der Sitzung die Entscheidung mit.“

Ich nicke, verabschiede mich und schließen wieder meine Autotüre. Auf weitere Konversationen habe ich keine Lust. Da der Termin jetzt doch schneller vorbei ist als gedacht, beschließe ich, nachhause zu fahren, um dort zu essen und mich auszuruhen, bis ich heute meinen zweiten neuen Fall, Herrn Roberts, angehe. Ich starte den Motor meines schwarzen Audi A3. Ich kann es kaum abwarten, von diesem Parkplatz zu kommen und es mir auf der Couch bequem zu machen!

Durch meinen klingelnden Wecker werde ich wach. Ich stelle ihn mir immer, wenn ich mich auf die Couch lege. Die Chance, einzuschlafen, ist bei mir sehr groß, da ich jede Nacht wenig und schlecht schlafe. Mein erster Blick wandert in Richtung Wohnzimmeruhr. Obwohl ich gerade meinen Wecker ausgeschaltet habe, will ich sicher gehen, dass ich die Zeit richtig im Blick habe. Ich kann mich noch kurz frisch machen und muss dann direkt los in die Praxis. Hier steht dann mein zweiter neuer Fall heute an. Kommissar Roberts – ein ehemaliger Soldat, der jetzt als Kommissar arbeitet und immer noch unter den Ereignissen seines letzten Einsatzes leidet. Ich hoffe, der Termin wird nicht so nervenaufreibend wie der heute Morgen. Normalweise würde ich auch nie zwei neue Fälle auf denselben Tag legen! Heute war es leider organisatorisch nicht anders möglich. Ich hoffe, ich werde es nicht bereuen, aber ich konnte Herrn Wieland den Gefallen einfach nicht ausschlagen. In unseren Sitzungen reden wir immer wieder über seine Arbeit. Er leistet viel Gutes dort und gehört wahrscheinlich zu den Besten. Er legt Wert auf seine Mitmenschen, was für einen Polizisten in meinen Augen eine sehr gute Eigenschaft ist. Er selbst kommt aber dadurch zu kurz. Das ist auch privat ein großes Problem, an dem wir gerade arbeiten.

In der Praxis angekommen, begrüßt mich natürlich direkt wieder Derik. Ich kann den Kerl echt nicht ausstehen. Er klebt förmlich an mir, sobald ich die Praxis betrete.

„Yasmin, schön, dich wiederzusehen – ich habe dich schon vermisst. Und, wie war dein neuer Fall?“

Er klingt so schmierig, dass ich mich anstrengen muss, mich nicht direkt zu übergeben. Ich habe keine Lust auf Diskussionen und will ihn einfach schnell abfrühstücken.

„Derik, wie wäre es, wenn du dich um deine eigenen Patienten kümmern würdest? Wenn ich Hilfe brauche, melde ich mich schon.“

„Direkt wie immer. Darauf stehe ich!“

In diesem Moment kommen uns unser Chef und unsere Empfangsdame, seine Frau, vom Konferenzraum entgegengelaufen. Sie sind ein süßes Ehepaar. Auch er als Chef ist super! Ich könnte mir keinen Besseren vorstellen. Roland Schmid lässt uns immer selbst entscheiden, welche Fälle wir betreuen wollen. Er ist auch nicht so umsatzorientiert, wie andere. Er ist zudem einer der wenigen, die meine ganze Geschichte kennen. Ich habe ihn immer als Mentor gesehen. Die Sache mit Derik kann ich ihm allerdings nicht anvertrauen. Ich wollte, doch dann hat mich der Mut verlassen. Ich bin leider geprägt von meiner Kindheit, in der man mir nicht immer Glauben schenkte. Man hat mir damals auch die Vergewaltigung nicht geglaubt. Da ich mich so lange im Wald versteckt hatte, konnte man nichts mehr nachweisen. Deswegen unter anderem gehört es nicht zu meinen Stärken, mich anderen anzuvertrauen. Eigentlich ist Roland eine Ausnahme. Dieses Mal kann ich es aber einfach nicht.

„Yasmin, Derik – schön, dass ich euch noch sehe. Da wir ja spontan ab nächster Woche im Urlaub sind, müssen wir morgen bitte bereden, wer welche Vertretung für mich übernimmt. Wann habt ihr morgen Zeit?“

„Wir können doch in LaPasta essen gehen und alles besprechen. Ist sicher viel entspannter. Gerne können wir es auf die Mittagspause legen, dann muss keiner von uns einen Termin verschieben“ wirft Derik direkt ein.

Ich verdrehe innerlich die Augen. Er kann einfach keine Ruhe geben. Dieser Job wäre so perfekt, wenn Derik hier nicht arbeiten würde. Eine Zeit lang waren Roland und ich allein in der Praxis. Ich vermisse diese Zeit. Die Praxis hat aber so großes Ansehen bekommen, dass Roland jemanden zur Unterstützung einstellen musste. Das verstehe ich auch vollkommen, nur hätte es jemand anderes und nicht Derik sein sollen.

„Perfekt – Liebling, bitte reserviere uns für morgen einen ruhigen Tisch bei LaPasta. Auf 12:00 Uhr und schicke den Termin bitte an die beiden weiter.“