Kleines Glück - Tanja Binder - E-Book

Kleines Glück E-Book

Tanja Binder

4,8

Beschreibung

Schulschwänzer und Obdachlose, Kranke und Alte, Einsame und Suchende. "Kleines Glück" ist eine Ansammlung von Glücksrittern, Außenseitern, Freaks, die sich redlich bemühen, ihr Leben zu meistern. Die Menschen, die im Zentrum der elf Kurzgeschichten von Tanja Binder stehen, leben am Rande der Gesellschaft. Für ein kleines Stück vom Glück müssen sie sich lang strecken. Manche der Geschichten sind irrwitzig - ein Terrorist, der unter Flugangst leidet, soll just in einem Flugzeug ein Selbstmordattentat verüben, andere surreal, wie die von Sarah Georg, der über Nacht zwei Hörner wachsen. Tanja Binder entwirft ihre Figuren und Geschichten mit viel Sinn für Humor, der sich bisweilen tiefschwarz färbt.

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Seitenzahl: 78

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Über die Autorin:

Tanja Binder (Jahrgang 1969) schreibt vor allem Kurzgeschichten. 2014 hat sie mit „Meine Toten“ ihren ersten Roman herausgebracht, der von Alexander Horn illustriert wurde. Binder arbeitet als Pressereferentin in einem Kunstmuseum. http://tanjabinder.jimdo.com

Über die Illustratorin:

Nicole El Salamoni (Jahrgang 1970) lebt und arbeitet als Illustratorin in Mannheim. Nach ihrem Kommunikationsdesign-Studium arbeitete sie jahrelang als Grafikerin, bis sie sich ganz ihrer Leidenschaft widmete und die Illustration zu ihrem Beruf machte. Sie illustriert sowohl für Verlage als auch für die Werbung und öffentliche Einrichtungen.

www.hellonikki.de

Inhaltsverzeichnis

Kleines Glück

Himmelsstürmer

Im Verborgenen

Am Hauptbahnhof

Gegenüber, die Lichter

Die Verwandlung

Nakira lacht

Brief einer Abschiedsnehmerin

Das Leben der Rose

Volltreffer

Kleines GLÜCK

„Los, komm schon!“ Michael zerrte Andreas am Ärmel seiner Jeansjacke weiter. Gehetzt blickte er zurück, Richtung Schultor.

„Könntet jetzt endlich mal die Mücke machen, ihr blöden Bullen“, presste Michael zwischen den Zähnen hervor.

„Das heißt Fliege“, korrigierte ihn Andreas.

Worauf Michael ihn losließ, um zu einer Ohrfeige auszuholen. „Du kleiner Klugscheißer, dir geb‘ ich ...“ Andreas duckte sich ängstlich. Die Hand blieb als Andeutung in der Luft stehen.

„Weiter, los, los, kommt schon, ihr lahmen Eier!“, rief Markus ihnen vom anderen Ende des Ganges zu.

„Du meinst Enten“, hakte Andreas ein. Er hielt sich die Ohren zu, als Markus die Tür vor ihnen aufstieß. „Notausgang“ leuchtete es grün darüber. Eigentlich war Andreas virtuos darin, kommende Ereignisse vorherzusehen. Diesmal nicht. Das Warnsignal blieb aus.

Die Jungs rannten weiter nach draußen, quer über den hinteren Schulhof und zwängten sich zwischen den Büschen hindurch. Markus machte Räuberleiter, Michael sprang in seine Hand und glitt elegant über den Drahtzaun. Andreas hatte Mühe, es ihm nachzumachen. Er war jünger und kleiner als seine beiden Brüder, aber kräftig, sah jetzt schon – mit gerade mal acht Jahren – aus wie ein kleiner Schrank.

Vor der Schule stiegen die Polizisten in ihren Streifenwagen ein.

„Unseren Escort-Service haben wir abgehängt“, kicherte Michael.

„Denen haben wir es mal wieder gezeigt“, grinste Markus.

Andreas drehte sich weg. Die beiden Älteren schauten ihn erwartungsvoll an, doch er tat, als reinige er seine Hosentasche.

„Da verpasste nix“, versuchte Michael ihn aufzumuntern.

„Hmmmm.“

Dass er eigentlich gerne in die Schule gehen würde – wenn seine Brüder ihn nur ließen – konnte er ihnen nicht sagen. Die Diskussionen kannte er.

Was hatte er nicht alles versucht, um die beiden zu überreden, ihn in der Schule zurückzulassen? Er war humpelnd hinter ihnen her gewackelt – „Bänderzerrung“. Er hatte gehustet – „Asthma, kann nicht schneller“. Hatte sich müde gestellt – „lasst mal, ich schlaf hier im Unterricht ’ne Runde“, ja, sogar sein Interesse bekundet: „Heute nehmen wir die Entstehung des Weltalls durch!“ Nichts hatte je etwas genutzt. Michael und Markus waren unerbittlich. Ein Liebknecht ging nicht zur Schule: Das war unter seiner Würde.

„Was machen wir jetzt?“, maulte Andreas. „Mir ist furchtbar langweilig.“

„Schauen mal im Jagdstübel vorbei“, ordnete Markus an. Er war fünfzehn, sah wegen seiner Größe und beeindruckenden Leibesfülle aber aus wie siebzehn, ja sogar achtzehn. Vor allem seit ihm ein Bart wuchs.

Andreas jammerte weiter. Er hasste diese Kaschemme. Miese Luft, nur Erwachsene, nichts zum Spielen weit und breit.

„Dann zieh Leine!“, herrschte Michael ihn an.

Na, super! Das liebte er. Für die Schule war es jetzt zu spät. Oder wie sollte er Frau Vogel erklären, dass er erst eineinhalb Stunden nach Unterrichtsbeginn dort aufschlug? Blieb also nur, nach Hause zu gehen.

Auf dem Heimweg schaute er auf dem Spielplatz am Neckar vorbei. Er warf sich auf die längste Schaukel und flog hin und her, zum Fluss und zurück.

Unten im Hausgang stapelten sich kniehoch die Anzeigenblätter. Das kümmerte hier keinen. Sie wurden zur Seite geschoben und, wenn es zu viele wurden, draußen auf den Gehweg gekippt. Es roch nach altem Zigarettenrauch und abgestandenem Bier. Unzählige Essensgerüche – Pizza, Dosensuppe, Ravioli, Kebab? – hatten sich zu einem nicht mehr unterscheidbaren Gemisch ineinander verwoben.

„Hallo!“, rief er an der Tür und stieß beim Ausziehen der Jacke ein paar der leeren Flaschen um, die den Wohnungsflur bevölkerten wie eine stille Armee gläserner Begleiter.

„Wer ist da?“ Das Klirren hatte sie aufgeschreckt und nun stand seine Mutter in der Tür. Vielmehr, sie lehnte am Türrahmen. Sie trug den Schlafanzug, in den sie vor ein paar Tagen geschlüpft war. „Ach, du bist es. Schule schon aus?“, murmelte sie, während sie schlurfend den Rückweg ins Wohnzimmer antrat, wo der quäkende Fernseher auf sie wartete.

„Ja, Mama“, sagte Andreas.

Sie setzte sich und drehte sich eine Zigarette. Auf der Couch neben ihr lagen die Zeitungen der letzten Tage, Tabakkrümel, eine aufgerissene Chipstüte und eine Flasche Bier. Sie war versunken in ihr Fernsehprogramm, als Andreas sich wieder aufmachte.

„Wohin willste?“ rief sie, doch er war schon, mit der Jacke in der Hand, die Treppe hinunter, Richtung Jagdstübel. Dann also doch.

Auf der Mittelstraße sah es fast so aus wie bei ihnen im

Haus: ein angebissener Döner links, Erbrochenes rechts, überall Papierfetzen, Dosen und bunte Plastikreste. Andreas hatte eine Vision davon, wie es wäre, hier als Müllmann zu arbeiten. Eine Fahrt entlang der „Müllstraße“ – wie die Einheimischen sie in inniger Hassliebe getauft hatten – quer durch die Neckarstadt-West, das musste eine Wonne sein! Mit Vorher-Nachher-Bildern im „Magazin für Abfallwirtschaft“, das er kürzlich in ihrem Briefkasten vorgefunden hatte.

Grinsend bog er um die Ecke, vorbei an der zugemauerten Lupinenstraße. Vorsichtig schlich er um die hier geparkten Motorräder. Seit er einmal beobachtet hatte, wie die Fahrer einen Jungen in die Mangel genommen hatten, der nur den Finger über den verheißungsvoll glänzenden Lack hatte gleiten lassen, machte er einen mehr als weiten Bogen darum.

Vor dem Jagdstübel stand Markus. Er steckte ein Päckchen in seine Hosentasche und nickte einem fetten Mann in schwarzer Lederkleidung zu. Der nahm Kurs auf Andreas, dem Schweiß auf die Stirn trat, als der Dickwanst ihn passierte.

„Glotz nicht so“, blaffte Markus den schwitzenden Andreas an. „Wir brauchen das Geld.“ Und weg war er.

Michael trat durch die Tür des Jagdstübel, zog Andreas mit sich hinein und schob ihn in die Küche, neben Rainer. Er war der Wirt vom Stübel, Barkeeper und Koch in einem. Andreas wurde zum Spülen verdonnert. Die Spülmaschine war vor Wochen ausgefallen, angeblich kam der Heini vom Reparaturdienst nicht. Andreas aber hatte den Verdacht, dass Rainer derzeit knapp bei Kasse war.

Spülen konnte Andreas richtig gut. Einweichen war das A und O. Und der nicht zu knappe Gebrauch von Spülmittel. Im Supermarkt hatte er einen Kratzschwamm mitgehen lassen, der tatsächlich hielt, was die Werbung versprach.

Nach dem Abwasch ließ Rainer sich nicht lumpen und spendierte ihm einen Schokoriegel. Ein Mittagessen ganz nach Andreas‘ Geschmack.

Blinkend und laut piepend heischten die Spielautomaten in einer Nische um Aufmerksamkeit, in hartem Wettstreit mit dem Nonstop laufenden Fernsehgerät über dem Tresen.

Irgendwann holte Markus sie ab. „Wir müssen noch einkaufen.“ Nur das Nötigste: Bier, Chips, Kekse, Klopapier. Manchmal bestand Michael auf Seife oder Deo. Das mussten sie meistens klauen, weil die Finanzen das nicht mehr hergaben.

Sie waren ein eingespieltes Team. Einer lenkte den Verkäufer ab. „Haben Sie auch eine größere Flasche Duschgel?“ Einer beschäftigte die Kassiererin. „Könnten Sie mir das Wechselgeld klein geben? Ich muss an den Automaten ...“ Und der Dritte holte all jene Dinge, die nicht auf das Fließband sollten.

Heute hatten sie sich den kürzlich eröffneten Supermarkt am Neumarkt ausgesucht. „Mal ‘was Anderes“, hatte Markus gesagt. Und das war es dann auch.

Sie schwärmten aus. Anfangs war alles wie immer. Doch gerade als Michael den Einkaufswagen zurückschieben wollte, schrie Markus auf. Ein Mann im Anzug schnellte von hinten aus einer Tür heraus auf ihn zu und nahm ihn in den Schwitzkasten. Michael und Andreas ließen den Wagen stehen und rannten Richtung Eingang, wo Markus vor dem Gemüsestand im Griff des Fängers auf und nieder hüpfte wie angestochen. Vor der Tür hielt ein Streifenwagen mit Blaulicht. Wo kam der jetzt so schnell her?

Das war der Tag, an dem sich alles änderte.

Markus und Michael kamen nicht mit heim. Andreas wurde vom bewährten Escort-Service alleine zurück zur Mutter gebracht. Die Beamten rümpften die Nasen, als sie das Haus betraten, und nochmals beim Anblick der organisch wuchernden Altglassammlung. Die Mutter saß vor dem Fernseher und war guter Dinge. Und so ließen die Polizisten Andreas in ihrer Obhut zurück.

Er schob Pizzareste und Bierflaschen zur Seite und setzte sich neben sie. Sie legte den Arm um ihn. Sie stank, aber das Flanell ihrer Ärmel war weich und warm. Andreas kuschelte sich an sie und schaute mit ihr zusammen ihre liebste Nachmittagsserie.

Mit einer Rolle gelber Säcke ging er schließlich in sein Zimmer, das bis vorhin noch das Zimmer von Markus, Michael und ihm gewesen war. Er krempelte die Ärmel hoch und fing an. Am Abend zerrte er neun vollgestopfte Säcke auf den Bordstein vors Haus.

In den dunkelblauen Rucksack, den er hinten im Schrank gefunden hatte, packte er Stifte, die er in der ganzen Wohnung zusammenklaubte.

„Geh mir aus der Sicht!“, keifte die Mutter.

Im Wohnzimmerregal fand er einen Schreibblock, der fast wie neu aussah und nur von einem Kaffeefleck auf dem Deckblatt ein wenig verunstaltet war.

Nachts konnte er nicht schlafen. Am Morgen würde er sich einen Wunsch erfüllen.

Punkt acht, als die Schulglocke das zweite Mal klingelte, saß er längst in der ersten Bankreihe. Erwartungsvoll blickte er zur Tür, durch die gleich Frau Vogel eintreten würde.

Gleich.