Kloster Lugau - Wilhelm Raabe - E-Book

Kloster Lugau E-Book

Wilhelm Raabe

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Beschreibung

Raabe hielt "Kloster Lugau" für eines seiner "feinsten Bücher". Das Werk ist ein "neuartiges Erzählexperiment" Raabe zersetzt die Gattung des konventionellen Liebesromans und treibt mit dem Erwartungshorizont des bürgerlichen Lesepublikums ein Katz- und Maus-Spiel. Er nimmt die Halbbildung des "gebildeten Publikums" auf, Personen literarische Spitznamen zu geben, die aber sachlich nicht zutreffen ...

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Kloster Lugau

Wilhelm Raabe

Inhalt:

Wilhelm Raabe – Biografie und Bibliografie

Kloster Lugau

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebenzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Kloster Lugau, W. Raabe

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Germany

ISBN:9783849633592

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Wilhelm Raabe – Biografie und Bibliografie

Namhafter Romanschriftsteller, der zuerst unter dem Namen Jakob Corvinus auftrat, geb. 8. Sept. 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig, studierte in Berlin seit 1855 Philosophie und widmete sich unmittelbar nach seinen Studienjahren der Literatur, in die er mit dem lebendigen, jugendfrischen Idyll »Die Chronik der Sperlingsgasse« (Berl. 1857; 41. Aufl. 1905, auch illustriert) und den Erzählungen und Phantasiestücken »Halb Mähr, halb Mehr« (das. 1859) eintrat. Es folgten dann großenteils in mehreren Auflagen: »Ein Frühling« (Braunschw. 1858); »Die Kinder von Finkenrode« (Berl. 1859); »Nach dem großen Kriege«, Geschichte in zwölf Briefen (das. 1861); »Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts« (Prag 1861); »Unsers Herrgotts Kanzlei«, historischer Roman (Braunschw. 1862, 2 Bde.); »Verworrenes Leben«, Skizzen und Novellen (Glog. 1862); »Die Leute aus dem Walde« (Braunschw. 1863, 3 Bde.); »Drei Federn« (Berl. 1865); »Der Hungerpastor«, Roman (das. 1864, 3 Bde.; 25. Aufl., das. 1906); »Ferne Stimmen«, Erzählungen (das. 1865); »Abu Telfan, oder die Heimkehr vom Mondgebirge« (Stuttg. 1867, 3 Bde.); »Der Regenbogen«, sieben Erzählungen (Stuttg. 1869, 2 Bde.); »Der Schüdderump«, Roman (Braunschw. 1870, 3 Bde.); »Der Dräumling« (Berl. 1872); »Deutscher Mondschein«, vier Erzählungen (Stuttg. 1873); »Christoph Pechlin, eine internationale Liebesgeschichte« (Leipz. 1873, 2 Bde.); »Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten« (das. 1874); »Horacker« (Berl. 1876, 11. Aufl. 1906); »Krähenfelder Geschichten« (Braunschw. 1879, 3 Bde.); »Wunnigel« (das. 1879); »Deutscher Adel« (das. 1880); »Alte Nester« (das. 1880); »Das Horn von Wanza« (das. 1881); »Fabian und Sebastian« (das. 1882), »Prinzessin Fisch« (das. 1883); »Villa Schönow« (das. 1884); »Pfisters Mühle« (Leipz. 1884); »Zum wilden Mann« (das. 1885); »Unruhige Gäste« (Berl. 1886); »Im alten Eisen« (das. 1887); »Das Odfeld« (Leipz. 1888); »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte« (Braunschw. 1889); »Stopfkuchen, eine See- und Mordgeschichte« (Berl. 1891); »Gutmanns Reisen« (das. 1892); »Kloster Lugau« (das. 1894); »Die Akten des Vogelsangs« (das. 1896); »Gesammelte Erzählungen« (das. 1896–1900, 4 Bde.); »Hastenbeck« (das. 1899). In seinen größern wie seinen kleinern Erzählungen verbindet R. frischen und echten Humor mit einer elegischen und bittern Darstellung des Lebens, einen energischen Realismus mit einer gewissen phantastischen, traumhaften Erfindung. Am stärksten treten seine Eigentümlichkeiten wohl in den Romanen: »Der Hungerpastor«, »Abu Telfan« und »Der Schüdderump« hervor; wahrhafte Genialität des Humors offenbart auch die kleine Meistererzählung »Horacker«. In den spätern Dichtungen (»Pfisters Mühle«, »Stopfkuchen« u. a.) liebte er eine barocke Einkleidung, Einschachtelung der Erzählung, die ihren tiefen und gediegenen dichterischen Gehalt mehrverhüllte als heraushob. R. siedelte 1862 von Wolfenbüttel nach Stuttgart über und nahm 1870 seinen dauernden Wohnsitz in Braunschweig; 1901, zu seinem 70. Geburtstag, der ihm viele Auszeichnungen brachte, wurde er von der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen zum Ehrendoktor ernannt. Vgl. Gerber, Wilhelm R. (Leipz. 1897); Schriften von W. Jensen (Berl. 1901), W. Brandes (2. Aufl., Wolfenb. 1906), Eug. Wolff (Berl. 1902), Hans Hoffmann (das. 1906).

Kloster Lugau

Erstes Kapitel.

Weiter und weiter verbreitete sich das Gerücht, »Horatio« sei wieder in Wittenberg. Seit acht Tagen schon sei er wieder in Wittenberg.

Anfangs hatten weder die Stadt noch die Universität es glauben wollen. Als jedoch sein Diener Mamert in den Gassen gesehen worden, als seine Hauswirtin ausgefragt worden war, stellten sich sowohl die Stadt wie die Universität auf die Zehen, und beide warteten gespannt auf des Herrn Hofrats, Doktors der Weltweisheit und Hauptmanns der Landwehr, Franz Herbergers erstes Wiedererscheinen in der Gesellschaft und in der gelehrten Welt. Sie hatten eine ziemliche Zeit darauf zu warten und wurden leider von ihm – »Horatio« – nicht gefragt, ob ihnen das recht sei oder nicht; ob ihnen solches beschwerlich falle oder nicht.

Daß kein kleiner Mann zurück und auf dem Boden dieser Geschichte eingekehrt war, geht sogleich daraus hervor, daß wir gezwungen wurden, und zwar von der Universität und Stadt Wittenberg gezwungen wurden, zu seiner Einführung einen sehr großen Mann anzuziehen, den Dichter William Shakespeare, oder vielmehr eine seiner bekanntesten Dichtungen, das Theaterstück Hamlet. Wieso unser Freund zu dem Poeten und der Poet zu ihm kam, das hat eben »Wittenberg« zu verantworten; wir können darob unsere Hände in Unschuld waschen. Eine Hauptperson ist der Hofrat Herberger in diesem Buche, jedoch nicht die Hauptperson, so wenig, wie im Hamlet Horatio die Hauptperson ist. Letzterer läuft sogar noch etwas mehr als unser Philosoph nebenher, kann aber doch nicht bei der Sache entbehrt werden, tritt zuerst auf und geht zuletzt mit ab. Ob er auch mit dem Titel Hofrat in Pension und zurück nach Wittenberg ging, sagt Shakespeare uns leider nicht. –

Nun zu den nüchternen Tatsachen! Wir sind nicht in dem Wittenberg des englischen Dichters. Hofrat Doktor Herberger hatte nicht als bewegter Zuschauer, Gespensterseher und stoisch-philosophischer Vertrauter des Prinzen von Dänemark an den Ereignissen in Helsingör teilgenommen. Die Patina der Jahrhunderte hatte sich noch nicht über die »sonderbaren Dinge« gelegt, welche sich da »neulich« an jenem Hofe, dem er als Lehrer und Vertrauter des jugendlichen Erbprinzen nahe stand, zugetragen haben sollten und natürlich in die Ohren und Mäuler der Leute und sogar in die Zeitungen gekommen waren. Bis jene mysteriösen Vorfälle aber an ihren richtigen, das heißt wirklich berechtigten Geschichtsschreiber kamen, mußten noch manche Leute kein persönliches Interesse mehr daran haben. Ehe die Archive sich auch hier über die Privat-, Lebens- und Sterbens-Verhältnisse des Königs Horvendillus, Seiner letzthöchseligen Majestät des Königs Fengo, Ihrer Majestät der Königin Geruthe und Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Amleth einem neuen Saxo Grammatikus öffneten, durfte man dreist nicht nur auf das Ablaufen dieses Jahrhunderts (da man schon 1869 schrieb) rechnen, sondern auch noch eines zweiten. Einige der Historiker, Herren wie Damen, der berühmten Universität »Wittenberg«, die in diesen Dingen am meisten Bescheid zu wissen behaupteten, (auch wohl schon betreffenden Orts vergeblich angeklopft hatten!) waren sogar der Überzeugung geworden: vor dem Ablauf des einundzwanzigsten Säkulums sei nicht daran zu denken.

Die andern Leute in der Stadt – nicht bloß die unvernünftigen alten Weiber und die vernünftigen Herren Journalisten – meinten wohl dasselbe, drückten sich jedoch anders aus und seufzten:

»Du liebster Himmel, ja was die Welt so von der Welt zusammenredet! Nicht den dritten Teil soll man glauben von dem, was man hört oder unter den neuesten Nachrichten weiter zu geben hat.«

Dann aber gingen sie hin und schrieben – nein, redeten die exaktesten Abhandlungen über des Tages Geschichten und nahmen es sehr übel, wenn man ihnen Irrtümer in der Auffassung und Darstellung nachwies. Schrieb, das heißt redete man gegen sie, so wehrten sie sich auch und brachten Neues in der Angelegenheit zu Tage, worüber das zwanzigste Jahrhundert vielleicht wirklich das Recht bekam, sich zu wundern bis tief in das einundzwanzigste hinein, welches dann seiner Zeit es noch einmal nachzuweisen versuchen mochte, daß sich die Sache damals doch anders verhalten habe. –

Es wird eben zu allen Zeiten viel unnützes Zeug auf der Erde geschwatzt, und jene fürchterliche deutsch-kleinstaatliche Haupt-, Liebes-, Hof- und Staatsaffäre unter bescheidener und lächelnder Mitwirkung des damaligen Doktors und jetzigen Hofrats Herberger, dem der nicht üble Spitzname »Horatio« darum an der ehrenwerten Persönlichkeit kleben geblieben war, war es wahrhaftig nicht wert, daß ein neuer tragischer Speerschüttler sich hinsetze und eine neue schaudervolle Historie von Hamlet, Prinz von Denmarke, aus ihr zurecht braue. Freilich auf dem Theater hätte sich wohl auch heute noch Geld damit verdienen lassen, und sie wäre sicherlich wie im Jahre 1603 aufgeführt worden, wenn auch nicht durch »Seiner Hoheit Diener« in London und den beiden Universitäten Cambridge und Oxford, jedoch ganz gewiß in Wittenberg und durch den Wittenberger Stadttheaterdirektor und dessen Truppe.

Die Sache war in der Tat nicht der Rede wert gewesen, und was uns betrifft, so werden wir auch nicht weiter davon reden, als unbedingt nötig ist. Keine Königskrone wechselte darum ihren Besitzer, kein außergewöhnlicher Geist erschien darob bei Hofe, kein Mädchen ging deshalb ins Wasser. Es fielen nur einige Pensionen mehr auf die Hof- und Staatskasse, und gingen einige Personen aus den hohen und höheren Kreisen der kleinen Residenz auf längere oder kürzere Zeit auf Reisen, jedoch ganz behaglich und gutwillig und ohne mit aufgeschlitzten Nasen »verschickt« worden zu sein.

Zu diesen gehörte unser wirklicher Freund, der nicht wirkliche Hofrat Franz Herberger, Horatio genannt in – Wittenberg.

Zweites Kapitel.

Ein rauher herbstlicher Wind blies aus Norden her, rüttelte an den Dachziegeln, durchheulte stoßweise die Kamine und brachte dann und wann auch die Fensterscheiben zum Erklirren: die richtige Zeit, um aus einem ofen- und fensterscheibenlosen schönen Südlande nach Kimmerien heimgekommen zu sein!

Möglicherweise mischten sich schon Schneeflocken in die Regenschauer, die die Gassen von – nun, sagen wir nur Wittenberg! nicht nur von Menschen, sondern auch, vorzüglich in den Rinnsteinen, von vielem reinigten, was daselbst ein ungestörtes Stilleben geführt hatte. Es war ein unbehaglicher Abend, und wohl allen denen, die an ihm zu Hause bleiben und im Hause sich behaglich fühlen durften!

Horatio – nein, nennen wir ihn hier nicht noch einmal Horatio! – Hofrat Doktor Herberger durfte beides. Zu dem ersteren berechtigte ihn seine gegenwärtige gänzliche Geschäftsentlastung, sowie das durch seine längere Reiseabwesenheit zur Tatsache gewordene »aus dem Konnex Kommen« mit allen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen, angenehmen und unangenehmen ortsangehörigen Verpflichtungen und Beziehungen. Zu dem letzteren die volle Sicherheit, »Ophelia«, das heißt Gräfin Laura Warberg, im Kloster, das heißt im Kloster Lugau, auch behaglich zu Hause und bei guter Laune wissen zu dürfen und – die körperlichen und geistigen Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle, die er soeben aus dem schönen Süden nach dem Norden sich mitgebracht hatte.

Dieses Allerletzte würde er aber wahrscheinlich nicht zugestanden haben, wenn man ihn darauf angeredet haben würde; denn so etwas tut man nicht gern. Es ist zu angenehm, Leuten, die nicht in Sevilla und Granada, in Messina und Palermo, in Konstantinopel, Tunis, Tripolis, Fes und Marokko gewesen sind, den Mund danach wässerig zu machen. Wir haben einen Verbrecher gekannt, der es vor sich verantworten konnte, durch zwei in einer Reclam-Ausgabe der Goetheschen Venetianischen Epigramme plattgequetschte Zanzare, zu deutsch Stechmücken, eine ganze Familie Duderstädter wohlsituierter Optimaten nach der Lagunenstadt zu befördern. Und die Leutchen waren ihm nach der Heimkunft – oft dankbar dafür und machten, wie sich das von selbst versieht, nachher andere Leute, sogar Verwandte, die in guten Verhältnissen in Heiligenstadt sehr gut saßen, nach dem nämlichen Sumpfvergnügen lüstern. Ach, wie gern benutzt der Mensch seine Enttäuschungen, seinen Erdenüberdruß, sein Elend, alle Stechmücken des Daseins, nicht dazu, um selber besser zu werden und andere zu bessern, sondern nur dazu, seiner Eitelkeit, seiner Ruhmredigkeit frisches Futter in die Krippe zu stecken!

Er, nicht der Mensch an und für sich, sondern als der Mensch Franz Herberger, Hofrat, Doktor der Weltweisheit und Königlich Preußischer Hauptmann der Landwehr, lag augenblicklich, wie Millionen, Milliarden vergebens zu liegen wünschen, im Hausgewande, geschäftslos, nahrungssorgenfrei im bequemen wohlgepolsterten Armsessel, den Rücken gegen die verhangenen, wohlverwahrten Fenster, die unruhige Vergangenheit, gewendet, die Beine und Füße gegen das flackernde Ofenfeuer, die gemütliche, gemütvolle Gegenwart und selige, hoffnungsreiche Zukunft, ausgestreckt, ein Bildnis angenehm schaudernden geistigen Wiederkauens bei wollüstig kitzelndem Sicherheitsgefühl. Ob aber überwundene Reisegenüsse und Beschwerden von naheher, oder eigentümliche Erinnerungen eines, nun, sagen wir: nicht nur in die Wittenberger, sondern auch in die Helsingörer Schicksale und Eskapaden eines verliebt melancholischen Dänenprinzen eingeweihten, gelehrten und zugleich welterfahrenen Bärenführers von ferne her ihm in der Seele zumeist nachvibrierten: Herberger empfand sich unbeschreiblich wohl und geborgen zu Hause und in Schlafrock und Pantoffeln.

Da er allein zu Hause war und sich gänzlich unbeaufsichtigt, unbeobachtet wußte, brauchte er sich keinen Zwang aufzulegen; des geselligen Tages Komödien vor sich selber weiter zu spielen, lohnte sich kaum. So durfte er gähnen, stöhnen, sich recken, dehnen, sich in seinem Lehnstuhl räkeln, ohne den Meister Petz des Vater Gellert, den Herrn von Nieß und den Hauptmann Theudobach Jean Pauls, geschweige denn die philosophischen Begleiter des Prinzen Hamlet, in seiner Person mit all ihren Lebenskünsten zusammengefaßt, in die Behaglichkeit des Abends hineinzuziehen.

Es war wirklich sehr angenehm, sich wieder in Wittenberg zu Hause zu fühlen und alle seine wissenschaftlichen Bestrebungen einen ruhigen Winter durch als freier, unabhängiger, weltüberlegener Mann und Herr in den besten Jahren (gerade in der Mitte zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten) von neuem vor sich zu haben. Wie oft hatte er sich das Wonnegruseln dieses Abends, platt zu Schiff auf dem Mittelmeer, tief zu Esel im schönen Spanien und hoch zu Kamel im scheußlichen Afrika, ausgemalt?

Nun hatte er es! hatte sein wirkliches Lebenselement wieder und konnte nach Belieben darin sich vom Strome treiben lassen, gegen den Strom ankämpfen, plätschern und tauchen.

Die Lampe auf dem großen, grünbehangenen, mit wohlgeordneten Schriften bedeckten Studiertische (die Wirtin hatte den Auftrag gehabt, in der Abwesenheit ihres Herrn Hofrats Ordnung zu stiften) gab nur ein gedämpftes Licht ab. Ringsum von den Wänden sahen die Tausende der Bände seiner wohlgeordneten Bibliothek aus Schränken und Fächern auf ihn und lächelten über die Jahrtausende, die von den Pyramiden auf einen abenteuernden Militärstrolch und seine stupiden Banden heruntergucken konnten; aber der große Globus im Winkel des Gemaches war nun wirklich wieder eine Welt der Eroberung wert, wenn der Blick des Träumers in Schlafrock und Pantoffeln auf ihn fiel.

In dem ganzen Zimmer befand sich nur Ein Gegenstand, den der heimgekehrte Weltwanderer mit dem Blick zu streifen vermied, und das war dem äußeren Anschein nach ein sehr harmloser und noch obendrein sehr hübscher. Nämlich ein italisches Kunstwerk, eine Schale von florentinischer oder römischer Arbeit in Goldbronze: eine Schale, um die sich ein geistvoller, aber freilich etwas üppiger Bacchuszug mit seinen Panthern, Nymphen, Faunen, Satyrn in allen naiven Bocksprüngen der angeheiterten Gesellschaft schlang. Hofrat Doktor Herberger pflegte ihr seine laufende Tageskorrespondenz, die Visitenkarten angenommener oder abgewiesener Besucher anzuvertrauen, und seine Hauswirtin war beauftragt gewesen, alles in dieser Hinsicht während seiner Abwesenheit Einlaufende mit möglichster Schonung ihrer eigenen Wißbegierde in ihr niederzulegen.

In seiner diesmaligen Abwesenheit war mancherlei eingelaufen. Die Schale quoll über, und eine ziemliche Anzahl der mehr oder weniger zierlichen Dokumente war über den Rand gerutscht und bedeckte den Tisch rund umher.

»Das macht, weil der Herr Doktor so viel Liebe und Verkehr hier bei uns in der Stadt unter den Leuten haben,« meinte die Wirtin, und sie hatte wahrlich nicht unrecht.

Drittes Kapitel.

Als der damalige Doktor der Philosophie Franz Herberger seinen Erbprinzen »auf Universitäten« begleitete, um nach dem Willen des Schicksals am hiesigen Ort für sein späteres Leben Wurzel zu schlagen, hatte sowohl die Universität wie die Stadt den gesellschaftlichen Zuwachs sofort nach vollem Wert zu würdigen gewußt. War Seine Hoheit entzückend, so war der gelehrte Bärenführer wirklich bezaubernd liebenswürdig gewesen. Und dazu mit einem »anerkennungswerten wissenschaftlichen Fundament«! Daß sich ihm in seiner Stellung die besten Häuser erschlossen, wollte nichts sagen; daß sich aber auch die Herzen ihm öffneten, war von Bedeutung – für uns. Wenn er damals den Herrn von Nieß vielleicht ein wenig zu sehr agierte, so hat dieses heute nichts mehr aus sich: Hofrat Herberger führt jetzt seinen hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Wittenberger Namen »Horatio« nicht ohne ernsten Grund. Franz Herberger hat lange genug in der Welt gelebt und tief genug in sie hineingesehen, um sich ruhig in dem lieben Neste Wittenberg von allen Shakespeare-Kennern und -Kennerinnen hinterm Rücken Horatio nennen zu lassen. Es knüpfte sich an das Wort doch ein Respekt, der seinen letzten Grund nicht bloß in seinen noch möglichen Verbindungen bei Hofe, seinem Rang und Titel und noch weniger seinem »doch etwas dilettantischen« Gelehrtentum hatte, sondern in einem wirklichen Wert des Mannes selbst haftete. Darüber aber hier weiter zu reden, ist unnütz: wenn sich das nicht von selber ausweist, ist der ganze Kerl doch nichts wert – weder literarisch noch gesellschaftlich. Nun, der damalige, hier in Betracht kommende Thronerbe hatte längst seinen Frieden mit seinem Herrn Oheim gemacht – Gift war damals auch genug in die Ohren geträufelt worden, aber die fürchterlichen Konsequenzen wie in Helsingör hatte es in *** nicht gehabt. Polonius war immer noch Hausminister, und es wird sich ausweisen, daß wir ihn als solchen fürs erste noch lange nicht entbehren können. Excellenz saßen, was der ruhige Bürger »recht wohlbehalten« nennt, hinter den Tapeten und dachten noch lange nicht daran, eine Gesellschaft politischer Würmer bei sich zu Tisch zu laden und für das Menu persönlich aufzukommen. Ophelia war nicht in ein feuchtes Grab hinabgesunken, nachdem ein »falscher Ast« unter ihr gebrochen war, wie die Welt in Wittenberg meinte.

Um ihre wilden Kränze an dem gesenkten Zweige aufzuhängen, sollte sie, wie gleichfalls die Welt in Wittenberg meinte, etwas zu hoch gestiegen sein. Daß die Komtesse aber den Hof verlassen hatte und sehr wohlbehalten in Kloster Lugau saß und an ihrer Anlage zum Fettwerden (wie sich Hof und Stadt sehr geschmackvoll, liebenswürdig, geistreich und wahrheitsgetreu ausdrückten) ganz behaglich weiter bildete, ist eine Tatsache, an der wir die Leser späterhin gern noch genauer teilnehmen lassen dürfen. Vorerst genügt in dieser Hinsicht die Notiz, daß sie in fortwährender Korrespondenz mit Ho – nein, sagen wir jetzt hier nicht so, sondern sagen wir: mit dem Doktor der Philosophie Franz Herberger stand. Sie bediente sich bei ihrem Briefwechsel mit dem Säkulum und also auch dem Doktor Herberger ruhig der gewöhnlichsten Post und der üblichen Postwertzeichen. Es war durchaus leider nichts Geheimnisvolles, Verstecktes dabei.

»Es freut mich sehr, Dich demnächst wieder in Wittenberg und also auch in meiner Nähe zu wissen, lieber Freund,« hatte sie neulich noch nach Paris geschrieben; und nichts hindert uns, ihre Freude zu teilen, ja, sie im noch höheren Maße zu empfinden: wir haben den Mann ja bereits wieder in Wittenberg, und nicht nur in der Nähe, sondern vollständig auf dem Halse! Damit tritt denn aber auch die Antwort verlangende Frage an uns heran: Was konnte einem solchen Mann in und an Wittenberg eigentlich interessant sein außer dem Gefühl, sich wieder irgendwo wenigstens verhältnismäßig zu Hause zu fühlen? Gottlob ist die Beantwortung leichter, als sie scheint: Die ganze weite Welt mit allen ihren Wundern konnte ihm das nicht bieten, was ihm diese mittlere Provinzialstadt und große deutsche Universität vollauf gewährte: Befriedigung seines Kleinkramertums und seines Weltbürgersinns, seiner persönlichen Eitelkeit und seines philosophischen Strebens nach vollkommener Loslösung von den Dingen der Zeitlichkeit, kurz seiner Dummheit und Klugheit, seiner Torheit und Weisheit. Noch kürzer: Er konnte nirgends in der Welt, weder in Kopenhagen noch in Berlin, weder in London noch in Rom und Paris, so sehr als sein eigener persönlicher Narr sich über die andern erheben als wie hier. So sagte er wenigstens; wir aber wissen es besser und sagen, die Nähe von Lugau war's, die ihn nach Wittenberg zog. Und nun, da wir so weit mit ihm sind, können wir denn ihn, mit einem bequemen Hinüberlegen im Lehnstuhl und einem leichten Gähnen, die Hand nach der Goldbronzeschale auf dem Tische ihm zur Seite, das heißt also nach der während seiner Abwesenheit eingelaufenen Korrespondenz, ausstrecken lassen. Sein früherer hoher Zögling würde wahrscheinlich geraten haben: »Doktor, wollen Sie wirklich keine Waffen nehmen gegen diese See von Plagen? Ich an Ihrer Stelle würde die ganzen Chikanerien unbesehen in den Ofen stecken.« Aber wenn die hohen Herrschaften so sein dürfen, so dürfen die großen Philosophen um so weniger so sein.

Der Doktor griff nach dem nächstliegenden Blatt und wurde sofort dafür belohnt.

Eine Schusterrechnung! – Wie wohl das tat, als wirklicher Prinzenerzieher außer Dienst und Hofrat Herberger sich noch fest auf den Füßen, forsch in den Stiefeln als rüstiger Fußgänger fühlen zu dürfen!

Eine Nummer des illustrierten Witzblattes von *** unter Kreuzband: Horatio-Herberger zwischen die im Grabe Ophelias sich in den Haaren habenden Herren Hamlet und Laertes eine Gießkanne ausleerend. Unter dem drolligen Bilde die Legende: »Die Philosophie eines Bewußten«.

»Sie schlagen lustig an auf falscher Fährte. Verkehrt gespürt, ihr falschen Dänenhunde! Ein veraltetes Citat zu einer veralteten dummen Niederträchtigkeit!« sagte Franz, in vollkommener Sicherheit in Wittenberg. »Verstellte Handschrift des Absenders; aber sicherlich ein sehr guter alter Freund.«

Er schob das Blatt nicht in den Ofen und bewies dadurch wieder sehr, daß er seines hohen Scherznamens in Wahrheit nicht unwürdig sei.

In den Ofen steckte er dagegen dann mit verächtlichem, dann mit behaglichem Lächeln eine ganze Serie von Zuschriften und Zusendungen, in die uns kein Einblick verstattet worden ist. Er mußte es ja wohl wissen, warum er das tat; wir wissen es nicht und können nur aus eigener Erfahrung sagen, daß es verdrießlich ist, den Raum beengt und das freie Atemholen hindert, wenn die Makulatur des Lebens sich zu sehr um einen her anhäuft und man nichts dagegen tut.

Nun wog der behagliche Träumer eine Sendung, die gleichfalls unter Kreuzband gekommen war, in der Hand. Eine Abhandlung mit Widmung des Verfassers, Professors Doktor Nachkauer: Dilucidationes philosophicae de deo, anima humana, mundo et generalibus rerum affectionibus.

In den Ofen? Bei den unsterblichen Göttern nicht! Was, wovon der würdige Verfasser selbst keine Ahnung gehabt hatte, konnte man hier in gegebenen Stunden zwischen den Zeilen finden, wenn man selber so sehr über Gott, die menschliche Seele, die Welt usw. sich zu dilucidieren, das heißt aufzuklären gesucht hatte, wie der Doktor Franz Herberger? Welche dilucida intervalla, helle Minuten, lichte Augenblicke vielleicht demnächst im Laufe des Winters, wenn in der Wittenberger Gesellschaft ein Engel durch das Zimmer ging und der Satan die Gelegenheit benutzte, sich belehren zu lassen, und also das Gespräch auf alles dieses brachte!

Der Philosoph am Winterofen blätterte sich schon jetzt in das Buch hinein, es war ihm immer noch interessanter, als den Inhalt der Bronzeschale mit dem Satyrzug weiter zu durchstöbern, und auch uns kann das angenehm sein. Auch wir kommen dadurch über die Aufgabe hinweg, ihm dabei über die Schulter sehen zu müssen – im Interesse unserer Leser und Leserinnen. Dafür sorgte das Schicksal schon, daß den letzteren das Interessanteste für sie in dem entzückenden Gefäß nicht entging.

Nach einer Viertelstunde des Blätterns warf der weltweise Hofhauslehrer außer Dienst die lichten Augenblicke des Professors Nachkauer mit solcher Wucht physisch und psychisch verdunkelten Selbstbeherrschungsvermögens auf den Tisch, daß die Schale umfiel, über die Platte rollte und einen großen Teil ihres Inhalts nun auch über den Fußteppich verstreute.

Ein zierliches Kuvert, das ihm eben angezogenes Schicksal dicht vor den türkischen Pantoffeln niedergelegt hatte, nahm der Hofrat noch selber auf. Dann aber klingelte er und seufzte:

»Suche doch den Wust mal wieder zusammen, Mamert.«

Ein Dokument aber, welches er in der Hand hat, besieht auch der weltgleichgültigste Philosoph, ehe er es beiseite legt zu dem übrigen ihn weiter nichts Angehenden, Horatio tat so mit dem Umschlag in Querkleinfolio, zog eine goldgeränderte Doppelkarte, eine Verlobungsanzeige, hervor und hätte nun den seine Papiere zusammensuchenden treuen Diener vom Erdboden auflesen können. Im jachen Emporspringen hatte er seinen Mamert so über den Haufen gestoßen, daß der Ahnungslose sich auf dem glücklicherweise weichen Smyrnateppich dreimal überkugelte. Die selige Verkündigung aber lautete bloß: auf der einen Seite:

»Die Verlobung unserer Tochter Eva mit dem Dr. philosophae Herrn Eckbert Scriewer beehren wir uns ergebenst anzuzeigen.

Professor der Gottesgelahrtheit, Ober-Konsistorialrat Dr. th. Martin Kleynkauer und Frau Blandine geb. Husäus.«

auf der andern Seite:

»Meine Verlobung mit Fräulein Eva Kleynkauer, Tochter des Herrn Professors der Gottesgelahrtheit Ober-Konsistorialrat Dr. th. Martin Kleynkauer und Frau Gemahlin Blandine geb. Husäus beehre ich mich ergebenst anzuzeigen. Im September 1869.

Dr. phil. Eckbert Scriewer.«

»Auch die noch! Mein Maienglöckchen!« stammelte der Doktor der Philosophie Herberger poetisch. »Mein Maienglöckchen auch nach Lugau?« stammelte er nicht nur poetisch, sondern auch verblüfft-wütend.

»Um so poetischer, weil verblüfft; um so verblüffter, weil poetisch-wütend; also, da Kürze des Witzes Seele ist – außer sich vor erstauntem Verdruß oder verdrießlichem Erstaunen,« würde Polonius (an dieser Stelle nicht Seine Exzellenz, der Herr Minister des Hauses und Vormund der Klosterschwester Laura Warberg im Kloster Lugau) gesagt haben.

»Fliegenpapier und kein Ende!« ächzte der Hofrat. »Ich habe dir doch nicht weh getan, Mamert? Dieser Mensch – unser Herr Doktor Scriewer hat sich nämlich mit unserer Eve – ist mit Fräulein Eve Kleynkauer verlobt worden.«

»Der Herr Doktor haben mir durchaus nicht weh getan, und der junge Herr sind mir schon in der Gasse begegnet um dem Fräulein am Arm und haben es nur noch nicht gewagt –«

»Mir noch einmal mit einem Katzenbuckel auf die Bude zu rücken? Mein blonder Eckbert! Der blondeste aller Wittenberger Streber! Aber das hat nur die alte Kleynkauer angerichtet. Welch ein Verdienst sich derjenige erwürbe, der dem Weib die Hosen aus, und sie ihrem Mann anzöge!«

»Der Herr Professor sind mir auch hinter der Universitätskirch begegnet und lassen den Herrn Hofrat höflichst bitten, der Frau Gemahlin und ihm doch ja die Ehre Ihrer Gegenwart morgen abend bei der gewohnten musikalischen und wissenschaftlichen Abendunterhaltung zu schenken.«

Für einen Mann, der nie Fortunens Griff als Pfeife diente und dem es einerlei war, ob er vom Geschick einen Kuß oder einen Rippenstoß bekam, zeigte Franz Herberger eine sehr unstoische Aufregung. Weshalb – wird sich ja nach und nach zeigen.

»Lebt denn die Tante Euphrosyne noch, Mamert?« fragte er nach einer Weile.

»Ich glaube, ich habe Fräulein auf dem Universitätsplatze nach gewohnter Weise an ihrem Fensterplatze gesehen.«

»Besitze ich noch einen Frack?«

Auf diese Frage antwortete Mamert nur durch verwundert, entrüstetes Aufrücken seines ganzen oberen Menschen.

»Wir waren doch neulich noch in den Tülljerien!«

»Dann klopfe ihn aus, und – hörst du – wenn du ihn finden kannst, lege auch meinen Elefantenorden zurecht. Vor allen Dingen werde ich der Tante Euphrosyne morgen früh einen Besuch machen.«

»Im Frack und mit dem Elefantenorden?«

»Dummkopf!« sagte Franz Herberger.

Viertes Kapitel.

Oberkonsistorialrat Professor Doktor Kleynkauer und Gemahlin hatten ihren festen Abend, und die Universität durch alle vier Fakultäten, sowie die hohen Behörden und sonstigen Würdenträger der Stadt samt ihren Damen waren nie auf einen solchen Abend bei Kleynkauers so gespannt gewesen als diesmal. Hofrat Herberger war am Morgen in den Gassen gesehen worden (er hatte die Tante Euphrosyne besucht) und hatte in dem Hause des großen Theologen zugesagt. In jeder gesellschaftlich dazu berechtigten Familie war heute nur davon die Rede gewesen, soweit es das allgemeine Menschengeschick, welches keine Gesellschaftsgrenze anerkennt, zuließ. Und wie das allgemeine Menschengeschick hatte auch das Wetter keine gesellschaftlichen Rücksichten genommen: es hatte sich nicht gebessert; es war schlechter geworden.

Schnee war der Jahreszeit angemessen gefallen, hatte aber seinen Rangstreit mit dem Regen auch durchfechten müssen und noch den kürzeren gezogen; das Resultat war natürlich, was die Straßenübergänge betraf, das Chaos gewesen, ehe die Beste oberhalb sich von der unterhalb schied. Die Damen des Vorwinters Achtzehnhundertneunnndsechzig in ihren damaligen Krinolinen hatten wohl das Recht, hier den Übergang über die Beresina, dort durch das, wenn nicht rote, so doch schwarze Meer zu einer Ansprache an die männliche Begleitung zu verwerten. Wie das Weib sich aufopfert, das weiß jedermann, der eins hat und dem es auch bei solcher Gelegenheit nicht vorenthält, daß es sich wieder einmal aufopfert.

Die Gesellschaft war versammelt, Oberkonsistorialrat Doktor Kleynkauer die Liebenswürdigkeit selber. Der Tee wurde herumgereicht, die Frau Oberkonsistorialrätin reichte sich, sozusagen, mit ausgebreiteten Händen selber herum. Sie waren alle da, auch der glückliche junge Verlobte Doktor Scriewer.

»Wo ist denn aber Evchen?« fragten die jungen Damen des Kreises, und der Wirkliche Geheime Hoftat und Professor der Staatswissenschaften Doktor von Andouard, den der jüngere Kollege nicht am Knopfloch, sondern an seiner mittels staatlichen politischen Überzeugung festgehalten hatte, meinte wohlwollend:

»Sie treffen ganz meine Meinung in Hinsicht auf die Triasidee von Fünfundsechzig, und Professor Gervinus in Heidelberg hat mir neulich ganz in demselben Sinne geschrieben; aber Sie sollten sich in der Tat einmal nach Ihrem lieben Fräulein Braut umsehen, Herr Doktor. Man scheint das liebe Kind allmählich fast so sehr zu vermissen wie Ihren verehrten Gönner, den Herrn Hofrat Herberger, der uns auch ein wenig länger auf sich warten läßt, als mir allgemach höflich dünkt.«

»Ich werde Mama sogleich fragen, ob Herr Doktor Herberger vielleicht hat absagen lassen, Exzellenz; und meine Braut – ja aber, bester Papa, wirklich, wo bleibt denn Eva?«

Die letztere Frage war natürlich an den Schwiegervater gerichtet, der schmunzelnd aus einiger Entfernung der Unter, Haltung seines Schwiegersohnes mit dem Großwürdenträger der Universitas litterarum genau zugesehen hatte, ohne jedoch sonst wen von Bedeutung an seinem gastfreien Herde aus den Augen zu verlieren. Wir lassen aber alle diese freundschaftlichen, höflichen, zärtlichen und besorgten Fragen auf sich beruhen. Das kleine Mädchen wird sich ja wohl noch anfinden, und jetzt genügt es, daß Mama gesagt hat: »Sie hat ihr gewöhnliches Kopfweh; ich weiß aber wirklich nicht, wie das Kind jetzt mehr als sonst dazu kommt. So kannten wir das doch früher nicht an ihr. Nun, ich hoffe, das arme Lämmchen doch noch zu uns holen zu können. Ein wenig Zwang schadet da ja auch wohl nicht, nicht wahr, bester Medizinalrat?«

Der Medizinalrat und Hausarzt der besten Gesellschaft von – nun, sagen wir: von Wittenberg, hatte einen Blick über den Kreis seiner Gönnerinnen und Klientinnen hingleiten lassen, den Hippokrates von Kos wohl noch nicht nach seiner ganzen Feinheit würdigen konnte, aber Doktor Claudius Galenos im Rom des dritten Jahrhunderts wahrscheinlich sehr; und dann hatte er, Medizinalrat Doktor Roßmeister, gelächelt:

»Mit Maß und – immer den Umständen angemessen, Gnädigste. Die Tante Euphrosyne –«

»Rät einen Sommeraufenthalt in Kloster Lugau an; ich weiß das. Aber mein Mann würde lieber wieder nach Baden, Baden gehen. Was raten Sie, bester Medizinalrat?«

Der beste Medizinalrat lächelte, wie er bei solchen Gelegen, heilen zu lächeln pflegte; aber diesmal ins Leere hinein, denn die Frau Oberkonsistorialrätin lächelte auch, aber nicht ins Leere. Mit ausgebreiteten Händen rauschte sie dem Eingang des Salons zu, wo sich bereits eine Gruppe um den letzten Gast des Abends gebildet hatte. Hofrat Doktor Herberger war in der Wittenberger Gesellschaft von 1869 auf unhörbaren Sohlen erschienen wie der Graf von Monte Cristo in der Pariser Gesellschaft von 1844. Wie aber dieser Mann zu dem Spitznamen »Horatio« gekommen war, mußte jedem unbegreiflich erscheinen, der von so weit her zugereist kam, daß er wohl Shakespeare, aber nicht tagesläufige deutsche Hof- und Hinterhof-Geschichte und Geschichtchen kannte. Horatio hatte in seinem ganzen Leben nicht so liebenswürdig gelächelt wie Franz Herberger eben bei Wiederbegrüßung seiner alten, lieben Freundschaft und Bekanntschaft von Stadt und Universität XXX:

geben wir ihnen an dieser Stelle den nom de guerre Wittenberg lieber nicht. Was der Lauf der Zeiten und darin insbesondere das neunzehnte Jahrhundert dazu tun konnte, daß er nicht mehr paßt, ist geschehen.

Ein Geflüster ging herum: »Wie interessant! – wie bleich er aussieht! – Bleich? aber ganz und gar nicht, Beste. Im Gegenteil, ich finde, daß er korpulent geworden ist und sehr wohl aussieht! – Welchen Orden trägt er denn da? Den Elefanten? Dann ist es ja doch richtig, daß ihn sein Hof durchaus nicht hat fallen lassen – daß ihn sein Verhältnis zu der Komtesse in Lugau durchaus nicht – stille doch, er spricht ja! Was hat er gesagt?«

»Ich bringe Ihnen ein recht unangenehmes Wetter mit, meine Herrschaften,« hatte er gesagt, und jetzt sprach er weiter und bemerkte: »Es windet, regnet und schneit draußen, daß kaum ein Durchkommen ist. Siehe da, Professor Bellmann! Auch wieder aus Hannover zurück? Ja, ja, dieser gute, alte Ort läßt den so leicht nicht wieder los, welchen er einmal gefesselt hat! ... Gnädige Frau, wer würde nicht allen Unbilden der Erdenwitterung trotzen, um einen Abend, wie Sie ihn uns hier zu bieten verstehen, nicht zu versäumen!«

Das letzte Wort war natürlich an die Hausfrau gerichtet.

»O, Sie Böser! Haben Sie uns denn Ihre ganze Ironie mit heimgebracht, lieber Doktor? Aber warten Sie nur, warten Sie! Was unter den Palmen an Ihnen versäumt worden zu sein scheint, das kann hier unter den Eichen und Tannenbäumen noch nachgeholt werden: Sie sollen uns nicht ungestraft ausgehen, bester Herr Hofrat! Doch nun vor allen Dingen: Sie haben alle Ihre Freunde in der großen Welt wohl verlassen?«

»Nun, den Umständen nach. Jedenfalls freue ich mich, alle meine hiesigen Gönnerinnen und Gönner, Freundinnen und Freunde in erwünschtem Wohlsein noch beisammen zu finden. Aber wo ist denn Fräulein Eva? Siehe da, Doktor Scriewer! Wie gern möchte ich Eltern und Kinder hier jetzt vollständig beisammen haben, um allen zugleich meine gehorsamsten Glückwünsche zu Füßen legen zu können.«

»Zu Füßen legen, bester Hofrat? Eckbert, finden Sie mir das rechte Wort für Ihren Herrn Gönner. Ja, Sie treten in dieser Hinsicht in ein glückliches Haus, Herr Hofrat. Martin, du solltest dich aber jetzt wirklich einmal nach unserer Kleinen umsehen und sie auf ihre Pflichten gegen unsere lieben Gäste aufmerksam machen. Mein teurer Herr Doktor Herberger, seit das Mädchen verlobt ist, habe ich alle Autorität über sie verloren: fragen Sie nur Ihren jungen Freund, unsern guten Eckbert!«

Eckbert Scriewer verbeugte sich vor seinem Herrn »Gönner«, wie man sich eben vor einem solchen in Erwartung alles menschenmöglich Freundlichen und Nutzbringenden verbeugt. Sonderbarerweise aber sah Doktor Franz Herberger über den Scheitel, die Schultern und das übrige geneigte Körperliche des hoffnungsreichen jungen Mannes hinweg und widmete sich ganz der Gesellschaft, leider freilich nicht in der Art, wie sie es wünschte und erwartete.

Die Gesellschaft verlangt immer ihr Recht. Gewöhnlich bekommt sie es auch. Hier und diesmal aber bekam sie es durchaus nicht. Wenn sie in Handschuhen, Toiletten, Mietwagen und dergleichen für den heutigen Abend über ihre Verhältnisse hinausgegangen war, so mochte sie zusehen, wie sie auf ihre Kosten kam. Horatio half ihr nicht dabei. Horatio äußerte sich über die jetzigen Verhältnisse am dänischen Hofe in keiner Weise. Und wie sich der regierende Herr in *** mit dem Herzen zu den jetzigen deutschen Zuständen nach Sechsundsechzig und dem norddeutschen Bunde stelle, erfuhr man viel besser aus den Zeitungen als von ihm, dem vormaligen Mentor seines jungen, liebenswürdigen Thronfolgers. Daß dieser Mann nicht bloß Gelehrter – Philosoph war, sondern auch Diplomat sein konnte, ging zur Evidenz daraus hervor, daß er allen mehr oder weniger verblümten Fragen und Anspielungen dadurch auf die leichteste Weise auswich, daß er ununterbrochen selber fragte und selber anspielte. Er nahm ein solches Interesse an Wittenberg, jedem Wittenberger und vor allem jeder Wittenbergerin, daß es vollkommen unmöglich war, ihm mit solcherlei Nachforschungen, wie er sich schnöde nachher seinem Mamert gegenüber, aber vor sich selber, ausdrückte: auf die Pelle zu rücken. Und am Ende war es ja auch richtig: er kam ja gegenwärtig mehr von den Pyramiden als aus Kopenhagen, brauchte gar nicht zu wissen, wie es augenblicklich in Helsingör aussah und wie sich die Königin Sophia der Niederlande zu dem Verkauf von Luxemburg gestellt habe und Mecklenburg-Strelitz zu Otto von Bismarck sich stelle und Wittenberg zu den Göttinger Sieben von Achtzehnhundertsiebenunddreißig und Professor Gervinus zu dem Jahr Achtzehnhundertsechsundsechzig. Sie hätten sonst wenig dagegen einzuwenden gehabt, die ortsangehörigen Desdemonen, ihn von seinen Reisen erzählen zu hören; aber an diesem Abend wäre ihnen ein Wort über die Komtesse Laura Warberg in Lugau doch lieber gewesen. Den Gipfel der Rücksichtslosigkeit erkletterte er, als er anstatt von Lugau von seinem Aufenthalt in Tunis zu erzählen anfing, wissenschaftlich wurde und die Universität nicht von Seiner Hoheit, dem einstigen Kommilitonen, sondern von Seiner Hoheit dem Bei grüßte, auf Karthago überging und weniger das Verhältnis von Elissa zu dem frommen Aeneas mit den Damen erörterte, als sich mit dem gräßlichen Langeweiler, dem alten Doktor Bogatzky, darüber verwickelte, ob die bei Sidi bu Said und Duar el Schat noch vorhandenen schönen Reste (nicht von der Königin Dido und dem Sohn der Venus!) noch der alten Stadt oder der römischen Neugründung Junonia zuzurechnen seien. Dazu war man denn doch wahrhaftig nicht heute abend zu Kleynkauers gekommen! Bei Mylitta (hier ja nicht Melitta!), der zweifellosesten weiblichen Gottheit der Vergangenheit, das brauchte sich doch keine in der Gegenwart gefallen zu lassen! Und doch – dies Wittenberger Gemisch von Petz, Theudobach und Seiner dänischen Hoheit Bärenführer Horatio, Franz Herberger, bekam seinen Willen und die Gesellschaft von »Wittenberg« nichts aus ihm heraus. Es blieb nichts anderes übrig, als sich mit der frohen Gewißheit zu begnügen, den interessanten Mann wieder unter sich zu haben, wozu sich jede einzelne Dame noch mit der besonderen Gewißheit trösten durfte, daß es ihr demnächst im tête-à-tête unbedingt gelingen werde, heraufzuholen, was die Gesamtheit tief auf dem Grunde dieser »melancholischen Seele« heute abend lassen mußte. Ach, wenn sie gewußt hätten, welch einen Heiterkeitskitzel dieser Ritter des Elefantenordens neben einem ausgesprochenen Gähnen zu unterdrücken sich bemühte, sie würden ihn sicherlich einen Dickhäuter genannt haben. Sie ahnten es nicht, und so meinten sie nur:

»Unser Herr Hofrat scheint doch noch recht ermüdet von seinen Wettfahrten nach dieser großen Katastrophe in seinem Dasein zu sein.«

»Fräulein Eva! Evchen, da bist – da sind Sie ja endlich!« rief aber ganz kurz darauf der interessanteste Weltmann und Gelehrte von Stadt und Universität Wittenberg sehr lebendig, und Professor Doktor Kleynkauer lächelte:

»Ja, Verehrtester, ich habe sie in ihrem Winkel aufgestöbert. Sie behauptete, ihr jetzt gewöhnliches Kopfweh zu haben, und ich behauptete, man wisse seit geraumer Zeit im Hause, daß es keinen besseren Heilkünstler für sie gebe als unsern Herrn und Freund Herberger. Hoffentlich behalte ich wieder recht, teurer Hofrat!«

»Hoffentlich,« sagte der Doktor bei sich.

»Ja, fühlen Sie dem Geschöpfchen nur den Puls, Sie großer Heilkünstler,« flötete die Frau und Mutter des Hauses. »Eckbert, so kommen Sie doch her! Sehen Sie, lieber Hofrat, da haben Sie nun unser Turteltaubenpärchen, das sich während Ihrer Abwesenheit für Zeit und Ewigkeit zusammengefunden hat.«

Der Hofrat hielt immer noch die Hand des jungen Mädchens. Jetzt faßte er fester zu und fühlte ihr wirklich nach dem Puls und versuchte ihr auch in die Augen zu sehen, aber das gelang ihm nicht.

»Sie wissen, Kindchen, daß ich Sie lieb habe und Ihnen alles Gute gönne,« sagte er.

»O!« sagte Evchen.