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Benvenuto a Santa Caterina! In dem malerischen Toskana-Dorf lebt, betet und ermittelt Schwester Isabella. Der junge Carabiniere Matteo ist froh über ihre Hilfe - meistens. Denn eines weiß der einzige Polizist von Santa Caterina: Schwester Isabella hat ihren eigenen Kopf!
Mit Witz, Charme und dem Blick fürs Menschliche ermitteln Isabella und Matteo in der Toskana. Klar, dass dabei auch die italienische Lebenskunst nicht zu kurz kommen darf!
Folge 1 - Tod zur Mittagsstunde
Es ist Mittag im Kloster von Santa Caterina - und Schwester Isabella wundert sich: Die Glocken läuten nicht zum Gebet. Als Isabella der Sache nachgeht, macht sie eine furchtbare Entdeckung: Schwester Raffaela liegt leblos im Hof des Klosters. Die lebensfrohe Nonne muss vom Glockenturm gestürzt sein. Aber war es wirklich ein Unfall, wie die Mutter Oberin felsenfest behauptet? Und was hat die Zahl zu bedeuten, die neben der Toten in den Staub gemalt ist? Gemeinsam mit dem jungen Carabiniere Matteo ermittelt Isabella auf eigene Faust und kommt schon bald einem dunklen Geheimnis auf die Spur ... Jetzt hilft nur noch göttlicher Beistand!
Folge 2 - Der Tote am Fluss
Der alte Landstreicher Gaetano und sein treuer Hund Caesar sind gern gesehene Gäste in Santa Caterina. Doch eines Tages entdeckt Carabiniere Matteo den liebenswürdigen Mann in seinem Bauwagen am Fluss - kaltblütig erschlagen! Das Dorf ist fassungslos: Wer konnte solch einer freundlichen Person derart Schlimmes antun? Und wo ist der Hund abgeblieben? Auch Schwester Isabella ist tief betroffen, als sie von dem Mord hört. Gemeinsam mit Matteo geht sie den Spuren nach. Und entdeckt, dass Gaetano nicht der war, der er zu sein vorgab ...
Folge 3 - Ein geheimnisvoller Gast
Der himmlische Frieden im Kloster von Santa Caterina ist gestört: Bauarbeiten in dem alten Gemäuer machen eine stille Einkehr so gut wie unmöglich - und auch mit der neuen Nonne Donna stimmt etwas nicht! Davon ist Schwester Isabella fest überzeugt. Doch bevor sie herausfinden kann, welches Spiel Donna spielt, wird diese ermordet. Mitten im Kloster! Die Nonnen sind entsetzt und fürchten um ihr eigenes Leben. Wird Schwester Isabella den Mörder finden, bevor ein weiteres Unglück geschieht?
Kloster, Mord und Dolce Vita - eine Krimi-Serie wie ein Urlaub in der Toskana!
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Benvenuto a Santa Caterina! In dem malerischen Dorf im Herzen der Toskana lebt, arbeitet und betet Kloster-Schwester Isabella. Doch wie aus heiterem Himmel muss sie plötzlich in einem Mordfall ermitteln! Von da an macht es sich die neugierige Nonne zur Lebensaufgabe, die großen und kleinen Verbrechen der Dorfbewohner aufzuklären. Carabiniere Matteo ist froh über diese himmlische Hilfe, denn schließlich hat er als einziger Polizist von Santa Caterina alle Hände voll zu tun …
Folge 1: Tod zur Mittagsstunde
Es ist Mittag im Kloster von Santa Caterina – und Schwester Isabella wundert sich: Die Glocken läuten nicht zum Gebet. Als Isabella der Sache nachgeht, macht sie eine furchtbare Entdeckung: Schwester Raffaela liegt leblos im Hof des Klosters. Die lebensfrohe Nonne muss vom Glockenturm gestürzt sein. Aber war es wirklich ein Unfall, wie die Mutter Oberin felsenfest behauptet? Und was hat die Zahl zu bedeuten, die neben der Toten in den Staub gemalt ist? Gemeinsam mit dem jungen Carabiniere Matteo ermittelt Isabella auf eigene Faust und kommt schon bald einem dunklen Geheimnis auf die Spur … Jetzt hilft nur noch göttlicher Beistand!
Folge 2: Der Tote am Fluss
Der alte Landstreicher Gaetano und sein treuer Hund Caesar sind gern gesehene Gäste in Santa Caterina. Doch eines Tages entdeckt Carabiniere Matteo den liebenswürdigen Mann in seinem Bauwagen am Fluss – kaltblütig erschlagen! Das Dorf ist fassungslos: Wer konnte solch einer freundlichen Person derart Schlimmes antun? Und wo ist der Hund abgeblieben? Auch Schwester Isabella ist tief betroffen, als sie von dem Mord hört. Gemeinsam mit Matteo geht sie den Spuren nach. Und entdeckt, dass Gaetano nicht der war, der er zu sein vorgab …
Folge 3: Ein geheimnisvoller Gast
Der himmlische Friede im Kloster von Santa Caterina ist gestört: Bauarbeiten in dem alten Gemäuer machen eine stille Einkehr so gut wie unmöglich – und auch mit der neuen Nonne Donna stimmt etwas nicht! Davon ist Schwester Isabella fest überzeugt. Doch bevor sie herausfinden kann, welches Spiel Donna spielt, wird diese ermordet. Mitten im Kloster! Die Nonnen sind entsetzt und fürchten um ihr eigenes Leben. Wird Schwester Isabella den Mörder finden, bevor ein weiteres Unglück geschieht?
Schwester Isabella
Die Ordensschwester ist 35 Jahre alt und heißt mit bürgerlichem Namen Isabella Martini. Schon früh wusste sie, dass sie Nonne werden möchte, und trat in ein kleines Nonnenkonvent in Kalabrien, im Süden Italiens, ein. Nachdem dieses geschlossen wurde, verschlägt es sie nach Santa Caterina, wo sie durch das Lösen von Kriminalfällen ihre wahre Berufung findet. Sie öffnet sich dem Dorf und dem weltlichen Leben – und fängt ganz nebenbei auch noch Verbrecher.
Matteo Silvestri
Schwester Isabella hilft dem 29-jährige Carabiniere des Ortes bei seinen Ermittlungen – oder ist es eher andersrum? Als Polizist ist Matteo noch unerfahren und wird von Isabella unter ihre Fittiche genommen.
Äbtissin Filomena
»Der Herr gibt es, der Herr nimmt es.« – Nach dieser Maxime lebt die 63-jährige Äbtissin Filomena. Noch nie hat man sie ohne Habit gesehen. Ihr gesamtes klösterliches Leben hat sie in Santa Caterina verbracht, und sie wird es auch hier beenden. Dem Schutz des Klosters und »ihrer« Nonnen hat sie sich mit Leib und Seele verschrieben.
Duccio Lenzi
Duccio Lenzi ist Bürgermeister des Dorfes und versteht sich als Patron von Santa Caterina – großzügig, fördernd, aber auch unnachgiebig, wenn ihm etwas nicht passt. Seiner Meinung nach muss nicht immer alles an die Öffentlichkeit gelangen – doch Schwester Isabella sieht das leider allzu oft anders …
V A L E N T I N A M O R E L L I
Folgen 1–3
V A L E N T I N A M O R E L L I
Tod zur Mittagsstunde
»Che merda, bei dieser brütenden Hitze schickt man nicht mal einen Esel aus seinem Stall!« Schwester Maria Alessia fluchte und gab sich gar nicht erst die Mühe, ihre wilden Schimpftiraden vor Äbtissin Maria Filomena einzustellen. Auch nicht, als diese ihr erst einen strengen Blick und dann Möhrengrün ins Gesicht warf, damit sie endlich Ruhe gab.
Maria Isabella grinste in sich hinein – wenngleich ihr selbst die Knochen wehtaten und sie das Gefühl hatte, dass sich ihr Rücken beim Unkrautjäten und Ernten der überreifen Tomaten durchbog. Außerdem schwitzte sie unter dem dicht gewebten Habit im Schweiße ihres Angesichts.
Die Sonne des toskanischen Frühsommers war gnadenlos. Ganz besonders zur Mittagszeit, wenn sich sogar die spärlichen Schatten der Olivenbäume zurückzogen und die Schwestern bei der Gartenarbeit gänzlich ungeschützt waren. Schnaufend warf Maria Isabella einen Blick auf ihr linkes Handgelenk … und sah nichts. Natürlich, ihre Armbanduhr hatte sie in ihrer Zelle auf dem Nachttischschränkchen liegen lassen, gleich neben ihrer zerlesenen Bibel, die sie von ihrer Großmutter zur ersten Heiligen Kommunion geschenkt bekommen hatte. Es war ein ganz besonderes Buch. Nicht kostbar im herkömmlichen Sinne, aber für sie von unschätzbarem Wert, ein Erbstück ebendieser Oma, deren Namen sie trug: Maria Estrella. Sie war eine stolze Frau gewesen, die niemals eine andere Meinung hatte gelten lassen als die eigene. Und schon gar nicht hatte sie es sich nehmen lassen, ihr diese Bibel zur Heiligen Kommunion zu schenken.
Isabella wusste dieses Geschenk mehr als zu schätzen. Und das nicht nur wegen der zehn Fünfzigtausend-Lire-Scheine, die ihre Oma zwischen die Seiten gesteckt hatte und die auf Isabella wie ein Geldregen heruntergeprasselt waren, als sie sich das Buch verkehrt herum über den Kopf gehalten hatte.
Diese Bibel war ein Familienerbstück, und das bereits seit fünf Generationen.
Isabella liebte dieses alte in mattschwarzes Leder gebundene Büchlein, mit den so edel aussehenden goldverzierten Seitenrändern auch, weil dieses Geschenk sie in ihrem Glauben gestärkt hatte. Nicht, dass er hätte gestärkt werden müssen. Der Glaube zu Gott war immer schon in Isabella verankert gewesen. Aber die Ergebenheit, am Richtigen festzuhalten, das hatte dieses Geschenk oder vielmehr der darin niedergeschriebene Inhalt bewirkt. Bereits als junges Mädchen wusste sie, was das Schicksal für sie bereithalten würde, stand ihre Zukunft förmlich zwischen dem Ledereinband dieses Buches geschrieben. Es gab nie eine Alternative. Nie einen anderen Lebensplan.
Daran konnte auch diese – möge Gott ihr verzeihen – teuflische Hitze nichts ändern. Zu dumm nur, dass sie nicht wusste, wie lange es noch bis zur wohlverdienten Mittagspause dauerte.
Aus der Küche konnte sie bereits den Kohleintopf von Schwester Maria Hildegard riechen, der so herrlich nach Thymian und frischem Knoblauch duftete. Ihr Magen wollte gar nicht mehr aufhören zu grummeln. Und auch gegen ein Gläschen Chianti aus eigenem Anbau hätte sie nichts einzuwenden. Wer hart arbeitete, durfte auch Wein trinken. Da waren sich alle Schwestern einig.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah zum Himmel. Sie musste gegen die Sonne anblinzeln.
Maria Isabella war ziemlich gut darin, sich am Stand der Sonne zu orientieren. Das hatte sie bei den Scautismi gelernt, den Pfadfindern. Und nach ihrer Einschätzung war die Mittagszeit schon weit fortgeschritten.
Warum läuten die Glocken nicht?
»Was sagt denn die Uhr?«, fragte sie die neben ihr kauernde Schwester Alessia, die aufgrund ihrer Körperfülle noch mehr unter der anstrengenden Tätigkeit bei dieser Hitze zu leiden hatte. Aber die Äbtissin war gnadenlos und forderte Gleichheit für alle. Selbst der ältesten unter ihnen, Schwester Immaculata, wurde ein Besen in die Hand gedrückt, um den gepflasterten Turmhof zu fegen. Und zu fegen gab es im Kloster immer etwas.
Unaufhörlich wehte der Wind den Sand des Strandes durch die Luft, trug ihn viele Kilometer mit sich, bis zu den Klostergemäuern, wo er sich in einer feinen Staubschicht niederließ – sofern man ihn gewähren ließ. Der Sand hat seinen eigenen Kopf, pflegte die Äbtissin zu sagen. Isabella kam es eher so vor, als hätte stattdessen die Äbtissin ihren eigenen Kopf.
»Warum?« Schwester Alessia schnaubte missmutig auf. »Bist du etwa schon müde? Es wird gearbeitet, bis die Glocken läuten.«
Isabella nickte kurz. Schließlich kannte sie die Regeln. Doch sie hielt inne. »Aber sie läuten nicht.«
»Weil es noch vor zwölf Uhr ist«, mischte sich die Äbtissin ein und rupfte ein dickes Büschel Löwenzahn aus der Erde.
»Sieh nach!«, forderte Isabella die Nonnenvorsteherin auf, die sie überrascht ansah. Maria Filomena war es nicht gewohnt, Befehle zu erhalten. Dennoch hob sie den linken Arm und schaute erst auf die Uhr, dann Isabella ins Gesicht. Mit großen Augen. Langsam richtete sich ihr Blick wieder auf die Uhr. Zunächst ungläubig, dann irritiert.
»Wie spät ist es?«, hakte Isabella nach.
»Gleich halb eins.«
Nach und nach hielten die umstehenden Schwestern in ihrer Arbeit inne und warfen sich fragende Blicke zu.
»Aber …«, sagte eine.
»Kam mir gleich so lange vor«, murmelte eine andere.
Mit einem Mal drehten sich alle Köpfe langsam in Richtung des kantigen Glockenturms, der erhaben über ihnen ragte. Und stumm. Vor allem stumm.
»Wer hat Dienst?« Die Vorstehende hatte einen vorwurfsvollen Ton angeschlagen.
»Schwester Maria«, sagte Maria Alessia sofort.
»Welche Maria?« Maria Filomena stöhnte missmutig. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie Maria Alessia. Die Gereiztheit war ihr nicht zu verübeln. Der Zufall wollte es so, dass die Hälfte der hier ansässigen Schwestern Maria mit Vornamen hieß. Der wohl heiligste Name, dem man einem Mädchen verpassen konnte. Oder aber, den man sich selbst geben konnte, wie es Tradition bei vielen Schwestern war, die in das Klosterleben eintraten. Immer wiederkehrende nervende Verwechslungen waren somit an der Tagesordnung, was die Äbtissin dazu bewegt hatte, mehr und mehr auf die ersten Namen zu verzichten und die Mitschwestern mit Zweitnamen anzureden.
»Maria Raffaela«, erwiderte Maria Alessia kleinlaut.
»Typisch«, platzte es aus der Äbtissin raus. »Hat sich bestimmt wieder am Grappa vergriffen. Dabei weiß doch jeder, dass es eine Sünde ist, vor der Mittagsruhe zu trinken.«
Eine der umstehenden Schwestern bekreuzigte sich.
Soweit sich Isabella daran erinnern konnte, stand nichts dergleichen in der Bibel. Weder im Alten noch im Neuen Testament. Aber sie ging nicht darauf ein, sondern streckte ihr Kreuz durch und stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich geh mal nachsehen«, erklärte sie den anderen. »Vielleicht gibt es ja Probleme mit dem Seil.«
Zustimmendes Gemurmel.
Es kam immer wieder vor, dass sich das Glockenseil verhakte und deshalb nicht mehr geläutet werden konnte. In diesem Fall konnte eine helfende Hand sicherlich nicht schaden.
Der Weg zum dreiundvierzig Meter in die Höhe ragenden Glockenturm führte sie durch den mit Gemüse- und Kräuterbeeten übersäten Innenhof, vorbei an den Hühnerställen, aus denen es munter aufgackerte und gurrte, weil die Tiere dachten, es gäbe was zu fressen. Für das Federvieh waren Frauen in schwarz-weißer Schwesternrobe gleichbedeutend mit Futter. Manchmal beneidete Maria diese Tiere um ihr einfaches Gemüt. Sie mussten weder Unkraut jäten noch darüber nachdenken, ob man vor dem Mittagessen etwas Wein trinken durfte.
Als sie um die Ecke der Stallungen bog, fiel ihr Blick auf die von Arkaden umgebene Steinbank, die im Schatten des Glockenturms stand.
Darauf saß Immaculata. In sich zusammengesunken. Daneben der Reisigbesen, mit dem sie sich an diesem Morgen unter den Argusaugen der Äbtissin davongeschlichen hatte.
Isabella sah sie besorgt an. Die alte Frau bewegte sich nicht. Vorsichtig trat Isabella an sie heran und stupste sie. Erst zaghaft. Als immer noch keine Regung zu erkennen war, etwas fester. Schwester Immaculata kippte einfach zur Seite.
»Bitte nicht!«, entfuhr es Isabella. Vor Schreck hielt sie den Atem an, als ein inbrünstiges Schnarchen ertönte.
So laut, dass die Brust der alten Frau bei jedem Atemstoß erzitterte.
Erleichtert trat Isabella näher an sie heran, sah in das von Falten zerfurchte Gesicht. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, sie zu wecken, entschied sich dann aber dagegen. So, wie sie dasaß, das Kinn auf die Brust gelegt, hatte sie beinahe etwas Kindliches. Wer konnte ihr da böse sein, dass sie mal ihre Pflicht vernachlässigte.
Behutsam hob Isabella Immaculatas linken Arm aus der Sonne und legte ihn auf deren Schoß, damit sie sich keinen Sonnenbrand einfing.
Das bedeutete wohl, dass das Kehren des Innenhofs an ihr hängen bleiben würde, wenn sie nicht wollte, dass die alte Schwester Streit mit der Äbtissin bekam.
Doch zunächst musste sie sich um die Glocken kümmern. Sie vermutete, dass Schwester Raffaela im Turm versuchte, das Schlamassel zu lösen, also setzte sie ihren Weg dorthin fort und freute sich sogar, denn sie mochte diesen Ort. Die Höhe des Turms bot ihr eine Möglichkeit, näher an Gott zu sein.
Natürlich war Gott immer bei ihr, aber dort oben eben noch ein Stück näher.
Wäre es nicht so heiß gewesen, hätte sie die Gelegenheit genutzt, um ganz nach oben zu steigen. Vom Plateau der Turmspitze aus hatte man einen atemberaubenden Blick weit über San Commaditás terrakottafarbene Dächer, über den sich dahinschlängelnden Serchio bis zum beinahe unnatürlich wirkenden Azurblau des ligurischen Meeres. Auf der anderen Seite wellte sich eine Myriade von Hügeln bis zum Horizont, bedeckt von Weingärten und Olivenhainen, die zum Großteil dem Kloster gehörten.
Sie war schon lange nicht mehr am Strand gewesen und versprach sich, dieses Versäumnis schnellstmöglich nachzuholen. Was war das Leben schließlich wert, wenn man nicht die Wunder dieser Welt genoss.
Mit gerafftem Rock tappte sie auf den Glockenturm zu. Sie schaffte drei Schritte, bis sie erneut innehielt. Da war etwas, das ihre Aufmerksamkeit weckte. Ein Schatten auf dem Boden. Nein, kein Schatten. Eine Gestalt. Schwester Isabella wusste es zunächst nicht einzuordnen. Als hätte jemand einen Lumpen Kleider achtlos da hingeworfen. Doch dann erkannte sie ihren Fehler. Es waren keine Kleiderlumpen. Es war ein Mensch.
Sie versuchte, das Bild einzuordnen, während sie näher herantrat. Dann wusste sie endlich, was sie da vor sich hatte – oder vielmehr wen.
Sie sah Raffaela vor sich auf den Pflastersteinen liegen. Das rechte Bein und der Hals in einem ungewöhnlichen Winkel verdreht. Ihre Augen standen offen, und es schien, als würde sie sie klagend ansehen. Einst sprühten diese Augen voller Leben und Glanz. Doch nun waren sie trüb und leer.
Das Gesicht glich einer verzerrten Maske.
Es war nicht das erste Mal, dass Isabella von einem toten Menschen angestarrt wurde.
Aber sie würde sich niemals an diesen Anblick gewöhnen.
»Sie ist tot.« Der Mann im hellblauen Kurzarmhemd nickte so vehement, dass das weiße Bandelier auf und ab ging und ihm die tiefblaue Schirmmütze weit in die Stirn rutschte. »Sie ist eindeutig tot.«
»Gut, um das festzustellen, hat es aber nicht die Carabinieri gebraucht.« Schwester Isabella stand mit verschränkten Armen zwischen dem jungen Mann mit der Schirmmütze und der toten Raffaela und musterte ihn.
»Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie hier sind«, gestand Isabella.
Es gab momentan allerdings so einiges, was sie nicht verstand. Sie wollte noch immer nicht wahrhaben, dass Schwester Raffaela nicht mehr unter ihnen weilte. Erst gestern noch hatten sie gemeinsam die Laudes zum Morgengebet miteinander verbracht, bevor sie getrennte Wege gegangen waren. Raffaela zu ihrem Dienst auf der Piazza, wo sie den Klosterstand auf dem Caterina-Markt betreute, und Isabella hatte den frühen Anbruch des Tages genutzt, um eine ausgiebige Runde durch die Weinberge zu joggen.
Dass sie jetzt nicht mehr lebte, schien ihr so … unwirklich.
Sie waren nicht die besten Freundinnen, aber sie mochten und schätzten sich. Raffaelas Tod war ein schwerer Verlust für das Kloster. Sie war eine von ihnen gewesen, und die Treue zu Gott und der Gemeinschaft stand über allem.
»Ich kann die Skepsis von Ihren Augen ablesen, Schwester. Aber glauben Sie mir, meine Anwesenheit ist unabdinglich. Wenn jemand auf diese Weise zu Tode kommt«, sein Blick richtete sich auf den Glockenturm, »muss ein Fremdverschulden ausgeschlossen werden. Da ist es völlig normal, dass der Notarzt auch die Polizei verständigt.«
»Und wo ist der Notarzt?«
Der Polizist senkte das Kinn und sah dann wieder zu ihr auf. »Nun, es ist ja nicht so, dass es hier um Leben und Tod geht.« Er versuchte sich an einem Lächeln, das kläglich scheiterte. »Es gab einen schlimmen Unfall auf der Via Statale 12. Ein Lkw und ein Reisebus … es kann dauern, bis ein Rettungswagen hier ist.«
Isabella hörte ihm nur halbherzig zu. Sie stand noch immer zu sehr unter Schock.
Gleich nach dieser schrecklichen Entdeckung war sie in den Gemeinschaftsraum geeilt, um den Rettungsdienst zu verständigen.
Erst hatte sie die Feuerwehr am Apparat, weil sie vor Aufregung die falsche Nummer gewählt hatte. Auf die Frage hin, wo es denn brenne, war sie so perplex gewesen, dass sie einfach aufgelegt hatte. Erst dann war ihr die Nummer des Rettungsdienstes eingefallen. Wenngleich sie sich fragte, was dieser noch ausrichten sollte, denn in diesem Punkt hatte Matteo Silvestri recht. Schwester Raffaela war tot. Daran könnten auch ein Dutzend Notärzte nichts ändern.
Mit Filomenas Hilfe hatte sie zumindest dafür sorgen können, dass nicht alle Schwestern zum Turm gerannt kamen und ihnen so der Anblick ihrer toten Mitschwester erspart blieb. Nur Schwester Immaculata saß noch immer auf der Bank und schlief. Schwerhörigkeit konnte manchmal doch ein Segen sein.
Während sie telefoniert hatte, war die Äbtissin so gnädig gewesen und hatte eine Decke über den Körper der Toten gelegt.
Isabella starrte die Konturen an und konnte noch immer nicht fassen, dass unter dem Tuch tatsächlich Schwester Raffaela lag. Eine der wenigen Personen, mit denen sie ihr Leben und ihren Glauben teilte. Gerade einmal achtzehn Schwestern bewohnten und bewirtschafteten das altehrwürdige Kloster Convento di Nostra Cara Regina Maria. Dann korrigierte sie die Zahl um eine Person nach unten und sprach ein stilles Stoßgebet für Schwester Raffaela.
Dabei spürte sie den Blick des Carabiniere Matteo Silvestri auf sich ruhen.
Der sah ihr wohl ihre Nachdenklichkeit an und nahm die Schirmmütze ab. »Wissen Sie, ich kannte Schwester Raffaela auch. Vom Markt.« Er nickte versonnen. »Hin und wieder hat sie mir einen selbst gebrannten Grappa ausgeschenkt. Der ist wirklich fantastisch.« Er führte seine geschlossene Hand zum Mund, deutete einen Kuss an und öffnete sie wie eine Blume. »Ein Gedicht.«
»Den können Sie kaufen. In unserem Hofladen.«
Matteo Silvestri schüttelte unwirsch den Kopf, als könnte er selbst nicht fassen, worüber sie sich da gerade unterhielten. In seine Züge schob sich der Anflug von Ernsthaftigkeit.
»Glauben Sie, dass es ein Unfall war? Dass sie sich – womöglich im angetrunkenen Zustand – beim Läuten der Glocken zu weit über die Balustrade gebeugt hat und dann …« Er ließ das Ende seines Satzes unausgesprochen. Doch wieder hob sich sein sanftmütig geschnittenes Kinn und senkte sich, als würde er in Gedanken Maria Raffaelas Absturz nachverfolgen.
Isabella dachte darüber nach. Sie hatte sich bis zum Eintreffen des Carabiniere dieselbe Frage gestellt. Immer und immer wieder. Schwester Raffaela hatte gern mal einen über den Durst getrunken und sich nicht um die passende Tageszeit geschert – ganz egal, ob man nun etwas darüber in der Bibel lesen konnte oder nicht. Sie wusste nicht, wie arg es um ihr kleines Alkoholproblem gestanden hatte. Doch nie hatte sie ihr gegenüber den Eindruck vermittelt, so viel getrunken zu haben, dass sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.
»Schwer vorstellbar«, sagte sie schließlich. »Zumal das Glockenseil im Inneren des Turms hängt.« Sie hielt kurz inne, weil ihr wieder etwas eingefallen war. »Außerdem hatte es ja gar nicht geläutet. Deshalb war ich doch auf dem Weg, um nach dem Rechten zu sehen.«
Der Polizist nahm ein in dunkles Leder gebundenes Büchlein zur Hand, klappte es auf und zog einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche. »Sie haben Schwester Raffaela also gefunden.«
»Ja, genau hier.« Unnötigerweise richtete sich ihr Finger auf die Leiche. Sie sah dabei zu, wie er sich Notizen machte.
Dann warf er einen Blick auf sein Handy und schrieb eine Zahl in das Buch.
Sie hob ihre Brauen an. »Was machen Sie denn da?«
»Ich schreibe mir die Temperatur auf, für den Polizeibericht.«
»Und wozu soll das gut sein?«
Er zuckte mit den Achseln. »Das machen wir halt so. Als sie die Tote gefunden haben, ist Ihnen da noch irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen?«
Isabella blinzelte gegen die Sonne an, als sie ihm in die Augen sah: »Sie meinen außer der Leiche auf dem Boden.«
»Si.«
Sie wollte schon verneinen, als sich plötzlich ein Bild in ihre Gedanken schob, das sie in all dem Trubel verdrängt hatte. Da war tatsächlich etwas.
»Schwester? Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Erst jetzt wurde sie sich darüber bewusst, dass sie den Mann noch immer mit großen Augen anstarrte. Langsam nickte sie, nur um im nächsten Moment heftig den Kopf zu schütteln. Überhaupt nichts war in Ordnung! Und weshalb war ihr das zuvor nicht aufgefallen? Sie brauchte Gewissheit, dass die Fantasie ihr keinen Streich spielte.
»Was machen Sie da?«, fragte Matteo, als sie in die Hocke ging und behutsam die Decke wegzog. Sie zwang sich dazu, den Blick nicht abzuwenden, während sie so pietätvoll wie möglich Raffaelas Leichnam freilegte.
»Der Arm«, sagte sie schließlich. »Sehen Sie sich die Hand an.«
Es war schlimm, noch einmal Raffaelas Anblick ertragen zu müssen.
Matteo beugte sich neben sie, dann verstand er. »Sie hat den Zeigefinger ausgestreckt. Es sieht aus, als würde sie auf etwas deuten.«
Isabella nickte. Tatsächlich war es ihr bereits ganz am Anfang aufgefallen. Dieser merkwürdige Winkel, in dem Raffaela lag. Er resultierte nicht nur aus dem Sturz. Sie musste noch einen kurzen Augenblick gelebt und den Finger ausgestreckt haben.
Sie konnte sehen, wie Silvestri sich so platzierte, dass sein Blick der Richtung des Fingers folgen konnte.
Sie rollte kaum merklich die Augen. Dabei war es doch offensichtlich. Schwester Raffaela deutete auf den Glockenturm. Die Frage war bloß: warum?
Um uns mitzuteilen, dass sie vom Turm gestürzt war? Das war augenscheinlich. Nein! Isabella verwarf den Gedanken. Das musste einen anderen Grund haben.
Während sie dem Carabiniere dabei zusah, wie er die Position der Hand ganz genau studierte, fiel ihr etwas ins Auge. Sie beugte sich ein Stück über Schwester Raffaela – tunlichst darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Tatsächlich erkannte sie etwas im sandigen Staub, der die Pflastersteine dort bedeckte, wo Schwester Immaculata noch nicht gekehrt hatte. Unmittelbar unterhalb der Position, wo Raffaelas Arm verweilte.
»Signore …« Sie musste sich räuspern, da ihr Hals auf einmal ziemlich trocken war. »Signore Silvestri. Schauen Sie doch, unter der Hand. Dort im Staub.«
Der Carabiniere sah erst sie an, dann die besagte Stelle. »Mia Madre«, entfuhr es ihm.
Isabella schloss eine Sekunde lang die Augen. Er erkannte es also auch.
Behutsam hob er Raffaelas Handgelenk an und legte es ein paar Zentimeter weiter nach oben ab.
Nun war es offensichtlich.
»Sie hat etwas gezeichnet.« Die Stimme des Polizisten klang ungewöhnlich rau.
»Einen Kreis«, erwiderte Isabella, verbesserte sich aber sogleich. »Nein, eine Zahl.«
»Eine neun.«
»Oder eine sechs. Je nach Blickwinkel.«
»Sie haben recht. Aus Sicht der Toten definitiv eine sechs. Aber was hat das zu bedeuten?«
Isabella blieb ihm eine Antwort schuldig, während sie die Züge der Toten musterte.
Raffaela war eine schlanke Frau mit weichen Zügen und gelocktem mahagonibraunem Haar, das unter dem verrutschten Velan geradezu hervorquoll.
Matteo machte sich eifrig Notizen in sein Büchlein, und sie konnte sehen, wie er versuchte, die Sechs ganz genau nachzuzeichnen. Ihre Stirn legte sich skeptisch in Falten. Ein Foto wäre womöglich die bessere Beweissicherung gewesen.
Als er mit seinem Werk zufrieden schien, sah er sie bedeutungsvoll an. »Wofür könnte die Sechs stehen?«
Sie blieb ihm weiterhin eine Antwort schuldig, doch in ihrem Kopf ratterte es. Isabella hatte kein ausgeprägtes Zahlenverständnis. Aber sie wusste, dass die Sechs die kleinste zusammengesetzte Zahl mit verschiedenen Primfaktoren ist, außerdem die vierte hochzusammengesetzte Zahl und die vierte Dreieckszahl. Ebenso wusste sie, dass ein Würfel aus sechs gleichen Flächen besteht und dass Gott die Erde in sechs Tagen erschaffen hatte. Sie dachte an das Hexagramm, einen Stern aus sechs Strahlen, der aus zwei übereinandergelegten gleichseitigen Dreiecken besteht. Der Davidstern, das Symbol des Judentums.
Ihr stockte der Atem, als ihr eine weitere Assoziation mit der Zahl Sechs im Gehirn herumspukte: Sechshundertsechsundsechzig. Laut Offenbarung des Johannes die Zahl des Antichristen.
Isabella bekreuzigte sich hastig und ging die Fakten durch. Schwester Raffaela war vom Glockenturm gestürzt. Das war eindeutig. Aber wie und warum? Oder war sie nicht gestürzt und hatte sich gar auf diese schaurige Weise das Leben genommen? Nein! Das war für Isabella nicht vorstellbar, schließlich war Raffaela die Ehe mit Gott eingegangen, und bei gläubigen Katholiken galt Selbstmord als schwere Sünde. Vielleicht war es ein Unfall? Doch was hatte sie da oben zu suchen gehabt? Hatte sie womöglich auch die Aussicht genießen wollen? Die Luft war süß und klar, kein Wölkchen trübte den Blick. Diese Option lag also durchaus im Bereich des Möglichen. Andererseits fiel man nicht einfach so vom Turm. Der gemauerte Aufsatz war brusthoch, man musste schon auf den Zinnen balancieren, um von dort herunterzufallen, und Isabella sah keinen einzigen Grund, der diesen Verdacht rechtfertigen würde.
Nein, die Antwort des Rätsels lag vor ihr im Staub.
Die gezeichnete Sechs hatte etwas zu bedeuten. Etwas dramatisch Wichtiges. Schließlich galt ihr Raffaelas letzter Gedanke. Und das schloss Isabellas Ansicht nach beide Optionen aus.
Aber es gab noch eine andere Möglichkeit …
»Mir ist einfach nicht klar, was Schwester Raffaela uns damit mitteilen wollte.« Matteos Stimme stoppte ihr Gedankenkarussell.
»Ich weiß es auch nicht«, gestand sie. »Aber eines können wir mit Sicherheit festhalten.«
»So, und was?«
Sie sah ihn scharf an.
»Es war Mord.«
Obwohl Isabella erst seit wenigen Monaten im Convento di Nostra Regina della Pace lebte, liebte sie die Beständigkeit, die dieses beschauliche Kloster zu etwas ganz Besonderem machte.
Dabei war es hier an diesem Ort so gänzlich anders als in ihrem ersten Kloster, einem kleinen Nonnenkonvent in Kalabrien. Dort hatte sie zwölf Jahre gelebt und war felsenfest davon ausgegangen, in diesem Kloster alt zu werden und zu sterben – wie ihre weitaus älteren Mitschwestern. Doch die hatten Isabellas Wunsch wörtlich genommen und waren tatsächlich im Lauf der Jahre der Reihe nach verstorben, bis Isabella eine der wenigen Verbliebenen war. Leider kamen auch keine neuen Novizinnen mehr hinzu, sodass der Konvent irgendwann vom Vatikan aufgelöst wurde und Isabella ihre neue Heimat in Santa Caterina fand.
Gott war ihr dabei immer nahe gewesen. Bereits als Kind hatte sie seine Anwesenheit gespürt. Doch erst im Orden der Comunità delle suore di Nostra Regina della Pace hatte sie ihre wahre Heimat gefunden. Das Leben in der Abtei gab ihr noch einmal ganz anders Gelegenheit, mit Gott und sich selbst in Berührung zu kommen. Zuvor hatte sie höchstens bei ihren allmorgendlichen Laufrunden die Stille erlebt, nach der sie sich so sehr gesehnt hatte. Doch im Kloster war diese allgegenwärtig, wie sie es bereits in jungen Jahren als Novizin in Kalabrien erfahren durfte.
Schon immer hatte sie ihre eigene Vision von Gott, ihre spezifische Vorstellung davon, wie man ihm begegnen musste, um ihm ganz nahe zu sein.
Im Kloster erlebte sie, wie Glauben bei jedem anders funktionierte. Sie beobachtete ihre Mitschwestern, lernte von ihnen, wie sie mit Gott umgingen – wie auch sie womöglich von ihr lernten.
So wichtig ihr die enge Gemeinschaft war, wesentlich für ihr inneres Seelenleben war gleichbleibend der heilige Ort. Die Stabilität einer Gottesstätte. In einem Kloster zu wohnen, es zu gestalten, wie es Schwestern vor ihr seit Jahrhunderten auf dieselbe Art getan hatten, hatte etwas beinahe Mythisches. In Kalabrien war sie eins mit dem Kloster gewesen, und sie konnte es kaum erwarten, so auch im Konvent in Santa Caterina zu empfinden und das Gefühl mit den Schwestern zu teilen.
Sie mochte nicht alle Schwestern gleichermaßen, aber sie liebte sie dennoch. Ausnahmslos und vorurteilslos.
Schwester Raffaela kannte sie nicht lange genug, um wirklich sagen zu können, wie tief sie für sie empfand. Sie mochte sie, hatte sie als angenehmen Menschen schätzen gelernt, in dessen Nähe sie sich gerne aufhielt.
Empfand sie Trauer über Raffaelas jähes Ableben? Zweifellos. Doch als Gläubige wusste sie, dass sie nun an einem guten Ort war. Gleichwohl verspürte sie den Verlust einer Schwester, die in dieser kleinen Glaubensgemeinschaft eine schmerzlich klaffende Lücke hinterließ. Sie hatte für sie gebetet, gemeinsam mit den anderen bei den Stundengebeten. In der Kirche, in den Gärten, allein in ihrer Zelle. Denn manche Dinge ließen sich eben nur mit sich selbst und Gott ausmachen. Zumal sie der Gedanke nicht mehr losließ, dass Raffaela keines natürlichen Todes gestorben war. Der junge Carabiniere Matteo Silvestri war trotz der Beweislage skeptisch geblieben. Er hatte es nicht direkt ausgesprochen, aber sie hatte es seinen Augen angesehen.
Und diese Skepsis hatte auch sie unsicher werden lassen.
Bildete sie sich womöglich alles nur ein? Zog sie die falschen Schlüsse? Sie war Ordensschwester. Nicht Sherlock Holmes. Doch um diese Fragen beantworten zu können, musste sie die Aufklärung selbst in die Hand nehmen. Und was lag näher, als hierfür ein wenig in Raffaelas Habseligkeiten herumzustöbern?
Es war ein schwerwiegender Entschluss, und Isabella hatte lange mit sich gerungen. Die Zelle einer Ordensfrau ist gänzlich privat und darf von anderen nur in einem Ausnahmefall betreten werden. In erster Linie sind ihre Zellen der ganz persönliche Ort der Begegnung mit Gott. Und wie alle anderen Schwestern berücksichtigte Isabella dies. Bis zu diesem Moment.
Schlechtes Gewissen hin oder her: Raffaela war tot und nun an einem Ort, an dem irdische Bedürfnisse keine Rolle spielten. Wohl auch nicht das Bedürfnis von Privatsphäre. Außerdem schnüffelte sie aus gutem Grund herum. Waren ihre Befürchtungen berechtigt, hätte Raffaela genau das gewollt. Warum sonst hätte sie im Augenblick ihres Todes mit dem Finger in den Staub einen letzten Hinweis gemalt. Unglaublich, dass dieser Matteo sich so sehr sträubte, das Offensichtliche zu sehen.
Doch sie konnte nicht so ohne Weiteres Schwester Raffaelas Zelle aufsuchen. Sie musste den richtigen Zeitpunkt abpassen, wollte sie nicht bei der Äbtissin in Ungnade fallen.
Im Convento di Nostra Regina della Pace herrschte ein streng geregelter Tagesablauf, in dem sich genau festgelegte Essens-, Arbeits- und Gebetszeiten miteinander abwechselten.
Das Kloster erwachte in aller Herrgottsfrühe zum Leben, weit vor dem ersten Krähen des Leghorn-Hahns, noch ehe die Sonne ihre zaghaften, tastenden Fühler über die bilderbuchhaften sanften Hügel bis zu den Dächern des Klosters streckte.
Ebenso kam das Kloster weit vor Anbruch der Dunkelheit zur Ruhe. Spätestens um acht Uhr hatten sich alle Nonnen in ihre Zellen zum Nachtgebet zurückgezogen.
Isabella wartete bis neun, um ganz sichergehen zu können, und stahl sich dann mäuschenstill hinaus durch den angenehm kühlen Flur bis zu Raffaelas Kammer. Ihr Herz klopfte hart und schnell in ihrer Brust, als sie die Hand auf den kalten Messinggriff legte. Die Tür war unverschlossen, jedoch musste sie sie ganz langsam aufziehen und dabei anheben, damit sie nicht zu laut knarzte.
Die Wände des Klosters waren zwar dick, hatten aber dennoch Ohren.
Sie schlüpfte durch den schmalen Spalt und zog die Tür ebenso leise hinter sich zu.
Auch wenn die Nacht noch nicht gänzlich angebrochen war und ein wenig Tageslicht durch die beiden schmalen Bogenfenster hereinfiel, knipste Isabella das Licht der Zelle an, um sich ausführlich umschauen zu können. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen.
Der Raum war ebenso spartanisch eingerichtet wie ihre eigene Zelle. Ein Waschbecken, aus dessen Hahn nur kaltes Wasser kam. Dazu ein dunkler Holztisch mit einem Stuhl, ein schmales Holzbett, das weitaus gemütlicher war, als es aussah. Unter dem Fenstersims stand eine zweckmäßige Kommode aus Kirschholz.
Zudem besaß Isabella einen kleinen Fernseher, der an der Wand über dem Bett hing. Die Fernbedienung lag auf dem Nachttischschränkchen neben dem Bett – auf Raffaelas Bibel.
Isabella betrachtete alles eingehend. Die Nachttischlampe, das noch halb volle Wasserglas neben der Lampe.
Die Wände waren kahl. Kein Bild war aufgehängt, nur ein kleines bronzenes Kreuz hing über dem Türrahmen.
Während sie sich ausgiebig umsah, dachte sie über ihre tote Mitschwester nach. Sie wusste nicht allzu viel über sie, hatte aber stets das Gefühl, dass die anderen Schwestern sie sehr gemocht hatten. Gut, hin und wieder eine verbale Auseinandersetzung, meist mit der herrischen Schwester Hildegard. Aber darüber hinaus war es ein umgängliches Miteinander mit Schwester Raffaela gewesen. Warum nur hatte es solch ein unrühmliches Ende mit ihr nehmen müssen?
Sie ging auf die Kommode zu und betrachtete die Porzellanfiguren, die vor einem gehäkelten Platzdeckchen drapiert waren. Es waren die Abbilder heranwachsender Kinder mit übergroßen Augen, roten Pausbäckchen und übertriebenen Grübchen. Sie waren allesamt bunt bemalt und wirkten nicht nur wegen ihrer altmodischen Kleidung aus der Zeit gefallen. Isabella zählte sie durch. Es waren neunzehn Stück an der Zahl. Sie betrachtete die Figuren eingehender. Eine Skulptur stellte zwei Kinder auf altmodischen Schulbänken dar, auf denen Schiefertafeln lagen. Eine andere zeigte ein speckiges Mädchen mit kurzem Rock und Kniestrümpfen, das sich einem Vogel zuwandte, der neben ihm auf der Bank saß. Ein Rotkehlchen.
Sie waren nett anzusehen, trafen aber überhaupt nicht Isabellas Geschmack.
Ihr Blick fiel auf die Schubladen darunter.
Kurz rang sie mit sich, ob sie es wirklich wagen sollte, die intimen Habseligkeiten durchzuwühlen. Aber das Gefühl, das Richtige zu tun, gewann schließlich die Oberhand. So zog sie Schublade um Schublade auf und tastete sich durch den Inhalt. Doch sie fand nichts weiter als Raffaelas Wäsche und zwei Flaschen Klostergrappa. Die eine war noch verschlossen, die andere zu drei Vierteln leer. Aus einem Impuls heraus öffnete Isabella die angebrochene Flasche und roch daran. Der starke Alkoholgeruch ließ sie das Gesicht verziehen. Schnell legte sie die Flasche zurück und schob die Schublade wieder zu. Noch einmal betrachtete sie die Porzellanfiguren und hob eine an. Sie war vielleicht fünfzehn Zentimeter hoch und schwerer, als sie aussah. Sinnierend wiegte sie sie hin und her, betrachtete sie aus Mangel an weiteren Ideen, wonach sie noch suchen könnte, von allen Seiten. Unter dem Sockel las sie die Prägung:
Manufactura Mazza, Lucca
Der Name war ihr nicht unbekannt. Die Keramikmanufaktur Mazza war ein regionaler Familienbetrieb, der regelmäßig auf dem Caterina-Markt seine Produkte anbot. Mazza war für sein hochqualitatives Geschirr weit über die Region hinaus bekannt. Dass dort auch derartige Figuren hergestellt wurden, war ihr hingegen neu.
Sie wusste nicht, dass Schwester Raffaela eine Liebhaberin dieser Objekte gewesen war, fand es aber auch nicht abwegig, da sie für den Marktdienst eingeteilt gewesen war und sich vermutlich im Laufe der Zeit mit den Betreibern des Keramikstandes angefreundet hatte. Sie runzelte die Stirn. Über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht streiten.
Eine gewisse Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Aber in Raffaelas Zelle war nichts, was auch nur den Hauch einer Spur hätte darstellen können. Wie sollte sie so ihr Todesrätsel entschlüsseln?
Vorsichtig stellte sie die Figur exakt an die Stelle, von der sie sie angehoben hatte. Die zu finden war leicht, weil ein sauberer Kreis sich von der Staubschicht abhob.
Genau da fiel ihr etwas auf. Direkt neben der Figur gab es noch einen weiteren kreisrunden Abdruck. Dieser war nicht ganz staubfrei, aber längst nicht mit so einer dicken Schicht bedeckt wie der Rest der Kommode. Das konnte nur bedeuten, dass vor wenigen Tagen hier ebenfalls eine Figur ihren Standort gehabt haben musste. Also waren es zwanzig an der Zahl. Aber wo war sie nun?
Sie betrachtete den Abdruck ganz genau, als würde er allein dadurch sein Geheimnis preisgeben, weil sie es wollte. Er tat es natürlich nicht. Beim Anblick der Staubpartikel musste sie an die in den Sand gemalte Sechs denken. Ihr Herz wurde schwer. Raffaela, was wolltest du uns bloß damit mitteilen?
Sie zuckte zusammen, als es hinter ihr aufknarzte.
»Was machst du hier?« Der scharfe Tonfall zerriss die Stille. Panisch fuhr Isabella herum, und es verschlug ihr den Atem, als sie Schwester Hildegard im Türrahmen stehen sah. Ihr Blick war feindselig und misstrauisch.
»Was hast du in Raffaelas Zelle zu suchen?«, fragte sie noch einmal. »Das sag ich der Äbtissin!«
…wurde Schwester Raffaela, mit gebürtigem Namen Raffaela Carla Russo, geboren in Bologna, tot im Kloster Convento di Nostra Regina della Pace aufgefunden. Die Identität des Opfers ist somit klar feststellbar. Beim Auffinden der Leiche waren es einunddreißig Grad, exakter Zeitpunkt des Eintreffens: zwölf Uhr vierundfünfzig. Entdeckt wurde die Leiche von Schwester Isabella, gebürtiger Name Isabella Martini, auf dem Vorplatz des Glockenturms. Der Leichnam wies schwere Kopfverletzungen auf. Als vermutliche Todesursache scheint der Sturz vom Glockenturm als faktisch.
Ein Unfall ist sehr wahrscheinlich, Fremdverschulden nicht offensichtlich, kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt des Ermittlungsstandes nicht ausgeschlossen werden. Des Weiteren muss auch Suizid in Betracht gezogen werden.
Sonstige Auffälligkeiten: …
»Hm …« Matteo Silvestri hörte auf zu tippen.
Er fächerte sich frische Luft mit einer Broschüre über Einbruchschutz zu und spürte, wie das Hemd unangenehm am Rücken klebte. Wie sehr er dieses Berichteschreiben hasste.
Mit kleinen Augen starrte er das leere Feld im elektronischen Formularbogen an, das ihn blinkend dazu aufforderte, ausgefüllt zu werden.
Sonstige Auffälligkeiten …
Er könnte es sich natürlich einfach machen und die Botschaft, die Schwester Raffaela augenscheinlich kurz vor ihrem Tod im Staub hinterlassen hatte, einfach verschweigen. Kein Hahn würde danach krähen – von Schwester Isabella einmal abgesehen. Aber die würde es nie erfahren. All der Papierkram, den er sich damit ersparen würde. Und selbst wenn er seine Vermutungen – oder vielmehr die von Schwester Isabella – im Bericht erwähnte, hieß das noch lange nichts. Schließlich war es Sache der Staatsanwaltschaft, einen strafrechtlich relevanten Hintergrund zu erkennen. Und so wie Matteo den zuständigen Staatsanwalt bisher kennengelernt hatte, erkannte der nur, was er erkennen wollte.
Er ließ sich zurück in den altersschwachen Drehstuhl fallen, der dies mit einem wehen Aufächzen quittierte. Er musste den Stuhl unbedingt ölen. Resigniert verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und betrachtete die kahlen Wände seines schmucklosen Arbeitsplatzes, an dem er sich noch immer nicht so recht heimisch fühlte.
Die Polizeistation war kaum mehr als ein Büro mit veralteter Ausstattung und einer kleinen Arrestzelle, die im Laufe der Jahre, in denen sie nicht benutzt wurde, als Abstellkammer für kaputte Möbel und noch älteres Computerinventar zweckentfremdet wurde.
Sein Vorgänger Paolo Maggiore hatte nicht viel Wert auf Raumgestaltung gelegt und bevorzugte allem Anschein nach eine praktische Nüchternheit. Obwohl Matteos Dienstantritt in Santa Caterina bereits über ein Jahr zurücklag, war er noch immer nicht dazu gekommen, es sich im Polizeipräsidium gemütlicher einzurichten.
Es musste ja nicht gleich eine Komplettsanierung sein.
Ein neuer Anstrich. Ein, zwei hübsche Bilder, vielleicht gerahmte Hochglanzfotos seiner Lieblings-Alfa-Modelle. Und natürlich ein neuer Bürostuhl. Vielleicht einer dieser Chefsessel mit Armlehnen und gepolsterter Nackenstütze. Aber der bloße Gedanke an das Ausfüllen der Flut an Anträgen und Formblättern lähmte seinen Tatendrang.
Er verwarf diese Gedanken und versuchte, sich auf das Protokoll zu konzentrieren, das er endlich fertigbekommen wollte.
Was hatte er denn wirklich gesehen? Eine tote Frau, die irgendetwas in den Staub gekritzelt hatte, was mit gutem Willen als eine Zahl zu erkennen war. Nüchtern betrachtet war das nun wirklich nichts, was man in einem offiziellen Polizeibericht erwähnen musste. Diese Zahl oder was auch immer es darstellen sollte, konnte genauso gut rein zufällig entstanden sein … beim Sturz … oder so. Schwester Isabella interpretierte da vermutlich viel zu viel hinein und hatte ihn mit ihrer Verschwörungstheorie angesteckt.
Und überhaupt: Er konnte und wollte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand eine Nonne tötete. Nicht in dieser Welt und schon gar nicht in einer beschaulichen Kleinstadt wie Santa Caterina. Basta!
Noch einmal ließ er seine Augen halbherzig über den halb fertigen Bericht fliegen und erschauderte angesichts seines schlechten Schreibstils.
Aber es war auch viel zu heiß zum Arbeiten, ja, sogar zu heiß zum Denken. Vielleicht sollte er sich doch endlich der Renovierungsanträge annehmen. Ein Traum wäre eine Klimaanlage. Oder zumindest ein Deckenventilator, den er auch aus eigener Tasche bezahlen würde.
Himmel, er war Polizist, kein Schriftsteller. Wie sehr er diesen Part der Polizeiarbeit verabscheute.
Sein Blick fiel auf das Wort Suizid. Er konnte sich nicht helfen, aber es sah falsch geschrieben aus.
Sicherheitshalber schlug er im Dizionario nach.
»Ich störe Sie doch nicht etwa beim Mittagsschläfchen?!«
Matteo zuckte so heftig zusammen, dass ihm das dicke Wörterbuch aus der Hand fiel, ausgerechnet auf die Tastatur.
Ruckartig fuhr er herum und sah einen älteren, solide gebauten Mann mit Schnäuzer im Türrahmen stehen, der sich mit einem Stofftuch über die vom Schweiß glänzende Halbglatze fuhr.
»Herr Lenzi.«
Matteo sprang auf, um dem Bürgermeister von Santa Caterina die Hand zu schütteln.
Duccio Lenzi hatte einen kräftigen Oberkörper – weniger vom Sport, dafür mehr von deutschem Bier und Pasta. Er trug einen feinen zementgrauen Anzug, darunter ein, wie Matteo fand, unpassendes signalviolettes Hemd.
»Ich bin gerade dabei, einen Bericht zu schreiben … über den Tod von Schwester Raffaela.«
Der Bürgermeister nickte mitfühlend. »Ja, ich habe davon gehört, eine äußerst tragische Sache.«
Er zog den Schnäuzer glatt. »Denken Sie etwa, sie hat sich umgebracht?«
Matteo dachte an die Höhe des Glockenturms und an die Statistiken über Selbstmord, die sie einst in der Polizeischule durchgegangen waren. Wenn er sich recht erinnerte, lag Freitod durch Sturz in die Tiefe auf Platz drei der häufigsten Selbstmordmethoden. Dicht hinter Arzneimittelmissbrauch und Erhängen. Damals war es für ihn nichts weiter als eine nüchterne Tabelle gewesen. Aber nun, mit der toten Raffaela vor Augen, war die Statistik grausam real geworden.
Angestrengt schluckte er die Erinnerung an diesen unschönen Anblick weg.
»Auszuschließen ist das nicht. Man weiß nie, was in Leuten vorgeht.«
»Ja, aber … sie war eine Nonne. In den Augen der Kirche wäre das doch eine Sünde.« Dieser Gedanke beschäftigte Matteo bereits die ganze Zeit. Wie wahrscheinlich war es, dass sich eine Ordensschwester freiwillig in den Tod stürzte?
»Also ein Unfall«, beschloss der Bürgermeister.
Matteo schwieg. Unaufgefordert sprang ihm die in den Staub gemalte Zahl in den Sinn.
Lenzis Blick ruhte intensiv auf ihm. »Sie glauben nicht, dass es ein Unfall war, hab ich recht?«
Matteo rieb sich den schweißnassen Nacken. »Ich bin noch jung und längst nicht so lange im Dienst, wie es mein Vorgänger gewesen ist. Aber man fällt nicht einfach so von einem Glockenturm. Ich war dort oben, hab es mir angeschaut. Man muss sich schon ganz schön anstrengen, um über die Brüstung zu stürzen.«
»Hm.«
Damit fasste der Bürgermeister ziemlich trefflich das zusammen, was Matteo selbst von diesem Fall hielt – sofern es denn überhaupt einer war. Nach wie vor waren noch immer alle Möglichkeiten offen.
Lenzi musterte den Carabiniere eindringlich. »Aber wenn es kein Unfall war, dann kann es ja nur Selbstmord gewesen sein.«
Matteo ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Hauptsächlich deshalb, weil er gar nichts wusste, wie ihm beim Schreiben des Berichts deutlich geworden war. Im Grunde war nichts auszuschließen.
Und ehe er wusste, wie ihm geschah, hörte er sich selbst mit wichtigtuerischer Stimme sagen: »Das ist leider noch nicht so klar, wir ermitteln noch.«
Mit wir meinte er sich. Im Singular. Die Polizeiwache von Santa Caterina bestand aus einem einzigen Polizisten. Ihm selbst. Ein Umstand, über den der Bürgermeister am besten Bescheid wusste. Trotzdem klang es einfach besser und irgendwie auch gewichtiger, in Sachen Ermittlungsarbeit im Plural zu sprechen.
Zumindest tat Lenzi ihm den Gefallen, es unkommentiert zu lassen. »Oder glauben Sie, dass die Möglichkeit besteht, dass jemand eine Nonne …?«
Matteo rang sich ein zaghaftes Nicken ab. »Zumindest kann diese Möglichkeit nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Die Umstände am Tatort lassen Rückschlüsse in viele Richtungen zu.«
Matteo hätte dem Bürgermeister von der Botschaft im Staub erzählen können, von der ausgestreckten Hand, die zum Kirchturm zeigte. Aber er tat es nicht. Im Grunde ging das den Lenzi überhaupt nichts an. Es war ein Tatbestand der Ermittlungsarbeit, und die gehörte in den verhassten Polizeibericht, nicht in die Ohren des Bürgermeisters.
»Nun ja«, erwiderte dieser gedehnt. »Schwer vorstellbar ist das ja schon, hier in unserer beschaulichen Stadt.«
»Eben«, sagte Matteo. »Wir müssen jedoch alle Möglichkeiten ausschließen, bevor wir …«
Der Bürgermeister winkte ab und tupfte sich noch einmal über die Stirn.
»Sie machen das schon. Aber deshalb bin ich auch gar nicht hier. Ich komme wegen der Via Madonna delle Grazie.«
Matteos ohnehin schon angeschlagene Laune verkrümelte sich nun endgültig in den Keller.
»So …«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, wie der Sachverhalt hier ist.«
Matteo nickte lahm.
»Ich war gerade dort, und es hat sich überhaupt nichts getan.«
»Nun ja«, erwiderte Matteo ausweichend. »Es ist nicht so, dass ich hier Däumchen drehen und mich langweilen würde. Kürzlich wurde in Petrozzas Tankstelle eingebrochen. Vorgestern gab es einen Verkehrsunfall an der Piazzo Cristo Re. Zum Glück nur ein Bagatellschaden, aber dennoch musste alles für die Versicherungen dokumentiert werden. Und jetzt auch noch der Todesfall von Schwester Raffaela …«
»Ja, ich weiß, Sie sind ein sehr beschäftigter Mann, Signore Silvestri. Aber verstehen Sie mich. Ich muss mich vor dem Gemeinderat rechtfertigen. Und als Bürgermeister ist es meine Pflicht, die Belange der Gemeinde ernst zu nehmen. Und dazu gehört es eben auch, mich darum zu kümmern, dass Gemeindebeschlüsse in die Tat umgesetzt werden. Subito! Wenn Sie verstehen, Signore Silvestri.«
Matteo verstand. Tatsächlich schob er es schon eine ganze Weile vor sich her, die Via Madonna delle Grazie gebührenpflichtig zu machen. Schließlich war es die einzige Straße in der unmittelbaren Nähe des Marktplatzes, in der die Anwohner und Marktbesucher frei parken konnten. Außerdem wohnte er selbst in der Nähe und stellte seinen Lancia Delta regelmäßig in dieser Straße ab. Obendrein war ihm vollkommen klar, gegen wen sich der Zorn der Bevölkerung richten würde, sobald die ersten Parkautomaten Einzug hielten. Gegen ihn!
»Also, Signore Silvestri. Wann gedenken Sie, hier aktiv zu werden?«
»Ich äh …«
Es kam selten vor, aber diesmal tat ihm das Telefon den Gefallen und klingelte ausnahmsweise genau im richtigen Moment.
»Entschuldigen Sie bitte, da muss ich drangehen. Könnte ja wichtig sein.«
Matteo räusperte sich und nahm das Gespräch entgegen. »Posto di polizia Santa Caterina? Oh, Sie sind es, Schwester Isabella.« Er legte eine Hand auf die Muschel und flüsterte Duccio Lenzi mit gesenkter Stimme zu: »Schwester Isabella, vom Kloster.«
Dieser nickte schmallippig.
»Ja, hm … natürlich, ich höre zu.«
Um das ungeduldige Nicken des Bürgermeisters nicht mehr sehen zu müssen, wandte Matteo den Blick ab und schaute aus dem Fenster, während er zuhörte, was Schwester Isabella ihm zu erzählen hatte.
Es fiel ihm schwer, ihren Worten zu folgen, da just in diesem Augenblick eine junge Frau direkt am Präsidium entlanglief. Er hob die Gardinen ein Stück weit an. Sie trug ein kurzes Sommerkleid voller bunter Blümchen, das ihre tief gebräunten Schenkel umschmeichelte. Er kannte die Frau sowie die Beine, bloß das Kleid hatte er an ihr noch nie gesehen.
Sie war atemberaubend attraktiv. Mit ihren glatten kastanienbraunen Haaren, die in der Mittagssonne schimmerten, und den Augen, die zwischen grün und blau changierten – je nachdem, zu welcher Tageszeit er sie antraf – , zog sie ihn bei jeder zufälligen Begegnung sofort in ihren Bann.
Er hatte sie in letzter Zeit öfters in der Stadt getroffen. Eine Frau solchen Schlages fiel eben auf. Doch er wusste nichts von ihr. Weder wie sie hieß, noch was sie nach Santa Caterina verschlug. Aber eines wusste er ganz bestimmt: Sie war eine Frau, die das Zeug hatte, sein Herz im Sturm zu erobern – und das, obwohl sie bis auf das ein oder andere Hallo keine Worte miteinander ausgetauscht hatten. Noch nicht.
Unverhofft hob sie den Kopf und schaute nach oben. Direkt in seine Richtung. Mit dem unangenehmen Gefühl, ertappt worden zu sein, blieb Matteo mit dem Hörer in der Hand stocksteif stehen. Die junge Frau hielt den Blickkontakt und lächelte breit. Matteo lächelte zurück, und es fühlte sich so verkrampft in seinem Gesicht an, dass er sich gar nicht ausmalen wollte, wie dämlich es aussah. Wie von selbst hob er die Hand und winkte. Es war kein besonnenes, männliches Winken, sondern das einer englischen Königin.
Das Lächeln der Frau verwandelte sich in ein ungehemmtes Kichern. Belustigt warf sie den Kopf nach hinten und schwebte weiter über den Bürgersteig.
»Was für ein Hintern«, fuhr es leise aus Matteo heraus. Er konnte einfach nicht den Blick abwenden.
»Bitte was?«, fragten der Bürgermeister und Schwester Isabella gleichzeitig.
»Nein, ich meine doch nicht Ihren Hintern, Schwester Isabella … ich … da war gerade … ach …«
Matteo zog die Gardinen zu und ließ sich schwerfällig auf den Bürostuhl fallen. Das war so gar nicht sein Vormittag.
»Natürlich bin ich ganz Ohr. Was denn, jetzt gleich? Und Sie finden, das kann nicht warten, bis … nein, natürlich nicht. Ich komme. Ciao!« Als er den Hörer auflegte, durchbohrte ihn der Blick des Bürgermeisters.
»Die Via Madonna delle Grazie«, holte dieser ihn ins Hier und Jetzt zurück.
»Kümmere ich mich drum«, versprach Matteo. Er sprang auf, ging zur Garderobe und schnappte sich seine Mütze. »Aber jetzt muss ich los, eine Ordensschwester darf man schließlich nicht warten lassen.«
»Das heißt, Sie haben noch überhaupt nichts herausgefunden?« Ein vorwurfsvoller Ton schwang in Isabellas Stimme mit. Dabei musste sie dem Polizisten hoch anrechnen, dass er keine fünf Minuten nach ihrem Anruf bei ihr war.
Nun saßen sie auf einer Steinbank im Klostergarten und genossen den Schatten der Schirmpinie, die sich über ihnen spannte.
»Was denken Sie? Ich kam noch nicht mal dazu, den Polizeibericht fertigzuschreiben. Ständig ist irgendwas, und dann kam auch noch der Bürgermeister reingeschneit mit irgendwelchen abstrusen Aufforderungen.«
Die Schwester sah ihn verständnislos an. In ihren Augen gab es einfach nichts, was wichtiger sein konnte, als Schwester Raffaelas Todesrätsel zu lösen.
Sie sah, wie Matteo sich mit einem Esslöffel in der Hand über seinen Bartschatten rieb. Er wirkte müde. Und hungrig.
»Aber was gab es denn nun so Dringendes, dass wir es nicht am Telefon besprechen konnten?«
»Ach!« Isabella strich eine Rockfalte glatt. »Dringend ist vielleicht etwas übertrieben. Aber ich telefoniere eben nicht so gerne und finde, dass ein persönliches Gespräch einfach … netter ist.«
Sie betrachtete den jungen Polizisten eingehend. Auf seinem Schoß ruhte ein Suppenteller, bis zum Rand gefüllt mit Hildegards kalter Tomaten-Melonen-Suppe, die vom Mittagessen übrig geblieben war und in Matteo einen dankbaren Abnehmer fand. Zwischen ihnen stand ein Körbchen mit Brotscheiben und Schinken-Tramezzini-Spießen.
»Mia Madre, die ist wirklich fantastisch.« Er griff neben sich, steckte sich eines der Spießchen in den Mund und kaute andächtig.
»Aber sie müssen doch mit ihren Ermittlungen begonnen haben.« Sie tippte ungeduldig mit den Fingern auf die Steinplatte, was den Polizisten zumindest dazu brachte, schneller zu kauen und angestrengt zu schlucken.
»Was denken Sie denn? Bevor ich irgendetwas tun kann, muss ich abwarten, wie die Staatsanwaltschaft die Sache einschätzt. Ob tatsächlich ein mögliches Motiv dafür besteht, dass jemand das Opfer, also Schwester Raffaela, vorher geschlagen oder vielleicht betäubt hat.«
Isabella sah ihn verwirrt an. »Wieso die Staatsanwaltschaft? Die war doch überhaupt nicht dabei, als wir die Leiche gefunden haben.«
»Das muss sie auch nicht.« Matteo lächelte milde. »Dafür schreiben wir ja einen Polizeibericht.«
Mit schräg gehaltenem Kopf sah sie ihn argwöhnisch an. »Sie haben in ihrem Bericht aber ausführlich klargemacht, dass es nur eine einzige Möglichkeit geben kann.«
Matteo sah der Schwester nicht direkt in die Augen, als er zögernd erwiderte: »Ich habe mich selbstverständlich an die Fakten gehalten und … weitestgehend alles so geschildert, wie es vorgefunden wurde.«
Der Blick der Schwester ruhte lange auf ihm, dann schüttelte sie sich. »Wie schrecklich! Nicht vorzustellen, dass sie tatsächlich geschlagen oder gar betäubt wurde.« Ihre Hände deuteten flink ein Kreuz an, und sie sah Matteo ein stummes Amen hinzufügen.
»Ja, aber ehrlich gesagt, bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob wir es hier wirklich mit einem Mordfall zu tun haben.«
Ihr Blick zuckte zu ihm hinüber. »Sie haben es doch selbst gesehen. Die eindeutigen Indizien. Die Zahl!«
Matteo hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Und das war nicht gerade viel.«
Isabella nahm einen tiefen Atemzug. Wieder war da diese Unsicherheit, ob sie sich nicht womöglich doch zu viel einbildete.