Komplizen des Glücks - O.P. Zier - E-Book

Komplizen des Glücks E-Book

O.P. Zier

4,3

Beschreibung

Die Geschichte der ungewöhnlichen Familie Wirring ist eine Hymne auf Freiheit, Aufbegehren und Anarchie. Wie das berühmte gallische Dorf trotzt das alte Bauernhaus der Wirrings den umgebenden Beton-Wohnblöcken im Salzburger Land. Der bornierten Nachbarschaft ist es ein Dorn im Auge, der lustvollen Alltagsanarchie der vier Familienmitglieder bietet es jedoch ein verlässliches Zuhause: Claudia, Kämpferin für Umwelt und gesellschaftliche Erneuerung, Werner, ehemals Werbeguru, Lebensforscher, Großvater Peter, genannt Pete Wire, Rockmusiker, und Sohn Rolf, der versucht, sich auf all das einen Reim zu machen. Bis eines Tages ein sterbenskranker Mann in der Tür steht und behauptet, die uneheliche Frucht der Begegnung des Rock-Opas mit einer Kellnerin zu sein… Damit setzt er eine turbulente, drei Jahrzehnte umspannende Familienerzählung in Gang.

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2015

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O. P. Zier

Komplizen des Glücks

Roman

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2014 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook:978-3-7017-4497-8

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1642-5

Für Annemarie und Rainer

Inhalt

2005 – 1

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2005 – 2

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5

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2005 – 3

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2005 – 4

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Actin’ funny, but I don’t know why

Excuse me while I kiss the sky

JIMI HENDRIX, PURPLE HAZE

Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler.

… Sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen.

ROBERT MUSIL, DER MANNOHNE EIGENSCHAFTEN

- Was hast du denn getan?- Ich bin älter geworden.

RAYMOND QUENEAU, ZAZIE IN DER METRO

2005 – 1

An einem frostigen Winternachmittag stand ein wildfremder Mann vor unserer Haustür und behauptete, mein Onkel zu sein.

Das heißt, zuerst sagte er lange gar nichts, bevor er so verzagt, mit sich kaum bewegenden Lippen murmelte, dass ich große Mühe hatte, seine Worte zu verstehen: »Die Mutti lebt nicht mehr …«

Nach einer mehrtägigen Tauwetterphase war es hier bei uns im Salzburger Gebirge wieder schneidend kalt geworden, und schon seit Stunden schneite es in feinen Flocken. Doch der Fremde mit dem altertümlich aussehenden Koffer in der Hand, den er nicht abstellte, als wäre er es gewohnt, ohnehin sofort an der Tür abgewiesen zu werden, trug einen für diese Witterung viel zu dünnen marineblauen Staubmantel, eine leichte, hellgraue Sommerhose, ausgetretene Halbschuhe und weder Kopfbedeckung noch Handschuhe. Auf seinem schütteren, dünnen, fettig wirkenden Haar und seinen Schultern sammelten sich die harten Kristalle der Schneeflocken, die kaum größer waren als Schuppen.

Der Teint des Fremden wirkte ungesund; die blasse, rot gefleckte Gesichtshaut war trotz der Kälte von einem dünnen Schweißfilm überzogen.

Natürlich suchte ich in den Gesichtszügen des Unbekannten sofort nach Ähnlichkeiten mit meinem Opa, kaum dass der Mann die ungeheuerliche Behauptung ausgesprochen hatte, dass Pete Wire sein Vater sei. Und unerwartet schnell erinnerte mich der Anblick des Gesichtes dieses Fremden tatsächlich an meinen Großvater.

Ins Haus bat ich ihn allerdings erst, nachdem er beiläufig erwähnt hatte, auf der Durchreise zu sein.

Als er mir auf meine Einladung hin seine knochige kalte Hand reichte, fühlte auch sie sich feucht an. Beim Drücken der roten, verfrorenen Finger überkam mich einen Moment lang die Vorstellung, ein dem Tiefkühlschrank entnommenes und nur angetautes, rohes Kotelett angefasst zu haben.

Als ich den Fremden so verdattert vor mir stehen und kein Wort herausbringen gesehen hatte, hatte ich zuallererst natürlich daran gedacht, dass er – wie manch anderer Gestrauchelter vor ihm – in eine der Wohnungen in unserer Straße eingewiesen worden war, die vom Sozialamt vergeben wurden, und sich bloß in der Hausnummer geirrt habe oder sich von mir Hilfe beim Auffinden des entsprechenden Wohnblocks erhoffte.

Ich hatte doch keine Erfahrung mit Onkeln oder Tanten, so sehr ich mir in meiner Kindheit gelegentlich auch welche gewünscht hatte, vor allem dann, wenn Schulfreunde von der Freigiebigkeit ihrer kinderlosen Tanten geschwärmt hatten, die noch dazu meist darauf spezialisiert zu sein schienen, haargenau all jene Wünsche zu erhören, zu deren Erfüllung sich die Eltern niemals bereitgefunden hätten. Nein, die Wirrings waren eine Familie der Einzelkinder. So wenig, wie meine Eltern Erfahrungen mit Geschwistern hatten, hatte ich, das Einzelkind von zwei Einzelkindern, Erfahrungen mit Onkeln. Und schon gar nicht mit solchen, die dermaßen überraschend aus dem Nichts eines stürmischen Wintertages auftauchten!

Mit seinem fahlen Gesicht und der für die Jahreszeit nicht nur völlig unpassenden, sondern überdies längst aus der Mode gekommenen Kleidung hätte man den Fremden durchaus für einen gerade entlassenen Häftling halten können, für den seine Bewährungshelferin in den Plattenbauten unserer Nachbarschaft eine Bleibe gefunden hatte.

Grundiert mit Sozialkitsch, hätte sich folgende Geschichte ergeben: An einem Sommertag eingesperrt und jahrelang hinter Gittern gewesen, trage er jetzt die Kleidung von damals – weil er keinen Menschen mehr habe, der ihm wärmere Sachen ins Gefängnis bringen könnte.

Es schien mir, als habe der Mann, der sich als mein Onkel ausgab und behauptete, ein unehelicher Sohn meines Großvaters und damit der Halbbruder meiner Mutter zu sein, die bislang davon ausgegangen war, keine Geschwister zu haben, mit einem einzigen riesigen Schritt einige Jahrzehnte übersprungen. Er wirkte auf mich tatsächlich so desorientiert, als irre er nach sehr langer Haft durch eine ihm sehr fremd gewordene Welt. Erst später sollte ich kapieren, dass der Eindruck von Desorientierung auf die starken Medikamente zurückzuführen war, die der neue Onkel schluckte.

Ich hatte den Fremden also ins Haus gebeten – und nun saß er so verloren in unserer Wohnküche hinter dem großen runden Tisch, als sei er ohne sein Zutun von einer Flutwelle als willenloses Treibgut hier an Land gespült worden. Ein ziemlich falscher Eindruck, wie sich später herausstellen sollte, war es für ihn doch alles andere als einfach gewesen, unser Haus ausfindig zu machen. Eigentlich war es ihm überhaupt erst dank der Suchmaschinen des Internet gelungen. Jedenfalls saß er jetzt reglos da und wartete darauf, dass ich den gewünschten Tee zubereitete. Bier dürfe er leider wegen der Medikamente »und auch sonst« keines mehr trinken.

»Aber zumindest eine kleine Jause zur Stärkung?«

»Etwas später vielleicht, danke.« Er habe ja kaum noch Appetit in letzter Zeit, fügte er mehr zu sich selbst sprechend hinzu.

Es hatte mich vorhin berührt zu beobachten, welche Anstrengung ihm die wenigen langsamen Schritte ins Haus bereitet hatten. Vom Bahnhof habe er ein Taxi genommen, bemerkte er auf meinen wohl deutlich besorgten Blick. Dann sei er aber irgendeiner blöden Scheu wegen noch über fünfzehn Minuten draußen in der Kälte gestanden, bevor er sich überwunden und geläutet habe.

Selbst nachdem er seinen altmodischen Koffer im Vorhaus abgestellt hatte, atmete er noch durch den leicht geöffneten Mund, um genügend Luft zu bekommen.

Es fiel mir schwer, das Alter des Mannes zu schätzen, weil sein offenkundig angeschlagener Gesundheitszustand nahelegte, dass er wohl um einiges jünger war, als er wirkte. Andererseits ließ einen womöglich gerade dieser Umstand sein tatsächliches Alter unterschätzen. Am Ende meines Rätselns verband ich mit meinem neuen Onkel eine merkwürdige Art von Alterslosigkeit.

Ich war froh, mich in unserer Wohnküche mit der Zubereitung des Tees beschäft igen zu können (auch wenn ich dabei seine Blicke im Rücken spürte), da ich plötzlich von einer eigentümlichen Scheu erfasst wurde, mich zu dem unbekannten Verwandten an den Tisch zu setzen, dessen Behauptung vorhin an der Haustür so ungeheuerlich gewesen war, dass ich mir sagte, dass sie allein deshalb schon nicht erfunden sein konnte. Erbschleicherei schien mir wegen seines schlechten Gesundheitszustandes fast absurd zu sein. Höchstens wenn er selber Nachkommenschaft hätte, die zu versorgen wäre. Oder ihn gar losgeschickt hätte. Aber eine derartige Lüge hätte doch nur so lange Bestand, bis Opa einen Bluttest machen lassen würde.

Ich schob all diese müßigen Überlegungen beiseite. Sie kämen wohl jedem Menschen in meiner Situation, wenn er mit knapp fünfundzwanzig Jahren von einer Minute auf die andere in einem bedauernswerten menschlichen Wrack einen der gesamten Familie bislang unbekannt gewesenen Onkel vorgestellt bekäme!

Ich hatte meinem neuen Blutsverwandten immer noch den Rücken zugewandt, als ich ihn leise sagen hörte, wie gut es ihm tue, jetzt endlich tatsächlich hier zu sitzen. »Daheim.« Zu schade nur, dass es ihm gesundheitlich nicht besser gehe.

Auch wenn die Gelegenheit dafür jetzt ideal gewesen wäre, brachte ich es nicht über die Lippen, nachzufragen, an welcher Krankheit er leide.

Ich hatte an meiner Dissertation zu arbeiten und war darauf eingestellt gewesen, an diesem Tag bis zum späteren Abend allein im Haus zu sein. Irgendwann würde Mama heimkommen, die am Vortag in Wien an einer Großdemo gegen die Schwarz-Blaue Regierung teilgenommen hatte. Papas Rückkehr stand noch nicht fest. Er war in den Bregenzer Wald zum Begräbnis eines aus Vorarlberg stammenden früheren engen Mitarbeiters seiner Wiener Werbeagentur gefahren, der in seiner Heimat tödlich verunglückt war. Nachdem die gesamte Firmenbelegschaft auf einer Skihütte einen Großauftrag gefeiert hatte, an dessen Erlangung dieser Mitarbeiter maßgeblich beteiligt und wofür er zum kaufmännischen Leiter der Agentur befördert worden war, war der gute Schifahrer nicht wie seine Kolleginnen und Kollegen mit Schlitten ins Tal gerodelt, sondern hatte sich, ungeachtet des reichlichen Alkoholkonsums, für die Schipiste entschieden. Trotz leuchtstarker Stirnlampe war er bei dieser nächtlichen Abfahrt gegen eine abgestellte Pistenwalze geprallt und noch an der Unfallstelle verstorben, da seine betrunkenen Kolleginnen und Kollegen für ihre Rodelpartie sehr lange gebraucht hatten und dadurch Suchtrupp und Rettung viel zu spät informiert worden waren, um dem Schwerverletzten noch helfen zu können. Die Eltern des ledigen, kinderlosen Mannes arrangierten das Begräbnis im Heimatort des Verunglückten, obwohl er nur bis zur Matura dort und seither in Wien gelebt hatte.

Opas Heimkehr wiederum war noch völlig offen, da er seit Längerem in München wieder einmal einen größeren Studiojob bekommen hatte, bei dem noch nicht klar war, wie lange die Aufnahmen tatsächlich dauern würden. Überdies stand noch ein möglicher Folgeauftrag für einen anderen Produzenten im Raum. Ein Zahnarzt, hatte Großvater grinsend erzählt, der etwas Schwarzgeld loswerden wolle. Opa, der inzwischen von der Verwertungsgesellschaft eine kleinere Pension bezog und bei uns seinen Hauptwohnsitz angemeldet hatte, hatte gemeint, dass seine Studiogigs zwar immer seltener eintrudelten, aber ganz aussterben würde der Bedarf an Aufnahmen seiner dreckigen Gitarreriffs wohl nie. Obwohl sie heutzutage einfach gestohlen würden, wenn wieder irgendein DJ aus lauter geklauten Teilen eine gesampelte Nummer zusammenstopple.

Nie hätte ich mir auch nur träumen lassen, dass diese so waidwund und zugleich doch auch zufrieden am Tisch kauernde Gestalt für mich zum Auslöser werden würde, endlich die Geschichte meiner Kindheit und frühen Jugend in meiner Familie, den Wirrings, zu erzählen, zu der ich schon seit meinem vierzehnten Lebensjahr, meinem jeweiligen Schreibvermögen entsprechend, in unterschiedlichster stilistischer Ausformung Notizen und Szenenentwürfe sonder Zahl angesammelt, die Ausführung der Arbeit an diesem Roman jedoch Jahr für Jahr hinausgeschoben hatte.

Nunmehr mutete es geradezu so an, als hätte ich – ohne von seiner Existenz natürlich auch nur das Geringste ahnen zu können – intuitiv auf das Eintreffen des letzten noch ausständigen Familienmitgliedes gewartet!

Tatsächlich hatte ich die intensive Schreibarbeit nicht zuletzt deswegen immer wieder aufgeschoben, weil ich nach einem ebenso unbekümmerten wie rauschhaft-rasanten Start als Vierzehnjähriger mich später die längste Zeit allein mit der Beantwortung der Frage herumgeschlagen hatte, ob ich mich um eine streng chronologische Abfolge der Geschichte meines Aufwachsens bemühen oder mir das menschliche Gedächtnis zum Vorbild nehmen sollte, in dem Ereignisse aus ganz unterschiedlichen Zeiträumen nacheinander aufblitzen können. Ob also die disziplinierte Ordnung einer Chronologie dem kreativen Chaos der so verschiedenartigen Persönlichkeiten meines nicht gerade konventionellen Familienverbandes entgegenzusetzen wäre oder eine genau dieser Unangepasstheit entsprechende Form gewählt werden sollte, ob also ein mehr oder minder ungezwungenes Herumspringen in den Szenenfolgen meiner Kindheit und Jugend allein schon von den ausgeprägten Charakteren meiner familiären Umgebung nachgerade eingefordert würde – ganz so, als leerte jemand eine Schachtel mit in Jahrzehnten entstandenen Schnappschüssen ungeordnet auf den Tisch, damit Foto für Foto literarisch zum Leben erweckt und danach alle zusammen in eine Art Kaleidoskop eingefügt und insgesamt einen Roman ergeben würden.

Das Auftauchen des geheimnisvollen Fremden an diesem Wintertag war jedenfalls der Auslöser für meinen Entschluss, nach Fertigstellung meiner germanistischen Dissertation »Aufklärung, Widerstand, Witz. Intellektuelle Opposition in der österreichischen Literatur« so bald wie möglich mit der Ausarbeitung der Geschichte meines Aufwachsens in der Familie Wirring anzufangen, auch wenn der tatsächliche Beginn sich dann aus verschiedenen Gründen noch geraume Zeit verzögern sollte.

1

Bis zu meinem vierten Lebensjahr wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine geliebte Mama außerhalb unserer vier Wände jemals anders anzutreffen als mit massiven Ketten und wuchtigen Vorhängeschlössern an einen mächtigen Baumstamm, eine riesige Baumaschine oder an die hohen Stäbe des Tors einer Fabrikeinfahrt gefesselt.

Stets war meine Mutter dabei umringt von einer aufgebrachten Menge aus Anhängern und Gegnern der vor Widerstandsgeist sprühenden, furchtlosen Aktivistin. Alle zusammen wurden in Schach gehalten von einer rasch anwachsenden Schar Polizisten, deren Einsatzleiter sich via Funk mit der Zentrale über die weitere Vorgangsweise beriet, während die Fahrzeuge der Exekutive mit laufenden Blaulichtern, eingeschalteten Scheinwerfern und weit geöffneten Türen kreuz und quer herumstanden und der Szenerie, die sich häufig einer Massenhysterie zu nähern drohte, vor allem in der hereinbrechenden herbstlichen Dämmerung zu einer kaum steigerbaren Dramatik verhalfen.

Für mich, den kleinen Rolfi, war es damals völlig normal gewesen, gerade noch im Kindergarten mit Bauklötzen gespielt oder unter Anleitung von Tante Burgi fröhliche Lieder geträllert zu haben, um mir kurze Zeit später an der Hand meines Papas oder auf seinem Arm durch die Menschenmenge einen Weg zu meiner Mama zu bahnen. Der kühnen Kämpferin für Umwelt und Bürgerrechte sollte im Winter aus der Thermosflasche wärmender Tee und im Sommer ein kühlendes Getränk verabreicht werden, das der etwa eng an die rissige Rinde eines schützenswerten Baumjuwels Angeketteten von meinem Vater mit einer roten Kunststoffschnabeltasse eingeflößt wurde, nachdem er ihr mit rührender Fürsorglichkeit die wilden Locken ihres verschwitzten, tiefschwarzen (oder gerade hennarot gefärbten) Haares aus dem Gesicht gestrichen, die je nach Jahreszeit erhitzte oder eiskalte Haut mit einem Taschentuch zärtlich trocken gewischt und die von ihr überhaupt nicht beachteten Schürfwunden liebevoll versorgt hatte.

Sogar in diesem wüsten Durcheinander, dessen Zentrum sie bildete, fand meine Mama ein paar aufmunternde Worte und liebevolle Blicke für ihren kleinen Sohn, der sich während ihrer Labung verängstigt an ihr Hosenbein drängte und dem es mit zunehmendem Alter angesichts der inzwischen als eindeutig bedrohlich empfundenen Vorgänge immer schwerer fiel, seine Tränen zurückzuhalten. Immer öfter ließ ich diese, ohne einen Laut von mir zu geben, einfach über meine Wangen rinnen, da meine peinliche Unbeherrschtheit in der ganzen Aufregung ohnehin unbemerkt blieb, und wischte sie zwischendurch – zusammen mit dem Rotz, der aus meiner Nase kam – beiläufig an Mamas Hosenbein ab.

Da mein Vater und ich in der Regel direkt vom Kindergarten zum jeweiligen Ort des Geschehens aufzubrechen pflegten, trug ich meist noch meine von Mama auf der einen Seite mit dem selbst entworfenen EWIG-LEBE-ROSA-LUXEMBURGSticker und auf der anderen mit einem Che-Guevara-Aufkleber verzierte Kindergartentasche. Darin befand sich neben den Resten von Fruchtschnitten und Müsliriegeln als Hilfe bei außerordentlichen emotionalen Bedrängnissen auch mein sogenannter Notfallschnuller, den ich mir im Schutz von Mamas Hosenbein in den Mund schob, um heftig daran zu nuckeln.

Mein Vater erblickte in jedem einzelnen Regentropfen einen persönlichen Todfeind, der es im Zusammenwirken mit heimtückischen Bazillen und Viren, die uns ihrerseits mittels Tröpfchenübertragung zu attackieren pflegten, auf die Zerrüttung unserer Gesundheit abgesehen habe. Und so spannte er bei den ersten Anzeichen eines harmlosen Nieselregens sofort einen riesigen Schirm über unseren Köpfen auf, den ich, auf seinem Arm sitzend, fest umklammerte und mit dem wir aus der Ferne ausgesehen haben mussten wie eine wandelnde Schirmbar.

Schirmbars als Anziehungspunkte für witterungsunabhängige Freiluftbesäufnisse waren damals von der Tourismusgastronomie unserer Gegend gerade als Wunderwaffe im Kampf um mehr Umsatz entdeckt worden. Da die direkt von der Piste kommenden Schifahrer praktischerweise durch ihre stabilen Plastikschischuh-Ungetüme daran gehindert wurden, nach schnellem Genuss von Hochprozentigem – dem zuvor auf einer Schihütte bereits der reichliche Konsum von ebenso Hochprozentigem vorangegangen war – allzu früh seitlich oder nach hinten wegzukippen, lehnten längst volltrunkene Gestalten noch profitabel lange aufrecht an den hohen Stehtischchen – und jeder kleinste Rülpser wurde als neue Bestellung gewertet …

Heute grenzt es für mich fast an ein Wunder, dass Papa und mir von angeheiterten Schaulustigen, die regelmäßig von dem volksfestartigen Spektakel rund um eine Protestaktion meiner Mutter (und ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter) angezogen worden waren wie rüstige Senioren von der Magie einer Großbaustelle, nicht schon von Weitem Getränkebestellungen zugelallt wurden, sobald unsere vermeintliche mobile Schirmbar in ihrem getrübten Blickfeld aufgetaucht war!

An einem nebligen späten Novembernachmittag schließlich waren wir auf dem Rückweg zu unserem Auto und blieben stehen, weil Papa zum Schutz vor dem gerade einsetzenden Herbstregen unseren großen Schirm aufspannte. Er setzte mich auf seinen Arm und ich umklammerte wie gewohnt mit beiden Händen den Griff unseres Schutzdaches, während wir zurückblickten zu der von den Scheinwerfern des Lokalfernsehens gespenstisch, weil schattenreich erhellten Szene vor einem Firmengelände im Pinzgau.

Mama musste uns längst außer Hörweite geglaubt haben, als wir plötzlich überdeutlich ihre gellende Stimme vernahmen und sie sich wie besessen die Kehle heiser zu brüllen begann.

Ein leichter Wind trug ihre wüsten Anklagen und Beschimpfungen all der KORRUPTEN SCHWEINE an unsere Ohren, während Exekutivbeamte zusammen mit Fachleuten damit beschäftigt waren, meine Mutter von den Gitterstäben des großen Tores loszuketten, um sie danach vorübergehend in staatlichen Gewahrsam zu nehmen.

Obwohl ich inhaltlich nichts von dem begriff, was Mama da in die Nacht schrie, hörte es sich in meinen Kinderohren so furchtbar verzweifelt an, dass mich augenblicklich eine Gänsehaut überlief und ich von einem nervenzusammenbruchartigen Weinkrampf überwältigt wurde. Am ganzen Körper bebend, vermochte ich mich ungeachtet der begütigenden Worte meines Vaters lange Zeit nicht zu beruhigen. Und als Mama am Abend nicht nach Hause kam, lag ich schluchzend wach, und Papas Versuche, ihrem Fortbleiben wie immer harmlose Gründe wie die Feier mit Freunden anlässlich der gelungenen Aktion zu unterschieben, blieben dieses Mal völlig wirkungslos.

Auch wenn ich nichts von Mamas Gebrüll kapiert hatte, gingen mir doch einige ihrer so emotional vorgebrachten und oftmals wiederholten Anklagen im Kopf herum: Beamte … Bezirkshauptmannschaft … Großumweltsünder … hunderttausende Liter Altöl … über Jahre hinweg … vor den Augen der Behörde … Normalbürger … schreiendes Unrecht! Immer wieder: SCHREIENDES UNRECHT!

Wenn ich in meinen Kinderjahren an den Vorfall dachte und mir erneut die Tränen zu kommen drohten, konnte ich sie nur dadurch zurückhalten, dass ich den Satzfetzen vom »schreienden Unrecht« mit Mamas Geschrei verband. Wenn es um schreiendes Unrecht ginge, sagte ich mir, dann müsse es natürlich so herausgeschrien werden, wie Mama es getan hatte. Diese mir sehr plausibel erscheinende Erklärung ließ nach und nach das Bedrohliche der Szene in den Hintergrund treten. Damals hatte ich angefangen, mit Worten und Sätzen in meinem Kopf zu spielen wie mit handfesten Spielsachen auf dem Küchenboden.

Am Tag dieses Erlebnisses allerdings war ich erfüllt vom Gefühl einer übermächtigen Katastrophe, der unsere kleine Familie so hilflos gegenüberstünde wie Papa und ich im Regen unter dem riesigen Schirm der gespenstischen Szenerie vor dem Fabrikgelände, als Mamas verzweifeltes Gebrüll zu uns herüberdrang und uns viel zu lange davon abhielt, endlich ins Auto zu steigen und heimzufahren …

Obwohl – oder gerade weil! – das alles schon Jahrzehnte zurückliegt, bin ich heute fest davon überzeugt, dass kein Vierjähriger einen Elternteil so verzweifelt schreien hören sollte, wie ich meine Mutter damals in der Nähe von Zell am See brüllen gehört habe, weil dieses Kind den Eindruck der Hilf- und Schutzlosigkeit genau jener Person, von der es sich zuvor doch immer so wunderbar behütet wissen durfte, vermutlich sein ganzes Leben nicht mehr loswerden und sich diese Empfindung noch viel zu oft in seine Entscheidungen einmischen würde. Erst recht in meinem Fall, weil in unserer Familie das Gefühl des Beschütztwerdens eindeutig von meiner Mama ausging, wurde doch mein Papa schon von kleinsten Irritationen, wie sie ein durchschnittliches Alltagsleben für eine Familie ständig bereithält, an den Rand eines psychischen oder physischen Zusammenbruches getrieben.

Schon in frühester Kindheit erlebte ich meinen Papa nämlich nicht selten wie eine jener Zeichentrickfiguren, die auf einen tödlichen Abgrund zulaufen, um im allerletzten Moment inmitten einer Staubwolke doch noch zum Stehen zu kommen – mit dem kleinen Unterschied, dass bei den Zeichentrickfiguren niemals zu befürchten war, dass ihnen ein tatsächlicher Sturz in den Abgrund erkennbaren Schaden zufügen würde. Mein Vater hingegen wirkte schon in der Nähe eines vermeintlichen Abgrunds so, als sei er längst dabei, ins Bodenlose zu fallen.

Heute denke ich bei alldem, was ich damals miterlebte, wenn wir zu einer von Mamas Aktionen gefahren waren, auch ganz allgemein an die Tragik eines Menschen, der in seinem verzweifelten Kampf für das – sehr oft keineswegs nur von ihm allein! – als richtig Empfundene dennoch als Einziger bereit ist, ein Höchstmaß an Nachteilen aller Art, an Demütigungen und Niederlagen einzustecken. Angetrieben vielleicht wirklich von dieser Ur-Energie, die nicht nur politische Widerständler, sondern auch Märtyrer ins eigene Verderben führt, was sie für Nachkommende zwar in den Zustand der Anbetungswürdigkeit versetzt, unbeteiligten zeitgenössischen Zeugen hingegen bleiben oftmals in erster Linie die Entwürdigungen in Erinnerung, die so ein heldenmütiges Verhalten zeitigt. Entwürdigungen, welche die Mitwelt vor einem ähnlichen Verhalten zurückschrecken lassen, zumal ihnen die Niederlagen dieser Wenigen auf viele Arten nahe gebracht werden. Denn es ist nur eine von zahlreichen Gemeinheiten, denen Widerständige sich ausgesetzt sehen, dass sie von der Übermacht, gegen die sie anzutreten wagten, zwangsläufig auch noch als Unterlegene ausgestellt werden, da ihre Gegner in der Regel auch über die hiefür nötigen medialen Schaufenster verfügen.

Wenn ich in meinem späteren Leben immer wieder den Wunsch nach Unauffälligkeit oder sogar Angepasstheit verspüren sollte, so dürfte es wohl nicht zu weit hergeholt sein, dies mit jenen Erlebnissen meiner frühen Kindheit in Verbindung zu bringen.

Nun, Papa versuchte an dem besagten Abend jedenfalls vergeblich, mich zu beruhigen. Fortan wurde ich nicht mehr zu solchen Aktionen mitgenommen. Ab diesem Tag durfte ich nach dem Kindergarten öfter noch zu meiner um ein halbes Jahr älteren Spielkameradin Rosi nach Hause, in deren sommersprossenübersätes rundes Gesicht ich damals wirklich verliebt war, nachdem sich das ungestüme Mädchen, das immer wieder von Tante Burgi ermahnt werden musste, sein Temperament zu zügeln, mit großer Entschlossenheit ausgerechnet für mich, den zurückhaltenden Neuankömmling und Beobachter des Geschehens in der Gruppe, als wichtigsten Spielkameraden entschieden hatte und ab da nicht mehr von meiner Seite wich.

Papa brachte Rosi und mich an solchen Tagen nach dem Kindergarten zu Rosis Mutter und ich durfte dann auch im Kinderzimmer mit dem eindrucksvoll großen Christus an der Wand übernachten. Rosis Vater habe ich in der geräumigen Wohnung nie zu Gesicht bekommen, da er als Techniker einer Metallbaufirma immer wieder monatelang im Ausland auf Montage war.

Sofort begeisterten mich die mir bislang gänzlich unbekannten Traditionen wie das Abendgebet, auf deren Einhaltung Rosis streng und ernst wirkende Mutter, die ich kein einziges Mal so lauthals lachend erlebte, wie es bei meiner Mama mehrmals täglich zu beobachten war, sehr großen Wert legte. Die hagere Frau, die immer nur hochgeschlossene Kleidung trug, brachte ihre Tochter und mich auch stets zur exakt selben Zeit ins Bett und kannte keinen Pardon, wenn Rosi, trotzig auf den Boden stampfend und sich dem Zugriffihrer Mutter entwindend, zumindest einen kleinen Aufschub erzwingen wollte.

Ich gestehe, dass ich diese und andere unumstößliche Regeln – angefangen vom peniblen Wasch- und Zähneputzritual im Badezimmer bis zu dem nach dem Dankgebet schweigend und still sitzend einzunehmenden Abendessen – unter der Aufsicht von Rosis Mutter, im Gegensatz zu meiner bockigwiderspenstigen Kindergartenfreundin, mit großem Behagen befolgte. (Während ich davon berichte, bin ich mir sicher: Hätte ich meiner Mutter damals solche Details gestanden, hätte sie einen Lachanfall bekommen und mir versprochen, dass sie sich für mich um einen Platz in einem Sado-Maso-Kindergarten umsehen werde, wenn mir Unterordnung schon so große Lustgefühle bereite.)

Wie langweilig kam es mir dagegen bei uns daheim vor, wo man am Tisch lümmeln oder sich mit der Mahlzeit auch auf den Fußboden legen durfte, wenn einem grad danach zumute war – von einem Sprechverbot während der Mahlzeiten natürlich ganz zu schweigen!

Ich genoss die bedingungslose Unterordnung unter dieses strenge Reglement, dem Rosi sich in einem fort zu widersetzen versuchte, wie ich auch das Gebet, das ich in diesem Haushalt überhaupt erst kennengelernt hatte, mit allergrößter und aufrichtigster Inbrunst aufsagte, während es die gewitzte Rosi nur gelangweilt und zerstreut herunterleierte.

Mit Freude wäre ich bereit gewesen, die Strophen noch drei Mal zu wiederholen und in der Intensität meines Vortrages dennoch kein bisschen nachzulassen!

Heute ist mir natürlich bewusst, welche Herausforderung es für die streng religiöse Frau bedeutet haben musste, diesen nach außen hin so unscheinbaren, stillen, kleinen Heiden – Sohn der allseits berüchtigten, aufrührerischen Claudia Wirring und ihres vielleicht etwas verrückten Ehemanns Werner – zu missionieren und erstmals ein klein wenig in das Mysterium des Katholizismus einzuführen. Und der wohlwollende Blick, den sie mir schenkte, wenn sie mir nach dem Beten und vor dem Lichtabdrehen in Rosis Zimmer einmal mit ihren kühlen knochigen Fingern über die Wange strich, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie mit mir ganz zufrieden war. Mehr noch: Ich fühlte mich von der strengen Frau wirklich ins Herz geschlossen. Das zeigte sie mir nicht zuletzt auch dadurch, dass sie mir sagte, wie schön es für mich werden würde, wenn ich einst beim Gottesdienst in der Kirche ministrieren dürfe. Da ich noch nie in meinem Leben einen Gottesdienst erlebt hatte, konnte ich mir gar nichts darunter vorstellen, aber ich freute mich bereits sehr darauf. Als ich meiner Mama begeistert davon erzählte, lachte sie zuerst zwar laut auf, sagte dann aber: »Ja, das wird schön werden, Rolfi. Sehr schön!«

Wäre Rosi nicht ein halbes Jahr älter gewesen als ich, hätte man meinen können, wir wären nach unserer Geburt im Krankenhaus Schwarzach vertauscht worden: Ich schien doch so viel mehr von Rosis Mutter und Rosi in ihrem Verhalten schier alles von meiner wilden Mama geerbt zu haben!

Und ständig wollte Rosi irgendetwas mit mir tauschen. Alles, was ich besaß, schien auf das Mädchen eine enorme Anziehungskraft auszuüben. Wie sehr hatte es ihr allein mein Che-Guevara-T-Shirt angetan – aber es war ihr klar, dass ich kaum mit ihrer Rüschchenbluse herumlaufen könnte, obwohl es mir, ehrlich gesagt, nichts ausgemacht hätte.

Als sie mir die bunten Heiligenbildchen anbot, die sie in großer Zahl besaß, erbat ich von meiner Mama auch solche Bildchen. Daraufhin wanderten Rosis christliche Märtyrer, Jesus Christus und die Mutter Gottes im Tausch gegen Abbildungen von Bakunin, Marx, Rudi Dutschke und Rosa Luxemburg von einer Kindergartentasche in die andere.

In den ersten paar Jahren meines Lebens war also meine Mutter für mich vor allem der Mittelpunkt von spektakulären Tumulten in der Öffentlichkeit gewesen und die Erinnerung daran überstrahlt jene an ihre häusliche Präsenz eindeutig. Auch wenn ich mich gerne der Sonntage entsinne, an denen ich sofort nach dem Aufwachen zu meinen Eltern ins Schlafzimmer stürmte und die Matratze ihres großen französischen Bettes als Trampolin benutzte. Ich hüpfte so lange ausgelassen auf und ab, bis ich völlig außer Atem war und mit hochrotem Kopf zwischen den schlaftrunkenen Erwachsenen liegen blieb. Ich wurde zugedeckt und wir schliefen alle drei noch einmal ein. In diesem Alter hatte ich noch keine Ahnung davon, dass Rosi währenddessen längst widerstrebend an der Hand ihrer Mutter den Gottesdienst besucht hatte.

Auf alle Fälle sind meine Erinnerungen, die Mama zu dieser Zeit in unserer häuslichen Umgebung zeigen, reichlich blass. Obwohl die Vermutung doch ein wenig zu weit ging, die ich später bei Mamas Geburtstagsfeier im Kreis ihrer engsten Freundinnen geäußert hatte, dass ich als Kindergartenkind meine Mutter in der Harmlosigkeit unserer vier Wände schlichtweg einfach nicht wiedererkannt beziehungsweise für eine hausfremde Person gehalten hätte. »Wie hätte ich sie denn erkennen sollen, frage ich euch, so frei von Ketten, Vorhängeschlössern, Polizei und nicht angestrahlt vom grellen Licht der Fernsehscheinwerfer!«, rief ich den lachenden Frauen zu.

Nein, es ist unzweifelhaft meine Mama, die ich vor mir sehe, wenn ich ans Badezimmer denke, wo mir von einer resoluten Hand mit dem großen griechischen Naturschwamm der Staub eines Sommertages abgewaschen wurde; auch in der Küche vermochte ich die Frau am Herd sehr wohl als enges Familienmitglied zu identifizieren …

Apropos Küche: In meinem ersten Kindergartenjahr war ich davon überzeugt, dass es sich bei den Frankfurter Würstchen, die Papa für uns beide immer dann mit großer Spitzenkoch-Geste aus dem kochenden Wasser fischte, wenn Mama gerade wieder irgendwo wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in einen ländlichen Gemeindekotter geworfen worden war oder auswärts demonstrierte, um den Höhepunkt abendländischer kulinarischer Raffinesse handle! Und jedes Mal bewunderte ich meinen Vater aufs Neue, wenn ihm, der sich für diese Tätigkeit nicht nur eine weiße Schürze umgebunden, sondern eine beeindruckend hohe, blendend weiße Küchenchefmütze aufgesetzt hatte, auch die Krönung der Zubereitung dieser Spezialität gelang, die, wie er mir wortreich auseinandergesetzt hatte, darin bestand, dass die pralle Haut dieser Würstchen so wunderschön aufplatzte. Was mein Papa doch tatsächlich jedes Mal zuwege brachte! Immer wieder wartete ich gespannt darauf, wer in diesem Wettstreit um ein vollendetes Gericht siegen würde: das Würstchen, das sich hartnäckig gegen das Aufplatzen wehrte – oder doch die grandiose Kunst des Küchenchefs mit seiner ehrfurchtgebietenden Mütze!

Wenn Papa wieder einmal den Sieg errungen hatte, saßen wir beide andächtig am großen runden Tisch und genossen zuerst den Blick auf das Innere dieser herrlichen Speise, ehe wir sie mit Senf und Brot verzehrten.

Papa nahm auch etwas frisch geriebenen Kren dazu, der mir, als ich einmal ein wenig davon kostete, sofort die Tränen in die Augen trieb, worauf Papa mich auf die erlesene Eigenschaft aufmerksam machte, welche diese weißen Raspeln mit der Zwiebel gemeinsam hatten: Tränen laufen zu lassen, ohne einen anderen Grund zu haben als eine angeschnittene Zwiebel oder frisch geraspelten Kren – war es nicht wunderbar, wozu die Natur aufgelegt war, die uns sonst nur aus Schmerz oder Freude weinen ließ? Ich sollte doch nur einmal versuchen, einfach draufloszuweinen. Natürlich probierte ich es sofort – ohne den geringsten Erfolg!

Papas Vorschlag, einen Wettkampf zu veranstalten, bei wem von uns beiden die Tränen früher fließen würden, verleitete mich dazu, einen Teelöffel voll Kren in den Mund zu schieben und so viel wie möglich davon zu schlucken, worauf ich binnen Sekunden den Eindruck hatte, von der Schärfe in alle meine Einzelteile zerlegt zu werden. Ich sprang kreischend vom Tisch auf, spuckte die noch nicht geschluckten Raspeln aus und wälzte mich tränenüberströmt auf dem Fußboden – ohne mich auch nur eine Sekunde daran erfreuen zu können, als eindeutiger Sieger aus unserem Wettstreit hervorgegangen zu sein!

Als ich mich wieder besser fühlte, beugte Papa sich über mich, um mir aufzuhelfen. Dabei meinte er auf seine mir in diesem Alter nicht wirklich begreifliche Art, dass ein Sieg nicht jedes Mal das wäre, was man im Leben vorzuziehen hätte, wenn sich einem auch die Möglichkeit einer frei gewählten Niederlage biete. »Manche bewusst eingesteckte Niederlage kann sich später als die erheblich klügere Entscheidung herausstellen. Gelegentlich gerät sie sogar in die Nähe dessen, was man Weisheit zu nennen versucht ist!« Allerdings verfügten nur wenige Menschen über den nötigen Weitblick, um die Folgen ihres Verhaltens im Vorhinein schon so treffend abschätzen zu können. So viel begriff ich auch damals schon: Irgendwie gehörte mein Papa zu diesen Wenigen. Was wäre auch plausibler bei einem Menschen, der aus jedem Wettkampf mit einer Wursthaut verlässlich als Sieger hervorging!

So ungefähr könnte ich das damals gesehen haben, hatte aber natürlich nicht länger über seine unverständlichen Worte nachgedacht, die er womöglich mehr zu sich selbst als zu seinem kleinen Sohn gesagt hatte. Als Kind war mir nicht immer klar, mit wem mein Vater eigentlich sprach, auch wenn er mich anzureden schien. Ich widmete mich nach dem Abklingen der Beschwerden, welche die Überdosis frischen Krens ausgelöst hatte, mit Heißhunger meinem nun leider kaum noch lauwarmen, dafür aber vollendet aufgesprungenen Würstchen.

Jedes Mal, wenn wir damals an einer Würstelbude vorbeikamen, wurde mir erneut vor Augen geführt, wie einzigartig Papas Kunst sein musste, denn wo immer ich eine Wurst auf einem Pappteller erspähte oder beobachtete, wie sie vom Würstelmann oder der Würstelfrau mit der Holzgabel daraufgelegt wurde, war es bei ihrer Zubereitung nicht geglückt, die Haut so schön aufspringen zu lassen wie bei uns daheim!

Damit, dämmerte mir damals, hing es wohl auch zusammen, dass keine Würstelfrau und kein Würstelmann eine so beeindruckend hohe, weiße Meisterkochmütze tragen durfte wie mein Papa.

Ich nahm unsere außergewöhnlichen Würstchen stets sehr genau in Augenschein, sobald sie wie Indianerkanus auf einem zugefrorenen See auf unseren weißen Tellern strandeten, und jedes Mal kam ich zu dem Schluss, dass Papas Würstchen um einen Deut schöner aufgesprungen wären als meine – ein Befund, der natürlich immer einen Tausch nach sich zog.

Mit unserem Würstelessen verbinde ich auch meine allererste Erinnerung an Mama als damals gelegentlich auch noch in Auslandseinsätzen agierende Umwelt-Aktivistin: Papa und ich saßen eines Abends vor unseren wieder einmal vollendet aufgesprungenen Frankfurtern, als Papa zum Bildschirm deutete und mit vollem Mund »Mama!« sagte.

Wenn ich mich jetzt zu erinnern versuche, sehe ich dieses Fernsehbild vor mir: Einige winzige Gestalten – nicht größer als die Playmobil-Figuren aus meiner Spielzeugkiste – in einem schaukelnden Schlauchboot vor einem großen Schiff.

Inzwischen weiß ich natürlich, dass diese Menschen in ihrem filigranen Gefährt nicht nur um ihr Gleichgewicht rangen, sondern vor dem riesigen Öltanker ein anklagendes Transparent in die Höhe stemmten.

Obwohl ich meine Mutter nicht erkannte, flossen mir schon bei dem Wort »Mama« sofort die Tränen übers Gesicht, als hätte ich wieder einen Löffel geriebenen Kren geschluckt. Sie schossen mir fast so heftig in die Augen wie ein Jahr später, als ich die Angekettete wie am Spieß in die Regennacht brüllen hörte …

2

Heutzutage wird der Start ins Leben bei nicht wenigen Säuglingen in unserer Gegend ja von einem allerersten Meuchelfoto begleitet, das überglückliche Eltern selbst in der Zeitung veröffentlichen lassen, obwohl sie ihren Wurm mit verkniffenem Gesicht abgelichtet haben, weil er soeben dabei war, die Windeln vollzumachen oder gegen irgendetwas Protest einzulegen.

Diese von den stolzen Eltern gern genützte Plattform, ihren Nachwuchs öffentlich zu präsentieren, existierte 1980 noch nicht, als ich, den Schilderungen meiner Eltern zufolge, im Krankenhaus Schwarzach in den Lärm von Presslufthämmern hineingeboren wurde, da sich direkt neben der Geburtenstation eine staubige Baustelle befand.

Meine schwangere Mutter war bei ihren Eltern auf dem Bauernhof im Gebirge zu Besuch gewesen, als – um fast einen ganzen Monat zu früh – die Wehen eingesetzt hatten, wodurch ich nicht in Wien geboren wurde, wo ich, den glaubhaften Erzählungen meiner Eltern zufolge, meine ersten eineinhalb Lebensjahre in der damaligen, ganz in Weiß gehaltenen und spärlich-schick möblierten riesigen Designeraltbauwohnung meines Vaters im vierten Bezirk verbracht hatte. Doch soweit ich mich selbst zurückerinnern kann, leben wir nahe der Salzach am Ende einer Sackgasse, die links und rechts von militärisch korrekt in Reih und Glied strammstehenden Wohnblöcken gesäumt wird. Häuser, denen ihre Adjustierung in Einheitsuniform sehr überzeugend bescheinigt, architektonisch von der Stange zu kommen.

Unser altes Bauernhaus wirkt, als sei es schlichtweg auf dem Feld neben den Betonblöcken der Wohnsiedlung vergessen worden; in der Landschaft liegen geblieben, nicht viel anders als ein altersschwacher, von seinem Besitzer zurückgelassener Schlitten, der, anstatt im nächsten Frühjahr wieder aufzutauchen, ein paar Jahrhunderte später aus dem Schnee apert, um von staunenden Historikern umstanden zu werden wie die Mumie vom Hauslabjoch.

In unserem Fall erschienen statt verblüfften Geschichtsexperten fassungslos mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen auf unser Haus starrende Besucher jener Leute, die in meiner frühen Kindheit in die gerade errichteten Betonklötze gezogen waren, von denen inzwischen ein Teil so abgewohnt ist, dass er in die Verfügungsmasse des Sozialamts übergegangen ist.

Diese Menschen standen kopfschüttelnd neben ihren Autos, um einerseits gewissermaßen in eine längst vergangene Epoche zu blicken, andererseits aber von einer respektlos aufrührerischen Gegenwart in Gestalt der Bewohner der historischen Immobilie überrumpelt zu werden.

Es war nicht viel anders als bei einem Kunstwerk: Der Kontrast sorgte für den verblüffenden Effekt: Auf einer niedrigen Mauer aus mörtelfrei aufeinandergelegten Bachsteinen errichtet, stand da ein wurmstichiges, sonnenverbranntes Holzblockhaus inmitten der trostlosen Einförmigkeit der schnell aus Betonfertigteilen hochgezogenen Wohnmaschinen.

Man könnte diese extravagante Anordnung natürlich auch so interpretieren, dass unser Haus allein schon seiner Zählebigkeit wegen die Betonblöcke verspottete, von denen es mittlerweile umzingelt war und deren erste Bewohnergenerationen sie heute zu einem Gutteil längst wieder verlassen hat, waren die Häuser doch von der Art, wie sie andernorts der Reihe nach infolge Unbewohnbarkeit gesprengt werden mussten. In unserer Straße wurden immer mehr Wohnungen zu Sozialunterkünften für Langzeitarbeitslose, Drogen- und Alkoholabhängige oder in die Armut abgerutschte Alleinerzieherinnen.

Für meine Mutter, die in unserem Haus bei ihren Großeltern aufgewachsen war, manifestierte sich hier natürlich auch all das als Anklage, was gegen einfallslose, für kaufkraftschwache Massen errichtete Billigarchitektur vorgebracht werden konnte – angefangen von den gesundheitsschädlichen Materialien dieser schlecht isolierten Energiefresser bis hin zur üblichen Korruption im Zuge der Umwidmung des Grundstücks von billiger Wiese in sündteures Bauland.

Meine Vorfahren mütterlicherseits hatten die inzwischen komplett verbauten Felder noch in den 1940er Jahren mit dem Pferdegespann bestellt. Es existieren kunstvolle Schwarz-Weiß-Fotos, die meinen Urgroßvater bei Gegenlicht im Morgennebel als eine Art archaisch-ruralen Schemen hinter dem Pflug zeigen. Bilder mit gezackten Rändern, mit denen sich der damalige Ortsfotograf neben seinen brotberuflichen Aufträgen künstlerisch verwirklichte und die zehn Jahre später bei einem von der Fotografeninnung durchgeführten professionellen Wettbewerb mit dem dritten Preis ausgezeichnet wurden. Die Welt, welche diese Sujets zeigen, war den Juroren damals wohl noch zu nahe, um den Schöpfer der Aufnahmen auf jenen ersten Rang zu hieven, den er mit diesen durchdachten Kompositionen aus Licht und Schatten wohl durchaus verdient hätte. Mittlerweile ließen seine Nachfahren die Aufnahmen auf das exquisite handgeschöpfte Büttenpapier ihrer noblen Nostalgiebilletts kleben, die, wie meine Mama einmal sarkastisch angemerkt hatte, wohl nicht zuletzt von jenen Gaunern von Grundstücks- und Bauspekulanten zu festlichen Anlässen verschickt wurden, die davon profitiert hatten, dass an Stelle der Felder diese hässlichen Betonschachteln errichtet wurden, über die sich meine Mutter immer wieder ausließ, obwohl sie – in sozialen Belangen stets fast schon krampfhaft ausgewogen argumentierend – natürlich die Letzte wäre, die den legitimen Anspruch gerade sozial benachteiligter Menschen auf leistbaren Wohnraum nicht respektieren würde …

Mamas Großeltern waren vom Pech verfolgt gewesen, was ihre Nachkommenschaft anlangte: Nach zwei Fehlgeburten – ein sehnlich erwarteter männlicher Hoferbe war von der Nabelschnur stranguliert worden, ein Kind hatte die Bäuerin bereits zwei Jahre früher vorzeitig verloren – war schließlich nach weiteren zwei Jahren 1944 ihre einzige Tochter zur Welt gekommen, die Mutter meiner Mutter, die dann mit erst sechsundzwanzig Jahren verstorben war.

Da Mama mit ihrer Mutter ohnehin auf dem Hof ihrer Großeltern gelebt hatte – ihr Vater, also mein Opa, war ständig in aller Welt unterwegs gewesen; er spielte damals hauptsächlich Tanzmusik in mondänen Tourismusgebieten und zog Monat für Monat von Engagement zu Engagement –, wuchs sie nach dem Tod ihrer Mutter eben weiterhin auf dem Bauernhof ihrer Großeltern auf.

Später hatte meine Mama – wie viele damals junge Menschen – zwar grundsätzlich für ein Leben in einer Landkommune geschwärmt, wäre aber angesichts der ihr vertrauten Arbeitssituation auf einem Bauernhof nie auf die Idee verfallen, tatsächlich einen bewirtschaften zu wollen, auch wenn der Hof ihrer Großeltern sich im Tal und damit in einer sogenannten landwirtschaftlichen Gunstlage befunden hatte. Ganz davon abgesehen, dass Mamas Interessen, wie auch die ihrer so früh verstorbenen Mutter, deren Zeugnisnoten von der ersten Klasse bis zu der mit Vorzug abgelegten Matura ausschließlich aus Einsern und – vereinzelten! – Zweiern bestanden hatten, unzweifelhaft im Intellektuellen und nicht Manuellen gelegen waren. Und so hatten Mamas Großeltern, als es ihnen nicht mehr möglich war, die Arbeit weiterhin zu verrichten, schweren Herzens den Betrieb aufgelöst und Vieh und Felder verkauft – letztere um einen Pappenstiel als billiges Grünland, weil sie irrtümlicherweise darauf vertraut hatten, dass damit die Weiterführung einer Landwirtschaft gesichert wäre, auch wenn sie Wohnhaus und Stallgebäude nicht mitverkauft hatten.

Natürlich hatte es kaum zwei Jahre gedauert, bis der Käufer nicht nur die Umwidmung der Flächen in Bauland bewerkstelligt und damit von einer Stunde auf die andere eine gigantische Wertsteigerung der Grundstücke erzielt, sondern als Funktionär der mächtigsten Partei des Bundeslandes auch gleich für seine Baufirma die Aufträge für die darauf zu errichtenden Wohnblöcke an Land gezogen hatte. Klar, dass er ganz nebenbei von seinen Parteifreunden, die – ihrer Stellung gemäß – ebenfalls die Hände aufgehalten hatten, als Wohltäter der wohnungssuchenden Bürger und Vorbildchrist gefeiert worden war. Die paar kritischen Stimmen, die angesichts dieser Heuchelei – ohnehin nur halblaut – zu vernehmen gewesen waren, wurden rasch zum Verstummen gebracht. Dafür war Claudia Wirring von diesen so hautnah miterlebten, abstoßenden Machenschaften nachhaltig politisiert worden.

Wie gesagt: Die ersten Mieter in unserer Straße – Beamte und leitende Angestellte – hatten die Sackgasse großteils längst wieder verlassen, um irgendwo Eigentumswohnungen zu erwerben oder sich Einfamilienhäuser zu bauen. Nach Jahrzehnten war eine Wohngegend übrig geblieben, die sich zu dem zu entwickeln begann, was in der Soziologie ein »sozialer Brennpunkt« genannt wurde: Mehr und mehr abgewohnte Häuser, eine hohe Fluktuationsrate bei den Mietern, die immer häufiger von den Sozialämtern eingewiesen wurden und nicht nur vorübergehend arbeitslos waren, sondern es auch dauerhaft blieben. Junge Menschen ohne Ausbildung, ohne Job und eigentlich ohne Zukunft.

»Es ist keine Lösung«, hatte meine Mutter unlängst in einem Gastkommentar für eine Zeitung zur Problematik von Siedlungen wie der unseren geschrieben, »wenn man nur tatenlos dabei zuschaut, wie die Privatfernsehprogramme diese Menschen mit ihren tätowierten Ärschen auf den billigen Sofas festnageln und ihnen zusammen mit Chips und Dosenbier die Energie rauben, die nötig wäre, um sich aufzuraffen und es allen bisherigen verheerenden Fehlschlägen zum Trotz doch noch einmal aktiv mit dem eigenen Leben zu versuchen! Was auch heißen würde: Sich gegen all das aufzulehnen, was sie als ungerecht erleben mussten! – Auf diese Art wird eine ganze Generation zu Söldnern ihrer Gegner!«

Immer öfter rasteten Bewohner der Siedlung aus. Die Exekutive musste Wegweisungen von unter Alkoholeinfluss gewalttätig gewordenen Ehemännern aussprechen oder Alleinerzieherinnen vor den Nachstellungen von Exlebensgefährten in Schutz nehmen.

Betrunkene arbeitslose Jugendliche gingen nachts mit Messern auf ihre Mütter los und kündigten den entnervten Frauen, die sich längst nicht mehr zu helfen wussten, lautstark an, sie »abzustechen«, wenn sie nicht endlich Kohle herausrückten.

Sozialarbeiterposten fielen den Sparprogrammen zum Opfer und die verbliebenen überforderten Helferinnen und Helfer landeten nicht selten ihrerseits wegen Erschöpfungsdepressionen in der Klinik.

Zur gleichen Zeit riss sich eine Regierung, deren Mitglieder zum großen Teil vor allem von enormer krimineller Energie getrieben wurden, gigantische Summen des Staatsvermögens unter den Nagel und verkaufte die Menschen, die sie gewählt hatten, exakt so für blöd, wie sie es leider verdienten! Der Haken daran: Die Mehrheit, die nicht für diese Gangster gestimmt hatte, litt genauso unter den katastrophalen Folgen einer Dilettanten- und Gaunerpartie.

Wir erlebten nämlich, hatte Mama ihren kurz vor Eintreffen unseres neuen Onkels erschienenen Gastkommentar beschlossen, in Österreich momentan eine Zeit des grenzenlosen politischen Zynismus bei gleichzeitig größtmöglicher krimineller Skrupellosigkeit an der Staatsspitze. Wofür das organisierte Verbrechen ein Jahrhundert gebraucht habe, hätte sich in Österreich in wenigen Jahren vollzogen. Der Staat werde regelrecht geplündert.

Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was womöglich in unserer Straße einmal Alltag werden könnte, erlebte ich als Schüler der zweiten Klasse Volksschule. Ich wurde in Frühsommernächten aus dem Schlaf gerissen, weil die Schreie einer Frau durch die Siedlung gellten.

Erst viel später erfuhr und begriff ich die Ursache: Ein Pärchen aus der Sado-Maso-Szene war hierher gezogen und es war offenbar dem Reiz verfallen, bei passender Witterung seine Obsessionen bevorzugt auf dem Balkon oder zumindest bei weit geöffneten Schlafzimmerfenstern auszuleben. Nach knapp zwei Monaten waren die außergewöhnlichen Zuzügler von ihren Nachbarn wieder vertrieben worden. Für mich hatten sich die Schreie der Frau angehört, als würde ein Mensch ganz langsam geschlachtet!

Als die Nächte längst wieder ruhig verliefen, freute ich mich im Traum einmal auf den Verzehr einer von meinen Eltern als Lebensmittel nicht eben favorisierten, von mir selten, aber dann gierig verschlungenen Leberkäsesemmel. Als ich soeben genussvoll den ersten Biss tun wollte, schrak ich zusammen, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass die Fleischware ja aus einem geschlachteten Menschen hergestellt worden war! In Panik geratend, schleuderte ich die unversehens größer und flacher gewordene Leberkäsesemmel wie einen Diskus so weit als möglich von mir fort, während ich bereits – nach Atem ringend und schweißgebadet – am Aufwachen war. Mein ganzes Leben lang hatte ich nie unter einem Mangel an Träumen gelitten – und es waren nicht nur Albträume darunter gewesen.

Inzwischen waren es vermehrt Gastarbeiterfamilien aus aller Herren Länder, die in jene Wohnungen einzogen, die unmittelbar nach ihrer Errichtung ausschließlich leitenden Angestellten und höheren Beamten vorbehalten gewesen und eigentlich auch fast nur von Menschen dieser Schicht betreten worden waren. Selbst Zeugen Jehovas auf Predigtdienst hatten sich gescheut, in diese blitzblanken Stiegenhäuser hineinzugehen.

Vereinzelte Turbanträger, Frauen mit Kopftüchern sowie alte, abweisend finster blickende, stoppelbärtige Männer mit Gebetsschnüren oder aufgeweckte bis verschreckte dunkelhäutige Kinder waren es, denen man mittlerweile neben den arbeitslosen Jugendlichen in unserer Straße am häufigsten begegnete. Letztere schlurften in Jeans mit tief hängenden Hosenböden und über die Köpfe gezogenen Kapuzen durch ihre Tage, die seit Ende ihrer Schulpflicht meist erst am späten Nachmittag begannen.

Für mich waren sie ein Bild des Jammers, da ich mir nicht vorstellen wollte, dass nicht jeder dieser Heranwachsenden auch irgendein Talent besaß, das auf seinem zielsicheren Weg nach ganz unten verkümmerte. Denn sobald er in ›richtige‹ Gesellschaft fände, rückte die erste Jugendstrafe schon in Sichtweite.

Bei den von den Sozialämtern Eingewiesenen – oftmals schwer von jahrelangem Alkoholmissbrauch gezeichnete Menschen – handelte es sich häufig um Personen, die seit ihrer Kindheit mit Einweisungen in Heime, Besserungs- respektive Erziehungs- und danach Jugendstrafanstalten vertraut waren und die sich womöglich ein Leben ohne all diese staatlichen Eingriffe gar nicht vorzustellen vermochten, die ihnen einerseits zwar unwillkommen waren, andererseits aber auch für wichtige Bezugspersonen sorgten, die ihre kümmerliche Existenz am Rande der Gesellschaft als Einzige zuverlässig begleiteten.

Aus all diesen Gründen dachte ich beim Anblick des offensichtlich angeschlagenen Mannes vor unserer Haustür sofort an jemanden, der an diesem kalten Wintertag vom Sozialamt in unsere Sackgasse geschickt worden war, damit er ein Dach über dem Kopf bekäme.

Unsere Wohngegend war also erst auf dem Weg, eines jener Glasscherbenviertel zu werden, wie sie in jeder Stadt zu finden sind.

Noch war es nicht so weit, dass ein Gutteil jener Kinder, mit denen ich als Volksschüler herumgetollt war, ein paar Jugendstrafen angesammelt hätte, oder überhaupt, wie man es bei uns nennt, gerade »sitzen« würde.

Sogar die wildesten kindlichen Draufgänger von damals, mit denen ich auf den gerade in Mode gekommenen BMXFahrrädern über Stock und Stein durch die Gegend gejagt war, um abends so verdreckt heimzukommen, als hätte ich einen langen Arbeitstag im Kohlebergbau hinter mir, hatten ihren Weg in der Legalität gemacht. Sie waren zu Landbriefträgern und biederen Familienvätern geworden, die eine Heidenangst davor hatten, ihre eigenen Kinder könnten so leichtfertig all die Risiken eingehen, vor denen sie selber in diesem Alter nicht zurückgeschreckt waren und die sie erfolgreich vor ihren Eltern geheim gehalten hatten.

Nein, es war bei uns noch nicht so weit wie bei jenen Menschen, die etwa aus Münchens »Hasenbergl« kamen und in deren Biografie nahezu zwangsläufig Sätze wie dieser zu lesen waren: »… als eines von neun Kindern eines dem Alkohol zugewandten Vaters aufgewachsen …«

Jack, meinem engsten Freund aus Kindertagen, war es geglückt, auf seinem Lebensweg die Fußstapfen seiner Eltern zu meiden. Sein Vater war nach längerer Arbeitslosigkeit in der Tat »dem Alkohol zugewandt« gewesen und hatte die Kleinfamilie eines Tages ohne Ankündigung mit unbekanntem Ziel verlassen, worauf es offenbar keiner Behörde gelungen war, ihn zwecks Zahlung von Alimenten ausfindig zu machen. Es ging das Gerücht, er habe sich nach Hamburg abgesetzt und dort auf einem Schiff angeheuert. Andere sprachen gar von der Fremdenlegion. Zum Zeitpunkt des Verschwindens seines Vaters besuchten mein Freund und ich als Banknachbarn gerade die dritte Klasse Volksschule. Die Putzwütigkeit von Jacks Mutter hatte daraufhin noch zugenommen: Sie stellte ihrem Sohn eine Schachtel ins Stiegenhaus; wenn Jack heimkam, musste er sich vor der Wohnungstür bis auf die Unterhose ausziehen und dann die schmutzige Kleidung in der Schachtel in die Wohnung tragen. Seine Schuhe hatte er im winzigen Vorraum in einen Kunststoffbehälter zu stellen, den seine Mutter – wie die gesamte Wohnung! – täglich säuberte.

Natürlich wäre es für Jack undenkbar gewesen, mich nach Hause mitzunehmen; daran dachten wir aber ohnehin nicht, wo doch Jack jederzeit zu uns kommen und auch – was er oft genug tat! – in meinem Zimmer übernachten durfte.

Im Schlafraum der Zweizimmerwohnung, in die er nach dem Verschwinden seines Vaters mit seiner Mutter gezogen war, stand ihm nur eine Ecke mit einem Tischchen zur Verfügung, an dem er seine Hausaufgaben erledigte. Sobald er seinen Pilotenträumen nachhing oder über technische Erfindungen grübelte (beides ideale Beschäftigungen, bei denen er keinen Schmutz erzeugte!), legte er sich auf sein Bett.

Als ich nach der Volksschule in die Unterstufe des hiesigen Gymnasiums wechselte, waren Jacks Noten leider nicht danach gewesen, es mir gleichzutun. Meine Mama hatte zwar ein paar Versuche unternommen, für meinen Freund eine Ausnahme zu erwirken, war damit aber erfolglos geblieben. Jack und ich wären natürlich gerne weiterhin Sitznachbarn geblieben, aber mein Freund hatte sich schnell damit getröstet, dass er ja sowieso nach Absolvierung der Hauptschule in eine Höhere Technische Lehranstalt wollte, so technikbegeistert, wie er bereits als Zehnjähriger gewesen war.

Fast ein bisschen unheimlich: Jack hatte schon als Volksschüler verblüffend exakte Vorstellungen von seiner persönlichen Zukunft gehabt. Aber je näher er dieser Zukunft dann tatsächlich gekommen war, desto ferner schien all das zu rücken, was sie ihm seinen Plänen zufolge bringen hätte sollen! Dabei waren diese Zukunftspläne, genauer: -hoffnungen, niemals unbescheiden oder gar utopisch gewesen. Dennoch schien es so zu sein, als würde die Vision, die mein Freund von seiner Zukunft hatte, jedes Mal im allerletzten Moment wie in Panik vor diesem Josef Oberhuber Reißaus nehmen, sobald es für sie an der Zeit gewesen wäre, Wirklichkeit zu werden! Kurzum: Aus der HTL wurde eine Elektrikerlehre in einem Kleinbetrieb, der schon wenige Monate, nachdem Jack mit ausgezeichnetem Erfolg die Gesellenprüfung abgelegt und zuvor bereits souverän in dieser Sparte einen bundesweiten Lehrlingswettbewerb gewonnen hatte, von der Pleite seines größten Auftraggebers in den Ausgleich getrieben wurde. Sein Chef hätte Jack liebend gerne weiterbeschäftigt, sah sich aber dazu leider vorerst außerstande. Auf der Suche nach einer neuen Stelle übersiedelte mein Freund nach Wien und so verloren wir uns nach und nach aus den Augen. Jacks Mutter besuchte ihn an seinem neuen Wohnort, weshalb er nie mehr in den Pongau kam. Unsere Telefonate wurden immer seltener und hörten schließlich irgendwann auf. Bis es vor drei Jahren auf dem Flughafen in Wien zu einem überraschenden kurzen Wiedersehen kam.

In unserer Kindheit jedoch konnten auch unterschiedliche Schulen unserer engen Freundschaft nichts anhaben. Bis zum Ende meiner Discjockey- und seiner Jet-Pilotenzeit kam Jack weiterhin so oft wie möglich zu uns und übernachtete an Wochenenden oder in den Ferien so wie früher auf der Bettbank in meinem Zimmer.

Sobald sich meine Mama bei Jack erkundigte, ob daheim alles in Ordnung sei, hörte sie von ihm niemals auch nur den Hauch einer Klage. Aber mein Freund, der objektiv so viele Gründe dafür gehabt hätte, besaß die Eigenschaft, sich nicht zu beschweren, sondern, im Gegenteil, an wirklich jeder Situation etwas Positives zu entdecken – so schwer erkennbar dieser schwache Funke im Schlamassel für Außenstehende auch immer sein mochte!

Da er zudem die Angewohnheit besaß, beim Sprechen bekräftigend mit dem Kopf zu nicken, erweckte er allein dadurch einen noch zufriedeneren Eindruck. (Denn er nickte doch nicht etwa deshalb, weil er sich tief in seinem Innersten erst selbst von dem überzeugen musste, was er da sagte?)

Jedenfalls hatte auch ich meinen Freund stets nur als höchst optimistischen Menschen erlebt, immer erfüllt von großer Dankbarkeit für sein Dasein. Und dies bei einem Säufer von Vater, der ohne ein Wort des Abschieds von einem Tag auf den anderen Sohn und Ehefrau verlassen hatte – ganz so, als hätte er mit den beiden nie auch nur das Geringste zu tun gehabt!

»Das Wort Kleinfamilie«, hatte mein sich vermutlich gerade in höheren geistigen Sphären bewegender Vater versonnen die Tragödie des Verschwindens des Herrn Oberhuber kommentiert, »klingt immer harmlos, steht aber doch allenthalben für eine besondere Form von Hölle!«

Meine Mama ergriff klarerweise heftig Partei für die Frau Oberhuber, auch wenn diese sich strikt gegen jegliche Form des Mitgefühls in dieser Angelegenheit verwahrte, Einladungen und Hilfsangebote höflich, aber entschieden ablehnte und offenkundig ihre Wut vor allem in noch mehr Putzorgien münden ließ, so weit ihr dazu noch Zeit blieb, da sie schon bald nach dem Verschwinden ihres Mannes eine Stelle als Schreibkraft in einem Büro annahm. Ich weiß nicht, ob es auch damit zusammenhing, jedenfalls hatte Frau Oberhuber niemals etwas dagegen gehabt, wenn ihr Sohn bei uns übernachtete oder in den Ferien nicht selten wochenlang bei uns lebte.

Das Schicksal meines mit so viel Zuversicht gesegneten Freundes Jack, der seinen Kindheitstraum, Pilot zu werden, trotz eklatanter Sehschwäche so lange Jahre hindurch nicht aufzugeben bereit war, führte mir schon als Heranwachsendem vor Augen, dass das Leben uns Menschen gegenüber nicht selten dann durch allergrößten Einfallsreichtum glänzt, wenn es darum geht, zu jemandem, der ohnehin schon verdammt schlecht dran ist, noch ganz besonders gemein zu sein! Während – fast könnte man meinen: zum Ausgleich für all die armen Teufel, die ihr Leben lang vom Pech verfolgt werden! – so viele Wirtschafts- und Politkriminelle unseres Landes sich für ihre hemmungslosen Betrügereien noch zusätzlich damit belohnt sehen durften, ungeschoren mit ihrer monströs großen Beute davonzukommen und von diesem ergaunerten Geld bei bester Gesundheit lange Luxusleben zu führen! Selbstverständlich blieben sie dabei völlig unbehelligt von den Vertretern jener Staatsbürger, denen sie es über die scheinbar nie versiegende Geldquelle für heutige Kriminelle, die Privatisierung von Staatseigentum, gestohlen hatten. Dafür durfte aber jede Supermarktkassiererin Gift darauf nehmen, bei der kleinsten Verfehlung gefeuert oder mit einem Gerichtsverfahren belangt zu werden. (Hier mischen sich natürlich meine eigenen Beobachtungen mit den Anklagen meiner Mutter!)

Mein Vater sagte zu alldem, dass der schmerzhafteste Irrtum der Menschen leider immer noch darin bestehe, vom Leben Gerechtigkeit zu erwarten. Die müsse immer, da könne er seiner Frau wirklich nur beipflichten – selbst auf vermeintlich völlig unwichtigem Terrain – erkämpft werden. Und nicht einmal das Erkämpfen sei überall möglich!

»Und der tragische Aberwitz: Die skrupellosen Profiteure und Verbrecher scheinen von dem Irrglauben, dass das Leben gerecht sei, grundsätzlich befreit zu sein. Sie bauen fest darauf – und viel zu oft mit Erfolg! –, dass ein Gangster für sein Gangstertum auch noch auf vielfache Weise vom Leben belohnt wird. Der größte Zynismus ist die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit! – Wenn es etwas nicht gibt auf dieser Welt, dann das!«, dozierte Papa.

Ins Herz geschlossen hatte Mama meinen Freund seit dem ersten Tag, an dem ich Jack mit seinen dicken Brillengläsern, die damals wegen der vielen, mit großer Leidenschaft verschlungenen Leberkäsesemmeln von seinen fettigen Fingern so rührend verschmiert waren, aus der ersten Klasse Volksschule mit nach Hause gebracht hatte.

Jack war nicht nur äußerst hilfsbereit, sondern vor allem auch von einer Unkompliziertheit den Herausforderungen des Alltagslebens gegenüber, die natürlich in einem Familienverband wie dem unseren als schiere Sensation gewertet wurde!

Mama, die ihm noch am ähnlichsten war – immerhin war die auf einem Bauernhof Aufgewachsene ebenfalls mit großer Gelassenheit gegenüber jenen Lappalien gesegnet, die meinen hypernervösen und geradezu exemplarisch alltagsuntauglichen Vater fast ununterbrochen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen pflegten –, Mama wusste wohl vom ersten Augenblick an, dass sie diesem Siebenjährigen nicht nur ihr Söhnchen, sondern bei Bedarf jederzeit ruhigen Gewissens auch die Aufsicht über ihren Gatten anvertrauen konnte, bei dem schon die von einer zugefallenen Tür ausgelöste Erschütterung seines Zimmerbodens in unserem alten Holzhaus als veritabler Vorbote eines unmittelbar bevorstehenden, Welten zerstörenden Erdbebens anzukommen vermochte, sofern er nicht gerade irgendwelchen exzentrischen Gedanken nachhing und deshalb überhaupt nichts von dem mitbekam, was unseren Planeten womöglich tatsächlich jeden Moment in seine Einzelteile zerlegen konnte …

3

Wenn ich heute an ein paar ganz alltägliche Szenen aus meiner frühen Kindheit zurückdenke, dann wird mir klar: Wir leben inzwischen in einer vor allem über ihre mediale Vermittlung wahrgenommenen Welt. In einer Welt also, deren vermeintliches Abbild uns bis in Details dramaturgisch gestaltet erreicht. Selbst bei dem, was man uns an aktueller Berichterstattung in Hörfunk und Fernsehen als vermeintlich wahrhaft iges Abbild unserer Realität vorsetzt, muss zwangsläufig ausgewählt und (hierzulande fast als Naturgesetz betrachtet: nach parteipolitischen Gesichtspunkten!) gewichtet werden.

Just zum Zeitpunkt des Auftauchens des mir bislang unbekannt gewesenen Onkels hatte ich in meiner Dissertation eben dieser Überlegung Rechnung getragen und die Funktion der kritischen Literatur in Darstellung und Wahrnehmung der Wirklichkeit an verschiedenen Beispielen untersucht. Und dabei unter anderem festgestellt, dass inzwischen der als Fiktion deklarierten Erzählung häufig ein erkennbar höherer, weil deutlicher in die Tiefe gehender Gehalt an Authentizität zukommt als den meisten dieser Reportageportiönchen, die uns vor allem von den elektronischen Massenmedien heute vorgesetzt werden, weil doch die Aufmerksamkeit des Publikums angeblich dermaßen gering sei und nahezu täglich weiter schrumpfe.

Im Alltag meiner Kindheit hingegen lustwandelte Papa in einem japanischen Kimono oder angetan mit einer Art Reformkleid aus der Anfangszeit des zwanzigsten Jahrhunderts bloßfüßig vor dem Haus umher und rezitierte mit versonnenem, in tiefste Tiefen seines Inneren gerichtetem Blick fernöstliche Poesie aus dem 7. Jahrhundert. Hanshans »Gedichte vom Kalten Berg« waren ihm damals großteils auswendig geläufig. Sie begleiteten geraume Zeit seine neue Daseinsform als privater Lebensforscher. Und wenn Hanshan zu seiner Zeit die Formulierung gewählt hatte, sich »aus dem Staub der Welt« zurückgezogen zu haben, so sah mit solchen Worten durchaus auch mein Vater seinen eigenen Rückzug aus der von hektisch überdrehten, koksenden und eitlen Gecken bevölkerten Werbebranche treffend umschrieben.

»Sobald man sich selbst zur feindlichen Übermacht zu werden beginnt, weil man denen zu ähneln oder gar zu gleichen anfängt, die man früher aus guten Gründen abgelehnt hat, und somit selbst seine ureigene Persönlichkeit, um nicht zu sagen, seinen Charakter, bekämpft, hilft nur noch der Rückzug, wenn man nicht auf dem Schlachtfeld seiner Fehlentwicklung liegen bleiben möchte.«

Solche und ähnliche unverständliche Sätze meines Vaters, die ich heute glücklicherweise aus einigen seiner Privatdrucke zitieren kann, begleiteten meine Kindheit fast wie ein atmosphärisches Rauschen aus einem Lautsprecher. Ich brauchte sie nicht zu verstehen, um mit ihnen in meinem Kopf herumzuspielen.

Oder Papa befand sich auf seinen Wanderungen vor dem Haus in einem intensiven Selbstgespräch, in dem er seinen eigenen Gedanken über den Aberwitz der menschlichen Existenz in der Gegenwart nachhing. Einem Aberwitz, in dem er durchaus auch die Aufforderung zum Amoklauf als akzeptable Reaktion erkannte, wie er sich selbst schon einmal in einer angeregten Unterhaltung wissen ließ.

Aber im Gegensatz zu meiner sich mutig mit jeder Übermacht nicht nur verbal, sondern wenn nötig auch unter vollem Einsatz ihres Körpers messender, nahkampferprobter Mutter war mein Vater keinesfalls geeignet für auch nur ansatzweise vergleichbare politische Aktionen.

Das Nervenkostüm dieses zeitweise von hypochondrischen Anfällen gepeinigten Menschen war dünner als jede Spinnwebe, die an schönen Altweibersommertagen so überaus dekorativ vom Föhnwind in elegantem Gleitflug über das Ansichtskartenantlitz unserer Gebirgslandschaft geweht wird.

Radikalität beschränkte sich bei Papa ausschließlich auf theoretische Erörterungen; zu einem Gutteil wurden diese ohnehin nur schweigend in der gesicherten Region seines Kopfes abgeführt.

Ich will nicht leugnen, in puncto Bereitschaft zu politischem Aktionismus erheblich mehr vom Naturell meines Vaters geerbt zu haben als von der bewundernswerten Unerschrockenheit meiner Mutter. Ein Psychoanalytiker würde mir vielleicht mit dem Argument beispringen, dass er meine Zurückhaltung gegenüber offen ausgelebter Zivilcourage nicht nur als bloße Feigheit werten, sondern auch als Nachwirkungen der bereits erwähnten frühkindlichen Schockerlebnisse interpretieren würde. Wie dem auch sei: Ich würde wohl zeitlebens mehr der Beobachter als der Akteur bleiben.