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In dem verträumten Fischerdorf Hohwacht an der Ostsee passiert nie etwas. Eigentlich. Doch dann verschwindet der Münchner Geschäftsmann Xaver Kohlgruber aus seinem Hotelzimmer. Der bärbeißige Kommissar und Tierpräparator Oke Oltmanns geht von Mord aus. Unter Verdacht geraten die Mitglieder der Bürgerinitiative „Rettet die Stranddistel“, denn Kohlgruber plante den Bau einer Hotelanlage - ausgerechnet im Hohwachter Naturschutzgebiet! Oke merkt schnell, dass hier nicht alles so idyllisch ist, wie es scheint …
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Seitenzahl: 287
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Patricia Brandt
Krabben-Connection
OSTSEE-KRIMI
Ruhe vor dem Sturm Das geregelte Leben im gemütlichen Fischerdorf Hohwacht an der Ostsee gerät aus den Fugen, als der Münchner Geschäftsmann Xaver Kohlgruber aus seinem Hotelzimmer verschwindet. Der verschrobene Kommissar und Tierpräparator Oke Oltmanns nimmt sich des Falls an und hat bald keine Zeit mehr, sich um den verstorbenen Dackel der Hohwachter Fischbudenbesitzerin zu kümmern. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf die neu gegründete Bürgerinitiative „Rettet die Stranddistel“, die sich ausgerechnet gegen Kohlgrubers Bauprojekt in Stellung bringt: eine neue Hotelanlage mitten im Hohwachter Naturschutzgebiet! Kopfzerbrechen bereitet dem Kommissar auch die hübsche Urlauberin Carmen Bachmann aus Hamburg. Steckt am Ende sie hinter Kohlgrubers Verschwinden? Oke sucht zwischen empörten Naturschützern und zwielichtigen Touristen nach der Lösung und ist bald selbst urlaubsreif.
Patricia Brandt, Jahrgang 1971, stammt gebürtig aus Neustadt am Rübenberge. Nach ihrem Germanistikstudium hat sie volontiert und seitdem für verschiedene Medien (darunter Focus, dpa und NDR Fernsehen) gearbeitet. Seit 20 Jahren ist sie als Redakteurin für den Bremer Weser-Kurier tätig und schreibt seit einigen Jahren Kolumnen für den Burda Verlag. Ihre Serie „Fluchtpunkte“ über die Integration von Geflüchteten wurde 2019 von der renommierten Konrad-Adenauer-Stiftung gewürdigt. Patricia Brandt lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern, einem Hund und zwei Bienenvölkern in der Nähe von Bremen.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2020
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © boysen / stock.adobe.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6570-3
Für Solveig und Corvin
Eryngium maritimum – was für ein schöner Name für ein stacheliges Gewächs. Die Stranddistel ist der eigentliche Star dieses Romans. Die amethystblaue Blüte macht diese Dünenpflanze so attraktiv. Eine Überlebenskünstlerin, denn sie wächst an einem für Pflanzen unwirklichen Ort – dem Strand. Was für uns Menschen im Sommerurlaub toll ist: Sand, Meerwasser, blauer Himmel, Sonne und immer eine frische Brise zum Drachen steigen lassen – das ist für die meisten Pflanzen extrem unsexy. Doch die Stranddistel hat ihre Nische gefunden. Die bläuliche Wachsschicht schützt sie vor Verdunstung und zu starker Sonnenbestrahlung. Die harten Blätter bewahren sie bei Sturm und Wind vor dem Flugsand. Doch heute ist sie sehr selten. Ihr größter Feind ist nicht das Salz des Wassers oder der Wind und Sand, sondern wir – die Menschen. Ihr Lebensraum wird immer mehr zerstört. Uns Menschen zieht es ans Wasser. Wir wollen Urlaub am Meer machen. Doch das hat seinen Preis. Dort, wo früher Dünen waren, entstehen immer mehr Bettenburgen. Die traditionellen kleinen Hotels und Fischerstuben werden verdrängt. Im Buch findet sich das Zitat »Der Fortschritt war nicht aufzuhalten.« Wohl wahr – aber die Hotels gehören nicht mehr den Einheimischen, sondern fremden Investoren, die einzig Rendite, Profit und Gewinnmaximierung vor Augen haben. Argumentiert wird mit der Schaffung von Arbeitsplätzen – doch viele Beschäftigte kommen nicht mehr aus dem kleinen Hafenort, sondern zum Teil aus dem Ausland. Es ist absurd, dass Einheimische gerade auf den norddeutschen Inseln kaum noch selbst bezahlbaren Wohnraum finden. Es braucht Platz, und Platz ist knapp. Und dann muss eben die Natur weichen. Derzeit liegt die tägliche Umwidmung von unbebautem Boden in Deutschland bei circa 66 Hektar am Tag. Das sind 92 Fußballfelder. Doch HALT! Immer mehr Menschen fangen an zu verstehen, dass Natur einen Eigenwert hat. Ob Feldhamster, Schlammpeitzger oder Stranddistel – sie haben eine Daseinsberechtigung. Wir Menschen kennen noch gar nicht alle auf der Erde existierenden Arten, aber wir sind schon dabei, jeden Tag das Artensterben voranzutreiben, Regenwälder abzuholzen, Flüsse zu vertiefen, Mikroplastik bis in das ewige Eis der Pole zu transportieren, unsere Böden auszubeuten und dabei über Leichen zu gehen. Es ist gut, dass es Menschen gibt, die sich täglich für Naturschutz und Umweltschutz engagieren.
Mit diesem packenden und sehr realen Thema beschäftigt sich Patricia Brandt in ihrem Krimi. Mit einer Bürgerinitiative, die diesen Wahnsinn nicht länger mitmachen will. Ein Roman, der all diese Verstrickungen um Natur, Ursprünglichkeit, Gewinnmaximierung und das buchstäbliche Über-Leichen-Gehen in einem fesselnden Erzählstrang zusammenführt. Und allein darum wäre es schade, wenn die Stranddistel ganz verschwinden würde. Uns würde ein Stück Schönheit verloren gehen. Zurecht war sie die Blume des Jahres 1987. Mit der Stranddistel als Hauptdarstellerin ist »Krabben-Connection« für mich das Buch des Sommers 2020.
Dr. Maike Schaefer
Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau der Freien Hansestadt Bremen
Götz lag vor ihm auf dem Tisch und rührte sich nicht. Wie auch? Er war ja tot. Vorsichtig drehte er Götz auf dem Tisch um. Er würde mit dem Bauch anfangen. Genüsslich ließ er die Knöchel knacken und griff nach dem Messer, das er für diesen Zweck bereitgelegt hatte.
Der Stuhl knarrte bedenklich, als er sein Gewicht verlagerte, um die Beine auszustrecken. Dies war sein freier Tag, den er ganz gemütlich in seinem alten Trainingsanzug hinten im Schuppen am Möwenweg verbringen würde.
Er hatte das Kofferradio angestellt, das auf einem Stapel Zeitungen stand, den er später noch mal durchsehen wollte. »Hey Jude«, trällerte er mit, als sie einen Song von den Beatles spielten. Er mochte Evergreens. Gut gelaunt setzte er das Messer an Götz’ Brustbein an und zog einen geraden, tiefen Schnitt. Blut quoll hervor und ein Stück von Götz’ Darm.
Er nahm den metallischen Geruch kaum wahr, sondern achtete vielmehr darauf, die inneren Organe sauber herauszutrennen. Präparation erforderte eine Menge Wissen und Geschick. Man stopfte den Körper nicht einfach nur aus.
»Hey Jude, don’t be afraid«, sangen die Beatles. Soweit er sich erinnerte, hatte Paul McCartney den Song für seinen Sohn geschrieben. Oke dachte an seinen eigenen Vater. Dieser hatte ihm bei seinem ersten Mal geholfen. Mit düsterem Blick hatte der Vater darauf bestanden, dass er die Handschuhe wegließ: »Du bist kein Mädchen, Oschi!« Wie lange war das her? Jahrzehnte.
Inse regte sich heute immer fürchterlich auf, wenn mal eine Niere oben in der Biotonne lag. Dammi noch mal to! Warum fiel ihr bei solchen Gelegenheiten nicht ein, dass sein kleiner Nebenjob half, die Reisekasse zu füllen. Träumte sie etwa nicht seit Jahren von einer Kreuzfahrt?
In Berlin, hatte er neulich gehört, besserten 125 Polizisten ihr Gehalt mit einem Nebenjob auf. In den Filmstudios! Schauspielerei. Wat ’n Schiet!
800 Euro verlangte er für Hauskatzen, 1.000 Euro für Hunde. Bei Götz machte er eine Ausnahme. Weil er so klein war. Hundehalterin Wencke Husmann hatte argumentiert, dass der an Altersschwäche gestorbene Rauhaardackel ungefähr die gleiche Größe wie der Kater ihrer Freundin habe. Ihn erinnerte Götz zwar eher an eine Kegelrobbe, aber an eine kleine. Das musste er zugeben. Deshalb konnte er nicht umhin, sich mit Wencke auf 800 Euro zu einigen. Zähe Geschäftsfrau diese Fischbudenbesitzerin.
Er drehte den Schraubverschluss des angestaubten Glasgefäßes vor ihm ab und rieb Götz’ Haut mit einer Schicht Salz ein. Nicht jodhaltig. 24 Stunden musste er nun warten. »Hey Jude, begin.« Für heute hatte er sein Tagwerk erledigt. Mit einem schmatzenden Geräusch zog er die blutigen Handschuhe aus.
»Produkte aus der Region – überraschend günstig«, schnarrte es aus den Lautsprechern. Niemand im Gang schien sich für die Durchsage zu interessieren.
»Gratis.« Sie hätte das Wort fast überhört. Die Kinderstimme neben ihr klang leise. Fast, als spräche sie mit sich selbst.
»Was meinst du?«, fragte sie Cedrik, während sie mit dem Oberkörper halb über dem Einkaufswagen hing, um die Lebensmittel darin umzuschichten. »Carla! Geht’s noch? Du kannst die Milchtüte nicht einfach auf die Tomaten schmeißen!«, schimpfte sie. Ihre Belehrungen kamen nicht an. Als sie sich umdrehte, sah sie Carlas fliegende Zöpfe lediglich von hinten. »Wir brauchen Klopapier«, rief das Mädchen fröhlich über die Schulter. Sie rannte bereits um die nächste Ecke.
Sie wollte den Wagen schon weiterschieben, aber Cedrik hielt sie am Arm fest: »Mama, warte mal, hier steht ›gratis‹. Gratis heißt geschenkt, oder?«
Der Fünfjährige stellte sich vors Müsliregal, den Kopf in den Nacken gelegt, der Mund stand offen. Sie sah die große Zahnlücke vorne rechts, wo kürzlich ein Milchzahn saß. Das kalte Neonlicht ließ ihn fast kränklich wirken, dabei strotzte er vor Gesundheit. Der kleine Kerl starrte auf die Reihe bunter Verpackungen. Und auf einer entdeckte sie tatsächlich in dicken roten Buchstaben das Wort »gratis«. Ihr Junge konnte also wirklich schon lesen. Dabei würde es noch eine ganze Weile bis zur Einschulung dauern. Zurzeit besuchte er das Kinderhaus an der Emil-Andresen-Straße in Eimsbüttel. Eine Woge Mutterglück überkam sie.
Sie schaute sich das Paket genauer an. »Sonderaktion: Hotelübernachtung gratis«, stand darauf. Und in etwas kleinerer Schrift: »Kauf 25 Pakete und übernachte kostenlos in einem von 150 exklusiven Hotels deiner Wahl.«
25 Pakete à 2,79 Euro, ziemlich teuer. Aber einen Urlaub geschenkt zu bekommen, das wäre natürlich toll. Gedankenverloren spürte sie, wie sich ein Mann mürrisch an ihr vorbeidrängte, um an die Haferflocken zu kommen.
Carmen überlegte, wann sie zum letzten Mal Urlaub gemacht hatte. Das musste vor Carlas Geburt gewesen sein. Richtig, da hatte ihre Mutter sie und Martin nach Sylt eingeladen.
Sylt im Spätsommer. Carmen erinnerte sich wehmütig an hübsche Reetdachhäuser, duftende Kartoffelrosen und den Strand. Ach, der Strand. Ihr fielen all die verliebten Küsse ein, die sie sich vor der Kulisse eines tosenden, dunklen wie unergründlichen Meeres gegeben hatten. Sie seufzte.
Wie gern würde sie mal wieder verreisen. Sich nicht morgens in aller Herrgottsfrühe hochquälen müssen. Sie hasste den Blick in den Spiegel, wenn sie ihre rotgeäderten und verquollenen Augen sah. Sie brauchte dringend mehr Schlaf. Ihr Tagesablauf schlauchte sie mehr, als sie zugeben würde. Alles kam ihr mühselig vor: morgens die Berge von Broten und Apfelschnitze für die Kinder zu fabrizieren, die Kinder zur Schule und in den Kindergarten zu begleiten, zur U-Bahn zu hetzen, um nicht zu spät ins Büro zu kommen und dann wieder im Galopp zurück, um die Kinder rechtzeitig abzuholen.
Die Arbeit selbst machte ihr ebenfalls wenig Spaß. Erst hatte sie es chic gefunden, in einer PR-Agentur zu arbeiten. Aber die Texte, die sie über Wandfarben und Heizungslacke schreiben musste, kamen ihr mittlerweile unendlich langweilig vor. Es half nichts. Sie musste hin, damit das Geld reichte. Immer musste sie irgendetwas tun.
Wie gern würde sie am Strand sitzen, sorgenfrei aufs Meer blicken und den Wind im Gesicht spüren. »Aua.« Etwas Hartes hatte sie am Arm getroffen: eine Nudelpackung. Carla hatte sie mit überraschender Wucht in Richtung Einkaufswagen gepfeffert. »Carla! Sag mal, spinnst du? Was fällt dir ein, mit Lebensmitteln zu werfen?«
Carla, scheinbar taub geworden, rannte einfach weiter, diesmal in die andere Richtung. »Wir brauchen Äpfel«, schrie sie dabei über die Schulter. Rums. Carla war geradewegs in den Bauch eines Mannes gelaufen, bei dem es sich, wie sie zu ihrem Leidwesen erkannte, um ihren Nachbarn handelte. Ausgerechnet dessen Bauch musste es sein.
»Pass mal auf, du!«, empörte sich Horst Wieczorek lauthals. Carla setzte ihren Sprint trotzdem fort. Sie hatte nur Zeit für ein kurzes »’tschuldigung«.
Wieczorek sah wütend zu ihr herüber. »Von Erziehung kann wohl keine Rede sein. Rennt die freche Göre einfach in mich rein!«, zeterte er.
»Sie hat es nicht mit Absicht gemacht«, verteidigte sie ihre Tochter. »Es ist nichts Schlimmes passiert, hoffe ich doch.«
Er äffte sie nach: »Nichts passiert, nichts passiert. Hätte aber was passieren können!«
Carmen nickte ihm zu und versuchte dann, ihn zu ignorieren. Sie wusste, er würde sich nicht beruhigen lassen. Er würde richtig in Fahrt kommen, wenn sie sich auf eine Diskussion einließ. Er würde sich wieder endlos aufregen. Über den Lärm, den Carla und Cedrik machten, über die schwarzen Fußabdrücke, die sie im Treppenhaus hinterließen, über das Wetter und Frau Klingeberg aus dem sechsten Stock und ihre beiden Katzen. Kein Wunder, dass die Post ihn in den Vorruhestand geschickt hatte. Mit dem konnte man es nicht aushalten.
Cedrik zog an ihrem Arm. »Heißt gratis geschenkt?«
»Ja, heißt es. Allerdings glaube ich nicht, dass uns jemand tatsächlich Urlaub schenken würde …«
Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Jetzt, da Martins Geschäft so schlecht lief. Wenigstens schlurfte Horst Wieczorek weiter. Sie hörte ihn noch vor sich hin grummeln. Schrecklicher Mensch, dachte sie.
Cedriks Blick hing an ihr: »Kann ich das Müsli trotzdem haben?« Carmen gab sich geschlagen. Sie griff nach der Packung, auf die er mit seinem filzstiftverschmierten Finger zeigte, und legte sie in den Wagen. Kurz zögerte sie. Sollte sie wirklich 25 Pakete Müsli kaufen? Es verstieß gegen ihre Prinzipien. Martin würde es ihr garantiert beim nächsten Frühstück vorhalten. Dieses Zuckerzeug war zu teuer für ihr Budget und noch dazu ungesund. Sie wankte, wollte den Wagen schon weiterschieben und überlegte es sich wieder anders. Entschlossen griff sie erneut ins Regal. Und wieder und wieder. Cedrik beobachtete sie, und als er begriff, dass seine Mutter eine Wagenladung seines Lieblingsmüslis kaufen wollte, sprang er vor Freude in die Luft.
Bald könnten sie Koffer packen. Ein kribbeliges Gefühl der Vorfreude breitete sich in ihr aus. Gratis-Urlaub. Wer würde dazu Nein sagen? Sie gewiss nicht. Und Martin hoffentlich auch nicht.
Keine zwei Wochen später traf der Brief mit dem Gutscheincode ein. Der Müsli-Konzern hatte ihn geschickt. Sie sollten aus »erstklassigen Komforthotels in der ganzen Republik« wählen dürfen.
Die ganze Familie versammelte sich um den altersschwachen Computer im Schlafzimmer. Carmen stellte die Klemmleuchte so ein, dass der Lichtkegel auf den Code fiel, und tippte die Zahlen auf der Tastatur ein. Erwartungsvoll rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Carla hatte vor Aufregung Schluckauf. Es sollte ihr erster Urlaub werden. »Hicks«, machte die Achtjährige wieder. Mit jedem »Hicks« hüpften die Zöpfe mit.
Traumhafte Bilder tauchten auf dem Bildschirm auf: Vier-Sterne-Hotels in diversen Großstädten, urige Blockhütten inmitten großartiger Bergkulissen und sogar ein rot-weiß gestreifter Leuchtturm auf einer Düne. Es fühlte sich an, als hätte sie im Lotto gewonnen. »Guckt mal«, rief sie etwas zu laut und spürte wieder dieses besondere Kribbeln, »hier ist sogar ein Schloss!«
»Klick mal drauf«, forderte Martin sie auf. Sie tat es. Verwirrt las sie den Satz vor, der in roten Buchstaben auf dem Bildschirm aufblinkte: »In diesem Zeitraum nicht verfügbar«. Martin fragte perplex: »Was soll das denn heißen?«
Sie stöhnte. Manchmal fand sie ihn ziemlich begriffsstutzig. »Na, dass das Hotel zu diesem Zeitpunkt nicht frei ist. Wirklich schade!« Sie seufzte. »Es liegt sicher an der Ferienzeit. Alle wollen in den Sommerferien fahren. Wie wir. Anders geht es wegen Carlas Schule gar nicht.«
»Versuch mal dieses Angebot«, schlug Martin vor und deutete auf die Berghütte: Ein »nicht verfügbar« erschien erneut auf dem Monitor. »Und das?«, fragte Cedrik und tippte auf ein Hotelschiff an der Mecklenburgischen Seenplatte. »Nicht den Bildschirm anfassen«, ermahnte ihn Martin.
»Nicht verfügbar.« Sie wurde langsam wütend. »Ich wusste es: Keiner will uns was schenken.«
Martin sah sie an. »Bring die Kinder erst mal ins Bett.«
Während sich Carla bereitwillig in ihre Decke kuschelte, dauerte es geschlagene 45 Minuten, bis sie Cedrik überredet hatte einzuschlafen. Sie musste ihm erst »Drache Kokosnuss« vorlesen, ein Glas Wasser holen, eine Wärmflasche machen und dann fiel ihm ein, dass er seine Zähne nicht geputzt hatte. »Kannst du dann noch mal unter mein Bett gucken?«
Sie war ziemlich gereizt, als sie wieder am Rechner saß. Ein Hotel an der Mecklenburgischen Seenplatte – weg. Ein Hotel auf Rügen – ausgebucht. Eine Burg im Harz – nicht verfügbar. Je häufiger die roten Buchstaben aufleuchteten, desto größer ihr Frust. Martin hatte schon lange keine Lust mehr. Er saß nebenan im Wohnzimmer, wo er ein Buch las, das »Seele der Kamera« hieß. Carmen schüttelte innerlich den Kopf. Sein Interesse am Familienurlaub musste ja riesengroß sein. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, den Rechner gegen die Wand zu schmeißen.
Er konnte offenbar Gedanken lesen: »Natürlich ist das alles nur ein Werbegag. Bauernfängerei«, murmelte er vom Sofa aus in ihre Richtung, ohne von seinem Buch aufzusehen. »Und wir werden bis an unser Lebensende Schokomüsli essen, so lange, bis uns die Zähne ausfallen. Ich kann es nicht fassen, dass du wirklich 25 Pakete von dem Zeug gekauft hast.«
In dem Augenblick leuchtete es grün auf: »Hier ist was frei!«, jubelte Carmen überrascht. Schnell sog sie die Luft zwischen den Zähnen ein, weil sie fürchtete, vielleicht die Kinder geweckt zu haben. »Malgorzatas Zimmervermietung und Meer«, flüsterte sie.
»Malgorzatas Zimmervermietung?« Martin stand hinter ihr.
»Und Meer«, bestätigte Carmen.
»Hört sich ja nicht so berauschend an«, meinte er. Typisch. Sie kümmerte sich darum, dass sie kostenlos in den Urlaub konnten, und ihm gefiel der Name der Pension nicht. Sie hob den Blick: Er hatte wieder diese steile Falte auf der Stirn. Martin sah viel zu ernst aus. Sein Gesicht wirkte richtig grau in letzter Zeit. Er hatte bestimmt fünf Kilo abgenommen. Seine Jeans schlackerte ihm nur so um die Beine. Vermutlich eine Folge seiner geschäftlichen Sorgen. Es konnte nicht anders sein.
»Es ist nur wenige Meter vom Meer entfernt. Und liegt quasi um die Ecke«, triumphierte sie. Das Hotel lag in Hohwacht. Sie hatte schon von dem Ostseebad gehört. Kurz überlegte sie, wer ihr von dem Ort erzählt hatte. Sie wusste es nicht mehr. Nur, dass es sich um ein altes Fischerdorf zwischen Kiel und der Insel Fehmarn handelte, das bei Urlaubern als Geheimtipp galt. Es gab dort kilometerlange Sandstrände, unverfälschte Naturschutzgebiete und eine atemberaubende Steilküste.
Sie wollte jetzt nach Hohwacht – um jeden Preis. Sie wusste selbst nicht, warum dieses Gefühl auf einmal so drängend an ihr nagte. Vielleicht, weil sie Angst hatte, sonst überhaupt nicht mehr in den Urlaub zu kommen.
Er zuckte die Achseln. »Okay, dann ist die Anreise nicht so teuer.« Keine zwei Minuten später drückte Carmen auf »kostenpflichtig buchen«.
Es war so spät, dass sie sich entschieden, gleich schlafen zu gehen. Als Martin das Licht ausknipste, kam ihm ein Gedanke: »Warum stand da eigentlich ›kostenpflichtig buchen‹? Das Hotel sollte doch kostenlos sein!«
Carmen stutzte: »Komisch. Na ja, das hatte sicher nichts zu bedeuten.«
Ihre Glieder fühlten sich schwer an. Sie ließ sich etwas tiefer in die Matratze sinken und stopfte die Bettdecke rechts und links unter sich fest. Sie lauschte seinen ruhigen Atemzügen. Unruhig wälzte sie sich herum. Ein unangenehmer Gedanke hatte sich bei ihr eingenistet. Was, wenn das Hotel doch etwas kostete? Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie würde morgen bei dem Konzern anrufen und nachfragen. Sicherheitshalber. Notfalls konnte sie die Buchung bestimmt irgendwie rückgängig machen.
Mit vier Fingern massierte sie ihren verspannten Nacken. Sie ärgerte sich über sich selbst. Endlich saßen sie im Auto, unterwegs zur Lübecker Bucht, ins schöne Hohwacht an die Ostsee. Der Wetterdienst hatte sommerliche Temperaturen angekündigt. Sie würden also viel Zeit miteinander am Strand verbringen. Vielleicht mieteten sie morgen sogar ein Tretboot. Und was machte sie? Freute sich nicht. Sie konnte es nicht. Zumindest nicht jetzt.
Eine Sache beunruhigte sie. Sie hätte Martin gern dazu befragt. Aber sie mochte ihre Frage nicht stellen. Nachdenklich betrachtete sie sein Profil. Die gerade Nase, die dunklen Brauen. Die steile Falte, die seine Stirn in zwei dicke Wülste teilte. Er sah so genervt aus.
Sie überlegte, ob er ihr übel nahm, dass sie 1.725 Euro für die Halbpension zahlen mussten. Sie hatten gestern ein weiteres Mal darüber gestritten. Es galt offenbar ein Sondertarif für Gratis-Urlauber. Das hatte man ihr bei ihrem Anruf beim Konzern erklärt. »Wenn Sie zu diesen Bedingungen nicht mehr mit uns reisen wollen, dann fallen bereits Stornierungsgebühren an«, hatte sie eine ungeduldige Stimme bei der Servicehotline informiert. Letztlich hatten sie sich entschieden, trotzdem zu fahren. Immerhin sollte die Übernachtung tatsächlich kostenfrei sein. Und sie beide konnten den Urlaub dringend gebrauchen.
»A ram sam sam«, tönte es von der Rückbank. Vielleicht lag es an den Kindern, dass er so grimmig schaute. Die machten auf der Rückbank ganz schön Radau. Sie drehte sich um und rief lauter, als sie gewollt hatte: »Ruhe, ihr zwei.«
Eine Socke landete auf ihrem Kopf. Carla hatte sie abgestreift und übermütig nach vorne geworfen. Dann sang sie wieder das Kindergartenlied: »A ram sam sam, a ram sam sam, guli guli guli guli ram sam sam.« Natürlich machte Cedrik mit: »Guli guli, ram sam sam.« Die beiden sangen immer schneller und lauter. Sie machten zum Gesang nun zusätzlich Bewegungen, fingen an, die eigenen Arme umeinander zu drehen, um dann zwischendurch immer wieder ihre Oberkörper weit nach vorn zu beugen.
In ihrem Hinterkopf hämmerte die unausgesprochene Frage. Wenn sie ihn jetzt fragte, würde er garantiert ausflippen. Das erschien ihr so sicher wie eine Ansteckung mit Masern ohne Impfung. Sie presste die Lippen etwas fester aufeinander. Als könnte sie auf diese Weise dafür sorgen, dass die Frage ungefragt blieb.
Carmen lehnte sich an die harte Kopfstütze und befahl sich, aus dem Fenster zu schauen. Sie fuhren die A 1 Richtung Lübeck entlang. Plötzlich leuchteten vor ihrer Stoßstange grellrote Bremslichter auf. Ein Laster hatte, ohne zu blinken, die Spur gewechselt und der Motorradfahrer vor ihnen geriet ernsthaft in Bedrängnis. Sie hatte den Eindruck, er käme gleich durch die Windschutzscheibe zu ihnen ins Auto. Als sie aufschrie, hörte sie bereits die Bremsen ihres Wagens kreischen. Das war knapp.
»Könntet ihr bitte etwas leiser singen?« Seine Stimme klang viel zu hoch. Sie fand, dass er sich den Kommentar hätte sparen können. Trotzdem: Er hatte eben gut reagiert und einen Unfall verhindert. Auf ihn war Verlass. Immer.
Sie fixierte wieder die Schilder, an denen sie vorbeirasten. In Kürze würde die nächste Ausfahrt kommen. Ohne dass sie es hätte verhindern können, platzte die Frage aus ihr heraus: »Habe ich den Herd ausgemacht?«
Ein leiser Brummton drang an seine Ohren. Das Brummen verstummte kurz und setzte dann erneut ein. Das Geräusch begann, ihn zu nerven. Er schaffte es jedoch nicht, den Wecker mit einem Hieb auszuschalten. So blieb er ein wenig länger unter der leichten Sommerdecke mit dem Karomuster liegen. Stoisch ertrug er das regelmäßig wiederkehrende Brummen.
Er musste sich auf seinen Magen konzentrieren. Dass einem so speiübel sein konnte.
Er atmete tief ein und aus, weil er hoffte, so die Übelkeit vertreiben zu können.
Seine Zehen schauten aus der Bettdecke hervor und er genoss einen Augenblick lang den kühlen Luftzug, der vom geöffneten Fenster kam und über seine von regelmäßiger Fußpflege weichen Sohlen strich.
Jemand, der nur kurz ins Zimmer geschaut hätte, hätte denken können, er wäre wieder eingeschlafen. In Wahrheit wartete er nur die nächste Welle der Übelkeit ab. Er wünschte, sie würde nicht kommen.
Er hatte eine schreckliche Woche hinter und eine fürchterliche Dienstreise in den Norden vor sich. Tagelang waren hasserfüllte E-Mails aus dem neuen Projektgebiet gekommen. »Wir lassen unser Dorf nicht verschandeln«, stand in einer Mail, und das war noch die freundlichste von allen gewesen. Wenn er es richtig verstanden hatte, liefen die Bewohner von Hohwacht geradezu Sturm gegen die geplante Appartementanlage. Dabei gab es nichts an dem Gebäude auszusetzen. Im Gegenteil: Es handelte sich um die urbane, schnörkellose B-Projekt-Architektur mit klaren Linien. Sehr modern!
Und nun schickte ihn der Chef ausgerechnet dorthin, wo sie ihn am liebsten lynchen würden. Um die Pläne für die neue Appartementanlage persönlich mit dem Bürgermeister durchzusprechen. In Hohwacht. An der Ostsee.
Vor seinem geistigen Auge tauchte ein beängstigendes, tosendes Meer auf. Es wogte wild, schaukelte und schwappte.
Bei dem Gedanken wurde ihm wieder schlecht. Hastig schlug er die Decke zurück und wankte benommen zum Fenster. Luft. Er brauchte frische Luft.
Er zog die rot-weiß karierten Vorhänge zur Seite – seine Schwester Fanny hatte sie ihm genäht – und kniff stöhnend die Augen zusammen. Von draußen blendete grelles Sonnenlicht.
Seine fleischige Nase berührte den kalten Fensterrahmen, als er weiter zum Spalt vordrang, um gierig Luft einzusaugen. Hier über Münchens Dächern roch sie um diese Uhrzeit vergleichsweise frisch. Endlich konnte er die Augen wieder öffnen und blickte geradewegs auf die Reklametafel eines Bierbrauers: Hefeweizen. Der Gedanke löste erneuten Brechreiz und eine bruchstückhafte Erinnerung an den Vorabend aus.
Jemand hatte den Festsaal mit Luftballons geschmückt. Architekt Max tanzte in seiner Krachledernen auf dem Tisch. Er dachte an die Bedienung. Zenzi hatte sie geheißen. Oder Mandy? Besser als an ihren Namen erinnerte er sich an ihr rosafarbenes Dirndl, das den Blick freigab auf ihren – er schluckte heftig – monströsen Vorbau. Mei, die hatte wahrlich Holz vor der Hütten gehabt.
»Bsuffa flirtn is wia hungrig eikaffa: Ma bringt Sachn hoam, de ma goa ned wui«, hatte Max gelallt.
Er hörte nicht auf Max. Er flirtete, wie und mit wem er wollte. »No a Maß, biddscheen«, sagte er zu dem hübschen Madi. Als sie sich über ihn beugte, um sein leeres Glas zu nehmen, packte er sie mit beiden Händen und presste sein Gesicht tief, ganz tief in ihren weichen Busen. Er wusste selbst nicht, warum er das getan hatte. Er wusste nur: Hier hätte er für den Rest seines Lebens bleiben können.
Er schluckte Magensäure herunter. Vielleicht hätte er an dem Abend nicht so weit gehen dürfen. Er fühlte sich unsicher. Mandy-Zenzi, oder wie immer sie hieß, hatte nichts gesagt, ihn nur groß angeschaut. Dann war sie weggelaufen, den leeren Bierhumpen noch in der Hand, und in der Menge irgendwo im Zelt verschwunden. »Madi – kumm zrück«, hatte er heiser hinter ihr hergerufen. Doch sie war nicht zurückgekommen. Den ganzen Abend lang nicht. Stattdessen wurden sie von einer anderen Kellnerin bedient.
Und was, wenn jemand ihn bei seinen Frechheiten beobachtet hatte oder sie sich über ihn beschwerte? Sogar zur Polizei ging? Wusste sie, wer ihr die Nase in den Ausschnitt gesteckt hatte? Als Geschäftsführer des größten Baukonzerns der Stadt hatte er einen Ruf zu verlieren. Was hatte er getan? Hatte er gar keinen Anstand mehr? Er ekelte sich vor sich selbst.
De Woch fangt scho guat o, dachte er und zog die Vorhänge wieder vor, um das gleißende Sonnenlicht auszusperren. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Er musste sich kurz auf die Bettkante setzen.
Sein Blick fiel auf das Nachttischchen. Darauf stand eine altmodische Teetasse. Er behandelte sie wie einen Schatz. Nicht nur, weil er das blaue Zwiebelmuster mochte. Die Tasse hatte zu Lebzeiten seiner Mutter gehört. Sie hatte ihm immer gesagt, was er zu tun und zu lassen hatte. Damals, als sie alle in Scharnitz lebten. Vater, Mutter, Fanny und er, der Bub. In einer übersichtlichen Welt, in der Gutes gut war und Böses böse. Heute wusste er manchmal nicht mehr genau, wo das Gute aufhörte und das Böse begann. Die Baubranche lieferte sich seit Jahren einen harten Wettbewerb. Es gab miese Tricks am Bau und viele kriminelle Subunternehmer in München. Arbeiter aus Rumänien oder Bulgarien hausten in Baucontainern. Für ein paar Euro die Stunde gossen sie Betonwände ohne jegliche soziale Absicherung. Man sprach schon von modernem Sklavenhandel. Gegen all das schien ihm das Scharnitz seiner Kindheit wie das Paradies. Doch die Eltern waren beide tot. Es gab im Elternhaus nur noch Fanny.
Einen Moment dachte er an Scharnitz’ kunstvoll bemalte Häuser, den jährlichen Musikumzug und an Onkel Aloysius’ Federhut. Er seufzte, als ihm der Karwendelstein in den Sinn kam. Er vermisste den Anblick. Jedes Mal, wenn er Fanny besuchte, trieb der Berg ihm die Tränen in die Augen. Er hatte es bisher nie geschafft hochzuklettern.
Uarrg. Er stürzte zur Toilette. Eine gelbe Flüssigkeit kam in einem unaufhaltsamen Schwall aus seinem Mund. Und etwas, was aussah wie Stücke einer Brezn. Er schaffte es, trotz seiner zittrigen Finger, den Toilettendeckel aufzuklappen, und ließ sich auf die Knie sinken. Er keuchte, spuckte, hustete und ekelte sich mehr denn je zuvor vor sich selbst. Er blieb so lange vor der Schüssel hocken, bis die Fliesen zwei kreisrunde, rote Abdrücke auf seinen mageren Knien hinterlassen hatten.
Eine Weile hielt er sich am Waschbecken fest und schaute in den Spiegel darüber. Das Spiegelbild zeigte einen Fremden mit gewelltem grauem Haar, blutunterlaufenen Augen und dunklen Tränensäcken. »I befürcht, i bin wach«, sagte es.
Als er eine Dusche und zwei Tassen Magentee später seinen Koffer ins Treppenhaus rollte, kam er an den makellosen, weiß lackierten Türen seiner Nachbarn vorbei. Mit ihren schwarzen Glaslinsen wirkten sie ausnahmslos anonym, abweisend und – wenn er ehrlich zu sich sein wollte – unheimlich. Man konnte schließlich nicht wissen, wer hinter dem Spion stand und einen heimlich beobachtete. Er hasste München. Nur der Anblick einer halb vertrockneten Yuccapalme im zweiten Stock munterte ihn seltsamerweise ein wenig auf: wenigstens ein bisschen Natur in der Trostlosigkeit des modernen Lebens.
Während er die restlichen Treppen hinabstieg, überlegte er, dass sich vielleicht niemand die exorbitant hohen Mieten in diesem hellen, sanierten Altbau leisten konnte. Nie hatte er bisher Nachbarn durchs Treppenhaus kommen oder gehen sehen. Und womöglich hörte zu dieser Stunde tatsächlich niemand das dumpfe Geräusch, das die Rollen seines Koffers auf den klinisch reinen, im Tageslicht glänzenden Fliesen verursachten. Er sehnte sich manchmal so sehr nach Scharnitz, dass es wehtat.
»Was machst du?« Als er an die Küchentür kam, stand sie breitbeinig am Herd. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht.
Giovanni trat aus der Hitze des Gartens durch die Tür. Sofort umfingen ihn die Kühle des Raums und der Geruch von Zwiebeln.
Im Schatten des alten, leicht schiefen Olivenbaums hatte er in Ruhe die Zeitung gelesen, bis er einen Artikel entdeckte, der ihn aufschrecken ließ: »B-Projekt startet Milliardenbau am Gardasee«, stand dort groß über fünf Zeitungsspalten hinweg. Und darunter: »Deutschlands größter Immobilienkonzern denkt die Gardesana neu.«
Mit bösen Vorahnungen hatte er den restlichen Text überflogen: »Xaver Kohlgruber, Geschäftsführer von B-Projekt, hat La Repubblica bestätigt, dass der Konzern Touristen künftig die Möglichkeit bieten will, kostengünstig und umweltfreundlich den Lago di Garda zu umrunden. B-Projekt verhandle derzeit über den Ankauf verschiedener Bimmelbahnen am See, so äußerten sich sichere Quellen gegenüber La Repubblica. Damit steigt B-Projekt, bisher für moderne Appartementanlagen und Hotelbauten in Deutschland bekannt, vollends ins europäische Tourismusgeschäft ein.«
Neben dem Artikel hatten die Herausgeber der Zeitung ein Bild der Gardesana gedruckt. Der See schien von dort aus zum Greifen nah. »Zurzeit prüfen die Ingenieure, ob sich die Straße für einzelne Haltepunkte am Gardasee verbreitern lässt«, stand unter dem Foto.
Er hatte sofort Matteo Manchetti angerufen. Und erfahren, dass sein Cousin ebenfalls schlechte Nachrichten hatte: »Alles ist ungewiss, hörst du, Giovanni?«, hatte dieser ins Telefon gebrüllt. »Sie zieren sich. Tutti-Train will wahrscheinlich nicht mehr an dich verkaufen. Sie haben einen anderen Interessenten.«
»B-Projekt«, sagte Giovanni tonlos. Trotz der sommerlichen Temperaturen bekam er eine Gänsehaut. Er hatte geahnt, dass es beim Ankauf Schwierigkeiten geben würde. Wann lief denn schon mal alles glatt? Er würde schnell handeln müssen. Sein Cousin sah das genauso.
»Sei cosi carino, du bist so süß.« Giovanni umfasste ihren fülligen Leib und presste seine Lenden an ihren ausladenden Hintern. Aurora gab einen unwilligen Laut von sich. Sie schabte die kleingehackten Zwiebeln mit einem Messer von dem großen Holzbrett in eine Pfanne.
Die Zwiebeln zischten, als sie mit dem heißen Fett in Berührung kamen. Er schmiegte sich an seine Frau und sah zu, wie die Zwiebelstücke langsam glasig wurden. Es klickte, als Aurora eine zweite Gasflamme entzündete und einen großen Topf Wasser für die Pasta darauf wuchtete.
Sie hatten erst vor drei Jahren geheiratet. Manchmal hatte er das Gefühl, ihre Familie könne ihn nicht leiden. An manchen Tagen erschien es ihm sogar so, als wäre er in der Villa an der Via Lungolago in Peschiera unerwünscht. Oder es lag daran, dass er sich in dem Haus dieser reichen Familie selbst oft fehl am Platz fühlte. Er – ein einfacher Hamburger Jung mit italienischen Vorfahren. Wenn allerdings sein Plan aufging, Tutti-Train zu kaufen, wäre die Familie Russo bald die einflussreichste im Land.
Seine Hände tasteten sich nach oben vor, wollten gerade seitlich unter der Schürze verschwinden, als sie ihn mit dem Hinterteil wegkickte. »Verschwinde, Giovanni!«
Sie griff nach oben ins Regal, wo die Gewürze standen. Sie wählte Chili. »Das könnte ziemlich scharf werden«, flüsterte er doppeldeutig in ihr kleines Ohr. Er knabberte an dem goldenen Ohrring, der die Form eines Vogels hatte. Aurora wendete verärgert die Zwiebeln. Er nahm es ihr nicht übel: Wenn sie kochte, dann mit Leib und Seele. Letztlich kam es ihm zupass. Dann würde sie nicht so viele Fragen stellen. Er sagte sanft: »Ich muss eine Zeit weg.«
»Hmm?«, fragte sie abwesend, während sie, ohne ihn anzublicken, ein sehr großes und sehr scharfes Messer aus der Küchenschublade zog. Er hatte sich bereits Richtung Tür gedreht. »Diventiamo ricchi. Wir werden reich«, sagte er leichthin. Ob dies tatsächlich der Wahrheit entsprach, wusste er selbst nicht genau.
Sie machte einen abfälligen Laut und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit den saftig-weichen Tomaten.
Er trat wieder in den Schatten des Olivenbaums und setzte sich auf das Ende der Liege. Selbst der Stoff, auf den die Zweige des Baumes ein kunstvolles Schattenmuster warfen, war warm. Das Außenthermometer am Küchenfenster zeigte 40 Grad.
Seine Finger fühlten sich schwitzig an, als er die Tasten seines Mobiltelefons betätigte. Matteo ging nach dem zweiten Freizeichen dran. »Wo ist er?«, wollte er von seinem Cousin wissen. Matteo musste nicht nachfragen, wen er meinte: »Auf dem Weg an die Ostsee. In ein Fischerdorf mit einer hübschen Marina.« Er fragte, ob die Information sicher sei. Matteo schlug einen beleidigten Ton an: »Meine Quellen sind immer zuverlässig, Giovanni.«
Er antwortete nicht sofort. »Mist, dann setzen wir uns in den Flieger nach Hamburg.« Matteos Schweigen klang zögerlich. »Du willst ihm hinterherreisen? Was soll das bringen? Gut, von mir aus, rede mit ihm.«
Giovanni grinste, weil ihm gerade eine andere Idee kam: »Mir egal. Wir fliegen bis Hamburg und dann – voglio noleggiare una barca fantastica.« Mal sehen, was das Angebot hergab. Am liebsten würde er sich in Hamburg eine Jacht mieten, zwölf Meter lang, vier Kabinen, zwei Bäder, zehn Kojen, irgendwas in der Art. Er dachte gerne groß. Matteo schwieg. »Hast du aufgelegt?«, fragte er deshalb. Als sein Cousin antwortete, klang er trotzig: »Wenn du eine Jacht nimmst, reserviere gleich eine für mich mit.«
Natürlich standen alle Regler des Herds auf null. Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie den Start in die Ferien verpatzt hatte. »Hab ich dir ja schon oft gesagt: Du hast eine Zwangsneurose«, brüllte er über Benjamin Blümchens Tröten aus dem CD-Player hinweg, als sie wieder einstieg. Hatte sie nicht! Sie dachte an die Fotos auf ihrem Handy, die sie eben schnell vom Herd, den abgedrehten Wasserhähnen und den geschlossenen Fenstern geschossen hatte.