Kreativitäts- und Innovationsmanagement - Oliver Mauroner - E-Book

Kreativitäts- und Innovationsmanagement E-Book

Oliver Mauroner

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Beschreibung

Kreativität ist zum Leitbild von Wirtschaft und Gesellschaft avanciert: Mitarbeiter, Führungskräfte, Unternehmen und ganze Branchen müssen kreativ sein, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Kreativität ist dabei kein lebensfernes Konzept, sondern soziale Praktik, unternehmerischer Prozess und persönliche Eigenschaft in einem. Menschen sind jeden Tag kreativ, sie gestalten phantasievoll, lösen Probleme und schaffen Neues. Das Buch lenkt den Kreativitätsdiskurs auf jene Aspekte, die wesentlich dafür sind, dass Kreativitätspotenziale tatsächlich genutzt werden können. Wirtschaftliche und organisatorische Aspekte von Kreativität und Innovation werden in verständlicher Weise dargestellt. In der Art eines Zwiebelmodells wird Kreativität ausgehend vom Individuum über Entstehungsorte und soziale Einbindung bis hin zu organisationalen Prozessen schrittweise analysiert, um ein möglichst umfassendes Bild von Kreativität zu erhalten. Dadurch gewinnt der Leser einen Überblick über Theorien, Methoden und die praktische Handhabung der Kreativität.

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Oliver Mauroner

Kreativitäts- und Innovationsmangement

Von der kreativen Idee zur Innovation

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031107-7

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-031108-4

epub:     ISBN 978-3-17-031109-1

mobi:     ISBN 978-3-17-031110-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

Kreativität und die Frage wie Kreativität entsteht sind allgegenwärtig. Dies ist nicht verwunderlich, zumal die Innovationskraft von Unternehmen unmittelbar von der Kreativität ihrer Mitarbeiter, Führungskräfte und Gründer abhängt. Kreativität macht Organisationen wettbewerbsfähig und kann zu besseren Leistungen und einer höheren Kundenorientierung beitragen. Dies gilt im Grunde für jegliche Organisationen, angefangen von Technologie-Start-ups über Großkonzerne bis hin zu Hochschulen und Behörden.

Gleichzeitig ist Kreativität ein überaus schwammig verwendeter Begriff, der zu den unterschiedlichsten Assoziationen und vielerlei Missverständnissen führen kann. In der betrieblichen Praxis und der akademischen Forschung sind mir zahlreiche Mythen und Halbwahrheiten begegnet, die den Kreativitätsbegriff begleiten. So herrscht zum Beispiel die Meinung vor, dass möglichst divers zusammengesetzte Teams ein Garant für kreative Leistungen sind. Dies ist allerdings nicht der Fall. Diversität und Teamarbeit können sich unter bestimmten Umständen positiv auswirken, allerdings ist dies nicht zwangsläufig gegeben. Es bedarf ganz bestimmter Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, damit die Potenziale zum Tragen kommen. Gleiches gilt für besonders unkonventionell gestaltete Arbeitsumgebungen oder die Gewährung zeitlicher und organisatorischer Freiräume. Auch hier gibt es keinen Automatismus, der zu mehr Kreativität führt.

Das Buch versucht, den Kreativitätsdiskurs auf jene Aspekte zu lenken, die wesentlich dafür sind, dass Kreativität in Unternehmen tatsächlich entstehen und genutzt werden kann. In der Konsequenz bedeutet dies vor allem, dass Kreativität nicht einfach initiiert und dann sich selbst überlassen werden kann, sondern dass sie bewusst und nachhaltig gemanaged werden muss. Dies ist meiner Ansicht nach des Pudels Kern, wenn von Kreativitätsmanagement gesprochen wird. Dafür versucht dieses Buch einen Beitrag zu leisten, indem Kreativität aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Zunächst steht der einzelne Mensch im Fokus, und daraufhin dessen Einbindung in Arbeitsgruppen, -räume und -umgebungen, sowie Organisationen und Innovationssysteme. All diese Betrachtungsebenen werden miteinander verwoben, um ein möglichst umfassendes und vollständiges Bild von Kreativität zu erhalten.

Die Konzeption und Umsetzung des vorliegenden Buchs basieren auf meinen akademischen und beruflichen Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren in verschiedenen Organisationen sammeln konnte. Dazu gehören in chronologischer Reihenfolge insbesondere die Daimler AG in Mannheim, der Mitteldeutsche Rundfunk in Erfurt, das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik und die Friedrich-Schiller-Universität in Jena, die Bauhaus-Universität und das Gründerzentrum neudeli in Weimar, die V-Industry GmbH in Stuttgart sowie die Hochschule Mainz. Mein herzlicher Dank und meine besondere Anerkennung gebühren allen Personen, die mich mit Ideen und konzeptionellen Anregungen versorgt haben. Sie bilden das Fundament für dieses Buch.

Mein Dank gebührt dem Kohlhammer Verlag und insbesondere Herrn Dr. Uwe Fliegauf. Von ihm stammte der wesentliche Impuls, das Thema Kreativität und dessen zahlreiche Facetten ins Zentrum eines Buches zu stellen, das sich sowohl an Studierende als auch an Praktiker richtet. Die Zusammenarbeit mit ihm war sehr angenehm und durch das richtige Verhältnis von Freiräumen und Ansporn gekennzeichnet.

In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern davon abgesehen, sowohl die feminine als auch die maskuline Form nebeneinander zu verwenden. Vielmehr wurde das generische Maskulinum verwendet. Entsprechende Begriffe gelten grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keinerlei Wertung.

Für Anregungen zur Weiterentwicklung des Buches und damit auch des Kreativitäts- und Innovationsmanagements bin ich immer offen und außerordentlich dankbar. Kommentare und Kritik von Lesern sind unter [email protected] sehr willkommen.

 

Weimar und Mainz, Juni 2021

Oliver Mauroner

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

»Be Creative!«: Kreativität als ökonomischer Imperativ

1   Einführung zu Kreativität im Unternehmenskontext

1.1 Kreativität als Anforderung und Ressource

1.2 Kreativität als Wettbewerbsfaktor

1.3 Kreativität als Prozess

1.4 Kreativität als Gegenstand von Management

1.5 Literatur zu Kapitel 1

2   Grundbegriffe der Kreativität

2.1 Kreativität – Begriffe, Definitionen, Formen und Dimensionen

2.2 Imagination, Idee, Invention, Innovation

2.3 Komponenten und Prinzipien der Kreativität

2.4 Kreative Spannungsfelder

2.5 Prozessmodell der Kreativität

2.6 Literatur zu Kapitel 2

3   Kreativität und Mensch

3.1 Kreative Persönlichkeit und persönliche Kreativität

3.2 Kreativität und Intelligenz

3.3 Widersprüchlichkeit der kreativen Persönlichkeit

3.4 Kreative Denkstile: Konvergentes und divergentes Denken

3.5 T-Shaped People

3.6 Kreativität im Fokus der Neurowissenschaften

3.7 Messbarkeit von Kreativität

3.8 Literatur zu Kapitel 3

4   Kreativität und Arbeit

4.1 Merkmale der Arbeit und deren Wirkung auf die Kreativität

4.2 Stressoren und Kreativität

4.3 Arbeitszufriedenheit, Flow und Kreativität

4.4 Prototyping und Kreativität

4.5 Literatur zu Kapitel 4

5   Kreativität und Raum

5.1 Physische und soziale Räume für Kreativität

5.2 Bedeutung von Räumen im kreativen Prozess

5.3 Gestaltung von Kreativräumen

5.4 Kreativität im virtuellen Raum

5.5 Gegensätze der Gestaltung kreativer Arbeitswelten

5.6 Implikationen für die Gestaltung kreativitätsfördernder Arbeitsplätze

5.7 Literatur zu Kapitel 5

6   Kreativität und Organisation

6.1 Kreativitäts- und innovationsfördernde Organisations- strukturen

6.2 Kreativitäts- und innovationsfördernde Organisationskultur

6.3 Kreativitäts- und innovationsfördernde Führung

6.4 Kreative Teams

6.5 Faktoren der organisationalen Kreativität

6.6 Literatur zu Kapitel 6

7   Kreativität und Innovation

7.1 Strategisches Kreativitäts- und Innovationsmanagement

7.2 Der Kreativitäts- und Innovationsprozess in Unternehmen

7.3 Kreativität in der Frühphase eines Innovationsprozesses

7.4 Offenheit von Kreativitäts- und Innovationsprozessen

7.5 Implikationen für das Kreativitäts- und Innovations- management

7.6 Literatur zu Kapitel 7

»Go Beyond!«: Kreativität im Wandel

8   Kreativität und Design

8.1 Design als kreativer Werttreiber

8.2 Grundprinzipien von Design Thinking

8.3 Design Thinking-Prozess

8.4 Implikationen für die Nutzung von Design Thinking

8.5 Literatur zu Kapitel 8

9   Kreativität und künstliche Intelligenz

9.1 Künstliche Intelligenz, künstliche Kreativität und deren Grenzen

9.2 Anwendungen künstlicher Kreativität

9.3 Implikationen für den Einsatz von künstlicher Kreativität

9.4 Literatur zu Kapitel 9

10   Kreativität und Krise

10.1 Begriff, Eigenschaften und Wirkung von Krisen

10.2 Kreativität im Krisenprozess

10.3 Krisenfestigkeit und Kreativität

10.4 Implikationen für den kreativen Umgang mit Krisen

10.5 Literatur zu Kapitel 10

»Be Creative!«: Kreativität als ökonomischer Imperativ

Kreativität und die Auseinandersetzung mit ihr haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Jeder und jede ist aufgefordert, die eigenen kreativen Potenziale in den Beruf und das soziale und kulturelle Leben einzubringen. Es geht darum, die eigenen Lebens-, Alltags- und Arbeitssituationen zu verbessern, neue Ideen zu entwickeln und damit zur Veränderung beizutragen – Innovationen hervorzubringen. In diesem Sinne ist Kreativität zu einem ökonomischen und gesellschaftlichen Leitbild geworden und gilt vielen als der ultimative Erfolgsgarant. Unter den gegenwärtigen Herausforderungen eines sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs und angesichts all der zahlreiche offene Fragen, die durch die Digitalisierung, den demografischen Wandel und nationale und internationale Krisen entstehen, wird Kreativität zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor. Die gegenwärtigen Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft sind enorm: ein sich verschärfender internationaler Wettbewerb, fortschreitende Digitalisierung und Technisierung, gravierende demografische Veränderungen, sowie Krisen von nationaler und internationaler Tragweite. Vor diesem Hintergrund werden Kreativität und das Management von Kreativität und Innovation zu wesentlichen Erfolgsfaktoren für Unternehmen. Kreativität wird zum ökonomischen Imperativ.

Das vorliegende Buch ist zweigeteilt. Der erste Teil (»Be Creative!«) widmet sich den verschiedenen Facetten von Kreativität als organisationale Ressource und als Teil des Innovationsprozesses. In der Einführung wird Kreativität im unternehmerischen Kontext diskutiert und in Kapitel 2 werden die wesentlichen Grundbegriffe im Zusammenhang mit Kreativität, Idee und Innovation erläutert. In den folgenden fünf Kapiteln wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Begünstigung und das Management von Kreativität in Organisationen an verschiedenen Ebenen ansetzen müssen. Dies gilt insbesondere für die Ebenen der Einzelpersonen, der Teams und Arbeitsgruppen, der Arbeitsprozesse und -umgebungen, der Organisation sowie für die Interaktionen zwischen den genannten Ebenen. Aus diesem Grund befasst sich dieses Buch zunächst mit Kreativität auf individueller Ebene und betrachtet den Menschen, seine Fähigkeiten, Merkmale und Denkprozesse als Ausgangspunkte von Kreativität. Daraufhin werden arbeits- und organisationsbezogene Einflüsse auf Kreativität betrachtet, sowie die Wechselwirkungen von Kreativität und Raum besprochen. Schließlich wird Kreativität als Teil der Innovation betrachtet, wobei die Frühphase von Innovationsprozessen, das sogenannte Fuzzy-Front-End, im Fokus steht.

Im zweiten Teil (»Go Beyond!«) widmen sich drei ausgewählte Themenschwerpunkte der Tatsache, dass sich Kreativität in einem ständigen Prozess der Veränderung und des Wandels befindet. In diesem Sinne wird Kreativität nicht als statisches Konzept betrachtet, sondern einer fortwährenden Anpassung unterzogen. Dies betrifft z. B. die Wechselwirkungen zwischen Kreativität und Design, Kreativität und künstlicher Intelligenz sowie Kreativität und Krise. Gleichzeitig verändern sich dadurch auch die Anforderungen an ein zeitgemäßes Kreativitäts- und Innovationsmanagement. Abbildung 1 verdeutlicht den Aufbau des Buches.

Abb. 1: Aufbau des Buches

Das Buch verbindet aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und praxisbezogene Erfahrungen. Es dient dazu, Kreativität systematisch und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten. Das Buch beinhaltet praktische Empfehlungen und Anstöße für konkrete Veränderungen auf der Basis von Fallbeispielen, Best-Practice-Berichten und Erfahrungen im Umgang mit Kreativität als unternehmerischer Ressource. Entscheidend ist neben einem kreativen Klima und einer ausgeprägten Innovationskultur nämlich die unmittelbare Verstärkung kreativer Momente durch spezielle Techniken, Prinzipien und Prozesse.

1          Einführung zu Kreativität im Unternehmenskontext

Kreativität bezieht sich schon lange nicht mehr ausschließlich auf kulturelle oder künstlerische Erzeugnisse, sondern auch auf technische Erfindungen, wissenschaftliche Entdeckungen, wirtschaftliche Erfolge und soziale Lösungsansätze. Kreativität und kreative Leistungen im und außerhalb von Unternehmen dienen dazu, Marktanteile zu sichern, Kundenbedürfnisse besser zu befriedigen als bisher, neue Produkte zu entwickeln, sie schneller auf den Markt zu bringen, Prozesse zu optimieren und letztlich Innovationen zu generieren, die für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Gewinne sorgen. Insofern ist Kreativität zu einer der wichtigsten unternehmerischen Ressourcen geworden.

1.1       Kreativität als Anforderung und Ressource

Kreativität war nie knapper als heute, da sie zur Norm geworden ist. Wolfgang Ullrich (*1967), Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler und Autor

In sämtlichen Organisationen scheint der Bedarf an kreativen Mitarbeitern so groß wie nie zu sein. Fast jede Stellenanzeige beinhaltet die Forderung nach Kreativität – unabhängig von Branche und Position. Gleichzeitig rühmen sich Unternehmen, die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu bieten, um »die Kreativen« anzulocken und zu halten. Angela Merkel sprach 2006 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vom »kreativen Imperativ«, d. h. von der unbedingten Notwendigkeit für Unternehmen und andere Organisationen innovativ zu sein, um im Wettbewerb bestehen zu können.

Kreativität wird zu einer erfolgskritischen beruflichen Anforderung für eine Vielzahl von Stellen und Positionen. Problematisch dabei ist, dass Kreativität ebenso unscharf ist, wie andere Anforderungen, die an bestehende und neue Mitarbeiter gestellt werden und die in Stellenanzeigen artikuliert werden, wie z. B. Teamfähigkeit oder Leistungsbereitschaft. Diese Unschärfe lässt sich durch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Kreativitätsbegriff beheben.

Betrachtet man konkrete Berufsbilder und Tätigkeitsbeschreibungen etwas genauer, so wird deutlich, wann Kreativität besonders wichtig ist. Für bestimmte Tätigkeiten existieren Anforderungslisten, in denen auch Kreativität explizit berücksichtigt wird. Die derzeit führende Zusammenstellung von Tätigkeiten und ihren Anforderungen stellt das sogenannte »Dictionary of Occupational Titles« dar und wird vom U.S. Department of Labour veröffentlicht (O*Net). Die folgende Auswahl führt Berufe an, in denen gemäß des O*Net Kreativität zu den herausragenden Tätigkeitsanforderungen gehört (Schuler und Görlich 2007, 4).

•  Innovationsbezogene Berufe – z. B. Führungs- und Managementberufe, Unternehmer, Diplomaten, Organisatoren, Berater, Therapeuten.

•  Forschung und Entwicklung – z. B. Ingenieure, Produktentwickler, Wissenschaftler, Marktforscher, Stadtplaner, Ärzte.

•  Gestalterische Berufe – z. B. Designer, Architekten, Fotografen, Regisseure, Journalisten, Lehrer, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Maler.

Die Auflistung zeigt, dass Kreativität vor allem dann zu einer beruflichen Anforderung wird, wenn die Tätigkeit ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit und Autonomie zulässt und wenn sie darauf ausgerichtet ist, Produkte, Services oder Prozesse zu verbessern. Unternehmen können davon profitieren, die Kreativität ihrer Mitarbeiter zu fördern – sowohl durch eine gezielte Auswahl als auch Führung, Arbeitsgestaltung und Training.

Die Kreativität der eigenen Mitarbeiter nicht zu nutzen, könnte aus betriebswirtschaftlicher Perspektive sogar als »Verschwendung« betrachtet werden. Der Japaner Taiichi Ohno gilt als Mit-Erfinder des Toyota-Produktionssystems, der Kanban-Logik und des Managementkonzepts Kaizen. Ihm zufolge handelt es sich um einen Verlust an Zeit, Ideen und Verbesserungsansätzen sowie eine Verschwendung von Fähigkeiten und Erfahrungen, wenn Mitarbeiter nicht in den Verbesserungsprozess einbezogen werden (Ohno 2013, 93). Kreativität ist eine betriebliche Ressource, die es bestmöglich zu nutzen gilt.

1.2       Kreativität als Wettbewerbsfaktor

Eine Klage über die Schärfe des Wettbewerbs ist in Wirklichkeit nur eine Klage über den Mangel an Einfällen. Walter Rathenau (1867-1922), Politiker, Schriftsteller und Industrieller

Wettbewerbsvorteile von Unternehmen basieren immer stärker darauf, mit den »besten Köpfen« zu arbeiten und nicht mehr vorwiegend auf einer hohen physischen Leistungsfähigkeit und hervorragenden Produktionsfaktoren (Rohstoffe, Energie, Grund, Kapital). Dieter Zetsche, ehemaliger CEO der Daimler AG, hat nicht etwa die eigene Infrastruktur und modernste Produktionstechnologien als wichtigste Ressourcen des Unternehmens bezeichnet, sondern Kreativität und Unternehmenskultur. Bei allen Fortschritten in den Bereichen der Automatisierung und der künstlichen Intelligenz scheint Kreativität jene Fähigkeit zu sein, in denen Menschen den Maschinen überlegen sind und auf absehbare Zeit auch bleiben werden. Nicht zuletzt dies erklärt die enorme Bedeutung von Kreativität. Schulen und Bildungsträger versuchen, den Erfordernissen von Wirtschaft und Politik nachzukommen und Kreativität möglichst früh und in vielfältiger Weise zu entdecken und zu fördern. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob die Diskussion um Kreativität nicht nur ein Hype ist, sondern ob damit tatsächlich nachhaltige Veränderungen in Wirtschaft, Unternehmen und Gesellschaft einhergehen müssen und können.

Fakt ist, dass Innovationen stets mit kreativen Ideen von Menschen beginnen, die schöpferisch tätig werden. Kreativität kann nämlich als Schaffenskraft übersetzt werden – abgeleitet vom Lateinischen creare (erschaffen, hervorbringen) und vis (Kraft, Stärke). Allgemein werden mit Kreativität die »schöpferische Begabung« und die »schöpferische Tätigkeit« verbunden – als Umschreibung für kreatives Denken und Handeln (Hentig 2000). Diese Schöpfungen sind z. B. Ideen, wie technische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Probleme auf neuartige Weise bewältigt werden können oder Ideen, wie aus neuen Technologien marktfähige Produkte und Anwendungen generiert werden können oder schließlich Ideen, wie für bestehende Produkte neue Kundengruppen, Märkte und Vertriebswege erschlossen werden können. Kreativität ist damit Ausgangspunkt für wertschaffende Problemlösungen, für die Einführung neuer Produkte oder Dienstleistungen und letztlich für jede Art von Innovation in Wirtschaft und Gesellschaft (Amabile 1996). Kreativität wird damit unmittelbar zu einem Wettbewerbsfaktor für Unternehmen.

1.3       Kreativität als Prozess

Der beste Weg, gute Ideen zu erhalten, besteht darin, möglichst viele Ideen zu entwickeln. Linus Pauling (1901-1994), Nobelpreisträger für Chemie und Friedensnobelpreisträger

Kreativität wird häufig als Heureka-Moment verstanden bzw. mit einem solchen mystischen Augenblick gleichgesetzt. Damit ist gemeint, dass Kreativität ganz unvermittelt und spontan auftritt, in der Form, dass ein Mensch schlagartig von einem Geistesblitz getroffen wird und im Zuge dessen eine erleuchtende Eingebung hat, durch die sich ein vorhandenes Problem in Luft auflöst.

Der Ausspruch Heureka! (»Ich hab’s gefunden!«) geht auf den griechischen Mathematiker Archimedes zurück. Der Erzählung nach soll dieser das nach ihm benannte Archimedische Prinzip beim Baden entdeckt haben. Nach diesem Prinzip ist der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium genauso groß wie die Gewichtskraft Mediums, das vom Körper verdrängt wird. Archimedes soll den Auftrag erhalten haben, den Goldgehalt einer Krone zu bestimmen, ohne diese zu beschädigen, da der König den Goldschmied verdächtigte, ihn betrogen zu haben. Archimedes grübelte zunächst über die Aufgabe, kam aber zu keiner Lösung und widmete sich daher anderen Tätigkeiten. Als er zum Baden in einen randvollen Wasserbehälter stieg, lief eine bestimmte Wassermenge aus der Wanne, die er mit seinem Körpervolumen verdrängte. Daraufhin rief er »Heureka!« und rannte freudig – und splitternackt – auf die Straße. Er kam auf den Gedanken, dass sich aus dem Zusammenhang von Gewicht und Wasserverdrängung die Dichte und damit der Goldgehalt der Krone bestimmen lassen sollte. Taucht man also die Krone und einen exakt gleich schweren Goldbarren in einen Wasserbehälter, so müsste die Wasserverdrängung ebenfalls identisch sein.

Wenngleich es sich bei dieser Geschichte sehr wahrscheinlich um eine Legende handelt, macht die Erzählung zwei Aspekte deutlich. Einerseits kommen kreative Eingebungen oft ganz unvermittelt und andererseits basieren sie auf einem umfangreichen Experten- und Vorwissen, das diese Eingebungen erst ermöglicht. Auch in der Wirtschaft werden kreative Ideen oft auf besondere Momente zurückgeführt, wie die folgende Geschichte des langjährigen CEO von Starbucks Howard Schultz verdeutlichen soll, die von Goleman et al. (1999, 23) folgendermaßen erzählt wird: »An einem sehr sonnigen Frühlingsmorgen des Jahres 1983 tritt ein amerikanischer Geschäftsmann aus einem Hotel in Mailand. Eigentlich will er sich ein wenig die Stadt ansehen und anschließend die Haushaltswarenmesse besuchen, für die er eigens aus den USA angereist ist. Doch gleich um die Ecke entdeckt er eine Espresso-Bar. Neugierig geht er hinein. Er sieht den freundlichen Barmann, hört das Dampfgeräusch der Espresso-Maschine, spürt das Porzellan der kleinen Tassen, schmeckt die Wärme und das Aroma des frisch gemahlenen Kaffees.« Dieser Moment soll Howard Schultz die entscheidende Inspiration für Starbucks als weltumspannende amerikanische Kaffeehauskette geliefert haben.

Howard Schultz mag diesen Moment tatsächlich erlebt haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er vorher Marketing und Kommunikation studierte, im Vertrieb des Unternehmens Xerox arbeitete und später einige Jahre für die Firma Hammarplast, einen Hersteller von Haushaltsgeräten. Bereits vor seinem Heureka-Moment wechselte er zum Unternehmen Starbucks, das damals Kaffeebohnen und hochwertige Kaffeemaschinen verkaufte. Schultz verfolgt die Idee, Kaffee als Getränk anzubieten zunächst in einem eigenen Unternehmen und kehrte einige Jahre (1987) später als Eigentümer zu Starbucks zurück.

Die beiden Beispiele zeigen, dass der Moment der kreativen Eingebung existieren mag und oft tatsächlich einen Wendepunkt darstellen kann. Der Moment ist aber in aller Regel in einen größeren kreativen Prozess eingebunden. Kreativität ist also nicht bloß als ein Zeitpunkt, sondern vielmehr als ein Prozess zu verstehen. Aus dieser Prozessperspektive muss Kreativität als eine Abfolge von Denk- und Verarbeitungsschritten (Csíkszentmihályi 1996; Sternberg und Lubart 1999) verstanden werden, in denen Rohmaterialien in Form von Erfahrungen, Wissen, Gedanken und Informationen genutzt und daraus neue Ideen generiert werden. Kreativität ist also die menschliche Fähigkeit, bestehendes Wissen und Informationen zu kombinieren, um sich einen gewünschten Zustand zu erdenken – und daraus die Motivation zu generieren, die Idee über die Initialphase hinaus zu einer nutzenstiftenden Innovation weiterzuentwickeln.

1.4       Kreativität als Gegenstand von Management

Die Bedeutung von Kreativität als unternehmerische Ressource ist unstrittig. Daraus erwächst aber auch die Notwendigkeit, die Verfügbarkeit und den Einsatz von Kreativität als Ressource gezielt zu organisieren und zu steuern. Daraus resultiert der folgende Grundsatz, der für viele Unternehmen bei all der Wertschätzung für Kreativität nicht selbstverständlich ist, es aber umso mehr sein sollte: Kreativität darf nicht sich selbst überlassen werden, Kreativität sollte durch das Management gesteuert werden.

Das Management von Kreativität und die betriebliche Anwendung der Erkenntnisse der Kreativitätsforschung sind äußerst vielfältig. Dies durchzieht alle Lebensphasen, Wertschöpfungsstufen und Funktionsbereiche eines Unternehmens. Exemplarisch sind im Folgenden einige besonders relevante Anwendungsbereiche von Kreativitätsmanagement genannt (Schuler und Görlich 2007, 3):

•  Auswahl von potenziellen Mitarbeitern mit hohem Kreativitätspotenzial,

•  Identifikation und Weiterentwicklung von bestehenden Mitarbeitern mit hohem Kreativitätspotenzial,

•  Bedarfsgerechte Zuordnung von Aufgaben, Personen und Phasen des kreativen Prozesses,

•  Förderung von Kreativität durch Trainings- und Bildungsmaßnahmen,

•  Förderung von Kreativität durch die Gestaltung von Arbeitsumfeld und Arbeitstätigkeit,

•  Förderung von Kreativität durch Führung, Interaktion und Kommunikation,

•  Gestaltung einer innovations- und kreativitätsfördernden Unternehmenskultur und entsprechender Strukturen und Freiräume,

•  Auswahl, Entwicklung und Einsatz von bedarfsgerechten Kreativitätstechniken,

•  Förderung des kreativen Potenzials von Intrapreneuren und Entrepreneuren.

Das vorliegende Buch nimmt die genannten Aspekte des Kreativitätsmanagements in den Fokus. Es richtet sich an Praktiker, Führungskräfte, Akademiker, Studierende und an all jene, die an einem Klima der Kreativität und einer Kultur der Innovation innerhalb von Organisationen mitwirken. Ihnen soll dieses Buch sowohl ein tieferes Verständnis von Kreativität auf verschiedenen Ebenen liefern als auch Handlungsempfehlungen für mehr Kreativität in ihren Organisationen mit auf den Weg geben.

1.5       Literatur zu Kapitel 1

Amabile, T.M. (1996): Creativity in context, Westview Press, Boulder.

Csíkszentmihályi, M. (1996): Flow and the psychology of discovery and invention, Harper Collins, New York.

Goleman, D.; Kaufman, P.; Ray, M. (1999): Kreativität entdecken, Deutscher Taschenbuch Verlag, München.

Hentig, H.v. (2000): Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Beltz, München.

Ohno, T. (2013): Das Toyota Produktionssystem, 3. Auflage, Campus Verlag, Frankfurt.

Schuler, H.; Görlich, Y. (2007): Kreativität, Hogrefe-Verlag, Göttingen.

Sternberg, R.J.; Lubart, T.I. (1999). The concept of creativity: Prospects and paradigms, in: Sternberg, R.J. (Hrsg.): Handbook of creativity, Cambridge University Press, Cambridge, S.3-15.

2          Grundbegriffe der Kreativität

Creativity is the process of having original ideas which have value. Sir Ken Robinson (*1950), Autor und Berater in Gesellschaftsentwicklung

2.1       Kreativität – Begriffe, Definitionen, Formen und Dimensionen

Kreativität und Invention, Idee und Innovation – für diese und weitere relevante Begriffe im Kontext des Kreativitäts- und Innovationsmanagements existieren unterschiedliche und sich zum Teil überschneidende Auffassungen und Definitionen. Dabei ist ein klares Verständnis von Kreativität und verwandter Begriffe wichtig, um sie in einer Organisation glaubhaft und nachhaltig entwickeln zu können. Führungskräfte sind daher dazu aufgefordert, in ihren jeweiligen Einheiten, Betrieben und Organisationen für klare und einheitliche Definitionen und damit für ein gemeinsames Verständnis zu sorgen (Rütten 2015). Aus diesem Grund werden im Folgenden die wesentlichen Begriffe Kreativität, Idee, Invention, Innovation und deren Zusammenhänge skizziert.

Menschliche Kreativität ist der Ausgangspunkt von Innovation. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit, verschiedene Informationen zu kombinieren, um sich einen gewünschten Zustand zu erdenken. Kreativität wird oft als die Fähigkeit einer Person beschrieben, »neue Ideen und Produkte hervorzubringen, die den Umständen, unter denen sie geschaffen werden, angemessen sind« (Gerring und Zimbardo 2008). Theresa Amabile, eine der führenden Kreativitätsforscherinnen hat Kreativität als die »Produktion neuartiger und angemessener Ideen« bezeichnet, die in jedem Bereich menschlichen Denkens und Handelns vorkommen kann (Amabile 1997). In der folgenden Übersicht findet sich eine Zusammenstellung ausgewählter Definitionen von Kreativität (Tab. 1).

Eine Idee – als Ergebnis eines kreativen Prozesses – bezeichnet einen strukturiert gefassten Gedanken, der spontan oder ganz zielgerichtet entsteht. Nach Vahs und Brem (2013) muss eine Idee nicht materialisiert oder formalisiert sein, sondern entwickelt sich in ihrem Bestehen kontinuierlich fort. Eine Idee kann daher auch als gedanklicher Entwurf verstanden werden, der im weiteren Verlauf zu einer Erfindung oder einer sonstigen Schöpfung führt. Erst durch die Weiterentwicklung der Idee entstehen Lösungen oder Neuerungen, die dann wiederum als Inventionen bzw. Innovationen bezeichnet werden.

Tab. 1: Ausgewählte Definitionen von Kreativität

Autor(en)Verständnis von Kreativität

Anhand der ausgewählten Definitionen von Kreativität wird die Ambiguität des Begriffs deutlich. Die meisten Kreativitätsforscher sehen zwei Bedingungen als ausschlaggebend dafür an, von einer kreativen Leistung in Form eines Produkts, einer Idee oder einer Prozedur zu sprechen (Amabile 1997; Oldham und Cummings 1996), nämlich deren Neuartigkeit und deren Nützlichkeit:

•  Neuartigkeit: Die Ideen müssen neuartig und originell sein, d. h. sie sind abweichend von dem, was bisher in dem entsprechenden Bereich getan worden ist. Neuartigkeit wird nicht nur dann angenommen, wenn die Idee komplett neue Merkmale oder Materialien beinhaltet, d. h. etwas »noch nie Dagewesenes« repräsentiert, sondern sie wird auch dann angenommen, wenn es sich um eine bedeutsame Neukonfiguration bereits existierender Merkmale oder Materialien handelt.

•  Nützlichkeit: Die Ideen müssen angemessen sein, d. h. sie müssen potenziell relevant und nützlich für eine Organisation sein bzw. für die Lösung eines Problems oder für eine Gelegenheit innerhalb einer bestimmten Domäne oder eines Anwendungsgebietes genutzt werden können.

Unter Kreativität werden demzufolge Ideen und Lösungswege oder ganz allgemein schöpferische Leistungen verstanden, die neuartig, innovativ, problemsensitiv, originell und ungewöhnlich, aber gleichzeitig auch praktikabel und nicht zu umständlich sind und einen sinnvollen Bezug zur Lösung technischer, menschlicher, wirtschaftlicher oder sozialer Probleme aufweisen. Diese Auffassung von Kreativität fokussiert auf ein kreatives Produkt bzw. auf einen kreativen Zustand als Ergebnis eines Prozesses.

Kreative Erzeugnisse können sehr unterschiedlich sein. Es kann sich z. B. um Verbesserungen handeln, die die Produktivität in Betrieben steigern, um Patente und wissenschaftliche Leistungen oder um künstlerische Arbeiten. Derartige kreative Leistungen fallen dadurch auf, dass sie materialisiert und oft dauerhaft erkennbar und individuell zurechenbar sind (Schuler und Görlich 2007). Kreativität kann sich aber auch in kleinen Alltagslösungen zeigen, die einfach dadurch entstehen, dass Menschen ihren Verstand auf eine unkonventionelle Weise benutzen. Dadurch wird Kreativität zu einem natürlichen Bestandteil des privaten sowie des beruflichen Lebens.

Ein zunächst naheliegender Versuch der Kategorisierung von Kreativität unterscheidet ebenda zwischen kleinen und großen kreativen Leistungen. Auch der Wissenschaftler Mihály Csíkszentmihályi (1996) unterscheidet explizit zwischen einer » kleinen Kreativität« des Alltags und der » großen Kreativität«, die das Potenzial hat ein bestimmtes Gebiet (z. B. die Physik, Kunst oder Architektur) nachhaltig zu verändern. »Kleine« kreative Produkte sind dann z. B. eine besonders ausgefallene Dekoration oder eine originelle Lösung für ein handwerkliches Problem. Währenddessen können große – paradigmatische – kreative Leistungen zu einem neuen Verständnis manchmal altbekannter Dinge führen und damit zu neuen Überzeugungen und Denkrichtungen. Bildlich gesprochen würde der Linux-Entwickler Linus Torvalds den einen Prototypen repräsentieren und ein Informatikstudent, der seine ersten Programmierübungen macht, das andere Extrem.

Ähnlich gehen Mumford und Gustafson (1988) vor, wenn sie nach Arten bzw. Ausdrucksformen kreativer Leistungen unterscheiden und dabei zwischen »major« und »minor creative contributions« differenzieren:

•  Major creative contributions: Kreative Leistungen von großer Originalität, die zur Lösung einer Vielfalt von Problemen beitragen und denen häufig die Reorganisation kognitiver Strukturen zugrunde liegt.

•  Minor creative contributions: Kreative Leistungen, die Verbesserungen oder Ausweitungen des Bestehenden repräsentieren und die zu begrenzten, aber nützlichen Problemlösungen beitragen. Diese geringwertigeren Beiträge basieren typischerweise nicht auf der Reorganisation, sondern auf der Anwendung existierenden Wissens.

Diese Dichotomisierung von Kreativität erscheint allerdings nur auf den ersten Blick praktikabel, denn auf den zweiten Blick wäre dies so als würde man die Menschen in zwei recht ungleich verteilte Gruppen einteilen, jene die größer, und jene die kleiner als zwei Meter sind (Schuler und Görlich 2007). Damit würden über 99% der Bevölkerung in eine der beiden Gruppen fallen. In der betrieblichen Praxis erscheint eine derartige Zweiteilung nicht zweckmäßig, um z. B. die Leistungen von Mitarbeitern oder Teams einzuschätzen.

Über das Begriffspaar minor/ major hinaus haben Wissenschaftler verschiedene weitere Klassifikationen kreativer Leistungen entwickelt, um der Unschärfe des Kreativitätsbegriffs zu begegnen. Kreative Produkte können nach dem Ausmaß des kreativen Beitrags, nach dem dadurch entstehenden Nutzen oder nach der Zahl und Vielfalt ihrer Anwendungsmöglichkeiten klassifiziert werden. Eine sehr prominente Einteilung wird von Paul Torrance (1988) geliefert, der zwischen fünf Arten und Ausdrucksformen kreativer Leistungen unterscheidet (Schuler und Görlich 2007):

1.  Ausdruckskreativität, die z. B. in Kinderzeichnungen zu finden ist.

2.  Produktive Kreativität, die z. B. Kunstwerken oder wissenschaftlichen Arbeiten zugeschreiben wird.

3.  Erfinderische Kreativität, die z. B. technische Neuheiten betrifft.

4.  Innovative Kreativität, die z. B. neue gedankliche Konzepte behandelt.

5.  Emergenative (herausragende) Kreativität, die völlig neue Prinzipien umfasst, auf deren Basis eigenständige Bewegungen entstehen können.

Diese Einteilung ist wesentlich feiner als die vorher angeführte Dichotomisierung. Dennoch zeigt auch sie einige Defizite, da im betrieblichen Alltag zumeist nur die mittleren drei Ausdrucksformen relevant sind. Die niedrigste Stufe der Ausdruckskreativität spielt keine Rolle und die höchste Stufe der emergenativen Kreativität kommt nur sehr selten wirklich vor. Damit ist auch diese Einteilung etwas oberflächlich.

Eine interessante Möglichkeit, kreative Produkte bzw. Leistungen zu kategorisieren und dadurch besser zu verstehen, besteht in der kombinierten Betrachtung von zwei Dimensionen, nämlich von Originalität und Wirkung (Gunkel 2010). Dabei lehnt sich die Originalitätsdimension an die Niveau-Unterscheidung von Mumford und Gustafson (1988) an. Geringe Originalitätsniveaus (minor) sind dadurch gekennzeichnet, dass etwas Bestehendes verbessert oder etwas Bekanntes ausgeweitet wird. Dabei sind die Ziele und Erwartungen wohldefiniert, aber keineswegs außergewöhnlich. Hohe Originalitätsniveaus (major) dagegen zeichnen sich dadurch aus, dass etwas völlig Neues entstehen kann. Durch das Fehlen von festdefinierten Zielvorgaben und Kenntnisstrukturen können uneindeutige, risikobehaftete und offene Situationen sowie eine Kultur der Vielfalt entstehen (Schuler und Görlich 2007, 9).

Die Wirkungsdimension beschreibt ebenfalls ein Spektrum zwischen zwei Extremen. Das eine Ende wird durch äußerst geringfügige Effekte beschrieben, während das andere Extrem umwälzende, revolutionäre Effekte umfasst. Die meisten Autoren sprechen dabei nicht explizit von »Nutzen«, sondern vielmehr von Wirkung bzw. von Effekten, da diese sowohl von positiver als auch von negativer Natur sein können. So ist sicherlich unstrittig, dass die Nutzung von Kernspaltung oder Gentechnik enorme Effekte hat, ob dies nun positiv oder negativ ist, wird von verschiedenen Betrachtern jedoch sehr unterschiedlich bewertet. Wenn nun in beiden Dimensionen eine hohe Ausprägung vorliegt, handelt es sich um kreative Leistungen, die einerseits sehr originell sind und andererseits das Leben der Menschen auf vielfältige Weise verändern können (Abb. 2).

Abb. 2: Originalität und Anwendungswirkung als Grundmerkmale kreativer Leistungen

Neben der produkt- bzw. ergebnisbezogenen Auffassung von Kreativität kann Kreativität aber auch viel stärker als Prozess betrachtet werden, innerhalb dessen Rohmaterialien wie Wissen, Informationen und Gedanken zu Ideen verarbeitet werden (Sternberg und Lubart 1999). Auf diese Prozessperspektive und die einzelnen Phasen eines solchen Prozesses wird in Kapitel 2.3 explizit eingegangen.

2.2       Imagination, Idee, Invention, Innovation

Albert Einstein wird häufig mit dem folgenden Satz zitiert: »Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.« Auch wenn dieses Zitat häufig aus dem Entstehungskontext gerissen oder dazu genutzt wird, fehlendes Wissen zu entschuldigen, unterstreicht es doch die Bedeutung der Phantasie innerhalb des kreativen Prozesses. Einstein hat mit seinem Ausspruch dafür plädiert, seiner eigenen Vorstellungskraft und Intuition zu vertrauen. Im Original von 1931 wird Einstein folgendermaßen zitiert: »At times I feel certain I am right while not knowing the reason. When the eclipse of 1919 confirmed my intuition, I was not in the least surprised. In fact, I would have been astonished had it turned out otherwise. Imagination is more important than knowledge. For knowledge is limited, whereas imagination embraces the entire world, stimulating progress, giving birth to evolution. It is, strictly speaking, a real factor in scientific research.« In seiner Vollständigkeit unterstreicht dieses Zitat die Bedeutung der menschlichen Imagination, Phantasie und Vorstellungskraft für die Entstehung von Kreativität.

Kreativitätsforscher haben diesen Aspekt aufgegriffen und argumentieren, dass Imagination als Grundvoraussetzung für Kreativität und diese wiederum als Vorbedingung für Innovation angesehen werden kann (Robinson, 2011; Samli 2011). Robinson (2011, 141) beschreibt Imagination als Quelle der Kreativität und als die Fähigkeit, das »Hier und Jetzt« zu verlassen und im Geiste Dinge zu erschaffen, die für die Sinne nicht präsent sind. Kreativität ist also »angewandte Imagination«.

Inventionen oder auch Erfindungen sind eine Vorstufe der Innovation (Vahs und Brem 2013). Die Invention bezieht sich auf den Prozess der Generierung und der erstmaligen Umsetzung einer neuen Idee. Sie kann sowohl zufällig als auch ganz bewusst erfolgen, wenn sie bestimmte, vorher festgelegte Ziele erfüllt. An dieser Stelle wird der Zusammenhang zwischen Kreativität und ihrer Entstehungsdomäne deutlich, d. h. der Beziehung zwischen kreativen Ideen und einer bestimmten Branche bzw. Technologiedisziplin sowie den dort bereits existierenden Lösungen. Nach Ansicht vieler Wissenschaftler lässt sich Kreativität daher nicht unabhängig vom Kontext bestimmen und ist keine inhärente Qualität einer Leistung. Ford (1996, 1115) beschreibt Kreativität als »domain-specific, subjective judgement of the novelty and value of an outcome of a particular action«. Die Beurteilung bestimmter Leistungen hinsichtlich ihrer Originalität, ihres Wertes und ihrer Angemessenheit erfolgt demzufolge nicht unabhängig von der Entstehungsdomäne und ist abhängig von Zeit und Raum. Das Beispiel der Quantentheorie mag dies erläutern, deren Grundlagen vor hundert Jahren gelegt worden sind, während die ersten tatsächlichen Anwendungen erst in jüngster Zeit entwickelt wurden.

Abb. 3: Fließende Abgrenzung von kreativer Idee, Invention und Innovation

An dieser Stelle wird der fließende Übergang zwischen einer kreativen Idee, die originell und potenziell wertschaffend ist, einer Invention und einer Innovation deutlich (Abb. 3). Bei Kreativität handelt es sich um eine originelle und wertschaffende Leistung, die vor allem der individuellen Ebene zugeschrieben wird. Der Begriff der Innovation beschreibt üblicherweise eine erfolgreiche – zumeist ökonomische – Implementierung und Verwertung von Ideen und Inventionen, die auf einer organisationalen Ebene erfolgen. Die Wissenschaftler Gemünden und Salomo (2004) bezeichnen eine Innovation als das Resultat eines »kreativen Prozesses von verschiedenen Akteuren aus einer oder mehreren Organisationen, der zu einer qualitativ-neuartigen Zweck-Mittel-Kombination führt, die von einer Organisation erstmalig auf dem Markt oder im Betrieb (Produktion oder Administration) eingeführt wird«. Damit wird die Verbindung von Kreativität und Innovation deutlich. Während Kreativität die Generierung von Ideen beschreibt, ist die Innovation auf den weiteren Prozess der Implementierung der kreativen Ideen fokussiert. Nach einer engen Auslegung umfasst die Innovation die Einführung, nach einer weiten Auslegung nicht nur die Einführung, sondern vor allem die Bewährung eines neuen Produktes, neuen Prozesses oder einer neuen Leistung am Markt (Vahs und Brem 2013).

Der Innovationsbegriff selbst ist keineswegs eindeutig und unumstritten. Hauschildt und Salomo (2007) zeigen dies mit der Unterscheidung mehrerer Bedeutungsdimensionen der Innovation auf. Ihnen zufolge sollte eine Innovation stets im Hinblick auf ihre Bedeutungsdimensionen betrachtet werden:

•  Die inhaltliche Dimension fragt danach, was »neu« eigentlich bedeutet bzw. worauf sich eine Neuerung bezieht.

•  Die Intensitätsdimension fragt nach dem Ausmaß der Neuigkeit, also danach, wie neu etwas ist.

•  Die subjektive Dimension fragt danach, für wen etwas neu ist.

•  Die prozessuale Dimension stellt die Frage, wo eine Neuerung beginnt und wo sie endet.

•  Die normative Dimension schließlich geht darauf ein, ob eine Neuerung gut oder schlecht ist, im Sinne eines Erfolges, der z. B. wirtschaftlicher oder sozialer Natur sein kann.

Innovationen können anhand spezifischer Merkmale genauer charakterisiert werden. Der Schweizer Innovationsforscher Norbert Thom hat die folgenden vier Innovationsmerkmale und deren Beziehungen zueinander empirisch untersucht (Thom 1980, 390): Neuheitsgrad, Unsicherheit, Komplexität und Konfliktgehalt (Abb. 4). Dieses grundlegende Modell zur Beschreibung von Innovationen wird von der gegenwärtigen Forschung nach wie vor aufgegriffen (Vahs und Brem 2013, 31-37).

•  Der Neuheitsgrad wird als das konstitutive Merkmal einer Innovation angesehen. Er beschreibt, inwieweit eine Problemlösung über den bisherigen Erkenntnis- und Erfahrungsstand hinausgeht. Dies kann aus der Perspektive des Unternehmens selbst oder größerer Einheiten erfolgen, z. B. des Marktes, einer Region oder der Welt. Das Spektrum des Neuheitsgrades reicht demzufolge von Weltneuheiten bis hin zu Prozess- oder Kostenverbesserungen.

•  Unsicherheit beschreibt eine Situation, in der nur begrenzt auf Erfahrungen zurückgegriffen werden kann und in der für den Eintritt der relevanten Ereignisse weder subjektive noch objektive Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können. Unsicherheit kann externe und interne Ursachen haben und z. B. hinsichtlich der benötigten Zeit, des vorgesehenen Materialeinsatzes, der entstehenden Kosten oder der zu erwartenden Kundenreaktionen bestehen.

•  Komplexität kann als Überschaubarkeit aufgefasst werden, die sich aus der Anzahl der Elemente, deren Verschiedenartigkeit und deren Beziehungen zueinander ergibt. Komplexität beinhaltet demnach den Aspekt der Dynamik, d. h. der schnellen zeitlichen Veränderung, z. B. von Technologien oder Gesetzen, sowie den Aspekt der Kompliziertheit, d. h. der Vielzahl, Vielfalt und Vernetzung von relevanten Sachverhalten, z. B. der Einbeziehung verschiedener Geschäftsbereiche oder einer Vielzahl an Varianten.

•  Konfliktsituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene, miteinander unvereinbare Handlungstendenzen von Personen bzw. Zustände von Objekten vorliegen. Dies können z. B. intra- oder interpersonelle Konflikte sein, wie z. B. unterschiedliche Erwartungen verschiedener Interessensgruppen, sowie Konflikte mit bestehenden Standards oder Moralvorstellungen.

Abb. 4: Innovationsmerkmale und ihre Beziehungen zueinander (eigene Darstellung in Anlehnung an Thom 1980, S. 390)

Die dargestellten Merkmale sind deshalb so wichtig, weil sie unmittelbar die Anforderungen an das Management von Innovationen beeinflussen. Im Laufe von Innovationsprojekten treten die Merkmale an den unterschiedlichsten Stellen zutage, häufig unerwartet und oft auch in Kombination miteinander. Interessant sind vor allem die zum Teil mehrstufigen Beziehungen der Merkmale untereinander, so resultiert typischerweise aus einem hohen Neuheitsgrad oder aus einer hohen Komplexität auch ein gewisses Maß an Unsicherheit. In der Folge führt dies zu einem erhöhten Konfliktgehalt in den verschiedenen Phasen des Innovationsprozesses.

Im Hinblick auf das Kreativitätsmanagement und auf die Bedeutung von Kreativität für das Management von Innovationen ist Thoms (1980) grundlegendes Modell zur Charakterisierung von Innovationen immer noch von Bedeutung. Die Kenntnis der Innovationsmerkmale beeinflusst sowohl die organisationale Innovation als auch die individuelle Kreativität. Entscheidend ist es, sich der Merkmale bewusst zu sein und ihnen konstruktiv zu begegnen, z. B. mit Hilfe von Denkwerkzeugen oder Prozessmodellen.

Konkret gesagt, gilt es für Unternehmen, Komplexität und Unsicherheit nicht zwangsläufig zu vermeiden oder zu reduzieren, sondern sie zuzulassen und entsprechend zu managen. Innovationen sind per se von Komplexität und Unsicherheit geprägt, da durch den Neuheitsgrad nicht alle Aspekte kalkulierbar sind und manches schlichtweg zufällig erfolgt. Diesen nicht vorhersehbaren Teil gilt es angemessen zu berücksichtigen, wofür ein gewisses Maß an Prozess- und Entscheidungsflexibilität erforderlich ist. Zwei weitere Aspekte sind bei der Betrachtung von Komplexität und Innovation von Bedeutung: der Querschnitts- und der Prozesscharakter. Zum einen haben Innovationen häufig einen Querschnittscharakter und entstehen an den Schnittstellen von verschiedenen Abteilungen, Funktionsbereichen oder gar Disziplinen. Auch die wechselseitigen Beziehungen zum Umfeld, erhöhen den Grad an Komplexität – z. B. der Austausch mit Kunden, Lieferanten, Gesetzgebern oder Forschungseinrichtungen. Zum anderen laufen Innovationen und Innovationsprozesse typischerweise nicht linear ab, sondern sind geprägt von Schleifen und Rückkopplungen, welche die Komplexität erhöhen und damit naturgemäß eine Steuerung erschweren. Unsicherheit und Komplexität beziehen sich dabei sowohl auf den Prozess selbst, d. h. die einzelnen Schritte des Innovierens, als auch auf den Ausgangspunkt, d. h. das Erkennen eines Problems. Gerade für solche schlecht definierten Aufgaben – ill-defined problems, wicked problems – sind Kreativität und kreatives Denkvermögen extrem wichtig. Die Hintergründe von schlecht definierten, verzwickten Problemstellungen werden in Kapitel 8.2 genauer erläutert (Adams 2005, 51). Entscheidend ist, dass die daraus resultierende Komplexität ein immanentes Wesensmerkmal von Innovation darstellt und der Umgang damit einen wesentlichen Aspekt des Kreativitätsmanagements in Unternehmen bildet. Dabei geht es sowohl um technische Komplexität als auch um Komplexität in einem weiterführenden Sinn, z. B. um die Frage, inwiefern für Innovationen neue Organisationsstrukturen und kulturelle Veränderungen erforderlich sind.

Neben dem Umgang mit Komplexität und Unsicherheit ist auch das Konfliktbewusstsein überaus bedeutend für erfolgreich gestaltete kreative Prozesse in Organisationen. Dies sollen Beispiele für Konfliktsituationen verdeutlichen.

•  Konflikt zwischen Innovation und Unternehmensphilosophie: Ein Sportwagenhersteller erkennt, dass seine Kunden zunehmend ein ökologisches Bewusstsein entwickeln und dass sich das Nachfrageverhalten unzweifelhaft verändern wird. Aus diesem Grunde befasst er sich mit der Entwicklung kraftstoffsparender Automobile und Elektrofahrzeuge, was zu Konflikten mit dem Unternehmensimage und der eigenen Historie führen könnte.

•  Konflikt zwischen Innovation und vorhandenen Produkten: Ein Leuchtmittelhersteller hat jahrzehntelang hohe Renditen mit klassischen 60-Watt-Glühbirnen erwirtschaftet. Intern hat er die Entwicklung von sparsamen LED-Leuchtmitteln vorangetrieben, die in direkter Konkurrenz zu konventionellen Glühbirnen stehen und diese letztlich vom Markt verdrängen. Hier liegt ein für viele Unternehmen typischer Konflikt zwischen einer sehr margenstarken und ertragreichen Sparte und einer zukunftsweisenden aber noch risikobehafteten Sparte vor.

•  Konflikt zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen: Der F&E-Leiter eines Unternehmens möchte seinen Mitarbeitern größtmögliche Freiheiten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einräumen und gewährt ihnen einen 24-Stunden-Zugang zu sämtlichen Gebäuden. Andere Bereiche des Unternehmens sehen dies äußerst kritisch, da für sie Arbeitsschutz, Rechtssicherheit und Kontrolle an erster Stelle stehen.

Konflikte können auch dadurch entstehen, dass Menschen ihrer Zeit und den Gepflogenheiten in ihrer Branche voraus sind. Feldman (2009) beschreibt dies so, dass sie im Verhältnis zu ihrer Domäne eine Asynchronität aufweisen (»creative people often encounter a significant asynchrony between mind and domain«). Sie erleben einen Konflikt dadurch, dass ihre Branche nicht so perfekt ist, wie sie es gern hätten. Ein Beispiel dafür könnte Elon Musk sein, der 2004 in das Automobilunternehmen Tesla einstieg, um die Elektromobilität zu forcieren. 2014 kündigte er an, die firmeneigenen Patente offenzulegen und seinen Konkurrenten zur Verfügung zu stellen, um dadurch die Verbreitung von Elektroautos zu beschleunigen (moneycab.com 2014). Musk sah nicht in den bis dato wenigen Elektroautos anderer Hersteller seine Konkurrenz, sondern darin, dass etablierte Hersteller immer noch auf den konventionellen Verbrennungsmotor setzten. Konflikte, Unzufriedenheit mit der Domäne und das Erkennen von ungelösten Problemen regten Elon Musk dazu an, die Transformation des Status quo zu versuchen.

Konflikte sind also nicht zwangsläufig negativ belegt. Ein positiver Umgang mit Konflikten stellt eine wichtige Inspirationsquelle für kreative Ideen dar. Konflikte sind stets eine Aufforderung, sich auf eine kreative Weise mit deren Lösung zu beschäftigen. Unzufriedenheit mit bestehenden Situationen und unzureichende vorhandene Lösungen, scheinbare Unvereinbarkeit von Zuständen sowie der Wunsch nach Veränderung und nach Verbesserung, dies alles führt gewöhnlich dazu, neue Ideen zu stimulieren und Energie aus den bestehenden Spannungen zu gewinnen. Kreative Menschen zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie Konflikte auf eine ganz spezielle Art wahrnehmen. Durch ihre hohe Empfindsamkeit und ihre niedrigere »Schmerzschwelle« nehmen sie Konflikte als störend wahr (Baudson 2010). Sie »leiden« und die Versuche, dieses Leiden zu beheben, erzeugt neue Ideen. Konflikte sind daher eine gute Voraussetzung für kreative Leistungen. Entscheidend dabei ist es, trotz unterschiedlicher Meinungen, ein gewisses Maß an Gruppenkohäsion zu entwickeln, d. h. ein positiv besetztes »Wir-Gefühl« zu generieren, das zu einer hohen sozialen Zusammengehörigkeit führt und letztlich auch zu einer intrinsischen Motivation (Kap. 6.4). An dieser Stelle wird die Bedeutung des Umfelds – Arbeitsumfeld, Organisationskultur – für die Entstehung von Kreativität und Innovation deutlich.

2.3       Komponenten und Prinzipien der Kreativität

Eine der Haupttheorien zu Kreativität und Innovation in Organisationen stellt das Komponentenmodell von Theresa Amabile (1988, 1997) dar, in dem sie drei Komponenten von Kreativität beschreibt: Expertise, kreative Denkfertigkeiten und Aufgabenmotivation. Der Grad an Kreativität ist umso größer, je stärker jede der drei Komponenten ausgeprägt ist. Bekannt geworden ist die Eintopf-Analogie von Amabile (1996), der zufolge die Hervorbringung kreativer Leistungen vergleichbar mit dem Gelingen eines schmackhaften Eintopfs ist. Dafür benötigt man ebenfalls drei Komponenten: Gemüse, Gewürze und Feuer.

•  Expertise (Gemüse) umfasst das Wissen und die Kompetenz einer Person in einem bestimmten Gebiet, d. h. relevantes Faktenwissen, technische Fertigkeiten, bereichsspezifische Talente einer Person innerhalb der Domäne. Die Expertise ist demzufolge abhängig von den persönlichen Fähigkeiten und der Ausbildung eines Menschen. So kann man z. B. in der Quantenphysik nur dann kreative Leistungen vollbringen, wenn man eine fundierte Ausbildung in diesem Bereich aufweisen kann (Amabile 1996)

•  Kreative Denkfertigkeiten (Gewürze) beinhalten einen angemessenen kognitiven Denkstil, der z. B. neue Perspektiven auf ein Problem zulässt. Dazu gehört die Kenntnis und die Fähigkeit der Nutzung von Techniken zur Ideengenerierung, um neue Denkpfade einzuschlagen genauso wie ein persistenter und energetischer Arbeitsstil. Erforderlich hierfür sind Training und Erfahrungen sowie bestimmte Persönlichkeitsmerkmale.

•  Aufgabenmotivation (Feuer) wird durch die Einstellungen gegenüber einer Aufgabe und durch die Wahrnehmung der eigenen Motivation bestimmt. Dabei kommt es in erster Linie auf die intrinsische Motivation an. Menschen mit einer hohen intrinsischen Aufgabenmotivation verspüren ein positives Gefühl der Herausforderung und des Genusses bei der Aufgabenausführung. Einfluss nehmen zudem zwei weitere Aspekte, nämlich die An- oder Abwesenheit von extrinsischen Einschränkungen (z. B. in Form von zeitlichen oder finanziellen Restriktionen) sowie die individuelle Fähigkeit, extrinsische Einschränkungen kognitiv zu minimieren.

Unternehmen können über ihre Organisationskultur und Arbeitsgestaltung Einfluss auf die Kreativität ihrer Mitarbeiter nehmen und diese gezielt begünstigen. Obwohl auch Expertise und kreative Denkfertigkeiten von Unternehmen gefördert werden können, geht die Forschung davon aus, dass die intrinsische Aufgabenmotivation jener Faktor ist, der am schnellsten und gezieltesten beeinflusst werden kann (Herbig, Glaser und Gunkel 2008, 13). Extrinsische Motivation sollte nicht kontrollierend sein, da sich dies negativ auf die Kreativität auswirken könnte; sie sollte vielmehr informationell oder zulassend sein, um eine positive Wirkung zu entfalten. Zudem stellt die extrinsische Motivation stets eine nachrangige Motivation dar, die dann wirksam werden kann, wenn die intrinsische Motivation bereits zu einem gewissen Grad vorhanden ist (Amabile 1997).

An dieser Stelle wird deutlich, dass dieses Modell sowohl die individuellen Bedingungen für Kreativität umfasst als auch eine Ausweitung auf den Arbeitskontext vornimmt und diesbezüglich insbesondere die organisationale Ebene einbezieht. Wenn dies gelingt, dann wird die individuelle Kreativität der Mitarbeiter zur Grundlage von Innovationen. Auf der Ebene des organisationalen Umfelds geht es vor allem um drei Aspekte:

•  Ressourcen, insbesondere zeitliche, personelle und materielle Ressourcen, die den Mitarbeitern zur Verfügung stehen.

•  Organisationale Motivation, d. h. insbesondere die Unterstützung für Innovationen, die man als unternehmerisches »Commitment« bezeichnen könnte.

•  Praktiken und Verhaltensweisen des Managements, die tatsächlich förderlich sind, wie z. B. eine Arbeitsgestaltung, die herausfordernd und selbstbestimmt ist, in der Arbeitsgruppen und Einzelpersonen durch Führungskräfte unterstützt werden.

Die Abbildung 5 stellt die Komponenten auf der individuellen und der organisationalen Ebene dar und erläutert gleichzeitig deren wechselseitige Beeinflussung. Einerseits bildet die individuelle Kreativität die Ausgangsbasis für betriebliche Innovationen, andererseits beeinflusst eine optimale Arbeitsumwelt die individuelle Kreativität jedes einzelnen Mitarbeiters (Amabile 1997, 53). Amabile verknüpft mit diesem Kreativitätsmodell Aspekte der Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie, um sowohl das Entstehen von Kreativität auf der individuellen Ebene – sowie der Teamebene – als auch die Umsetzung kreativer Ideen in und durch Organisationen – d. h. auf der organisationalen Ebene – zu erklären (Gunkel 2010, 46; Herbig, Glaser und Gunkel 2008, 14).

Dem Kreativitätsmodell liegt die Auffassung zugrunde, dass Kreativität eher einzelnen Personen bzw. kleinen Teams zugeordnet werden kann, während die Innovation, also letztendlich die Implementierung von kreativen Ideen, auf der Ebene der Organisation stattfindet. Dies sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass es sich bei der individuellen Kreativität und der organisationalen Innovativität um zwei voneinander unabhängige Konzepte handelt. Im Gegenteil, gerade die neuere Kreativitätsforschung beschränkt sich nicht auf die Problemidentifikation und die Ideengenerierung, sondern bezieht auch die Ausarbeitung von Lösungsansätzen und deren erfolgreiche Umsetzung mit ein.

Gemeinsam mit Co-Autoren hat Theresa Amabile ein Instrument zur Erfassung kreativitätsförderlicher Umfeld- und Arbeitsbedingungen entwickelt, das als »KEYS: Assessing the Climate for Creativity« bezeichnet wird (Amabile, Conti, Coon, Lazenby und Herron 1996). Dieses Instrument wurde in der Folge vielfach

Abb. 5: Erweitertes Kreativitätsmodell nach Amabile (eigene Darstellung in Anlehnung an Amabile 1997, S. 53)

statistisch validiert. Demzufolge lassen sich Arbeitsbedingungen danach unterscheiden, ob sie sich positiv oder negativ auf die Kreativität auswirken. Zu den positiven (kreativitätsförderlichen) Arbeitsbedingungen gehören:

•  herausfordernde Arbeitsaufgaben,

•  ausreichende Freiheiten im Sinne von Tätigkeitsspielräumen,

•  ausreichende materielle und immaterielle Ressourcen,

•  Unterstützung durch die Arbeitsgruppe, bzw. unterstützende Merkmale der Arbeitsgruppe,

•  Unterstützung durch die Vorgesetzten und organisationale Unterstützung.

Zu den negativen Arbeitsbedingungen, die Kreativität tendenziell behindern, gehören:

•  organisationale Bedingungen wie die Vermeidung von Risiken, die harsche Kritik neuer Ideen, Mikromanagement,

•  Arbeitsbelastungen (z. B. Zeitdruck, unrealistische Erwartungen und Ablenkungen von kreativer Arbeit).

Weiterführende Forschungsansätze haben dazu geführt, das Faktorenmodell der Kreativität sowohl auf der Ebene der individuellen Faktoren (Person) als auch auf der Ebene der organisationalen Faktoren (Umfeld) zu ergänzen (Sternberg und Lubart 1995, 1996). So führt etwa Wahren (2004, 123) an, dass auf der individuellen Ebene »Neugierde, Phantasie, Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, Disziplin und Durchhaltevermögen sowie Risikobereitschaft« ergänzt werden müssen. Auf der organisationalen Ebene nennt er eine ganze Reihe von Aspekten, die seiner Meinung nach, ein kreativitätsförderndes Umfeld charakterisieren: Dichte und Qualität der Information und Kommunikation, die praktizierten Formen der Führung, die Offenheit und der Grad der Dezentralisierung der Organisation, kulturelle und klimatische Aspekte, die von der Organisation eingerichteten Freiräume, die Ressourcenausstattung (insbesondere Personal und finanzielle Mittel) sowie die zur Verfügung gestellten Hilfsmittel zur Förderung kreativer Tätigkeiten (Wahren 2004, 123). Dabei sind die individuellen Faktoren von den Umfeldfaktoren in der Form überlagert, dass letztere einen Einfluss darauf ausüben, ob sich die individuellen Faktoren in der gewünschten Form entwickeln können. Die Faktoren sowie deren Beziehungen zueinander werden in Abbildung 6 dargestellt.

Abb. 6: Faktorenmodell der Kreativität (eigene Darstellung in Anlehnung an Wahren 2004, S. 123)

Unternehmen sollten sich daher sowohl um die individuellen Faktoren als auch um die Umfeldfaktoren »kümmern«. Denn erst ein kreativitätsförderndes Umfeld schafft die Basis dafür, dass Mitarbeiter ihre eigenen individuellen Potenziale optimal zur Geltung bringen können. Daher ist eine Analyse der organisationalen Faktoren, die in Form von kreativitätsförderlichen oder kreativitätshinderlichen Bedingungen vorliegen können, der Ausgangspunkt für die Frage, wie Organisationen hin zu kreativen Organisationen weiterentwickelt werden können, um die kreativen Leistungen ihrer Mitarbeiter zu fördern und damit die eigene Innovationsleistung zu steigern. Auf diesen Aspekt wird explizit in Kapitel 6 des Buches eingegangen: Kreativität und Organisation.

An der Grenze zwischen der individuellen Ebene und der organisationalen Ebene sind die Faktoren angesiedelt, die Wahren (2004, 123) als »individuelle Erlebens- und Verhaltenselemente« bezeichnet. Dabei handelt es sich um Faktoren, die sowohl einen positiven als auch einen negativen Einfluss auf die Freisetzung kreativer Energie haben. Diese Faktoren – wie z. B. Angst, Stress, Perfektionismus – wirken bis zu einem gewissen Grad förderlich (funktional) auf Kreativität. Sind sie im Übermaß vorhanden, wirken sie dagegen eher hinderlich (dysfunktional) und können zu Blockaden führen. Aufgrund dieser Ambivalenz können diese Aspekte auch als kreative Spannungsfelder aufgefasst werden.

2.4       Kreative Spannungsfelder

Kreativität lebt von Spannungsfeldern (Abb. 7). Dies wird bereits dadurch deutlich, dass Kreativität an sich auf dem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen Originalität, Neuartigkeit und Einfallsreichtum einerseits und Nützlichkeit, Angemessenheit und Verwendbarkeit andererseits basiert. So wie Reibung Energie in Form von Wärme freisetzt und so wie Konflikte und Gegensätze häufig zu neuen innovativen Lösungen führen, genauso entsteht Kreativität in diversen Spannungsfeldern. Sei es die scheinbare Unvereinbarkeit von künstlerischer Zweckfreiheit mit dem ökonomischen Produktionszwang oder der Konflikt zwischen zeitlichen Freiräumen und der leistungsfördernden Wirkung von Terminen, derartige Spannungsfelder können sowohl Förderer als auch Barrieren kreativer Leistung sein.

Abb. 7: Spannungsfelder der Kreativität

Künstlerische Freiheit vs. Produktionszwang

Freiheit und Unabhängigkeit sind wichtig für kreatives Schaffen. Die Welt als einen großen »Spielplatz« anzusehen, fördert kreatives und ergebnisoffenes Denken und Handeln. Produktionszwang hingegen kann dazu führen, dass Mitarbeiter eine an sie gerichtete Erwartungshaltung spüren und deshalb auf gewohnte Lösungen zurückgreifen. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein hoher Erfolgs- und Lösungsdruck besteht. Daher kann es für kreative Menschen wichtig sein, sich dem Produktionszwang zu entziehen und in gewisser Weise »ungerichtet« zu arbeiten. Klaus Mähring, österreichischer Fotograf, formulierte es 2016 in einem Interview folgendermaßen: »Mein kreativer Prozess ist jener, dass ich größtmögliche Ruhe anstrebe. Wenn ein Eindruck oder eine Idee stark genug ist, um mich aus dem Bett rauszubringen, dann gehe ich dem nach. Ich entziehe mich komplett dem Produktionszwang. Ich habe in sieben Monaten 25 Bilder gemacht – die sind aber alle gut!«.

Im wirtschaftlichen Kontext kann es natürlich nicht darum gehen, vollkommen zweckfrei zu agieren. Kreative Leistungen im ökonomischen Sinne beinhalten als grundlegendes Merkmal bereits, dass sie einen Wert schaffen. Dieses Anstreben von Wertschöpfung muss nicht zwangsläufig negativ sein, sondern kann sinnstiftend und dadurch auch intrinsisch motivierend im Sinne einer Vision sein. Ausschlaggebend sollten dabei nicht in erster Linie monetäre Zielsetzungen sein, sondern Ziele, welche ein größeres Maß an Vorstellungskraft anregen, z. B. zufriedene Kunden, unkomplizierte Abläufe oder vollkommen neue Märkte. Dann wird kreative Tätigkeit innerhalb der vorgegebenen Bahnen schon an sich motivierend.

Zeitdruck und Stress vs. zeitliche Freiräume

Von besonderer Natur ist das Verhältnis zwischen Zeitdruck und zeitlichen Freiräumen. Augenscheinlich ist zunächst, dass sich zeitliche Engpässe negativ auf Kreativität auswirken. Mitarbeiter, die ständig unter einem enormen Zeitdruck stehen, sind möglicherweise nicht offen für alternative Ideen, sondern streben nach der naheliegenden und schnellen Lösung. Anselm Grün, Benediktinermönch und Autor, geht noch einen Schritt weiter. Für ihn sind Freiräume zeitlicher und inhaltlicher Natur miteinander verknüpft und bilden die Grundlage einer intrinsisch motivierten Kreativität. Demnach sollten die ersten Stunden am Tag nicht »verzweckt« sein: »Der Wert eines Menschen hängt nicht von der Leistung ab, sondern von dem Sein. Letztlich will das Sein dann auch in ein Tun hineinströmen.« Im betrieblichen Kontext ist ein derartiger vollständiger Verzicht auf zeitliche Vorgaben wirtschaftlich kaum realisierbar. Arbeitsalltage sind nämlich typischerweise von Kundenterminen, Fristen und Deadlines geprägt, sodass zeitliche Restriktionen nicht zu vermeiden sind.

Gleichzeitig motiviert das komplette Fehlen zeitlicher Einschränkungen Mitarbeiter nicht zwangsläufig, kreativ zu sein. Ist das Ende einer Aufgabe nicht festgesetzt, beginnen Mitarbeiter eventuell erst gar nicht damit Lösungswege zu entwickeln, denn »es hat ja noch viel Zeit«. Damit verbunden ist die Beobachtung, dass Termindruck durchaus die Leistungsfähigkeit befördern kann und die scheinbar besten Ideen oft kurz vor dem Abgabetermin entstehen. Jean-Remy von Matt, Gründer einer weltweit bekannten Werbeagentur, formulierte dies folgendermaßen: »Kreativität und Innovation entstehen in einer Mischung aus Freiheit und Druck. Am kreativsten ist man immer dann, wenn der Abgabetermin kurz bevorsteht.« Am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam wird Zeitdruck in Kreativworkshops explizit dazu genutzt, um Gruppen darin zu bestärken im vorgegebenen Zeitfenster zu bleiben und eine Fokussierung auf das Wesentliche zu erzielen. Diese Methode wird im Kreativmanagement als »Time-Boxing« bezeichnet und hat gleichfalls eine breite Akzeptanz im agilen Projektmanagement.

Regeln vs. Chaos

Regeln, Normen und Prinzipien mögen zunächst nicht unmittelbar mit Kreativität in Verbindung gebracht werden. Sie sind allerdings nicht zwangsläufig schlecht für kreative Leistungen. Positiv an Regeln ist, dass sie das Zusammenarbeiten und Zusammenleben der Menschen in geordnete Bahnen bringen und dafür sorgen, dass es funktioniert. Dieses Funktionieren stellt zwangsläufig eine Grundlage für produktive Kreativität dar, die im Gegensatz zu einem unproduktiven Chaos steht. Kennett (2013) hat dieses Paradoxon als »the great freedom of a tight brief« beschrieben, also die große Freiheit, die von strikten Vorgaben ausgeht. Das Vorhandensein eines klaren Handlungsrahmens kann dazu führen, dass alles Irrelevante entfernt wird. Es wird klar, welche Parameter und Aspekte tatsächlich relevant sind. Diese Fokussierung kann sich auf die Entstehung von Kreativität befreiend auswirken. Der englische Literaturnobelpreisträger T.S. Eliot beschrieb den Vorteil eines strikten Rahmens folgendermaßen: »When forced to work within a strict framework the imagination is taxed to its utmost – and will produce its richest ideas. Given total freedom the work is likely to sprawl.«

Kontraproduktiv wird es natürlich dann, wenn die gesetzten Regeln und Vorgaben die Kreativität so sehr einengen, dass Blockaden entstehen und ein Denken und Handeln außerhalb des gesetzten Rahmens nicht mehr möglich ist. In diesen Fällen werden Andersdenkende behindert oder sogar ausgegrenzt. Kreativität hingegen hat zwangsläufig auch mit Regelbrüchen zu tun. In diesem Zusammenhang kann sich die Sozialisation als kreativitätsfeindlich erweisen (Cropely 1998). Gesellschaftliche Normen legen fest, wie Menschen zu handeln und zu denken haben. Durch die Sozialisation und damit zusammenhängende sozialbezogene Lernprozesse werden Normen und Sanktionen gegen das Anderssein erlernt. Dadurch werden auch »Stopp-Regeln« einstudiert, die das eigentlich mögliche Repertoire von Denk- und Verhaltensweisen auf einen engen Kanon reduzieren, der sozial erwünscht erscheint. Soziale Normen können somit zwar den Gemeinschaftssinn fördern, da Menschen lernen, sich wie die anderen zu verhalten, sie können sich in gleichem Maße aber auch kreativitätsfeindlich auswirken.

Anita Roddik, Gründerin des Unternehmens »The Bodyshop« kannte die bestehenden Regeln ihres Wettbewerbsumfeldes, war aber ebenso bekannt dafür, sich darüber hinwegzusetzen und ihren anarchistischen Tendenzen nachzugehen. Sie formulierte dies folgendermaßen: »I watch where the cosmetics industry is going and then walk in the opposite direction« (Hamel 1996, 71).

Günther Ortmann, Professor für Führung an der Universität Witten-Herdecke, befasst sich ausführlich mit der Selbstorganisation sozialer Systeme. Für ihn ist ein bewusster Regelbruch oft ein stillschweigend akzeptiertes Mittel, um in bestimmten Situationen voranzukommen. Regelverletzungen werden paradoxerweise zum kreativen Mittel der Ordnungserhaltung: »Alle Regelungen in Unternehmen sind im Prinzip darauf angelegt, umgangen oder gebrochen zu werden« (Ortmann 2003). Regelbrüche bzw. die Akzeptanz von Regelbrüchen in solchen Situationen, in denen Regeln und Prinzipien mehr behindern als unterstützen, ist durchaus ein probates Mittel in vielen kreativen Unternehmen. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass bei der Regelanwendung ein Moment der Entscheidung enthalten ist, aber keine Regel die Bedingungen ihrer Anwendung vollständig regeln kann.

Dies äußert sich z. B. in sogenannten »U-Boot-Projekten«. Dabei handelt es sich um Projekte, die häufig in größeren Unternehmen außerhalb der typischen Strukturen ablaufen – also unterhalb der Wasseroberfläche. Meist haben diese Projekte einen starken Zukunftsbezug und eine hohe Unsicherheit. U-Boot-Projekte sind explizit mit sehr geringen formalen Anforderungen versehen, sodass aufwendige Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse, wie sie in großen Unternehmen typisch sind, entfallen. In einem überschaubaren Rahmen – finanziell, zeitlich, personell – soll auf diese Weise ein kontrolliertes Hinwegsetzen über bestehende Regelwerke ermöglicht werden. Vorbild dafür ist die Beobachtung, dass viele erfolgreiche Innovationen auf das sogenannte »Bootlegging« zurückzuführen sind. Dies meint heimlich stattfindende Innovationsprozesse, in deren Rahmen einzelne engagierte Mitarbeiter oft gegen den Willen ihrer Vorgesetzten im Verborgenen an einer Idee tüfteln. Der amerikanische Begriff Bootlegging bezieht sich dabei auf den illegalen – also regelverletzenden – Transport von alkoholischen Getränken, um Steuer- und Prohibitionsgesetze zu umgehen.

Routine und Erfahrung vs. Neuheit und Unvoreingenommenheit