Alain
Boulanger und die heiße Flamme in Paris: Frankreich Krimi
von Henry Rohmer
Der Pariser Privatdetektiv Alain Boulanger bekommt einen neuen
Auftrag. Eine Papierfabrik geht in Flammen auf und es gibt ein
Mordopfer. Doch dabei bleibt es nicht. Die Ereignisse überschlagen
sich.
Alain muss alles tun, um den Mörder zu stoppen … Aber er
begegnet dabei auch einer geheimnisvollen Frau, die ihn in seinen
Bann zieht. Während der Fall selbst immer rätselhafter wird, muss
der Privatdetektiv alles auf eine Karte setzen.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
Henry Rohmer ist ein Pseudonym von Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
1
Paris im Jahr 1991…
Alain Boulanger fuhr zum Gare de l’Est.
Nicht, weil er verreisen wollte, sondern um sich Zigaretten
und eine Zeitung zu kaufen. Der bekannte Pariser Privatdetektiv
stellte seinen Mercedes ab und stieg aus. Er holte Zigaretten und
mehrere Zeitungen und kehrte zum Wagen zurück.
“Mannomann! Muss das sein!”, rief ihm jemand zu.
Alain Boulanger drehte sich um.
Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war offensichtlich ein
Clochard.
“Ja, ich spreche mit Ihnen, Monsieur!”, sagte der
Chlochard.
“Pardon?”
“Muss das wirklich sein? Ein deutsches Auto?”
“Warum nicht?”, antwortete Alain.
“Sind Sie gar kein Patriot? Wie können Sie nur ein deutsches
Auto fahren!”
“Vielleicht deswegen, weil es schnell und langlebig ist,
Monsieur!”
“Es gibt doch Citroen!”
“Ja, aber…”
“Citroen DS - La Deésse, die Göttin.”
“Pardon, aber ich bin mit meinem Wagen zufrieden.”
“Aber er kommt aus Deutschland! Sowas Unpatriotisches! Was für
Zeiten! Da kann ich nur den Kopf schütteln.”
Alain sagte:
“Der letzte Krieg gegen die Deutschen ist nun wirklich schon
eine ganze Weile her, Monsieur. Und inzwischen hat sich einiges
geändert. Zum Beispiel sind wir mit den Deutschen verbündet. Warum
soll ich da keinen Mercedes fahren?”
“Ich verstehe die Welt nicht…”, sagte der Clochard.
“Wollen Sie eine Zigarette?”
“Zigarette?”
“Ja. Ich habe gerade welche gekauft.”
“Mon Dieu! Die sind ungesund!”
“Das schon…”
“Glauben Sie, ich wäre nach so vielen Jahren auf der Straße
noch am Leben, wenn ich rauchen würde?”
“Sie haben sicher Recht. Ich achte etwas weniger auf meine
Gesundheit.”
Alain öffnete die Tür seines Wagens und warf die Zeitungen auf
den Beifahrersitz. Dann nahm er sich eine Zigarette und zündete sie
sich an.
“Kein Patriot sein und auch noch rauchen!”, meinte der
Clochard. “Weil Sie Mercedes fahren, gehen Arbeitsplätze in
Frankreich verloren! Über sowas kann ich mich aufregen!”
“Nichts für ungut”, sagte Alain Boulanger. “Einen schönen Tag
noch - und regen Sie sich nicht zu sehr auf!”
Der Clochard machte eine wegwerfende Handbewegung.
Alain stieg in den Mercedes ein und fuhr los.
*
Hundegebell drang von Ferne durch die Finsternis der Nacht,
während der Maskierte den Kragen seiner Lederjacke hochschlug und
einen Augenblick lang zurückblickte. Er sah die Flammen
emporzüngeln, sah, wie sie sich Stück für Stück weiterfraßen. Der
Mann hielt einen Moment inne und bewegte sich einen Schritt weiter.
In der Rechten hielt er noch den leeren Benzinkanister, den er
jetzt mit einer kraftvollen Bewegung wegschleuderte.
Eine volle Sekunde noch gönnte er sich den Anblick der gierig
leckenden Flammen, dann drangen Stimmen an sein Ohr und das hieß,
dass er sich jetzt beeilen musste. Es waren nicht mehr als ein paar
unverständliche Wortfetzen. Scheinwerfer gingen an, und der
Maskierte rannte in Richtung des Zauns, der das Fabrikgelände
umgab. Er war nur ein mittelmäßiger Läufer, aber das reichte in
diesem Fall vollkommen aus. Er würde es schaffen.
Wenig später fand er das Loch, das er zuvor mit Hilfe einer
langen Stahlzange geöffnet hatte und durch das er auf das Gelände
gelangt war. Die Stimmen in seinem Rücken wurden lauter. Er
fluchte, als ein Drahtende ihm die Jacke aufriss. Dann war er
endlich durch und rannte die wenigen Meter bis zum Wagen.
Der Maskierte riss eine Tür auf und sprang hinein. Nur einen
Sekundenbruchteil später startete das Fahrzeug. Die Reifen drehten
durch, und dann jagte er in die Dunkelheit hinein. Der Maskierte
atmete auf. Die Stimmen und das Hundegebell verloren sich nach und
nach. Er nahm die Strumpfmaske vom Kopf, blickte kurz in den
Rückspiegel und lächelte.
2
Gaston Lacroix fühlte seinen Puls bis zum Hals hinauf
schlagen, als er seinen Bugatti etwas zu abrupt stoppte. Er seufzte
hörbar und fuhr sich mit der flachen Hand über das müde wirkende
Gesicht. Der Tag war hart genug für ihn gewesen und nun auch das
noch!
Nur ruhig bleiben!, dachte er. Da musst du verdammt noch mal
durch!
Irgendwo in seinem Hinterkopf hörte Lacroix vage die Stimme
seines Arztes, der ihm schon seit Jahren weniger Stress verordnet
hatte. Aber der hatte gut reden!
Lacroix holte ein Tablettenröhrchen aus seiner Jackentasche
heraus und nahm zwei von den runden Dragees, die sich darin
befanden. Unzerkaut und gezwungenermaßen ohne Wasser würgte er sie
herunter und hoffte, dass sie die rasenden Kopfschmerzen vertreiben
würden, die ihn schon den ganzen Tag über plagten. Genau genommen,
seit die Post gekommen war und er jenen gewissen Brief bekommen
hatte. Einen Brief, der aus Zeitungsschnipseln zusammengeklebt
worden war und alles andere als freundliche Glückwünsche zu seinem
bevorstehenden sechzigsten Geburtstag enthielt!
Lacroix öffnete die Tür des Bugattis, und sein Blick glitt
über das Fabrikgelände. Scheinwerfer hatten an diesem Ort die Nacht
zum Tag gemacht. Er sah einen Streifenwagen der Polizei und
dahinter einen Feuerwehrwagen. Ein großer, breitschultriger Mann
kam auf Lacroix zugerannt. Es war Hector Polouse, einer der
Nachtwächter. Als er seinen Chef erreichte, schnappte er erst
einmal nach Luft.
„Was ist, Monsieur Polouse ?“
„Alles unter Kontrolle“, schnaufte der Mann.
„Am Telefon hörte sich das aber ziemlich dramatisch an.“
Monsieur Polouse nickte.
„Es hätte auch ziemlich dramatisch werden können, Chef! Aber
es ist noch einmal gut gegangen. Hauptsächlich, weil die
Schweinerei früh genug entdeckt wurde.“
Lacroix nickte.
„Ist schon gut, Monsieur Polouse “, murmelte er.
„Dort drüben hat ein Wagen gewartet. Es ging alles sehr
schnell.“
„Sie haben nicht zufällig noch etwas erkennen können?“
Polouse schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Nummernschild?“
„War nicht beleuchtet.“
„Verdammt!“
„Der Kerl hat sich mit einer Zange ein Loch durch den Zaun
gekniffen. Die Zange hat er zurückgelassen, aber ob die uns
weiterbringt, wage ich zu bezweifeln.“
Lacroix hob die Arme. „Na, das ist doch wenigstens etwas!“
Polouse schien weniger zuversichtlich. Er machte eine
wegwerfende Handbewegung und meinte: „Allerweltsware, Chef.
Bekommen Sie in jedem Heimwerkermarkt.“
Ja, dachte Lacroix. Und nach Fingerabdrücken braucht die
Polizei wohl gar nicht erst zu suchen. Wenn dieser verdammte
Brandstifter nur einen Funken Verstand im Hirn hatte, dann hatte er
Handschuhe getragen.
„Tut mir leid, Chef!“, meinte Hector Polouse in einem Tonfall,
als hätte er den Brand persönlich gelegt. Lacroix trat zu ihm heran
und klopfte ihm fast freundschaftlich auf die Schulter.
„Sie können ja nichts dafür“, meinte er und ging an ihm
vorbei.
Er sah einen weiteren Bekannten, der sich gerade in den
Streifenwagen gesetzt hatte, um zu telefonieren. Es war ein
Commissaire von der Polizei in Paris-Mitte. Ein langer, schlaksiger
Kerl, dessen Rückgrat eine bogenförmige Linie bildete, wenn er
bequem stand.
Er hieß Bordére, und Lacroix hatte ihn noch in unangenehmer
Erinnerung, als er mit dem ersten Drohbrief bei ihm in der
Polizeidienststelle aufgetaucht war. Bordére war total unfähig,
jedenfalls war das Lacroix’ Meinung. Ein paar zusätzliche
Streifenfahrten um die Fabrik und vor seinem Wohnhaus, das war
alles, was dieser Commissaire in die Wege geleitet hatte.
Lacroix baute sich breitbeinig vor der offenen Tür des
Streifenwagens auf, aus der Bordéres lange, dünne Beine
herausragten.
„Ich hoffe, Sie finden endlich die Leute, die mich
fertigmachen wollen!“, schimpfte er. „Bis jetzt haben Ihre
Ermittlungen ja nicht besonders weit geführt.“
Bordére kam aus dem Wagen heraus und blickte auf Lacroix
herab. Der Commissaire verzog das Gesicht, als er erwiderte: „Ich
mag Leute nicht, die davon ausgehen, dass sie allein auf der Welt
sind. Meine Männer fahren verstärkt vor Ihrem Haus und Ihrer Fabrik
Streife. Was wollen Sie noch?“ Er schüttelte verständnislos den
Kopf. „Ich mag Leute nicht, die nur, weil sie Geld haben, glauben,
dass man sie überall so behandeln müsste, als wären sie allein auf
der Welt.“
Gaston Lacroix wirkte sehr ärgerlich. In seinen Augen blitzte
es angriffslustig, und die Ader an seinem Hals schwoll dick an.
„Und ich mag Leute nicht, die von meinen Steuern bezahlt
werden und nichts dafür leisten“, knurrte er dann zurück.
Bordére schien einen Augenblick zu überlegen, ob er in
gleicher Münze zurückzahlen sollte, entschied sich dann aber
dagegen.
„Ich verstehe Ihren Ärger, aber lassen Sie ihn gefälligst an
jemand anderem aus! Überlegen Sie besser mal, wer aus Ihrem ach so
feinen Bekanntenkreis vielleicht seine guten Umgangsformen
vergessen hat!“
In Lacroix’ Augen blitzte es.
„Pah!“, machte er, aber im Grunde wusste er natürlich, dass
sein Gegenüber recht hatte. Hundertmal hatte Lacroix sich schon den
Kopf darüber zerbrochen, wer hinter den Drohungen,
Einschüchterungen und Anschlägen stecken mochte. Irgendjemand hatte
es auf ihn abgesehen.
Lacroix ließ den Commissaire stehen und ging in Richtung des
Fabrikgeländes, um sich den Schaden mit eigenen Augen anzusehen.
Allzu schlimm schien es ja nicht zu sein. Aber wer konnte schon
garantieren, dass es nicht beim nächsten Mal wirklich ernst sein
würde?
3
Alain Boulanger, der bekannte Privatdetektiv, ließ die Türen
zur Seite fliegen, als er sein Büro in der 7. Etage in der Rue
Saint-Dominique nahe des Parks Champ de Mars betrat. Jeanette
Levoiseur, seine blondmähnige Assistentin schenkte ihm ihr
strahlendstes Lächeln zur Begrüßung.
„Na, wie war‘s bei Gericht?“
Alain warf seinen Mantel in irgendeine Ecke und zuckte dann
mit den Schultern.
„Abwarten“, meinte er. „Ich habe meine Aussage heute gemacht,
doch am Ende wird wohl alles davon abhängen, wie die
psychiatrischen Gutachten aussehen. Aber das ist nicht mehr unser
Job, Jeanette.“
“Nein, das nicht, aber…”
“Trotzdem möchte man gerne wissen, wie die Sache
ausgeht.”
“So ist es, Alain.”
Alain Boulanger zuckte mit den Schultern.
Dann sagte er:
“Wir werden es in der Zeitung lesen, Jeanette.”
“Sehr witzig!”
“Das ist mein voller Ernst!”
Es war schon fast ein halbes Jahr her, dass Alain in einer
Sache ermittelt hatte, die einen besonders grausigen Frauenmord
betraf. Das Opfer war zerstückelt und in einem Gefrierschrank
aufbewahrt worden, und nun stritt man sich vor Gericht darüber,
inwieweit der Täter geisteskrank war.
„Ehe ich es vergesse: Es hat jemand für dich angerufen,
Alain!“
„Wer?“
„Ein Monsieur Lacroix aus Saint-Maurice. Es klang sehr
dringend.“
„Hat er gesagt, worum es ging?“
„Nein. Er wollte nur mit dir persönlich reden. Ich habe
gesagt, du rufst zurück.“ Jeanette trippelte auf ihren hochhackigen
Schuhen davon und kam mit einem Zettel wieder, den sie Alain
reichte. „Das ist die Nummer. Ich habe mich inzwischen etwas kundig
gemacht, mit wem wir es da zu tun haben. Ich meine, falls er unser
Klient wird.“
„Du bist einmalig, Jeanette!“
„Ich weiß das, Alain“, gab sie zurück. „Aber es ist schön,
dass mein Chef das auch langsam erkennt.“
Alain lächelte. „Na, dann schieß mal los!“
„Es ist der Papier-Lacroix. Er hat mehrere Fabriken und
Zulieferbetriebe in ganz Frankreich. Die Keimzelle seines
Unternehmens liegt aber hier in Paris.“ Sie blinzelte Alain mit
ihren unwahrscheinlich blauen Augen an. „Könnte ein lukrativer
Auftrag sein.“
Alain grinste. „Ich wusste gar nicht, dass du so
materialistisch denkst.“
„Man lernt eben nie aus, Alain!“
„Ja, scheint so“, gab Alain zurück und ging zum Telefon. „Ich
werde diesen Lacroix mal anrufen.“
4
Das Haus hatte etwas unverhohlen Protziges an sich und sollte
jedem Betrachter schon von Ferne klarmachen, dass es nicht von
armen Leuten bewohnt wurde.
Alain Boulanger parkte seinen champagnerfarbenen Mercedes 500
SL neben einem Bugatti und stieg aus. Bis zum Portal waren es nur
wenige Meter und wie es schien, wurde Alain bereits erwartet. Ein
Mann im dunklen Anzug stand dort. Eine Mischung aus Majordome und
Bodyguard, so schätzte Alain ihn ein. Der Privatdetektiv bewegte
sich auf das Portal zu, stieg die Treppen hinauf und gab dem Mann
im dunklen Anzug dann seine Karte.
„Hier“, sagte er dabei. „Ich möchte zu Monsieur Gaston
Lacroix.“
Der dunkel Gekleidete warf einen kurzen Blick auf die Karte
und nickte.
„Ich weiß, Monsieur Boulanger. Monsieur Lacroix erwartet Sie
bereits. Wenn Sie mir bitte folgen würden …“
Der Mann war hochgewachsen und fast so groß wie Alain. Und er
wirkte sehr steif und förmlich, obwohl er sicher nicht älter als
dreißig war. Er drehte sich um und ging, während Alain hinter ihm
herlief und dabei den Blick etwas schweifen ließ. Sie gingen durch
einen exquisit eingerichteten Empfangsraum. Die Bilder an den
Wänden waren vermutlich Originale und hatte allem Anschein nach die
gleiche Funktion wie das gesamte Anwesen – zu zeigen, dass man zu
jenen gehörte, die es zu etwas gebracht hatten.
Nun, dachte Alain. Gaston Lacroix hat es ja auch schließlich
zu etwas gebracht. Und wenn jemand Geld genug hat, sich ein solches
Anwesen in die Landschaft zu stellen, dann sitzt ja vielleicht auch
ein großzügig bemessenes Honorar für den Privatdetektiv drin.
Plötzlich drehte sich der Mann im dunklen Anzug herum.
„Tragen Sie eine Waffe, Monsieur Boulanger?“
„Ja.“
„Dann geben Sie sie mir bitte!“
„Weshalb?“
„Anordnung von Monsieur Lacroix. Bitte haben Sie Verständnis
dafür, aber Monsieur Lacroix hat in letzter Zeit einiges
durchmachen müssen und ist sehr misstrauisch geworden.“
Die Jacke des Mannes saß knapp und umspannte den muskulösen
Oberkörper. Die Ausbuchtung unter der linken Schulter verriet, dass
der Kerl ebenfalls bewaffnet war. Alain zuckte die Achseln, holte
seine Automatik hervor und händigte sie seinem Gegenüber aus. Dann
ging es durch einen Flur und schließlich in einen hellen
Wintergarten, in dem es ziemlich heiß war. Alain lockerte sich die
Krawatte und löste den obersten Hemdenknopf.
Ein untersetzter Mann um die Sechzig begutachtete einige edle
Zimmerpflanzen und schien darin ganz versunken zu sein. Das musste
Gaston Lacroix sein. In der Rechten hielt er eine Messingkanne, die
er abstellte, als er Alain bemerkte.
„Monsieur Boulanger?“
„Der bin ich“, nickte Alain und sah sich ein wenig um.
Es sah hier fast aus wie in einem Gewächshaus. Die hohe
Luftfeuchtigkeit war schon nach wenigen Augenblicken ziemlich
schweißtreibend. Aber Gaston Lacroix schien sich in diesem Klima
wohl zu fühlen.
Der untersetzte Mann schwieg einen Augenblick und unterzog
Alain einer Art Musterung. Wahrscheinlich gehörte er zu den Leuten,
die glaubten, jemandem ansehen zu können, ob man ihm trauen konnte.
Schließlich hatte er sich offenbar entschieden, trat auf Alain zu
und reichte dem Privatdetektiv die Hand.
„Ich bin Gaston Lacroix. Wir haben miteinander telefoniert.“
Lacroix wandte sich an den Mann im dunklen Anzug. „Lassen Sie uns
bitte allein, Luc.“ Der Mann nickte und verließ den Raum.
Lacroix wandte sich indessen wieder an seinen Gast: „Mein Sohn
hat Sie mir empfohlen! Sie sollen der Beste sein, und genau
deswegen will ich, dass Sie die Sache in die Hand nehmen.“
Alain hob die Augenbrauen.
„Um welche Sache handelt es sich denn? Am Telefon waren Sie ja
recht zugeknöpft.“
Lacroix zuckte die Achseln. „Tut mir leid, Monsieur Boulanger,
aber ich wollte mir erst einen persönlichen Eindruck verschaffen,
bevor ich mich dafür entscheide, Ihnen zu vertrauen.“
„Das verstehe ich.“
„Nun, um es kurz zu machen: Irgendjemand scheint es auf mich
abgesehen zu haben. Es ist erst wenige Tage her, da hat mal wieder
jemand versucht, meine Papierfabrik anzuzünden.“
Alain runzelte die Stirn. „Mal wieder?“, echote er.
„Ja, es war der zweite Versuch. Gott sei Dank ist der Schaden
nicht weiter erwähnenswert. Aber das ist nicht alles. Ein Wagen von
mir wurde demoliert, und ich bekomme seltsame Anrufe.“
„Haben Sie einen dieser Anrufe aufgenommen?“
Lacroix lächelte matt.
„Das ist es ja eben. Wenn ich den Hörer abnehme, höre ich, wie
jemand atmet. Mehr nicht. Keine Antwort. Nichts. Und dann legt er –
oder sie – wieder auf.“ Er hob die Arme zu einer fast beschwörend
wirkenden Geste. „Jemand ist darauf aus, mich zu terrorisieren und
zu quälen, wenn Sie mich fragen.“ Lacroix griff in die Hosentasche
und holte einen Briefumschlag heraus, den er Alain reichte. „Und
dann ist da noch das hier!“
Alain nahm das Kuvert und holte den Inhalt heraus. Es war ein
Brief, der aus Zeitungsschnipseln zusammengeklebt war. Und der
Inhalt war alles andere als freundlich.
Dich kriegen wir kurz und klein, Lacroix!, stand da zu lesen.
Denk daran, wie gut Papier brennt!
„Dieser hier ist noch nicht einmal der Schlimmste“, erklärte
Lacroix mit belegter Stimme.
Es klingt auf jeden Fall sehr persönlich, dachte Alain. Wie
die Zeilen von jemandem, dem es nicht in erster Linie darum geht,
eine Fabrik anzuzünden, sondern darum, ihren Besitzer zu treffen.
Blieb die Frage, wie weit der Unbekannte dabei gehen würde!
„Haben Sie das der Polizei gezeigt?“, erkundigte sich der
Privatdetektiv.
„Die ersten, die ich bekam, ja. Diesen hier nicht.“
„Das sollten Sie aber!“
„Ich bekomme jetzt fast regelmäßig ein- bis zweimal die Woche
so etwas mit der Post. Mittlerweile habe ich eine ganze Sammlung
davon. Meinetwegen können Sie das da behalten.“
„Und was erwarten Sie jetzt von mir?“
„Dass Sie herausfinden, wer dahintersteckt!“
Alain steckte den Brief ein und holte seine Zigaretten hervor.
Er hob die Schachtel und fragte: „Sie haben nichts dagegen,
oder?“
„Nein, nur zu!“
Alain zündete sich einen Glimmstängel an, zog daran und
fragte, während er den Rauch hinaus blies: „Haben Sie einen
Verdacht?“
„Nein.“
„Keine Feinde, die Ihnen ans Leder wollen?“
„Mein Mann hat an jedem Finger zehn Feinde“, durchschnitt eine
helle Frauenstimme die etwas stickige Luft des Wintergartens.
Alain drehte sich herum und blickte in die ebenmäßigen Züge
einer hochgewachsenen, gertenschlanken Frau, die mindestens zehn
Jahre jünger als Lacroix war. Ihre Augen wirkten wach und
intelligent, ihre Bewegungen waren grazil und vorsichtig wie bei
einer Katze. Sie kam auf Alain zu und gab ihm die Hand. Ihr Lächeln
war kühl und eher geschäftsmäßig.
„Du bist schon zurück, Catherine?“, fragte Lacroix.
„Ja. Wer ist der Mann, Gaston? Der Mann, den André dir
empfohlen hat, vielleicht? Dieser Privatdetektiv?“
Lacroix nickte. „So ist es.“
Sie musterte Alain abschätzig von oben bis unten. Dann meinte
sie: „Ich hoffe, dass Sie dem Terror ein Ende machen, Monsieur
…“
„Boulanger.“
„Wissen Sie, mein Mann würde es nie zugeben, aber er ist mit
den Nerven schon völlig am Ende.“ Sie trat neben Lacroix und legte
ihm die Hand auf die Schulter. Sie trug hohe Absätze und war daher
im Augenblick fast einen halben Kopf größer als ihr Mann.
„Sie sprachen von Feinden“, meinte Alain. „Was hat Ihr Mann
denn für Feinde?“
„Na, zum Beispiel diese fanatischen Umweltschützer, denen ein
paar Fische mehr wert sind als die Leute, denen mein Mann Arbeit
gibt!“
„Aber deshalb versucht doch niemand, gleich die Fabrik
anzuzünden!“ Lacroix schüttelte energisch den Kopf, als er das
sagte.
„Warum denn nicht?“ Catherine zuckte mit den Schultern.
„Die Sache wird vor Gericht ausgefochten. Die würden sich doch
nur selbst schaden, wenn sie jetzt zu solchen Mitteln greifen
würden.“
„Na, irgendeinen Anhaltspunkt musst du Monsieur Boulanger ja
wohl schon geben!“ Sie seufzte und sah Alain offen an. „Mein Mann
war nie sehr zimperlich im Umgang mit anderen Menschen, müssen Sie
wissen.“ Sie sagte das mit einem Unterton, der nachklingen ließ,
dass das auch für Gaston Lacroix’ Verhältnis zu seiner Frau galt.
„Es gibt einfach zu viele, die ihm den Ruin oder Schlimmeres
wünschen könnten.“ Ein kurzer Blick ging zu ihrem Mann. Catherine
Lacroix zeigte zwei Reihen makelloser Zähne, als sie murmelte: „Du
verzeihst mir doch sicher meine Offenheit, nicht wahr, Schatz? Aber
wenn du unserem Gast hier die Karten nicht offen auf den Tisch
legst, dann ist sein sicher gesalzenes Honorar hinausgeschmissenes
Geld. Doch wahrscheinlich ist es das ohnehin.“
„Sie scheinen kein sehr großes Zutrauen zu meinen Fähigkeiten
zu haben, Madame Lacroix“, warf Alain ein.
„So ist es!“
„Ich zwinge niemanden mit vorgehaltener Pistole mich zu
engagieren.“
Catherine Lacroix hob die Augenbrauen und setzte ein Gesicht
auf, das eine deutliche Spur von Geringschätzung ausdrückte.
„Das geht nicht gegen Sie persönlich, Monsieur Boulanger. Aber
was soll einer wie Sie schon zuwege bringen, was die Polizei mit
ihrem ganzen Apparat nicht schafft?“
Alain zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht ist es das Beste, wenn ich jetzt einfach wieder in
meinen Wagen steige und mich auf den Weg zurück nach Paris mache“,
meinte er.
„Nein, bleiben Sie, Monsieur Boulanger!“ Das war Gaston
Lacroix. Er hatte einen Schritt nach vorne gemacht und Alain, der
sich schon halb herumgedreht hatte, beim Arm gepackt.
„Hören Sie, Monsieur Lacroix! Am Telefon klang das, als wäre
es sehr dringend. Aber es ist nun wirklich nicht so, dass ich
nichts zu tun hätte, wenn ich nicht für Sie arbeite.“
„Das war nur die Meinung meiner Frau, nicht meine.“
„Okay“, nickte Alain.
In diesem Moment betrat Luc, der Majordomus den Raum. Lacroix
war ärgerlich.
„Was gibt‘s denn?“
„Telefon.“
Lacroix atmete tief durch und wandte sich kurz an Alain.
„Entschuldigen Sie mich eine Sekunde! Wir unterhalten uns
gleich weiter.“ Während er sich aus dem Zimmer hinaus bewegte,
wandte sich Catherine Lacroix von Alain ab und sah hinaus in die
weiträumigen Gartenanlagen, die das Anwesen umgaben.
„Vielleicht können Sie mir etwas weiterhelfen“, meinte Alain.
„Sie scheinen die Feinde Ihres Mannes ja besser zu kennen als er
selbst.“
Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Blick war nach innen
gekehrt, als sie ihn über den millimetergenau geschnittene
Rasenfläche gleiten ließ.
„Sehen Sie, Monsieur Boulanger, das Unternehmen, das mein Mann
besitzt, ist sein Lebenswerk. Er hat es aus kleinsten Anfängen
heraus aufgebaut. Aber wenn man von soweit unten nach soweit oben
kommen will, dann geht das selten ohne den Gebrauch der Ellbogen.
Verstehen Sie, was ich meine, Monsieur Boulanger?“
„Ich kann es mir vorstellen.“
„Da bleibt so mancher auf der Stecke, dessen Wege man
kreuzt.“
„Nennen Sie mir ein paar, die auf der Strecke geblieben
sind!“
Sie wandte sich zu ihm herum. Ihr Blick war prüfend. Sie
machte auf Alain den Eindruck einer klugen und sehr beherrschten
Frau, die in jeder Sekunde ganz genau zu wissen schien, was sie
tat. „Sie sind ziemlich neugierig“, stellte sie fest.
Alain lächelte. „Das ist mein Job“, meinte er.
Sie zuckte mit den Schultern und verzog ein wenig den Mund.
Eine Prise Spott lag in ihren Zügen, als sie sagte: „Eben, Monsieur
Boulanger. Es ist Ihr Job, nicht meiner.“
5
Als Alain das Lacroix-Haus verließ und die Stufen des
protzigen Portals hinabstieg, konnte er sich eines unguten Gefühls
nicht erwehren. Jedenfalls hatte Gaston Lacroix ihm nichts mehr
gesagt, das ihn sehr viel weiter brachte. Ein paar Flugblätter
bekam Alain noch zugesteckt, die von den angeblich so fanatischen
Umweltschützern verfasst waren, mit denen sich Lacroix angelegt
hatte.
Alain warf einen kurzen Blick auf die Armbanduhr. Es war noch
Zeit genug, um bei der Fabrik vorbeizuschauen und sich dort etwas
umzusehen. Vielleicht gab es ja dort irgendwelche Anhaltspunkte,
denen nachzugehen sich lohnte.
Ein Motorengeräusch ließ Alain aufblicken. Es war ein
Cabriolet, das herangebraust kam und mit quietschenden Bremsen zum
Stillstand kam. Das Verdeck war offen, am Steuer saß eine
gutaussehende junge Frau, deren brünettes Haar mit einer
unnachahmlichen Mischung aus Eleganz und Lässigkeit hochgesteckt
war. Sie stieg aus und erwiderte Alains Lächeln
selbstbewusst.
„Starren Sie alle Leute so an, Monsieur?“, fragte sie kokett.
Ihre Augen waren meergrün und wirkten sehr wach und aufmerksam. Die
Figur glich einer sanft geschwungene Linie und nahm Alain ganz
unwillkürlich in ihren Bann.
„Eine Lieblingsbeschäftigung von mir, Mademoiselle“, gab Alain
schließlich grinsend zurück. „Ich hoffe, es stört Sie nicht allzu
sehr.“ Aber das schien nicht der Fall zu sein.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können!“, erklärte sie, kam die
Stufen herauf und ging an Alain vorbei.
„Wohnen Sie hier?“, fragte der Privatdetektiv. Sie drehte sich
herum. Um ihren sinnlich wirkenden Mund mit den vollen Lippen
spielte ein unnachahmlicher Zug.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie hätten Ihren Wagen dort sonst kaum mitten vor dem Portal
stehengelassen. Das macht nur jemand, der hier zu Hause ist.“
Sie hob die Augenbrauen, und Alain wusste in dieser Sekunde,
dass er ins Schwarze getroffen hatte. Dann kam sie zwei Stufen
zurück und reichte dem Privatdetektiv die Hand.
„Ich bin Chloé Lacroix und tatsächlich hier zu Hause. Sind Sie
der Detektiv, den mein Vater anheuern wollte?“
„Ja.“
Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick lang.
„Dann werden wir uns ja wohl in nächster Zeit des Öfteren über
den Weg laufen, nehme ich an, Monsieur …“
„Boulanger. Alain Boulanger.“ Er lächelte. „Sie könnten schon
recht haben mit Ihrer Vermutung.“
Chloé Lacroix zwinkerte ihm zu. „Nichts dagegen“, meinte
sie.
Einen Augenblick lang noch ruhte ihr Blick auf ihm, dann
wandte sie sich ab und ging ins Haus.
Alain setzte sich ans Steuer seines champagnerfarbenen
Mercedes und machte sich auf den Weg zu Lacroix’ Papierfabrik, die
auf einem westlich von Paris in der Nähe der Seine gelegenen
Gelände errichtet war. Lacroix hatte Alain den Weg kurz beschrieben
und auch gleich seinen Sohn André vorgewarnt, der dort die
technische Leitung hatte. Alain war das nur recht. Dann würde man
ihn jedenfalls nicht als unerwünschten Hausierer von der Pforte
jagen.
Als Alain dem Pförtner seinen Namen sagte, öffnete sich gleich
die Schranke für ihn. Der Mann deutete mit dem Arm quer über das
Gelände.
„Sehen Sie das Gebäude dort?“
„Ja.“
„Da ist das Büro von Monsieur Lacroix junior. Er erwartet Sie
bereits.“
Alain stellte den Mercedes vor dem schmucklosen Haus ab, in
dem die Büros untergebracht waren. Etwas später hatte er sich dann
bis zu André Lacroix’ Zimmer vorgearbeitet. André war ein
hochgewachsener, scheu wirkender Mann. Das markanteste Merkmal
seines Gesichtes war die dicke Hornbrille, die ziemlich schwer sein
musste. Jedenfalls rieb er sich alle paar Minuten an den
Druckstellen auf der Nase.
„Mein Vater hat mir gesagt, dass Sie kommen würden. Es freut
mich, Sie kennenzulernen, Monsieur Boulanger. Sie haben in Ihrer
Branche ja einen exzellenten Ruf, wie man so hört.“
„Vielen Dank für die Blumen. Weiß außer Ihnen noch jemand in
der Firma, wer ich bin und was ich hier soll?“
„Nein.“
„Das ist gut so.“
„Sie wollen sicher wissen, wie das heute Nacht passiert ist.
Dazu ist nicht viel zu sagen: Ein Maskierter, ein Benzinkanister
und ein Wagen, dessen Nummernschild nicht beleuchtet war. Der Rest
ist eine Mischung aus Glück und der Aufmerksamkeit unserer
Nachtwächter.“ Er atmete tief durch. „Wissen Sie, wir stellen hier
Papier her und keine Juwelen oder andere Kostbarkeiten. In
umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen ist deshalb nie investiert
worden. Seit dem ersten Versuch dieser Art haben wir einen Zaun
errichtet.“
„Was denken Sie, wer dahintersteckt?“
Ein flüchtiges Lächeln ging über Andrés Gesicht.
„Sie kommen gleich auf den Kern der Sache, was? Das gefällt
mir.“ Er zuckte mit den Schultern, während Alain sich eine
Zigarette anzündete. André Lacroix musterte Alain ein paar
Augenblicke lang nachdenklich und Alain hatte fast das Gefühl, dass
sein Gegenüber zu taxieren versuchte, was er dem Privatdetektiv
erzählen und was er besser für sich behalten sollte.
„Mein Vater ist ein erstaunlicher Mann, Monsieur Boulanger. Er
hat eine unglaubliche Energie und wenn er sich etwas in den Kopf
gesetzt hat, dann führt er es auch irgendwann aus. Allerdings geht
er dabei manchmal über Leichen.“
„Das meinen Sie sicher nicht ganz wörtlich“, meinte Alain.
Er lachte mit einem sauren Unterton.
„Wie man‘s nimmt, Monsieur Boulanger“, knirschte er. Dann
beugte er sich ein wenig vor und fuhr fort: „Sie haben mich nach
einem Verdacht gefragt und es ist wahr: Ich habe einen. Ziemlich
konkret sogar und mit Namen und Adresse. Leider wahrscheinlich
nicht beweisbar.“
Alain zog die Augenbrauen in die Höhe. „Lassen Sie
hören!“
„Der Kerl heißt Jean Cranmer und war früher einmal mein Vaters
Teilhaber … Mein Vater hat ihn auf irgendeine unfeine Art und Weise
aus der Firma herausgedrängt.“
„Wie unfein?“, hakte Alain nach, aber André zuckte mit den
Achseln.
„Keine Ahnung. Genau weiß ich das nicht. Da fragen Sie ihn am
besten selbst. Aber jedenfalls hätte der Mann ein Motiv, um sich an
meinen Vater rächen zu wollen. Und er ist seit einiger Zeit wieder
in Paris.“
Alain nickte.
„Ich werde dem nachgehen. Und dann hätte ich gerne noch die
Namen und Adressen der Nachtwächter. Ich möchte mich mit ihnen
unterhalten. Kann ja sein, dass ihnen doch irgendetwas aufgefallen
ist.“
Für den Bruchteil einer Sekunde stand ein Zug in Andrés
Gesicht, der deutlich machte, dass ihm Alains Anliegen aus
irgendeinem Grund nicht behagte. Aber dann nickte er.
„Warum nicht?“, meinte er in entspannterer Stimmung, die
allerdings seltsam künstlich wirkte.
Die Gegensprechanlage auf André Lacroix’ Schreibtisch piepte.
André drückte etwas ärgerlich einen Knopf und zischte: „Ich habe
Ihnen doch gesagt, Madame Handau, dass ich jetzt nicht gestört
werden möchte!“
„Es ist sehr dringend, Monsieur Lacroix! Ihr Bruder
Ralph.“
„Stellen Sie durch!“
Er schluckte und gab Alain flüchtig die Hand.
„Ich denke, wir haben alles besprochen. Die Namen der
Nachtwächter gibt Ihnen Madame Handau. Ansonsten stehe ich Ihnen
natürlich jederzeit zur Verfügung.“
6
Alain Boulanger versuchte noch Jean Cranmer aufzutreiben. Aber
in dem Supermarkt, in dem er eine Anstellung als Buchhalter
gefunden hatte, hatte er sich zwei Tage freigenommen. In seiner
Wohnung war ebenfalls niemand.
Alain hatte einen Augenblick lang überlegt, dass das
eigentlich eine hervorragende Gelegenheit war, um sich dort einmal
ungestört umsehen zu können, aber er hatte noch nicht einmal damit
angefangen, an dem Schloss herumzufummeln, da tauchte eine ziemlich
dralle Frau in den mittleren Jahren auf. Ihrem herrischen Auftreten
nach musste sie die Vermieterin sein.
„Wollen Sie zu Monsieur Cranmer?“, fragte sie neugierig.
„Ja.“
„Der ist nicht da!“
„Habe ich gemerkt. Wo steckt er?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, Monsieur …“
„Boulanger. Mein Name ist Boulanger!“
Ihr Gesicht entspannte sich ein bisschen.
„Die Kerle, die sonst nach ihm fragen, haben sich nicht
vorgestellt!“
Eins zu null!, dachte Alain. Er hatte bei ihr einen Punkt
gut.
„Was waren das für Leute?“
„Gesindel, wenn Sie mich fragen. Finstere Typen. Einem fehlte
das linke Auge. Sagen Sie mir, was Monsieur Cranmer ausgefressen
hat, dass alle Welt hinter ihm her ist?“
„Das würde ich auch gerne wissen! Glauben Sie, dass Cranmer
noch einmal wieder hier auftaucht?“
„Na, das will ich hoffen! Er ist mit seiner Miete einen Monat
im Rückstand. Aber da seine Sachen noch hier sind, gehe ich davon
aus, dass dieser komische Vogel noch nicht ganz ausgeflogen ist.
Soll ich ihm vielleicht etwas ausrichten, wenn er wieder
auftaucht?“
„Nein, nicht nötig.“
Alain konnte sich schon denken, was passierte, wenn sie
Cranmer das nächste Mal sah. Sie würde ihm brühwarm auf die Nase
binden, dass jemand nach ihm gefragt hatte.
7
Anschließend stattete Alain Boulanger einer gewissen Charlotte
Selange einen Besuch ab, die zu den Umweltschützern gehörte, mit
denen Lacroix in gerichtlichem Clinch lag. Ihre Adresse stand auch
auf einigen Flugblättern, die Lacroix dem Privatdetektiv gegeben
hatte.
Sie war alles andere als begeistert, als Alain vor ihrer
Wohnungstür auftauchte. Charlotte war eine hochgewachsene, schlanke
Frau, deren Mannequin-Figur unter dem sackartigen Kleid, das sie
trug, nur zu erahnen war.
„Wer sind Sie, einer von Lacroix’ Gorillas, die mich
einschüchtern sollen?“ Nachdem sie den Privatdetektiv einer kurzen
Musterung unterzogen hatte, schüttelte sie energisch den Kopf.
„Nein, Ihrem Outfit nach sehen Sie wie einer seiner Rechtsverdreher
aus. Immerhin sehen Sie besser aus als Ihre Vorgänger.“
Alain lächelte dünn. „Danke für die Blumen!“
„Hören Sie zu! Ihr Vorgänger war sicher ein guter und
raffinierter Anwalt, und Sie sind wahrscheinlich auch kein Stümper.
Ich schätze mal, dass der alte Lacroix Ihren Vorgänger wegen
Erfolglosigkeit vor die Tür gesetzt hat, aber ich sage Ihnen
gleich, dass Sie es auch nicht besser machen werden.“
„Und warum?“
„Weil die Fakten dagegen stehen! Lesen Sie unsere
Flugblätter!“
„Das habe ich. Sie werfen Lacroix illegale
Gewässereinleitungen vor!“
„So ist es! Und es geht nicht nur um ein paar Frösche, deren
Lebensraum nun vielleicht beeinträchtigt ist, sondern auch um
Menschen, die jetzt Mühe hätten, ihren Grund und Boden zu
verkaufen, wenn sie wollten.“
„Wie viele Menschen betrifft das?“
„Ein paar Dutzend.“
„Gehören Sie auch zu den Geschädigten?“
„Nein.“
„Warum engagieren Sie sich dann so stark?“
„Weil ich etwas dagegen habe, wenn jemand wie Lacroix so etwas
tun kann und am Ende vielleicht sogar noch damit durchkommt.
Deshalb! Und Sie? Ich habe mich geirrt, nicht wahr? Sie sind kein
Anwalt.“
„Nein, Privatdetektiv.“
„Ich mag keine Schnüffler“, meinte sie daraufhin. „Und schon
gar nicht, wenn Gaston Lacroix sie geschickt hat.“
„Hören Sie, wenn die Sache so ist, wie Sie behaupten, dann
sehe ich das genau wie Sie. Aber ich bin nicht wegen des Prozesses
hier, sondern weil ich denjenigen suche, der versucht hat, die
Papierfabrik anzuzünden.“
Sie verzog das Gesicht.
„Daher weht also der Wind. Also ich war es jedenfalls nicht
und auch sicher keiner von unseren Leuten. Das Ganze läuft auf
einen Gutachter-Streit hinaus, und zur Zeit sieht es gar nicht
schlecht aus. Wir führen sozusagen nach Punkten. Glauben Sie, ich
hätte Lust, das aufs Spiel zu setzen?“
„Sie persönlich vielleicht nicht!“
„Und auch niemand, der sich bei uns engagiert. Ich lege da für
jeden meine Hand ins Feuer.“
Sie drehten sich noch ein bisschen im Kreis, aber es kam
nichts mehr dabei heraus, das greifbar war.
8
Am nächsten Morgen wurde Alain schon gegen vier Uhr morgens
durch das Telefon aus dem Schlaf gerissen. Er hatte vergessen, den
Anrufbeantworter einzuschalten und wollte sich erst weigern,
überhaupt abzunehmen. Schließlich gab es ja so etwas wie
Bürostunden – auch für Privatdetektive. Aber der Anrufer ließ nicht
locker. Es musste wirklich dringend sein und so nahm Alain
schließlich doch ab.
„Ja? Hier Boulanger.“
Auf der anderen Seite war eine Frauenstimme, an die er sich
flüchtig erinnerte, die er aber im Moment nicht so recht
einzuordnen wusste. Und dann wusste er auch, weshalb das so war.
Als er diese Stimme das letzte Mal gehört hatte, hatte sie kokett
und selbstbewusst gewirkt. Jetzt war sie am Rand einer Panik. Es
war Chloé Lacroix.
„Monsieur Boulanger? Es ist etwas Furchtbares passiert … Die
Fabrik … sie brennt!“ Alain hörte sie schlucken, und da wusste er
instinktiv, dass das nicht alles sein konnte. „Und mein Vater … Er
ist in den Flammen umgekommen!“
Alain war hellwach. „Beruhigen Sie sich ein wenig! Ist die
Polizei schon dort?“
„Ja. Werden Sie kommen?“
„Ich bin schon unterwegs!“
In Windeseile zog sich der Privatdetektiv an, hinterließ eine
kurze Nachricht für Jeanette Levoiseur, seine Assistentin, und
setzte sich dann ans Steuer seines 500 SL, um die Strecke, die
zwischen seinem Büro in der Rue Saint-Dominique und dem Standort
der Fabrik lag, so schnell wie möglich hinter sich zu
bringen.
Alain fuhr wie der Teufel und hatte Glück, nicht zufällig
einer Polizeistreife in die Arme zu rasen.
Als er die Papierfabrik erreichte, war schon von Weitem die
dunkle Rauchsäule zu sehen, die vor dem Hintergrund der aufgehenden
Morgensonne gen Himmel stieg. Es herrschte ziemlich viel Betrieb.
Alain sah die Löschfahrzeuge der Feuerwehr, zwei Streifenwagen der
Polizei und noch einige andere Fahrzeuge. Als Alain ausstieg, sah
er auch jemanden mit einem Fotoapparat herumlaufen und Bilder
machen, die man wahrscheinlich in der nächsten Ausgabe der
Lokalzeitung zu sehen bekommen würde. Ein Polizist in Uniform
versuchte, Alain daran zu hindern, das Firmengelände zu betreten.
„Wir haben hier – verdammt noch mal – genug Neugierige
herumstehen, die nur unsere Arbeit hier behindern!“
Alain hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase.
„Ich ermittle als Privatermittler in dieser Sache“, meinte er.
Der Polizist sah sich den Ausweis an und runzelte die Stirn.
Dann bewegte er den Kopf zur Seite und ließ Alain passieren.
Allem Anschein nach hatten die Löschkräfte das Feuer unter
Kontrolle. Aber es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis die
Flammen wirklich gelöscht waren. Und wie viel dann noch von der
Fabrik übrig sein würde, das musste man abwarten.
Wenig später lief ihm Chloé über den Weg. Sie wirkte völlig
aufgelöst und befand sich in Begleitung ihres Bruders André.
„Was ist passiert?“, fragte Alain.
„Die Fabrik hat gebrannt und … sie haben Vaters Leiche
gefunden“, berichtete Chloé und schlug die Hände vors Gesicht. „Es
war ein schrecklicher Anblick, mitansehen zu müssen, wie sie ihn in
diesen Blechsarg gelegt und weggefahren haben.“ Sie schluckte und
ihre Stimme hatte sich belegt. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Ein paar Sekunden, dann hatte sie sich wieder einigermaßen unter
Kontrolle.
„Komm, ich bring dich nach Hause!“, sagte André Lacroix und
wollte seine Schwester mit sich führen. Aber sie wollte nicht und
schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Ich bleibe hier.“
„Aber wir können hier jetzt doch nichts tun.“
„Trotzdem …“
„Wann ist das Feuer entdeckt worden?“, fragte Alain.
„Viel zu spät“, knurrte André. „Ich habe es um vier erfahren,
aber da war hier schon der Teufel los.“
„Und was hat Monsieur Lacroix um diese Zeit hier zu suchen?“
André nahm die Brille ab und rieb sich die Druckstellen. Dabei
schloss er die Augen und zuckte mit den Schultern.
„Was weiß ich!“, murmelte er vor sich hin.
Alain wandte sich an Chloé. „Haben Sie einen Schimmer?“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein.“
„Aber Sie sagten mir gestern, dass Sie im Haus Ihres Vaters
wohnen. Haben Sie nicht bemerkt, wie er davongefahren ist? Er wird
ja wohl nicht zu Fuß gegangen sein.“
„Nein, ist er auch nicht. Sein Bugatti steht dort hinten“,
mischte sich André ein, während er jetzt auf einem Brillenbügel
herumkaute. Sein Blick ging kurz zu den Flammen hin. Dann wischte
er sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze war deutlich
spürbar.
Chloé blickte Alain offen an.
„Ich habe Ihnen gestern nicht die ganze die Wahrheit gesagt“,
meinte sie. „Sehen Sie, ich habe zwar mein Zimmer in dem Haus, aber
eigentlich wohne ich in einem Apartment in der Stadt.“
„Sie waren also nicht zu Haus?“
„Nein.“
André Lacroix runzelte die Stirn und meinte dann: „Was sind
das für Gedanken, die Ihnen da im Kopf herumspuken, Monsieur
Boulanger?“
Alain wandte den Kopf halb zu ihm herum. „Nichts
Bestimmtes.“
„Jemand wollte meinen Vater ruinieren, und jetzt ist er tot.
Ich bin kein Jurist, aber für mich ist derjenige, der
dahintersteckt, ein Mörder!“
Alain nickte. „Ich verstehe, was Sie meinen.“
Jetzt mischte sich Chloé wieder ein. Sie sah Alain an, und
dabei spiegelte sich der Schein des Feuers in ihren Augen.
„Mein Vater wollte, dass Sie herausfinden, wer ihn
fertigmachen wollte. Ich hoffe, dass Sie Ihren Auftrag zu Ende
führen, Monsieur Boulanger!“
„Ich werde tun, was ich kann.“
9
Alain sprach noch kurz mit einem Feuerwehrmann, aber der
konnte zur Brandursache noch nicht allzu viel sagen. Außerdem war
er ohnehin nicht besonders auskunftsfreudig, da er noch alle Hände
voll zu tun hatte. Alain entschied, dass es unter den
augenblicklichen Umständen nicht viel Sinn machte, auf dem
Fabrikgelände nach Spuren zu suchen. Wenn der Brand gelöscht war,
würde sich Alain alles noch einmal vornehmen.
Aber da stand noch der Bugatti, mit dem Lacroix offenbar
hierhergekommen war. Im Augenblick kümmerte sich niemand um das
Fahrzeug, und so nutzte Alain die Möglichkeit, öffnete mit dem
Taschentuch um die Hand die Tür und setzte sich hinein. Er sah sich
um und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Auf dem Boden vor dem
Beifahrersitz lag ein vergoldeter Füllfederhalter, der ziemlich
kostbar wirkte. Er hatte Initialen G. L. eingraviert. G. L. wie
Gaston Lacroix. Im Handschuhfach war eine
Kleinkaliber-Pistole.
„Heh, was fällt Ihnen ein?“, hörte Alain eine Stimme, die ihn
herumfahren ließ. Er blickte auf einen Mann, dessen Körperhaltung
einem Fragezeichen ähnelte und in dessen Gesicht es ziemlich giftig
blitzte. An seiner Jacke hing eine Polizeimarke. „Ich weiß
zufällig, dass das nicht Ihr Wagen ist!“, sagte er. „Steigen Sie
aus!“
„Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, einmal
hinter einem solchen Steuer zu sitzen“, feixte Alain.
„Ach, hören Sie auf! Sind Sie von der Presse? So aufdringlich
sind normalerweise nur Presseleute. Oder die von den kleinen
Kabelfernsehsendern, die sich mit aller Macht ihren Platz zwischen
den großen erkämpfen müssen.“
„Ich bin Privatdetektiv.“
„Auch das noch!“
Alain stieg aus, und der Kerl regte sich noch bisschen auf.
Als er sich schließlich beruhigte, nannte er Alain sogar seinen
Namen. Er hieß Bordére und war Beamter der Polizei.
„Dies ist doch der Wagen, mit dem Monsieur Lacroix hierher
gekommen ist, nicht wahr?“
„Ja, richtig.“
„Aber sehen Sie sich mal an, wie der Fahrersitz und die
Rückspiegel eingestellt sind! Da muss jemand am Steuer gesessen
haben, der mindestens meine Größe hat. Und Monsieur Lacroix kommt
da bestimmt nicht in die engere Auswahl!“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Auf gar nichts. Noch nicht. Aber finden Sie das nicht
merkwürdig?“
Bordére verzog das Gesicht. „Dann ist Lacroix eben nicht
allein gefahren.“
„… und hat seinen kräftig gebauten Beifahrer ans Steuer
gelassen? Würde mich nur interessieren, wer das gewesen sein
könnte.“
„Machen Sie sich ruhig Gedanken über solche Dinge! Aber
glauben Sie mir, dies ist eine ganz einfache, brutale Geschichte.
Lacroix starb wahrscheinlich durch Rauchvergiftung. Mich
interessiert nur, wer den Brand gelegt haben könnte.“
„Und ich frage mich, wieso Lacroix ausgerechnet in dem Moment
hier war, in dem so etwas passiert. Das sieht mir nicht nach Zufall
aus.“
„Schickt Sie eine Versicherung?“
„Ist das wichtig?“
Bordére musterte Alain abschätzig von oben bis unten und
brummte dann: „Wer auch immer, Monsieur Privatdetektiv. Soll mir
egal sein.“ Er zuckte die Achseln. „Dann ermitteln Sie mal schön,
wenn es Ihnen Spaß macht!“
„Was dagegen?“
„Nein. Aber Sie sollten mir nicht in die Quere kommen! Dann
kann ich verdammt ungemütlich werden. Haben wir uns
verstanden?“
„War ja ziemlich deutlich!“
Bordére lachte heiser und murmelte dann: „Ihr
Versicherungsleute seid doch immer die ersten Aasgeier, die bei so
einer Sache auftauchen. Ihre Branche kann ich fünf Meter gegen den
Wind riechen.“
Alain ließ Bordére erst einmal in dem Glauben, dass irgendeine
Versicherung ihn geschickt hatte. Vielleicht war der Polizist ja
auskunftsfreudiger, wenn er glaubte, dass hinter seinem Gegenüber
eine finanzstarke Organisation stand.
„Was wissen Sie darüber, wie das hier passiert ist?“
„Sie wollen darauf hinaus, dass Lacroix seine Fabrik selbst
angezündet hat, was?“ Er lachte heiser.
„Solche Dinge kommen doch vor, oder?“
„Ja, aber gewöhnlich stellt man das dann so an, dass man nicht
selbst dabei draufgeht.“
„Lacroix wurde bedroht und von Unbekannten terrorisiert“,
stellte Alain fest, während Bordére den Mund verzog.
„Ja, und er hat mich mit dieser Sache terrorisiert. Er konnte
einfach nicht einsehen, dass die Polizei keine Wunder vollbringen
kann und dass es verdammt noch mal auch noch ein paar andere
Verbrechen in der Umgebung gibt, um die wir uns ebenfalls kümmern
müssen.“ Bordére warf einen kurzen Blick zu Chloé und André hin,
die etwas abseits standen und sich unterhielten. Es schien recht
heftig dabei zuzugehen. André packte seine Schwester am Arm. Sie
riss sich los und gestikulierte mit den Armen. „Jetzt, da die
Lacroix-Kinder uns nicht hören können, kann ich es ja so offen
sagen: Gaston Lacroix war kein sehr sympathischer Mann!“
„Das gibt niemandem das Recht, ihn umzubringen!“
Bordére stutzte, sah Alain einen Augenblick lang nachdenklich
an und nickte dann. „Sind Sie in Ihren Schlüssen nicht etwas
voreilig, Monsieur …“
„Boulanger.“
„Also die Sache stellt sich für mich so dar: Derjenige, der
schon einmal versucht hat, hier alles anzuzünden, hat es heute noch
einmal versucht und auch geschafft. Monsieur Lacroix war
unglücklicherweise hier, vielleicht weil er noch etwas zu tun
hatte, und ist von den Flammen überrascht worden.“ Er zuckte mit
den Schultern. „Natürlich müssen wir abwarten, was die
Brandexperten sagen …“
„… und der Gerichtsmediziner.“
Bordére verzog säuerlich das Gesicht. „Ja, der auch.“
„Wo hat man Lacroix gefunden?“
„Im Bürogebäude.“
Alain machte eine Geste mit der Rechten und deutete dabei über
das Gelände.
„Wenn man hier einen solchen Brand legen will, muss das gut
vorbereitet sein. Warum hat niemand etwas bemerkt? Gibt es keine
Nachtwächter?“
Bordére machte wegwerfende Handbewegung.
„Zwei waren besoffen“, meinte er. „Und der Dritte erinnert
sich nur noch daran, eins über den Schädel gekriegt zu haben. Als
er aufwachte, war es viel zu spät, da konnte er nur noch sehen,
dass er sein Leben rettete.“
„Verstehe … Sagt Ihnen der Name Jean Cranmer etwas?“
„Sie sprechen von Lacroix’ Ex-Partner? Wir suchen nach
ihm.“
Alain lächelte dünn. „Viel Erfolg dabei!“
„Wenn Sie uns unsere Arbeit tun lassen und uns nicht
dazwischenfunken, sehe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten“,
war Bordéres gallige Erwiderung.
Das kann ja heiter werden!, dachte Alain. Der Kerl mochte ihn
nicht, das war deutlich zu spüren. Ob er Privatdetektive im
Allgemeinen nicht ausstehen konnte oder sich seine Abneigung
speziell gegen Alain richtete, war nicht so ganz klar. Alain wandte
sich ab und ging auf Chloé zu, die nun allein dastand. Ihr Bruder
André war verschwunden. Alain ließ den Blick schweifen und sah ihn
einen Moment später in eine Limousine steigen und davonfahren. Die
junge Frau machte ein nachdenkliches Gesicht. Als sie Alain
bemerkte, versuchte sie zu lächeln und fragte: „Was werden Sie
jetzt unternehmen?“
„Ich schlage vor, wir fahren zum Haus Ihres Vaters. Es muss
einen Grund gehabt haben, dass er mitten in der Nacht auf dem
Gelände war.“
Chloé nickte.
„Ja“, sagte sie. „Merkwürdig ist das schon.“ Sie sagte das auf
eine Art und Weise, die vermuten ließ, dass es da noch etwas gab,
das sie Alain bisher noch nicht gesagt hatte.
„Sie können mit mir mitfahren“, bot Alain an.
„Nein, danke. Ich bin selbst mit dem Wagen hier. Sie können
hinter mir herfahren!“
10
André Lacroix hatte seiner Mutter die schlimme Nachricht wohl
schon überbracht, als Alain und Chloé dort eintrafen.
„Wer hat Sie denn gerufen?“, fragte Catherine Lacroix ziemlich
gereizt, als sie Alain sah. Sie schien nicht besonders begeistert
zu sein, ihn hier zu sehen. „Ich dachte, Sie sind auf der Jagd nach
diesen Brandstiftern.“
„Ich habe ihn angerufen“, stellte Chloé selbstbewusst fest.
Alain ging gleich in die Offensive.
„Haben Sie eine Ahnung, was Ihr Mann mitten in der Nacht auf
dem Fabrikgelände gesucht hat?“
„Nein. Ich kümmere mich nicht um geschäftliche Dinge, Monsieur
Boulanger. Und ich verstehe auch gar nichts davon.“ Sie zuckte mit
den Achseln. „Ich war am Abend im Theater. Als ich zurückkam, war
Andrés Bugatti nicht vor der Tür. Ich dachte, er hätte ihn
vielleicht in die Garage gefahren und bin ins Bett gegangen.“
„Hat er das öfter gemacht? Ich meine, die Nächte in der Firma
verbracht?“
„Die Firma war Andrés Leben.“
„Verstehe“, murmelte Alain.
„Nein, das glaube ich nicht.“ Sie seufzte. „Das hat außer ihm
wohl niemand wirklich verstanden“, setzte sie dann noch mit einem
merkwürdigen Unterton hinzu. „Es war eine Art Besessenheit. Die
Firma war wichtiger als alles andere. Und jeder, der in Andrés
Leben eine Rolle spielte, musste sich damit abfinden, dass der Part
der ersten Geige schon besetzt war.“ Sie holte tief Luft. „Aber ich
habe ihn dennoch geliebt.“
Als Alain Catherine Lacroix so da stehen sah, stellte er fest,
dass ihr Gesicht fast unbewegt geblieben war. Man konnte ihr nicht
ansehen, wie es in ihr aussah. Aber so war sie eben. Eine Frau, die
sich nicht in die Karten blicken ließ.
„Wo ist Luc?“, fragte Alain. „War er die ganze Nacht
hier?“
„Er wohnt hier im Haus. Vielleicht hat er etwas bemerkt. Soll
ich ihn rufen?“
„Ja, bitte. Und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mir
gerne seinen Schreibtisch anschauen. Sein Telefonregister – na,
eben seine Privatsachen.“
„Finden Sie das nicht etwas übertrieben, Monsieur
Boulanger?“
„Sie sollten meiner Mutter erst etwas Zeit lassen, um mit der
Situation fertig zu werden“, meinte André, der sich neben Catherine
Lacroix gestellt hatte.
Alain runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. „Wenn
man einer Spur nicht gleich nachgeht, besteht die Gefahr, dass sie
kalt wird“, meinte er. „Ich weiß, dass Sie alle jetzt anderes im
Kopf haben. Aber ich glaube nicht, dass jemand von Ihnen möchte,
dass derjenige ungeschoren davonkommt, der den Brand gelegt
hat.“
André Lacroix verzog das Gesicht.
„Natürlich nicht“, beeilte er sich zu sagen, rieb sich die
Nase und wandte sich dann an seine Mutter. „Lass ihn doch
nachschauen, wenn er will! Vielleicht kommt ja etwas dabei
heraus.“
„Na gut“, nickte Catherine schließlich. „Sie werden mich jetzt
bitte entschuldigen. Ich kann einfach nicht mehr.“
Chloé brachte Alain in das Arbeitszimmer des toten Gaston
Lacroix. Der Schreibtisch war vom Feinsten, aber fast begraben
unter einem Berg von Zetteln und Mappen.
„Er hat gerne zu Hause gearbeitet“, meinte Chloé dazu. „Und er
hat nie irgendjemandem gestattet, Ordnung zu machen. Da war er sehr
eigen.“
Alain nahm sich das Telefonregister und blätterte darin herum.
Indessen betrat Luc, der Majordomus, den Raum.
„Madame Lacroix sagte, Sie wollten mich sprechen“, murmelte er
auf seine steife Art und Weise.
„Ja, das ist richtig. Wann ist Monsieur Lacroix zur Fabrik
gefahren?“
„Gegen halb zwölf.“
„Sind Sie sicher?“
„Ich nehme es an, weil ich den Bugatti-Motor gehört habe. Und
mit dem Bugatti ist er immer nur selbst gefahren, also nehme ich
an, dass er es war.“
„Gesehen haben Sie ihn nicht?“
„Nein, das wäre von meinem Fenster aus auch schlecht möglich
gewesen.“ Er hob ein wenig die Schultern und schien einen Moment
lang nachzudenken. „Merkwürdig“, überlegte er.
Alain zog die Augenbrauen in die Höhe und horchte auf. „Was
ist merkwürdig?“
„Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung, aber es ist mir
aufgefallen. Monsieur Lacroix hat den Wagen gestartet und dann den
Motor abgewürgt. Wie ein Anfänger beim Fahrunterricht. Das hat mich
schon etwas gewundert. Schließlich ist ihm das sonst nie
passiert.“
„Könnte es sein, dass jemand anderes gefahren ist?“
„Wer sollte das gewesen sein? Monsieur Lacroix hätte nie
jemanden ans Steuer gelassen. Der Wagen gehörte zu den Dingen, die
ihm gewissermaßen heilig waren.“
„Mochten Sie ihn?“
„Er war ein komplizierter Mensch, wenn Sie verstehen, was ich
meine. Wollen Sie noch irgendetwas wissen?“
Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf und legte das
Telefonregister zur Seite.
„Nein, im Augenblick nicht.“ Alain sah den misstrauischen
Blick in Kayes Gesicht. Es schien ihm nicht zu passen, dass hier
ein Fremder herumwühlte. Etwas zögernd verließ er dann den
Raum.
„Wenn Ihr Vater die Firma von hier aus geleitet hat – hatte er
dann nicht auch so etwas wie einen Privatsekretär?“, erkundigte
sich Alain.
Chloé nickte. „Natürlich hatte er das! Mich!“
Alain hob die Augenbrauen.
„Die ganze Familie steckt also in der Firma drin.“
„Ja. Mit Ausnahme meiner Mutter. André ist für die technische
Seite zuständig. Ich habe dafür gesorgt, dass mein Vater nicht in
seinem eigenen Chaos versank, und Ralph hat für das Marketing
unserer Produkte die Verantwortung getragen.“
„Ralph?“
„Mein zweiter Bruder. Er ist zur Zeit auf Geschäftsreise.“
Chloé seufzte. „Ich habe keine Ahnung, ob ihn die furchtbare
Nachricht schon erreicht hat.“
Alain wühlte noch etwas auf dem Schreibtisch herum. Notizen
oder ähnliches fand er nicht, jedenfalls nichts, was irgendwie
aufschlussreich gewesen wäre. Dafür aber etwas anderes. Die Hülle
eines vergoldeten Füllfederhalters mit dem Monogramm G. L.
Alain hob die Hülle hoch und hielt sie Chloé hin.
„Kennen Sie das?“
„Ja, sicher. Es war irgendein Geburtsgeschenk. Ich glaube, von
Ralph.“
„Wissen Sie, wo der passende Füller ist?“
„Er muss hier irgendwo liegen.“ Sie wollte schon anfangen zu
suchen, aber Alain schüttelte den Kopf. „Lassen Sie es sein! Er ist
hier nicht.“
Sie stutzte. „Woher wollen Sie das wissen?“
„Ich habe ihn im Bugatti Ihres Vaters gesehen. Vorne, vor dem
Beifahrersitz. Seltsam, nicht wahr? Wenn jemand einen Füller
mitnimmt, dann doch wohl kaum ohne Hülle – schon, um sich die Jacke
nicht zu beschmieren.“
Sie nickte. „Sie haben recht, Monsieur Boulanger. Haben Sie
eine Erklärung?“
„Die muss noch etwas warten.“
Alain wandte sich dann dem Telefon zu, nahm den Hörer ab und
drückte die Wiederholungstaste, mit deren Hilfe die zuletzt
angewählte Nummer noch einmal gewählt wurde. Das Ergebnis war eine
Überraschung. Nachdem Alain schon fast den Hörer auflegen wollte,
meldete sich eine genervt klingende Stimme.
„Hallo?“
„Mit wem spreche ich?“
„Mit Jean Cranmer. Was wollen Sie?“
„Ich habe mich verwählt“, murmelte Alain und legte auf. Er
wandte sich an Chloé. „Was kann Ihr Vater von Cranmer gewollt
haben?“
„Vaters Ex-Partner? Keine Ahnung.“
„Aber er war unzweifelhaft der Mann, mit dem er zuletzt
telefoniert hat. Oder benutzt noch jemand diesen Apparat?“
„Nein.“
Alain zuckte mit den Schultern.
„Na ja, wenigstens weiß ich nun, dass er heute mit Sicherheit
zu Hause ist.“
11
Alain schlug die Gelegenheit aus, sich von Luc ein Frühstück
servieren zu lassen und nahm stattdessen nur eine Tasse Kaffee, um
sich dann so schnell wie möglich hinter das Steuer seines
champagnerfarbenen 500 SL zu klemmen. Er wollte auf keinen Fall,
dass ihm Jean Cranmer diesmal durch die Lappen ging.
Chloé wollte ihn gerne begleiten, aber Alain brachte ihr so
schonend wie möglich bei, dass er diesmal lieber allein unterwegs
war. Ihre Gesellschaft war ihm angenehm, er mochte diese
attraktive, selbstbewusste junge Frau, die genau zu wissen schien,
was sie wollte, aber bei dem, was er vorhatte, war es vielleicht
besser, wenn sie ihm nicht über die Schulter sah.
Jean Cranmer bewohnte eine Wohnung in Chaillot, die sich
wahrscheinlich vor allem dadurch auszeichnete, dass es nicht allzu
teuer war.
Alain klopfte, aber es kam keine Reaktion.
„Monsieur Cranmer? Ich weiß, dass Sie zu Hause sind. Machen
Sie bitte auf!“
Auf der anderen Seite der Tür tat sich noch immer nichts.
Alain wartete kurz ab, versuchte es dann noch einmal und griff
schließlich zu anderen Mitteln. Er holte ein Stück Draht aus seinem
Zigarettenetui und öffnete damit die Tür. Es war ein preiswertes
Schloss, ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen. Dutzendware, also.
Für Alain kein besonderes Hindernis. Als er die Tür vorsichtig
öffnete, blickte er in ein leeres, unaufgeräumtes Zimmer. Zwei
Koffer lagen auf der Couch. Einer war geöffnet und enthielt
Kleidung, die nicht gerade schonend zusammengelegt war. Alain
schloss die Tür hinter sich. Sein Blick ging zu den beiden Türen,
von denen eine vermutlich ins Schlafzimmer, die andere ins Bad
führte. Neben dem schon ziemlich angejahrten Fernseher stand ein
Aschenbecher. Die Zigarette, die dort in der Kerbe steckte, rauchte
noch, und das hieß, dass jemand hier war. Alain wandte den Blick
herum und blickte direkt in die Mündung eines kurzläufigen
Revolvers.
Vor ihm stand ein Mann von schwer zu schätzendem Alter.
Irgendetwas zwischen 45 und 55 schätzte Alain. Er war hager und
schmalbrüstig. Sein Gesicht hatte die ungesunde Farbe eines
Kettenrauchers, und seine mattblauen Augen mit den schweren
Tränensäcken verrieten Angst.
„Ich würde Ihnen nicht empfehlen, auch nur die geringste
Bewegung zu machen!“, zischte er drohend.
Alain blieb gelassen. „Legen Sie das Ding weg! Ich will nur
mit Ihnen reden, Cranmer!“
Jean Cranmer verzog das Gesicht zu einer bitteren
Grimasse.
„Ja, das kann ich mir denken, wie dieses Reden bei euch
Schweinehunden aussieht. Nach der letzten Unterhaltung lag ich zwei
Wochen im Krankenhaus.“
„Sie verwechseln mich, Cranmer. Mein Name ist Alain Boulanger,
und ich habe Sie noch nie zuvor gesehen.“
„Ja, sie schicken immer wieder andere Gorillas.“
„Ich bin Privatdetektiv. Wollen Sie meinen Ausweis
sehen?“
Alain wollte in die Manteltasche greifen, aber da spannte sein
Gegenüber den Hahn des Revolvers und fuchtelte in bedenklicher
Weise damit herum. Alain erstarrte mitten in der Bewegung und
meinte: „Passen Sie auf, dass Ihr Ding da nicht losgeht! Sie machen
mir einen ziemlich nervösen Eindruck.“
Cranmer kam etwas näher heran und atmete tief durch.
„Sie täuschen sich“, meinte er. „Ich bin ganz ruhig.
Jedenfalls solange Sie tun, was ich Ihnen sage.“ Er streckte die
offene Linke aus, während seine Augen Alain fixierten. „Zuerst
geben Sie mir mal Ihr Schießeisen. Ihr Brüder habt doch alle eins
unter der Jacke. Also los! Und keine Tricks, verstanden? Sonst
blase ich Ihnen den Kopf weg!“
Alain tat, als hätte er die Aufforderung nicht zur Kenntnis
genommen und meinte ungerührt: „Wussten Sie schon, dass Gaston
Lacroix’ Papierfabrik heute Nacht ausgebrannt ist? Man wird sehen,
wie viel am Ende noch davon übrig geblieben ist.“
„Ihre Waffe, verdammt noch mal!“
„Lacroix selbst hat es auch erwischt. Ich nehme an, dass Ihnen
das nicht allzu sehr leidtut, schließlich soll er Sie in grauer
Vorzeit mal übel über den Tisch gezogen haben.“
Für eine Sekunde schien er baff zu sein. Alains Worte hatten
wie ein Schlag vor den Kopf gewirkt und schienen Cranmer für den
Bruchteil einer Sekunde zu lähmen. Das nutzte Alain, packte den
Revolverarm seines Kontrahenten mit der Rechten und bog ihn nach
oben, während die Linke als wuchtiger Haken kam, der Cranmer
rückwärts gegen die Wand taumeln ließ. Bevor er wieder beieinander
war und seinen Revolver hochreißen konnte, hatte Alain längst die
Automatik aus dem Schulterholster geholt und sie auf den am Boden
Liegenden gerichtet. Jean Cranmer ließ sofort seine Waffe fallen.
Alain trat hinzu und hob sie auf. Mit der Linken öffnete er die
Trommel und ließ die Patronen auf den Boden klickern.
„Und was geschieht jetzt?“, fragte Cranmer matt.
Alain zuckte mit den Schultern und steckte als Zeichen des
guten Willens erst einmal seine Pistole weg.
„Wer ist hinter Ihnen her? Die Schuldeneintreiber eines
Buchmachers, oder mit wem haben Sie sich angelegt?“
„Erraten.“
„Ich bin an Ihrem Geld nicht interessiert“, meinte
Alain.
„Ich habe auch keines. Das ist mein Problem, wissen Sie!“
Cranmer seufzte und kam dann ächzend wieder auf die Beine. „Was
wollen Sie also dann, wenn Sie nicht hinter meinem Geld her
sind?“
„Ich bin wegen dem Tod von Gaston Lacroix hier.“
Er zuckte mit den Schultern. „Soll ich Trauer heucheln?“
„Nein, es genügt mir schon, wenn Sie mir ein Alibi liefern
können, das ich Ihnen abnehmen kann!“
In seinen Augen blitzte es. Alain sah, wie die große Ader an
Cranmers Hals pulsierte.
„Einen Dreck werde ich! Was geht Sie das an, wann ich wo
gewesen bin? Was wollen Sie tun? Mich über den Haufen schießen,
wenn ich nicht mit Ihnen reden will?“
Alain zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht können Sie sich bei mir noch auf die sture Art
herauswinden, Monsieur Cranmer. Wie gesagt, ich bin nur
Privatermittler. Aber es wird nicht lange dauern, dann wird auch
die Polizei Ihnen die Türen einrennen, und spätestens dann werden
Sie sich ein Alibi ausgedacht haben müssen.“ Alain ging ein paar
Schritte und postierte sich so, dass Cranmer die Wohnung nicht
verlassen konnte, ohne an ihm vorbei zu müssen.
„Wieso sollte die Polizei denken, dass ich die verdammte
Fabrik angezündet habe?“
„Grund eins: die alte Geschichte.“
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und zeigte dabei zwei
Reihen gelber Zähne. Dann suchten seine nervösen Finger nach
irgendetwas in seinen Jackentaschen und fanden es schließlich auch.
Eine Packung Zigaretten. Er nahm sich eine, zündete sie an und sog
daran, als hinge sein Leben davon ab.
„Eine miese Geschichte war das“, murmelte er. „Die halbe Stadt
weiß es! Lacroix hat mich zu einer Spekulation verleitet, die in
die Hose gegangen ist. Er hat von Anfang an gewusst, dass die Sache
faul war. Wahrscheinlich hat er sie mir auch nur deswegen
schmackhaft gemacht und so getan, als würde er selbst auch in diese
todsichere Sache investieren.“ Er zuckte die Achseln. „Ich war
immer schon ein Spieler, Monsieur …“
„Boulanger.“
„Hören Sie, diese Sache ist lange her.“
„Sie haben sie aber immer noch nicht verwunden. Das wäre ein
Motiv. Warum hat Lacroix Sie eigentlich kurz vor seinem Tod noch
angerufen?“
„Was?“
„Ihre Nummer war in der Wiederholungstaste gespeichert.“
„Na und? Was besagt das schon?“
„Ich frage mich, welche Veranlassung Lacroix hatte, Sie
anzurufen. Gute Freunde waren Sie beide seit damals ja wohl kaum
noch.“
Jean Cranmer lachte heiser. „Das ist absurd“, meinte er. „Ich
war die letzten zwei Tage gar nicht in Paris.“
Alain hob die Augenbrauen.
„Sie haben sich bei Ihrem Arbeitgeber zwei Tage freigenommen,
ich weiß.“
Cranmer hob seufzend die Arme.
„Ich bin zwei Tage lang untergetaucht, weil mich Freunde aus
Chaillot gewarnt haben.“
„Kommen daher die Leute, die Ihnen auf den Fersen sind?“
„Ja. Deswegen bin ich auch von dort weggezogen und habe
versucht, hier wieder Fuß zu fassen.“
„Trotzdem – wo waren Sie?“
„Lassen wir das!“, erwiderte Cranmer. „Jedenfalls habe ich
dafür gesorgt, dass mich niemand gesehen hat. Also kein Alibi! Aber
das heißt nicht, dass ich die Fabrik angezündet habe.“
„Was kann Lacroix von Ihnen gewollt haben?“
„Keine Ahnung. Er hat mich doch offensichtlich nicht
erreicht.“
„Aus heiterem Himmel ruft er Sie aber auch nicht an.“
„Also gut, Boulanger. Ich wollte Geld.“
„Von Lacroix?“
„Von seiner Frau.“
„Das müssen Sie mir schon erklären, Cranmer!“
Seine Nasenflügel bebten ein wenig. Er streckte sich die
Zigarette in den Mund, ließ sie kurz aufglimmen und brummte dann
unwirsch: „So, muss ich das?“
„Sie sitzen ganz schön drin, Cranmer. Ein kleiner Commissaire
namens Bordére bearbeitet den Fall, und ich hatte bereits das
zweifelhafte Vergnügen, mit ihm zusammenzustoßen. Er scheint mir
nicht besonders kreativ zu sein und ist außerdem wohl noch
hoffnungslos mit Arbeit überlastet.“
„Was wollen Sie mir damit sagen?“
„Ganz einfach, Monsieur Cranmer: Bordére wird sich an den
Erstbesten halten, der sich als Verdächtiger anbietet. Und das sind
Sie! Vielleicht ist es also besser, wenn Sie mir sagen, was Sie
wissen und mit mir zusammenarbeiten.“
„Glauben Sie mir denn, dass ich unschuldig bin?“
Alain zuckte mit den Achseln. „Ich glaube noch gar nichts.“