Kriminalmeister Gutmann - Michael Folie - E-Book

Kriminalmeister Gutmann E-Book

Michael Folie

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Beschreibung

Auf der Flucht vor einer unglücklichen Ehe und Erholung für seine angeschlagene Gesundheit suchend, gelangt Kriminalmeister Johann Gutmann in die Hafenstadt Amsdorf. Als im gräflichen Schloss die Mutter des Foltermeisters auf bestialische Art und Weise getötet wird, lässt sich Johann überreden, dem unerfahrenen Kriminalmeister Ferdinand Gramm unter die Arme zu greifen. Johann wird in eine Mordserie an alten Frauen verwickelt. Bizarre Todesarten, Spuren, die ins Nichts verlaufen und seine angeschlagene Gesundheit fordern ihn bis aufs Äußerste.

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Inhaltsverzeichnis

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

1. KAPITEL

Auf einer kahlen Bergkuppe stand ein junger Mann und blickte hinab auf die Häuser von Amsdorf. Seine klugen Augen waren zusammengekniffen, sein schulterlanges, schwarzes Haar wehte leicht im Wind. In der Stadt, in einem weitläufigen Talkessel direkt am Meer gelegen, stand das Schloss des Grafen Friedrich, der von hier aus die Grafschaft Hartz regierte. Die düsteren Berge rings um den Talkessel bildeten im Norden ein unüberwindbar scheinendes Hindernis, während sie gegen Süden zu nur allmählich an Höhe gewannen. Zahlreiche enge Pfade führten aus der Stadt hinaus, um sich zwischen den Bergriesen in die Höhe zu schrauben, aber nur eine Straße war auch für Fuhrwerke und Reiter geeignet, die Grafenstraße. Sie zog sich vom Meer beinahe schnurgerade durch Amsdorf hinauf zur Bergkuppe und weiter ostwärts bis nach Sonnburg, der fernen Hauptstadt des Königreiches Kaltenfort.

Die Gebäude lagen noch im schwindenden Dunkel der zu Ende gehenden Frühlingsnacht. Weit draußen auf dem Meer bewegten sich zahlreiche leuchtende Punkte wie Glühwürmchen in einer schwülen Sommernacht. Es waren Fischer, die, mit Fackeln bewaffnet, nach den Schätzen des Meeres suchten.

Der Mann nestelte nervös an seiner Weste. Amsdorf war das Ziel seiner Reise, die er vor wenigen Tagen in Sonnburg begonnen hatte. Ein freundlicher Tuchhändler, den seine Geschäfte in alle Grafschaften des Reiches führten, hatte ihn ein gutes Stück auf seinem Pferdefuhrwerk mitgenommen, aber das letzte Teilstück hatte er auf Schusters Rappen zurücklegen müssen. Er war jedoch nicht unglücklich darüber, denn die Fahrt über die holprigen Landstraßen hatte seine Knochen ordentlich durcheinandergeschüttelt. Er war die ganze Nacht hindurch gegangen und war nun froh, endlich angekommen zu sein.

„Amsdorf“, murmelte er leise. „Hier also sollst du dich erholen, armer, alter Johann!“

Obwohl er noch jung an Jahren war, hatte das Leben bereits Spuren in seinem schönen Gesicht hinterlassen, das von ersten Sorgenfalten durchzogen war. Seine Arbeit als Kriminalmeister hatte er stets ernstgenommen, sich kaum geschont. Wenn es galt, gefährliche Aufträge auszuführen, war er immer in der ersten Reihe gestanden. Er hatte Raubbau an seinem Körper getrieben und nicht die Kraft aufbringen können, sich auch einmal zurückzunehmen.

Und dann war es passiert. Einfach so, aus heiterem Himmel. Mitten in seiner Arbeitsstube war er plötzlich zusammengebrochen. Blätter, Schreibgriffel, Tinte, alles hatte er mit zu Boden gerissen. Und in all der Unordnung hatte er gelegen, kraftlos und am Ende, ein Stück müdes Fleisch. Der Arzt hatte ihm ein paar Wochen absoluter Ruhe verschrieben, aber nach wenigen Tagen war er schon wieder bei der Arbeit gewesen. Seine Kräfte jedoch waren aufgebraucht.

Gliederzittern, Schwindelgefühle und eine unerklärliche, beständige Nervosität hatten ihn fest im Griff. Schließlich hatte ihn sein Vorgesetzter zwangsbeurlaubt. Er sollte eine längere Auszeit nehmen und sich erholen. Seine Frau, Elsbeth, die er erst vor wenigen Monaten geheiratet hatte, war ihm in dieser schwierigen Zeit keine große Hilfe gewesen, denn sie hatten sich bereits nach kurzer Zeit der Ehe auseinandergelebt. Es war wie eine Art Befreiung gewesen, als er aus der Hauptstadt aufgebrochen war und Frau und Arbeit hinter sich gelassen hatte.

Und nun stand er da, neugierig auf die Stadt, die er jedoch nicht ganz freiwillig als Erholungsort ausgesucht hatte. Sein Vorgesetzter hatte ihn gebeten, einen wichtigen Brief zur Stadtverwaltung von Amsdorf zu bringen. Dort könne er ja dann gleich bleiben und sich ein, zwei Wochen entspannen.

Johann tat einen tiefen Atemzug und schritt zügig die gepflasterte Straße hinab. In seiner Hand hielt er einen kleinen Lederbeutel, in dem er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte. Unten im Talkessel lagen noch ein paar Nebelfetzen in den Feldern, die der Stadt vorgelagert waren. Es roch nach Erde und Freiheit.

Nach wenigen Minuten kam Johann zu den ersten Häusern. Außer einigen Soldaten, die in ihren grauen Uniformen auf der Grafenstraße patrouillierten, aber dem frühen Wanderer kaum Beachtung schenkten, war kein Mensch zu sehen. Langsam und bedächtig gingen sie ihre vorgegebenen Wege.

Johann schritt die Grafenstraße entlang, bis er an ein auffälliges Gebäude gelangte, das sich mitten auf der Straße aufzutürmen schien. Erst im Näherkommen sah er, dass die Straße sich teilte und in zwei Bögen um das Gebäude herumlief, um sich dahinter wohl wieder zu vereinigen. Johann blieb auf dem schmalen Streifen Grün stehen, der das Gebäude umgab, und blickte nach oben. Die fünf Stockwerke, aus dunkelgrauem Stein errichtet, machten besonders jetzt in der Dunkelheit einen beinahe Furcht einflößenden Eindruck und überragten die umstehenden Gebäude bei weitem.

Während der Kriminalmeister staunend verharrte, spuckten die Nebenstraßen und kleinen Gassen vereinzelt Menschen aus, die schlaftrunken durch die ausklingende Nacht torkelten. Johann ging weiter bis zur doppelflügligen, aus massivem Edelholz errichteten Eingangstür. Neben dieser war ein riesiges Messingschild angebracht.

„Gräfliche Stadtverwaltung Amsdorf“, las Johann laut. Er war hier also richtig, denn in der Stadtverwaltung sollte er das Schreiben abgeben, das ihm sein Vorgesetzter mitgegeben hatte. Er klopfte unbewusst auf seinen Lederbeutel, in dem er das Schriftstück verstaut hatte, und betätigte einen der beiden massiven Türklopfer. Es rührte sich nichts. Auch nach mehreren Versuchen fand er kein Gehör. Er war zwar sehr früh dran, doch er hatte angenommen, dass auch hier in Amsdorf zumindest ein oder zwei Kriminalgehilfen während der Nacht Bereitschaftsdienst hätten. So seufzte er enttäuscht und setzte sich missmutig vor die Tür, um zu warten. Der frische Wind, der ihm in den Bergen arg zugesetzt hatte, war hier unten in der Stadt nicht mehr zu spüren. Er machte es sich so bequem wie möglich, schob seinen Lederbeutel zwischen die Tür und seinen Kopf und schloss die Augen. Schon nach wenigen Augenblicken kündete ein regelmäßiges Atmen davon, dass er eingeschlafen war. Die Anstrengungen der letzten Wochen und die nächtliche Wanderung machten sich bemerkbar, sein Körper verlangte nach Ruhe.

Allzu lange war ihm diese jedoch nicht vergönnt, denn bereits nach kurzer Zeit wurde er unsanft aus dem Schlaf gerissen, als ein grober Kerl ihn derb mit den Spitzen seiner blankgeputzten Lederstiefel anstieß.

„Steh auf, du bärtiger Lump und troll dich von dannen! Ab mit dir ins Armenviertel, wo du hin gehörst!“

Johann öffnete erschrocken seine Augen und starrte den Sprecher an, der drohend über ihm stand und auf ihn herabblickte. Der Mann war gehobenen Alters und äußerst gut gekleidet. Er verbreitete einen penetranten Rosenduft, der aus all seinen Poren zu strömen schien und in Johanns Nase kroch. Der Kriminalmeister war ungewaschen und hatte sich seit Tagen nicht rasiert, weshalb er auf den ersten Blick in den Augen des Störenfriedes einen üblen Eindruck machen musste. Dies war jedoch kein Grund, Johann einen Lumpen zu schimpfen.

„Was erlaubt Ihr Euch, mein Herr?“, zischte Johann giftig und stand auf. Der Mann wich ein paar Schritte zurück. „Ich bin kein Hund, dem man eben mal so seine Stiefel zu kosten gibt!“

„Na, das Bürschchen wird auch noch frech! Ich werde dich gleich an deinen dreckigen Ohren packen und dich von hier wegzerren, wenn du weiterhin in solch einem Ton mit dem Stadtschreiber Meier sprichst!“

„Ah, ein Schreiber! Nun gut, Mann der Feder, schreibt Euch dies hinter Eure wohlparfümierten Ohren: Wer dem Johann Gutmann so daherkommt, der wird sich eine blutige Nase holen! Verstanden?“

„W…was?“, stammelte der Stadtschreiber erstaunt und taumelte zurück. So mit ihm zu reden, hatte noch nie jemand gewagt. „Was für eine Unverschämtheit! Ich werde die Kriminalgehilfen holen. Der Kerker wird…“

„Genug jetzt!“, unterbrach ihn Johann. „Ich will Euch zugutehalten, dass es früh am Morgen ist und Ihr Eure Sinne noch nicht beisammen habt. Ansonsten müsste ich wahrlich an Eurem Verstand zweifeln, da Ihr einen Kriminalmeister dermaßen abschätzig behandelt!“

„Ha, dass ich nicht lache! Ein Kriminalmeister! Ich kenne alle Kriminalmeister hier, aber dich…äh Euch habe ich hier noch nie gesehen!“

„Das mag wohl sein, denn meine Heimat ist die Hauptstadt. Ich bin gekommen, um ein wichtiges Schreiben einem gewissen Herrn E…Eger zu übergeben.“

„Ach ja? Gut, aber wieso legt Ihr Euch dazu wie ein Hund vor die Schwelle?“

Johanns anfänglicher Zorn war bereits wieder verflogen, sodass er bereitwillig Auskunft gab. „Ich war die ganze Nacht über unterwegs und bin eben erst hier angekommen. Habe also noch keine Unterkunft, und da hier niemand anzutreffen war, habe ich meine wunden Hinterläufe etwas ruhen lassen.“

„Nana!“, schmunzelte Herr Meier. „Nehmt mir meine Bemerkung mit dem Hund nur nicht übel! Ihr hättet Euch übrigens nur zur Wachstube der Kriminalgehilfen begeben müssen. Der Eingang liegt auf der anderen Seite des Gebäudes und ist nie verschlossen. Doch nun kommt erst einmal mit hinein!“

Der Stadtschreiber kramte umständlich einen Schlüssel aus seiner Jackentasche hervor und sperrte auf. Johann trat hinter ihm ein. Es war düster, weshalb Herr Meier eine Öllampe aus einer Mauernische nahm und Licht machte.

„Ich kann es nicht verstehen“, jammerte er wie beiläufig, „dass die unseligen Baumeister so arg an den Fenstern sparen mussten. Die Sonne ist jetzt zwar noch nicht aufgegangen, aber Ihr werdet sehen, dass selbst bei hellstem Tageslicht hier drinnen noch ein zusätzliches Licht vonnöten ist. Meine Augen sind schon reichlich trübe! Hier entlang, junger Mann!“

Während Johann neben Herrn Meier herging, betrachtete er den seltsamen Kauz neugierig von der Seite. Im unsteten Licht der Öllampe glaubte er zu erkennen, dass die dicke Brille, die auf der breiten Nase des Mannes saß, eine ansehnliche Dreck- und Fettschicht aufwies. Anscheinend hatte die Sehhilfe des Schreibers schon lange keine Bekanntschaft mehr mit Wasser oder einem Reinigungstuch gemacht. Die ungepflegte Brille passte zwar nicht zum ansonsten tadellosen Äußeren von Herrn Meier, erklärte aber die Sehschwierigkeiten des guten Mannes.

„Bei welcher Abteilung seid Ihr beschäftigt, Herr…Gutmann, wenn ich fragen darf?“

„Leib und Leben.“

„Ah, die Abteilung für Verbrechen an Leib und Leben! Herr Eger, zu dem Ihr sollt, ist der Verantwortliche dieser Abteilung in Amsdorf. Er leistet sehr gute Arbeit, wie man sagt, doch mit der Pünktlichkeit am Morgen hat er es nicht so. Weiß der Geier, wieso er…Na ja, mich soll’ s nicht weiter kümmern. Ihr solltet das Schreiben ihm direkt übergeben, ja? Gut, wenn Ihr wollt, könnt Ihr in meiner Arbeitsstube auf ihn warten.“

Johann nickte zustimmend. Sie waren bei einer Tür am Ende eines Seitengangs angelangt, die Herr Meier nun aufschloss.

„So, Herr Gutmann, hier ist mein kleines Reich. Setzt Euch dort auf die Holzbank!“

Johann trat ein und nahm auf der Bank Platz, die an der hinteren Wand stand. Sie war beinahe so unbequem wie eine der knarrenden Kirchenbänke, auf die ihn seine Eltern als kleinen Jungen gezwungen hatten. Trotzdem war es besser, als draußen auf dem Boden liegen zu müssen.

Der Stadtschreiber setzte sich inzwischen an seinen riesigen Schreibtisch, auf dem sich eine Unmenge Bücher jeglicher Größe stapelte. Dazu kamen noch zahlreiche Schriftrollen, zumeist alt und vergilbt. Trotzdem herrschte eine außergewöhnliche Ordnung. Jedes Buch schien auf dem ihm angestammten Platz zu liegen, die Schriftrollen waren sorgsam in einer Reihe geordnet. Und auch in den Regalen, die an der Wand hinter dem Schreibtisch angebracht waren, herrschte eine einzigartige Perfektion, die Johann beinahe erschreckte.

Auf dem Schreibtisch standen, klug platziert, zwei blank polierte Öllampen, die Herr Meier entzündete.

„So“, murmelte er zufrieden, „jetzt kann ich wieder einigermaßen sehen. Frisch ans Werk!“

Während er Bücher und Schriftstücke auf dem Schreibtisch von links nach rechts und von vorne nach hinten schob, erzählte der Stadtschreiber dies und das und bemühte sich, einen möglichst emsigen Eindruck auf Johann zu machen. Dieser war jedoch außerordentlich müde und deshalb kein guter Zuhörer. Bald fiel ihm das eine Auge zu, bald das andere, und nach wenigen Minuten war er bereits eingeschlafen. Herr Meier schien dies gar nicht zu bemerken und plauderte munter weiter. Doch wiederum war Johann die Ruhe nicht gegönnt, derer er so dringend bedurfte. Ein kräftiges Klopfen an der Tür ließ ihn aus seinem leichten Schlaf hochschrecken.

„Herrrein!“, sagte Herr Meier auffallend laut und zackig.

Die Tür ging auf, und es trat ein junger Mann von kaum achtzehn Jahren ein, der einen Stapel Bücher unter seinen rechten Arm geklemmt hatte. Auf seinem Kopf saß eine grüne Mütze, die ihn als Kriminalgehilfen auswies. Darunter quollen kecke, blonde Locken hervor, die durch die Mütze kaum gebändigt werden konnten. Johann kannte natürlich die grünen Mützen der Gehilfen, doch diese hier in Amsdorf hatten eine besondere Färbung, eine eigentümlich dunkel-schmutzige Grüntönung.

„Hier sind die Bücher, nach denen Ihr verlangt habt, Herr Stadtschreiber“, sagte der junge Mann freundlich. „Benötigt Ihr sonst noch etwas?“

„Wie? Was? Wer seid Ihr? Kommt näher, damit ich Euch erkennen kann!“ Herr Meier reckte seinen Kopf über den Schreibtisch, rückte seine Brille zurecht und kniff die Augen fest zusammen. Der Besucher, kaum fünf Meter entfernt, kam lächelnd näher, bis er direkt am Schreibtisch stand. Er kannte offensichtlich die Eigenart des Stadtschreibers im Umgang mit seiner Brille.

„Ach, Ihr seid’ s, Herr Euwart. Warum versteckt Ihr Euch in den Schatten? Danke für die Bücher, Ihr könnt gehen. Ich brauche weiter nichts…außer vielleicht einer kleinen Auskunft. Wisst Ihr, ob Herr Eger sich bereits im Haus befindet? Der Mann dort hat ein wichtiges Schreiben an ihn zu besorgen.“

Der Kriminalgehilfe blickte erstaunt in die Richtung, in die der Stadtschreiber deutete. Er hatte Johann noch gar nicht bemerkt und grüßte nun durch ein kaum merkliches Kopfnicken. Johann setzte sich gerade hin und erwiderte das Nicken.

„Äh ja“, fuhr Euwart, der Kriminalgehilfe, fort, „ich habe ihn eben die Treppe nach oben steigen sehen. Wenn das alles war, verabschiede ich mich wieder. Lebt wohl!“

Als die Tür ins Schloss gefallen war, stand Johann mühsam auf, nahm seinen Lederbeutel und trat zu Herrn Meier. Der Rosenduft hatte inzwischen den gesamten Raum durchdrungen, doch in der Nähe des Schreibtisches war es für Johanns Nase kaum auszuhalten. Er bedankte sich bei Herrn Meier für dessen Hilfe, ließ sich den Weg zur Abteilung für Verbrechen an Leib und Leben beschreiben und ging. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich an die Mauer und tat erst einmal einen tüchtigen Atemzug.

„Glücklich aus der Rosenhölle entkommen?“

Johann blickte leicht verwirrt nach links, von wo die fremde Stimme gekommen war. Zwei kleine, dickliche Frauen standen einige Meter entfernt und lachten ihn mit weit geöffneten Mündern an. Sie waren beide in auffallend blumige Kleider gewandet und hatten ihre Haare zu riesigen Knoten gebunden, die wie fette Spinnen auf ihren Köpfen saßen.

„Unser geliebter Herr Meier wird uns mit seinem Rosenduft noch umbringen. An manchen Tagen kann man selbst hier draußen kaum noch atmen!“, sagte die eine.

„…kaum atmen“, echote die andere.

„Ja, gewiss“, erwiderte Johann und machte sich davon. Er hatte keine Lust auf eine längere Unterhaltung mit den seltsamen Frauen, die mit ihren Armen gestenreich in der Luft herumfuchtelten. Als er an den zweien vorbeihuschte, grüßte er nur knapp, ohne sie anzusehen. Zu seinem Schrecken musste er feststellen, dass auch die zwei Holden von einer ansehnlichen Duftwolke umgeben waren, sodass er seine Schritte tunlichst beschleunigte.

„He, warum rennt Ihr davon? Wir haben uns doch noch gar nicht vorgestellt!“, rief ihm die eine empört hinterher. „Seltsamer Kauz!“

„Ein Kauz“, wiederholte die andere.

Das Gebäude der Stadtverwaltung hatte sich inzwischen mit Leben gefüllt. Zahlreiche Männer und Frauen huschten geschäftig hin und her. Johann nahm die Treppe und stieg hinauf bis in den fünften Stock. Gleich neben der ersten Tür linker Hand stand: „Heinrich Eger-Oberkriminalmeister- Abteilung für Verbrechen an Leib und Leben“.

Johann klopfte und wartete. Es ließ sich ein verärgertes „Herein!“ hören, das dem Knurren eines Hundes glich, der beim Fressen gestört wird. Als er die Tür öffnete, fiel sein Blick auf einen kleinen, vielleicht fünfzigjährigen Mann, der hinter einem viel zu großen Schreibtisch saß, auf dem sich nur ein kaum beschriebenes Blatt Papier und ein Tintenfass befanden. Die ehemals wohl vorhandene Haarpracht hatte sich weitgehend verabschiedet, nur die traurigen Reste davon lagen in wenigen Strähnen auf dem ansonsten kahlen Haupt. Dafür besaß Herr Eger einen mächtigen Schnurrbart, dessen leicht ergraute Spitzen kunstvoll in die Höhe gezwirbelt waren.

„Wer seid Ihr?“, bellte er unfreundlich, wobei seine Augen zornig blitzten. In seiner Hand hielt er krampfhaft die Schreibfeder fest, die er eben noch ins Tintenfass getunkt hatte. Das Schreiben bereitete ihm augenscheinlich die größte Mühe, denn dicke Schweißtropfen standen auf seiner hohen Stirn.

„Gutmann. Johann Gutmann. Ich bin Kriminalmeister aus der Hauptstadt und soll Euch ein Schreiben von meinem…“

„Ah, sehr gut. Lasst sehen!“

Der Ton des Oberkriminalmeisters war deutlich freundlicher geworden. Er legte die Feder beiseite, stand auf und streckte Johann die Hände entgegen. Dieser zog das Schreiben aus seinem Lederbeutel hervor und reichte es Herrn Eger. Der kleine Mann nahm es hastig entgegen, riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen, während er sich wieder an seinen Schreibtisch setzte.

„Ich bin äußerst zufrieden mit Euch“, sagte er schließlich, als er fertig gelesen hatte. „Ich habe diese Nachricht bereits mit Spannung erwartet. Doch nun zu Euch. Ihr seht schrecklich aus! Geht es Euch etwa nicht gut?“

„Ich bin leicht übermüdet, aber ansonsten wohlauf. Danke der Nachfrage.“

„Papperlapapp! Am Ende dieses Schreibens berichtet mir Euer Vorgesetzter davon, dass Ihr Euch hier in Amsdorf etwas erholen sollt. Ich werde Euch behilflich sein, eine Unterkunft zu finden.“

„Das ist gar nicht nötig, Herr Eger. Ich…“

„Papperlapapp! Es soll niemand sagen, dass wir unsere Gäste nicht ordentlich unterbringen können. Am liebsten würde ich Euch mein bescheidenes Heim anbieten, aber mein Hausdrache, Ihr versteht mich, hätte da wohl das eine oder andere dagegen einzuwenden. Wir werden aber etwas Passendes für Euch finden. Übrigens, falls Ihr uns…ähm…ein wenig aushelfen wollt…“

Johann wusste nicht, worauf Herr Eger hinaus wollte und sah ihn fragend an.

„Na ja, Ihr wisst schon! Vielleicht wird es Euch langweilig und Ihr sucht eine kleine Betätigung. Womöglich habt Ihr davon gehört, dass Amsdorf im letzten Jahr von einer schlimmen Seuche heimgesucht worden ist, die zahlreiche Opfer unter der Bevölkerung gefordert hat. Zu unserem Unglück blieb auch die Stadtverwaltung nicht davon verschont, meine Abteilung jedoch war besonders stark davon betroffen. Ganze drei Kriminalmeister sind an der Seuche gestorben, und bis heute ist es mir noch nicht gelungen, sie wieder zu ersetzen. Ich bin also um jede Hilfe froh, die ich kriegen kann. Was meint Ihr?“

„Euer Angebot ehrt mich, Herr Eger, aber Ihr wisst, dass ich nicht zum Arbeiten gekommen bin. Ich soll mich erholen und muss Euer Angebot folglich ablehnen. Ich hoffe, Ihr versteht das.“

Der Schnurrbart des Oberkriminalmeisters zuckte leicht. Herr Eger nickte und verließ für einen Augenblick das Zimmer. Johann schüttelte missmutig den Kopf und ging unruhig auf und ab. Dabei fiel sein Blick zufällig auf das Schriftstück, das er aus der Hauptstadt mitgebracht hatte. Neugierig trat er näher heran und begann zu lesen. Er hatte einen höchst wichtigen Inhalt erwartet, doch zu seinem Erstaunen hatten sein Vorgesetzter und Herr Eger, die sich wohl seit längerer Zeit kannten, einen gemeinsamen Jagdausflug vor, zu dem sie sich verabredet hatten. Da sich draußen wieder Schritte vernehmen ließen, trat Johann eiligst vom Schreibtisch zurück, stellte sich ans Fenster und sah hinaus.

„Ah, Herr Gutmann, Ihr genießt den Anblick unserer wunderschönen Stadt!“

Johann drehte sich um. Neben Herrn Eger stand ein junger Mann, der die zwanzig Jahre wohl noch nicht lange überschritten hatte. Seine durchschnittliche Gestalt steckte in einem tadellosen Gewand aus einem feinen Stoff, die dunkelrote Weste war bis oben hin zugeknüpft. Die blonden Haare hatte er fein säuberlich nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden. Das markante, braungebrannte Gesicht wurde durch zwei stahlblaue Augen veredelt, die neugierig um sich blickten. Der Mann konnte beinahe als schön bezeichnet werden, doch etwas störte den äußerst einnehmenden Gesamteindruck: er hatte fürchterliche Segelohren.

„Das ist Ferdinand Gramm“, fuhr der Oberkriminalmeister fort. „Er ist unser jüngster Zugang und hat erst kürzlich seine Ausbildung abgeschlossen. Ich möchte, dass er Euch ein wenig die Stadt zeigt und Euch bei der Suche nach einer passenden Unterkunft behilflich ist.“

Johann trat zu Ferdinand. „Hallo, ich bin Johann.“

„Erfreut. Ferdinand. Ich hörte…“

„Genug jetzt“, fiel Herr Eger ein, „dafür ist später noch genügend Zeit. An welchen Fällen arbeitet Ihr zurzeit, Herr Gramm?“

„Ich habe da die Beschwerde eines alten Marktweibes, dem das scheuende Pferd eines Edelmannes aus dem Nobelviertel den Marktstand zertrümmert und das rechte Bein beschädigt hat oder umgekehrt. Ferner ermitteln wir im Falle eines eifersüchtigen Bäckers aus dem Hafenviertel, der sein Weib wegen einer Nichtigkeit beinahe zu Tode geprügelt hat. Dann wäre da noch…“

„Gut, gut, Herr Gramm. Ich sehe, dass es viel zu tun gibt. Und nun Abmarsch. Vielleicht kann Euch Herr Gutmann den einen oder anderen Ratschlag geben, denn, wie mir mein Freund aus der Hauptstadt schreibt, soll er ein äußerst famoser Kerl sein.“

Johann errötete leicht, während Herr Eger ein breites Grinsen sehen ließ, das seine gelben Zähne offenbarte, und ihm zunickte. Dabei brachte er durch einige geschickte Handbewegungen seinen Schnurrbart, der heute nicht so standhaft zu sein schien wie er sollte, wieder in Form. Ferdinand forderte Johann schließlich zum Mitkommen auf. Herr Eger verabschiedete sie mit einem seltsamen Lächeln und schloss die Tür hinter ihnen.

Ferdinand ging voran in seine Arbeitsstube, die recht karg eingerichtet war. Außer ein paar lieblos zusammengezimmerten Regalen, die an den Wänden befestigt waren, befanden sich nur zwei alte Schreibpulte im Raum. Auf dem einen lagen allerlei Gegenstände, darunter ein gebogener Dolch, wahrscheinlich die Tatwaffe eines Verbrechens. Auf dem zweiten Schreibpult lagen, von einer dicken Staubschicht bedeckt, nur ein paar Fetzen Papier und eine zerbrochene Schreibfeder.

„Wie du siehst“, erklärte Ferdinand, „bin ich derzeit noch alleine. Ich war damals, als uns die Seuche in ihrem schrecklichen Würgegriff hatte, gerade mitten in meiner Ausbildung, die ich erst kürzlich abgeschlossen habe. Üblicherweise werden die neuen Kriminalmeister ja einem erfahrenen Partner zugeteilt, aber der Platz an meiner Seite ist leer.“

„…und verstaubt!“, ergänzte Johann schmunzelnd.

Ferdinand wühlte kurz in seinen Papieren herum, dann war er zum Abmarsch bereit.

„Nun aber los! Ich werde dir meine schöne Heimatstadt ein wenig zeigen, wenn du Lust hast. Dabei können wir uns auch nach einer geeigneten Wohnmöglichkeit umsehen.“

Ferdinand war sichtlich froh, der Enge seiner Arbeitsstube entfliehen zu können, und verließ mit Johann das Gebäude der Stadtverwaltung. Die Stadt hatte sich inzwischen mit Leben gefüllt. Zahlreiche Fuhrwerke, von starkknochigen Pferden und kräftigen Ochsen gezogen, ratterten über das Kopfsteinpflaster der Grafenstraße. Mit seinem Hafen war Amsdorf ein wichtiger Umschlagplatz für die verschiedensten Waren.

Ein hochnäsiger Herr trabte auf seinem edlen Pferd vorbei, ein einfach gekleideter Bauer trieb zwei abgemagerte Ziegen in Richtung Hafen, wobei er fleißig Gebrauch von einem knotigen Stock machte, den er in seiner kräftigen Hand hielt. Dazwischen tummelte sich allerlei Volk und rundete das malerische Bild ab, das sich dem erfreuten Betrachter bot.

Die zwei Kriminalmeister mussten einige Augenblicke warten, ehe es ihnen gelang, sich zwischen den Fuhrwerken einen Weg über die Straße zu bahnen. Sie strebten nordwärts und tauchten bald ins Gewirr der engen Gassen ein. Johann überkam eine wohlige Geborgenheit, denn hier, abseits der geschäftigen Grafenstraße, war alles ein wenig beschaulicher. Ohne jegliche Hektik gingen die Menschen ihrer Beschäftigung nach.

Johann ging unwillkürlich langsamer und betrachtete neugierig die kunstvollen Holzschilder, die vor den Läden hingen. Es gab einen Flickschuster, einen Zuckerbäcker, einen Spinnradbauer, einen Korbflechter, einen Kammmacher. Aus einem offenen Fenster erklang eine Gitarre, die lieblich und kunstvoll gezupft wurde. Mehrere Passanten waren stehen geblieben, um einige Augenblicke lang den wohlklingenden Tönen zu lauschen.

Die zwei Kriminalmeister gingen weiter und kamen bald an einen Turm aus groben Steinquadern, der sich zwischen den Häusern stolz in die Höhe schraubte, als ob er rufen wollte: Seht her, wie hoch hinaus ich es geschafft habe!

Ferdinand öffnete die schwere Holztür, die nur angelehnt war, und stieg vor Johann die engen Treppenwindungen hinauf. Dabei erklärte er, dass dieser Turm der Abteilung für Feuer- und Brandschutz als Beobachtungsturm diente. Von dort oben war es möglich, einen Brandherd in den Gassen rasch zu entdecken. Obschon ein guter Teil der Stadt aus Steinhäusern bestand, gab es doch noch zahlreiche Straßenzüge, die vollständig aus alten Holzhäusern bestanden. Ein Brand konnte sich rasch ausbreiten und ein ganzes Viertel in Schutt und Asche legen.

Im Inneren des Turms war es unglaublich düster, da das Tageslicht nur durch einige schmale Öffnungen nach innen fiel. Die zwei Kriminalmeister tasteten sich deshalb sehr vorsichtig die schmale Steintreppe nach oben, bis sie ins Freie traten. Eine baufällig wirkende Brüstung aus altem Holz lief rund um den Turm. Eine mächtige Glocke, die im vormittäglichen Sonnenlicht prachtvoll glänzte, sollte im Notfall Alarm schlagen.

Plötzlich zuckte Johann zusammen, denn er hörte Schritte hinter sich. Er drehte sich um und sah einen Mann in einer feuerroten Uniform, der gemessenen Schrittes näher kam und dabei angestrengt hinab auf die Häuser blickte. Johann sprach den Uniformierten an, der sich als Feuerschützer vorstellte und über seine Arbeit berichtete. Währenddessen setzte er aber unbeirrt seinen Rundgang fort, sodass Johann ihn begleiten musste. Schließlich erzählte auch Johann ein wenig über sich und den Grund seines Besuches in Amsdorf. Dabei kam die Sprache auch auf die Unterkunft, nach der er suchte. Der Feuerschützer erklärte, dass er Johann ein älteres Ehepaar empfehlen könne, das im Bürgerviertel kleine, einfache Zimmer für wenig Geld vermieten würde. Sie hießen Gruber, seien zwei reizende Personen, kinderlos und äußerst umgänglich. Zudem liege ihre Wohnung unfern der Stadtverwaltung. Johann ließ sich den Weg dorthin beschreiben und bedankte sich herzlich für den guten Ratschlag. Dann gesellte er sich wieder zu Ferdinand, während der Feuerschützer weiter seine Kreise zog.

Ferdinand hatte inzwischen den herrlichen Ausblick genossen, der sich von hier oben dem staunenden Auge bot. Amsdorf war annähernd rechteckig angelegt und zog sich vom Meer im Westen bis hin zur Ostseite des Talkessels, wo die Grafenstraße aus der Stadt hinausführte. Der Turm stand beinahe im Zentrum der Stadt, sodass man alle vier Stadtviertel gleichermaßen gut überblicken konnte. Im Nordosten lag das prachtvolle Nobelviertel mit riesigen Prunkbauten, umgeben von weitläufigen Gärten und Teichlandschaften, die zum Verweilen einluden. Zusammen mit dem Hafenviertel im Nordwesten bildete es den Nordteil von Amsdorf, der durch die Grafenstraße vom südlichen Teil getrennt war. Der Hafenbereich selbst bildete nur einen Teil des Hafenviertels, der Rest bestand aus unzähligen, verwinkelten Gassen, in denen einfache, alte Häuser standen. Zahlreiche Händler und Kaufleute hatten sich dort niedergelassen. Im Südosten der Stadt befand sich das Bürgerviertel mit seinen gepflegten, soliden Häusern, während der südwestliche Zipfel durch das Armenviertel gebildet wurde, das ebenso ans Meer grenzte wie das Hafenviertel. Es bestand zu einem beträchtlichen Teil aus Ruinen, verfallenen oder baufälligen Häusern und bot selbst von hier oben einen trostlosen Anblick. Da die meisten Gebäude der Stadt nur ein oder zwei Stockwerke besaßen, war das riesige Häusermeer gut zu überblicken. Die einzelnen Viertel waren durch keine Mauern oder Zäune voneinander getrennt, doch die Soldaten des Grafen hatten laut Ferdinand zumindest den Auftrag, unerwünschte Besucher vom Nobelviertel fernzuhalten.

„Dort drüben“, erklärte Ferdinand und zeigte nach Nordosten, ins Nobelviertel, „liegt das Schloss unseres geliebten Grafen Friedrich. Er ist unser oberster Dienstherr.“

„Sein Schloss kann sich sehen lassen“, antwortete Johann und betrachtete den gedrungenen Bau, der sich am Rande des Nobelviertels an den Berghang schmiegte. Die drei Wachtürme des Schlosses wirkten ein wenig zu schmächtig und konnten ihre Pracht nicht ganz entfalten, da sie vor der dahinterliegenden Felswand nicht richtig zur Geltung kamen. Trotzdem war das Schloss beeindruckend, allein schon durch seine Größe.

Aus den Bergen im Norden floss ein Bächlein herab nach Amsdorf, wo es sein Wasser in einem gut fünf Meter breiten, gemauerten Kanal durch das Nobel- und das Hafenviertel dem Meer entgegenführte. Im Nobelviertel speiste das Bächlein einen kleinen See, an dessen Ufer sich die feinen Damen und Herren zu vergnügen pflegten.

Alles in allem machte Amsdorf einen überaus angenehmen Eindruck auf Johann, sodass er sich bereits auf die kommenden Tage freute, die der Erholung dienen sollten. Er verabschiedete sich noch einmal vom emsigen Feuerschützer und stieg mit Ferdinand wieder vom Turm herab, um sich ins Bürgerviertel aufzumachen. Sie hatten keinerlei Schwierigkeiten, das Haus zu finden, in dem das Ehepaar Gruber wohnte. Herr Gruber war nicht zu Hause, doch seine Frau, eine reizende, ältere Dame, erklärte, dass noch ein Zimmer frei sei. Johann unterzog es einer oberflächlichen Besichtigung, befand es für gut und sagte sofort zu. Er hatte keine großen Ansprüche und wurde mit Frau Gruber über den Preis schnell handelseinig.

Da Ferdinand die ihm von Herrn Eger aufgetragene Aufgabe hiermit erledigt hatte, verabschiedete er sich, um zurück in die Stadtverwaltung zu gehen. Johann sagte zu, ihn bei Gelegenheit dort aufzusuchen, um ein wenig über dies und das zu plaudern.

Als Ferdinand gegangen war, ließ Johann sich von Frau Gruber die wichtigsten Hausregeln erläutern und legte sich dann ins Bett. Er war müde und musste einige Stunden Schlaf nachholen.

Es war bereits weit nach Mittag, als er aus seinem Zimmer trat. Seine Vermieterin saß in einem bequemen Schaukelstuhl und strickte an einer weißen Mütze, die ihr Mann erhalten sollte. Johann verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Er wollte den Rest des Nachmittags dazu nutzen, ein wenig durch die Stadt zu streifen und sie auf sich wirken zu lassen.

Als der Kriminalmeister am späten Abend heimkehrte, hatte er jedoch kaum etwas von der Stadt gesehen. Ganz in der Nähe seiner Unterkunft hatte er eine einladende Schänke entdeckt, die ihn für mehrere Stunden an den Tresen gefesselt hatte, wo er das eine oder andere kräftige Bier zu sich genommen und sich mit dem Wirt unterhalten hatte. Frau Gruber, die noch immer oder schon wieder an ihrer Strickarbeit saß, legte die beinahe fertige Mütze beiseite und erhob sich aus dem Schaukelstuhl. Sie sah ihn prüfend an, denn Johanns glasige Augen waren ein untrügliches Zeichen, dass er dem Alkohol fleißig zugesprochen hatte. Sie hatte jedoch so viel Anstand, dass sie dies mit keinem Wort erwähnte. Stattdessen erklärte sie, dass er sich gegen einen kleinen Aufpreis auch gerne verköstigen lassen könne, was Johann dankend annahm.

Während Frau Gruber das Abendessen zubereitete, legte sich Johann noch kurz in sein Bett. Das viele Bier hatte ihm gar nicht gut getan. Bis vor kurzem hatte er kaum einen Tropfen Alkohol getrunken, doch die Probleme in seiner Ehe und die Arbeitsbelastungen hatten ihm dermaßen zugesetzt, dass er immer öfter ein Glas zu viel getrunken hatte. Wie oft hatte er sich selbst dafür verflucht! Und nun lag er schon wieder angetrunken im Bett. Johann seufzte.

Als Frau Gruber ihn später zum Essen rief, hatte er sich wieder halbwegs gefangen. Herr Gruber, ein feiner, bescheidener Herr, war inzwischen nach Hause gekommen und saß mit am Tisch. Es gab eine ausgesprochen schmackhafte Gemüsebrühe, von der Johann zwei Teller voll zu sich nahm. Dabei musste er dem Ehepaar Gruber über die Hauptstadt und seine Arbeit als Kriminalmeister erzählen, während er über seine Vermieter kaum etwas in Erfahrung bringen konnte. Schließlich bat er, sich zurückziehen zu dürfen, da er nach der langen Reise und dem Tag in Amsdorf ziemlich angegriffen sei. Frau Gruber nickte wohlwollend und wünschte eine angenehme Nachtruhe.

„Ein äußerst netter, junger Mann“, hörte Johann Frau Gruber flüstern, als er beinahe seine Zimmertür erreicht hatte.

„Jaja“, antwortete ihr Mann etwas lauter, „er erinnert mich an den jungen Herrn Gruber. Gut aussehend, gebildet und zuvorkommend!“

„Ha!“, prustete sie nun lauthals. „Zwei dieser drei Eigenschaften hast du dir dazugedichtet, aber ein verdammt hübscher Kerl warst du allemal!“

Die zwei kicherten, während Johann lächelnd sein kleines Zimmer betrat. Ohne sich zu entkleiden, ließ er sich aufs Bett fallen. Die Unterhaltung hatte ihn zusätzlich geschwächt, denn er hatte krampfhaft versucht, einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen, was angesichts seines angegriffenen Gesundheitszustandes und des Alkohols, den er getrunken hatte, nicht leicht gewesen war. Nun war er am Ende seiner Kräfte und schlief ein, kurz nachdem er seine Augen geschlossen hatte.

2. KAPITEL

Johann lag noch in unruhigem Schlaf in seinem Bett, als es plötzlich ungestüm an seiner Zimmertür pochte. Erschrocken fuhr er hoch und starrte um sich. Es war stockdunkel. Das Pochen ging ihm durch Mark und Bein. Wie betäubt langte er mit einer Hand zum Nachtkästchen, bis er die schmale Kerze ertastet hatte. Nach einiger Zeit hatte er auch die Streichholzschachtel gefunden. Der Krach schien sich noch zu verstärken.

„Ich komme ja schon“, brummte er unwillig, doch dermaßen leise, dass es draußen vor der Tür nicht zu hören war. Schließlich gelang es ihm, die Kerze anzuzünden. Der Raum, den sie zaghaft beleuchtete, war ihm fremd, und nur langsam kam die Erinnerung wieder. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und gähnte.

„Verdammt noch mal!“, brüllte er plötzlich, denn das Hämmern an der Tür war noch lauter geworden und schien in seinem ganzen Körper widerzuhallen. Er nahm die Kerze in die Hand, stand auf und schlurfte zur Tür. Seine schwache Hand griff nach dem Riegel und schob ihn zurück. Als er die Tür öffnete, erkannte Johann die schemenhaften Umrisse einer Person.

„Wer seid Ihr, und was soll dieser Aufruhr mitten in der Nacht?“

„Na ich bin’ s! Ferdinand!“

„Wie? Ich kenne keinen Ferd…Ah! Du …Was ist los?“ Johann hielt die Kerze ein wenig zur Seite, sodass er den blonden Kriminalmeister erkennen konnte. „Und wie kommst du hier herein?“

„Frau Gruber hat mich reingelassen, aber nun sieh zu, dass du munter wirst!“

„Was? Wieso denn das? Ich…was soll denn das? Erlaubst du dir einen bösen Scherz, dass du mich um meinen wohlverdienten Schlaf bringst?“

„Nichts dergleichen! Ich…äh…“

„Was?“

„Ich…ich…brauche Hilfe!“ Ferdinand sprach plötzlich sehr leise und hatte seinen Blick gesenkt.

„Hilfe? Wobei?“

„Bei einem Mord.“

„Einem Mord? Was habe ich denn damit zu tun? Ich …“

„Es ist mir sehr wohl bewusst“, unterbrach ihn Ferdinand, „dass du nicht hier bist, um unserer Abteilung unter die Arme zu greifen, aber wann hat man denn schon einmal die Gelegenheit, ins Schloss zu gelangen, wo…“

„Ins gräfliche Schloss?“ Johanns Neugier schien geweckt zu sein.

„Ganz genau“, antwortete Ferdinand. „Der Mord wurde dort verübt, und so…“

„Kein weiteres Wort mehr!“ rief Johann. „Ich bin zwar ein Esel, wenn ich mich in der ersten Nacht schon aus dem Bett werfen lasse, um zu arbeiten, aber diese Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen!“

„Ausgezeichnet!“ Ferdinand jubelte.

„Ich werde jedoch selbst bestimmen“, fuhr Johann fort, „wann ich aufhöre.“

„Selbstverständlich, Johann. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Ich…“

„Gut, gut! Genug jetzt! Warte draußen auf mich, ich bin gleich bei dir.“

Während Ferdinand die Tür schloss, stand Johann auf und öffnete das Fenster. Die dunkle Nacht sprang ihm ins Gesicht, sein schmerzender Kopf schien noch schwerer zu werden. Plötzlich schlug die nahe Kirchturmglocke. Eins, zwei, drei, vier, fünf Schläge, die in Johanns Kopf wie Donnerschläge widerhallten. Er trat zu einem Stuhl, auf dem eine große, eherne Schüssel mit kaltem Wasser stand, tauchte seine zitternden Hände hinein und fuhr sich damit übers Gesicht. Das Wasser hatte eine belebende Wirkung, die Kälte dämpfte den stechenden Schmerz. Er wiederholte gierig den Vorgang, bis die Schüssel beinahe leer war, auch wenn das meiste Wasser über die Schüssel geschwappt war und sich auf den Holzboden ergossen hatte. Johann schloss die Augen und spürte, wie die Tropfen über sein Gesicht perlten. Er atmete tief durch und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Dann griff er nach dem Handtuch, das über der Stuhllehne hing, und tupfte sich das Gesicht ab. Da er in den Kleidern geschlafen hatte, war er zum Abmarsch bereit.

Als Johann aus dem Zimmer trat, eilte ihm Frau Gruber entgegen, das Gesicht in Sorgenfalten gelegt. Sie meinte, er sehe schrecklich aus und könne in diesem Zustand nicht aus dem Haus gehen. Die gute Frau hatte inzwischen einen Tee gekocht und in eine riesige Blechtasse gefüllt, die sie Johann nun in die Hand drückte. Der Kriminalmeister nahm die Tasse dankbar entgegen und schlürfte hastig das heiße Getränk. Dabei verbrannte er sich leicht die Zunge, doch ein wohliges Gefühl schlich durch die Speiseröhre hinab und in den Magen, von wo aus es sich bis in alle Zellen seines geschwächten Körpers auszudehnen schien. Frau Gruber sah mit Freude, wie der Trunk den jungen Mann belebte, und steckte ihm noch ein Stück Brot in die Westentasche. Johann drückte ihr dankbar die Hand und machte sich auf den Weg.

Als er aus dem Haus und auf die Straße trat, kamen zwei Männer auf ihn zu, die an der gegenüberliegenden Hauswand gewartet hatten. Es waren Ferdinand und ein junger Kriminalgehilfe. Johann grüßte diesen und fragte nach den Einzelheiten zum Mordfall. Der Gehilfe konnte jedoch kaum Nennenswertes berichten. Er wusste nur von einer Toten im gräflichen Schloss. Mehr sei dem verstörten Soldaten nicht zu entlocken gewesen, der zur Stadtverwaltung geschickt worden war und nach dem knappen Bericht sofort wieder zurückgekehrt war.

Und so schritten die drei Männer zügig nordwärts bis zur Grafenstraße, die sie überquerten, um das Nobelviertel zu betreten. Dabei aß Johann ein Stück des Brotes von Frau Gruber, auch wenn er so früh am Morgen noch keinen Hunger hatte.

Die wenigen Gaslampen an den Häuserfronten spendeten ein kaum brauchbares Licht; die meisten Straßen und Gassen lagen in geheimnisvollem Dunkel, das nur der Mond ein wenig erhellte.

Unter einer der Gaslampen stand ein Soldat, der nun herbeikam, um Johann und seine Begleiter aufzuhalten.

„Halt! Kein Mensch betritt das Nobelviertel, ohne sich gebührend auszuweisen! Wer seid Ihr, Nachtschleicher?“

Der Kriminalgehilfe, der voranging, blieb stehen und erwartete den Soldaten. „Was erlaubt Ihr Euch, Soldatenbursche? Habt Ihr keine Augen im Kopf, dass Ihr nicht sehen könnt, dass ich ein Kriminalgehilfe bin und zwei Kriminalmeister begleite? Wollt Ihr sie daran hindern, ihre Arbeit zu tun?“

„Tut mir leid“, sagte der Wachsoldat kleinlaut. „Ich bin neu hier und habe Anweisung, niemanden passieren zu lassen, der sich nicht ausweisen kann.“

„Schon gut, Soldat“, fiel Ferdinand ein, „hier habt Ihr mein Erkennungszeichen.“

Er zog ein rundes Stück Metall hervor und hielt es dem Soldaten unter die Nase, der es kurz betrachtete und zustimmend nickte. Während Ferdinand mit dem Gehilfen weiterging, blieb Johann noch zurück. Er wollte wissen, ob der Soldat in den letzten Stunden irgendwelche Beobachtungen gemacht hatte, vielleicht einen flüchtenden Mann. Der Soldat überlegte kurz, bevor er verneinend den Kopf schüttelte. Johann bedankte sich und folgte den beiden anderen. Er wusste noch nichts über den Mord im Schloss, aber wie ein alter Jagdhund schnupperte er bereits, um eine erste Fährte zu finden.

Johann hatte die anderen bald eingeholt. Ihr Weg führte sie quer durchs Nobelviertel, in dem außer wenigen Soldaten kaum ein Mensch auf den Straßen zu sehen war. Trotz der Dunkelheit war Johann beeindruckt von den Prachtbauten und den weitläufigen Parkanlagen, an denen sie vorbeikamen. Die Häuser waren klobig und wirkten abweisend auf den Betrachter. Die Fenster waren meist mit dicken Gitterstäben gesichert, vor einigen besonders gewaltigen Bauten standen private Wachleute und musterten die drei Gestalten aufmerksam, die zu so früher Stunde unterwegs waren.

Schließlich kamen die drei an den Randbezirk des Viertels, wo ein Weg in engen Windungen leicht ansteigend hinauf zum Schloss führte. Ein schweres, kunstvoll verziertes Eisentor, auf dem eine goldene Krone prangte, versperrte den Zugang zu diesem Weg. Bei den hier Wache haltenden Soldaten stand ein älterer, gut gekleideter Mann. Er schien die Ankömmlinge erwartet zu haben, denn er kam ihnen gemessenen Schrittes entgegen, wobei er mit seinem rechten Arm kunstvoll in der Luft wedelte.

„Willkommen, meine Herren! Ihr müsst die Kriminalmeister sein, nach denen ich geschickt habe. Mein Name ist Egbert, ich bin Diener im gräflichen Schloss und verantwortlich für dies und das. Folgt mir bitte!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder um und ging zurück zum Tor, das von einem der Soldaten geöffnet wurde. Egbert bückte sich, nahm eine brennende Fackel, die in einem Erdhügel am Straßenrand gesteckt hatte, und schritt selbstbewusst voran. Erst jetzt fiel Johann und den anderen auf, dass der Diener nur einen Arm, den rechten, hatte. Der linke Ärmel seines purpurnen Gewandes hing leer herab und wehte leicht im aufkommenden Wind.

Der Diener ging immer schneller, sodass die anderen Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Sie blieben ein wenig zurück, tuschelten heimlich und suchten eine Antwort auf die Frage, wofür der Diener für ‚dies und das’ denn zuständig sein könnte. Als sie schließlich vor dem großen Schlosstor standen, waren sie jedoch zu keinem Ergebnis gekommen.

Egbert trat zu einer kleinen Tür, die in das große Schlosstor eingelassen war, und klopfte mit dem unteren Ende der Fackel dagegen. Ein Wachsoldat öffnete und ließ die Männer passieren. Sie betraten einen kargen Innenhof, der auf drei Seiten von Gebäuden umschlossen war. Egbert sah sich nach seinen Begleitern um und führte sie ins Hauptgebäude, dessen Eingangstor offenstand. Dahinter führte eine schmale Steintreppe hinab in den Kerkerbereich, der vor Jahrhunderten in den harten Felsen getrieben worden war. Trotz der frühen Stunde schienen bereits sämtliche Schlossbewohner auf den Beinen zu sein und sich hier versammelt zu haben. Sie standen oder saßen, aufgeregt plaudernd oder bestürzt schweigend, auf den Stufen und erschwerten dadurch das Fortkommen.

„Zur Seite mit dir, du dickes Kerlchen! Obacht! Macht doch Platz! Halte deine Beine gefälligst irgendwo anders hin!“

Egbert hatte für jeden, der ihm nicht schnell genug Platz machte, eine passende Bemerkung. Eine besonders dicke Dame, die noch recht verschlafen wirkte und ihr Gewand schlampig um die drallen Hüften gebunden hatte, stolperte beim Versuch, sich möglichst eng an die Felswand zu drücken, und kam dem einarmigen Diener und seiner Fackel gefährlich nahe. Einen spitzen Schrei ausstoßend, riss sie Egbert mit sich zu Boden und fiel mit all ihren Pfunden auf den armen Mann. Dieser hatte noch versucht, geistesgegenwärtig seine Fackel von der Dicken fernzuhalten, doch das Unglück war zu schnell über ihn hereingebrochen. Das Kleid der Dame geriet in die Flamme und begann zu brennen. Sie fürchtete um ihr Leben und brüllte aus Leibeskräften. Der arme Diener war durch zweierlei Umstände bedroht. Auf der einen Seite geriet auch er in Gefahr, von den Flammen erfasst zu werden. Auf der anderen Seite nahm ihm die brennende Frau, die mit ihrem vollen Gewicht auf ihm lag, beinahe den Atem. Die anderen Leute, die drum herum standen, begannen ebenfalls in panischer Angst zu schreien, unternahmen aber nichts, um den zwei Verunglückten Hilfe zu bringen. Diese nahte jedoch in Gestalt der beiden Kriminalmeister, die einige Schritte hinter dem Diener gegangen waren.

Schräg hinter Johann stand ein Mann, der einen leichten Mantel über die Schultern geworfen hatte. Johann riss dem verdutzten Mann den Mantel vom Leib und reichte ihn Ferdinand, der vor ihm stand. Dieser warf ihn über die Dicke und den darunter liegenden Diener und konnte damit das Feuer ersticken. Nach wenigen Sekunden waren Kleid und Fackel gelöscht. Während sich die Menge langsam beruhigte, schrie die gelöschte Dame weiter, schien aber ansonsten erstarrt zu sein. Sie bewegte sich kaum, und wenn sie nicht geschrien hätte, hätte man sie beinahe für tot halten können. Die zwei Kriminalmeister packten sie und rollten sie von Egbert herunter, der bereits erste Anzeichen eines nahenden Erstickungstodes zeigte und jämmerlich nach Luft schnappte.

In diesem Augenblick kamen von unten einige Wachsoldaten die Treppe heraufgestürmt, um nach der Ursache des Tumults zu forschen. Ferdinand gab sich als Kriminalmeister zu erkennen und bat, dafür zu sorgen, dass alle Neugierigen aus dem Treppenbereich vertrieben würden. Johann half inzwischen Egbert auf die Beine und drängte sich die Treppen hinab, bis er vor dem eigentlichen Kerkerbereich stand, der von Soldaten abgeriegelt war. Ferdinand und der Gehilfe kamen nach. Hinter ihnen gab es tumultartige Szenen, da die Soldaten bei ihrer Aufgabe nicht gerade zimperlich vorgingen. Es gab Flüche und manch derbes Wort, der eine oder andere trug wohl ein paar Prellungen davon. Von der dicken Dame war nichts mehr zu hören, doch es sollte sich später herausstellen, dass sie keinerlei ernsthafte Verletzungen davongetragen hatte.

Am Ende der Treppe, wo es geradeaus weiter zu den Zellen ging, setzte sich Egbert auf den Boden. Er japste noch immer wie ein abgehetzter Hund, doch nach wenigen Minuten schien er wieder ganz der Alte zu sein. Während die Soldaten noch beschäftigt waren, führte er seine Begleiter weiter.

In regelmäßigen Abständen steckten Fackeln an den grob behauenen Felswänden, die ein schauriges Licht auf die Gruppe warfen, die an den kleinen, dunklen Zellen vorbeiging, aus denen manch trauriges Auge zwischen den dicken Eisenstäben nach draußen blickte. Einer der Gefangenen ließ seiner Wut freien Lauf und schimpfte wie ein Besessener, ein anderer stöhnte laut.

„Ah, da kommen die feinen Herren“, zischte plötzlich eines der bedauernswerten Geschöpfe. „Gibt wohl was zu sehen, was? Ich hab’ s gesehen, ich hab’ s gesehen! Was gebt Ihr dafür, dass ich es Euch sage, werte Herren?“

Egbert trat an seine Zelle und fuhr ihn derb an. „Schweig, Unseliger! Was kannst du denn schon gesehen haben, da du doch hier in deiner dunklen Zelle verrottest? Halt dein dreckiges Maul und leg dich in die Ecke!“

Das grobe Auftreten passte nicht so recht zum feinen Äußeren des Dieners. Zudem war Johann anderer Meinung, was eine mögliche Beobachtung des Gefangenen betraf. Er warf einen schnellen Blick in die Zelle, konnte aber nichts erkennen. Der Mann hatte sich wohl zurückgezogen, wie Egbert es ihm geheißen hatte.

Hinter den Zellen, in denen laut Egbert gegenwärtig sieben männliche und zwei weibliche Gefangene schmachteten, lagen drei sogenannte Folterstuben, die durch keine Tür versperrt waren. Egbert erklärte, dass so die Schreie der Gefolterten ungehindert nach draußen und bis zu den Zellen dringen könnten. Die Gefangenen würden dadurch in Angst und Panik versetzt

Johann blickte in die erste der Folterstuben, an der sie vorbeikamen. Drinnen brannte kein Licht, doch die Fackel draußen im Gang warf einen bizarren Lichtschein hinein. Der Kriminalmeister erkannte eine Streckbank, Schandgeigen, Sägen und anderes Folterwerkzeug mehr. Auf dem Boden waren mehrere große Flecken zu sehen, vertrocknetes Blut, das sich im Steinboden verewigt hatte und Zeugnis gab von schrecklichen Ereignissen, die sich hier abgespielt haben mussten. Noch nie hatte Johann einen derart schauderhaften und unheimlichen Ort gesehen. Es fröstelte ihn. Er musste kurz stehen bleiben, um sich zu sammeln. Sein Körper schien plötzlich wie gelähmt, sein Herz raste. Was machte er, verdammt noch mal, an diesem Ort? Er sollte sich erholen, und nun steckte er mitten in einem Kriminalfall!

Die anderen waren inzwischen langsam weiter gegangen, bis sie am Ende des Gangs an die größte der drei Folterstuben kamen. Plötzlich stieß der Kriminalgehilfe einen Schreckensruf aus und rannte in Panik den Gang zurück, wo er irgendwo verschwand. Johann schreckte hoch und blickte ihm bestürzt nach. Dann drehte er sich um und sah, wie Ferdinand taumelnd auf ihn zu kam, in eine finstere Ecke wankte und sich übergeben musste. Sein Körper wurde mehrmals krampfartig geschüttelt.

Egbert stand derweilen ungerührt am Eingang zur Folterstube und winkte Johann zu sich, der ihm zunickte. Der Kriminalmeister erwartete das Schlimmste. Er hatte sich wieder einigermaßen im Griff, doch seine Schritte waren schwer und langsam, als er in Richtung Egbert ging. Die zweite Folterstube würdigte er keines Blickes. Er starrte nur geradeaus, am seltsam lächelnden Diener vorbei. Seinen vor Schreck erstarrten Augen bot sich ein wahrhaft grauenvolles Bild.

Eine alte Frau, um deren knochige Fußgelenke schwere, von Rost zerfressene Eisenketten gelegt waren, hing kopfüber von der Decke. Ihr Kopf war in eine eiserne Presse gespannt, die ihren Schädel gequetscht hatte. Die langen grauen Haare hingen wirr herab, von Blut und Angstschweiß getränkt. Die leeren Augenhöhlen, aus denen die Augäpfel entfernt worden waren, schienen Johann Hilfe flehend anzustarren. Der Brustkorb war geöffnet worden, das Herz herausgerissen. Alles war voller Blut.