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Große Schlachten, klirrende Schwerter, mutige Krieger – der Kampf um England hat begonnen.
Britannien 635: Nach der Schlacht von Hefenfelth hat Oswald seine Macht als König von Northumbria gefestigt und plant weitere Eroberungen. Doch dann durchkreuzt ein Aufstand der Pikten seine Absichten, und Oswald begibt sich auf dem schnellsten Weg nach Norden. Schweren Herzens muss er auch die Vorbereitungen seiner Hochzeit mit Cyneburg, der Prinzessin von Wessex, unterbrechen. An seiner Stelle soll der ihm treu ergebene Krieger Beobrand die Prinzessin in ihre neue Heimat Northumbria begleiten. Beobrand begibt sich mit Cyneburg auf eine höchst gefährliche Reise voll tödlicher Gefahren. Doch er ist bereit, im Dienst für seinen König bis aufs Blut zu kämpfen ...
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Seitenzahl: 521
Buch
Britannien 635: Nach der Schlacht von Hefenfelth hat Oswald seine Macht als König von Northumbria gefestigt und plant weitere Eroberungen. Doch dann durchkreuzt ein Aufstand der Pikten seine Absichten, und Oswald begibt sich auf dem schnellsten Weg nach Norden. Schweren Herzens muss er auch die Vorbereitungen seiner Hochzeit mit Cyneburg, der Prinzessin von Wessex, unterbrechen. An seiner Stelle soll der ihm treu ergebene Krieger Beobrand die Prinzessin in ihre neue Heimat Northumbria begleiten. Beobrand begibt sich mit Cyneburg auf eine höchst gefährliche Reise voll tödlicher Gefahren. Doch er ist bereit, im Dienst für seinen König bis aufs Blut zu kämpfen …
Autor
Matthew Harffy wuchs in Northumberland auf, wo ihn die zerklüftete Landschaft, die Burgruinen und die felsige Küste zu seinen historischen Romanen inspirierten. Heute lebt der Autor mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Wiltshire, England. »Krone und Macht« ist der dritte Band einer Reihe um den jungen Krieger Beobrand.
Weitere Informationen zum Autor unter
matthewharffy.com und unter
facebook.com/MatthewHarffyAuthor.
Matthew Harffy
Die Chroniken von Bernicia
Historischer Roman
Aus dem Englischen
von Leo Strohm
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Blood and Blade« bei Aria, an imprint of Head of Zeus, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2023
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Matthew Harffy
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten:
UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: KollaborationJS/trevillion images;
FinePic®, München
Redaktion: Susanne Bartel
Karte: © Peter Palm, Berlin
BH · Herstellung: ik
Satz: KCFG–Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-29597-4V001
www.goldmann-verlag.de
Für Gareth
»Ich habe deine Freundschaft.
Das ist genug.«
Die Ortsbezeichnungen im Britannien des frühen Mittelalters fallen je nach Zeit, Sprache, Dialekt und jeweiligem Schreiber zum Teil recht unterschiedlich aus. Ich habe mich bei der Wahl der Ortsnamen nicht an eine bestimmte Konvention gehalten, sondern in der Regel die Bezeichnung gewählt, die meines Erachtens am ehesten der im siebten Jahrhundert gebräuchlichen entspricht. Doch genau wie die Schreiber der damaligen Zeit habe auch ich mir gelegentlich eine gewisse künstlerische Freiheit genommen und mich für den Namen entschieden, der mir am besten gefällt.
Afen
der Fluss Avon
Albion
Großbritannien
Bebbanburg
Bamburgh
Berewic
Berwick-upon-Tweed
Bernicia
Königreich im nördlichen Teil von Northumbria, das sich vom River Tyne im Süden bis zum Firth of Forth im Norden erstreckt und in etwa dem Gebiet der heutigen Grafschaften Northumberland und Durham entspricht
Cantware
Kent
Cantwareburh
Canterbury
Dál Riata
Kleinkönigreich, das Gebiete an der schottischen Westküste sowie die Grafschaft Antrim im Nordosten Irlands umfasst und Heimat der keltischen Skoten ist
Deira
Königreich im südlichen Teil von Northumbria, das sich ungefähr vom Humber im Süden bis zum River Tyne im Norden erstreckt
Din Eidyn
Edinburgh
Dommoc
Dunwich in Suffolk
Dor
Dore in Yorkshire
Dorcic
Dorchester-on-Thames
Dun
der Fluss Don
Elmet
unabhängiges britisches Königreich, dessen Gebiet in etwa dem westlichen Verwaltungsbezirk der heutigen Grafschaft Yorkshire entspricht
Engelmynster
fiktiver Ort in Deira
Eoferwic
York
Frankia
Frankreich
Gefrin
Yeavering, ein kleiner Ort in Northumberland, etwa 15 Kilometer von Bebbanburg entfernt
Gwynedd
Gwynedd in Nordwales
Hefenfelth
Heavenfield
Hibernia
Irland
Hii
Iona
Hithe
Hythe in Kent
Lindisfarena
Lindisfarne
Lunden
die Stadt London
Mercia
Königreich im Zentrum des heutigen England in den östlichen Midlands rund um die Stadt Leicester gelegen, im Gebiet des Trent und seiner Nebenflüsse
Muile
Mull vor der Nordwestküste Schottlands
Northumbria
angelsächsisches Kleinkönigreich, das die Gebiete der heutigen Grafschaften Yorkshire und Northumberland sowie den Südosten Schottlands umfasst
Pocel’s Hall
Pocklington in Yorkshire
Scheth
der Fluss Sheaf, der die Grenze zwischen Mercia und Deira bildet
Temes
die Themse
Tuidi
der Fluss Tweed
Ubbanford
Norham in Northumberland
Usa
der Fluss Ouse
Anno Domini Nostri Iesu Christi
Im Jahre unseres Herrn Jesus Christus
634
BLUTSBÜNDNIS
Der Angriff erfolgte bei Nacht. Beobrand hatte ihn vorausgeahnt. Diesen zerlumpten Pikten dürstete es nach Blut und Tod, sie wurden getrieben von einem beißenden Verlangen nach Rache. Etwas, das er sehr gut nachvollziehen konnte.
In der stillsten Stunde der Nacht fielen die Pikten über sie her, lautlos wie die Geister, die in den Grabhügeln einstiger Könige herumspuken. Stumpf schimmerten ihre Klingen im kühlen Sternenlicht. Sie näherten sich von Süden, setzten auf das Überraschungsmoment. Zunächst waren sie weit nach Westen geschlichen, bevor sie den Tuidi überquerten, um anschließend einen Bogen zu schlagen und Ubbanford von den Hügeln aus anzugreifen, wo nur wenige Menschen lebten.
Es war ein guter Plan, doch an Gerissenheit stand Beobrand den Pikten in nichts nach. Da er mit einer solchen List gerechnet hatte, hatte er seinen Männern befohlen, die Hügel im Auge zu behalten.
Bei Sonnenuntergang war Attor, der geschmeidigste und leichtfüßigste von Beobrands Kriegern, in den erst vor Kurzem fertiggestellten Großen Saal gehuscht. »Sie kommen«, sagte er, und das Leuchten in seinen Augen, in denen sich das Kaminfeuer spiegelte, verriet sein Verlangen nach Schlachtenruhm.
»Wie viele?«, fragte Beobrand und stellte sein noch volles Methorn beiseite. In dieser Nacht durfte sein Verstand nicht getrübt sein.
»Ein Dutzend. Vielleicht auch mehr.«
Beobrand verzog das Gesicht. Hoffentlich hatte er sorgfältig genug geplant. Seine Kriegerschar war den Angreifern zwar zahlenmäßig unterlegen, andererseits rechneten sie mit dem Überfall, waren vorbereitet und bewaffnet.
Er stand auf, schob seinen erst kürzlich gefertigten Thron zurück und fasste jeden seiner Krieger, seiner Kampfgefährten, einzeln ins Auge. Entschlossen hatte er ihnen im Licht der flackernden Flammen zugenickt. »Diesen Moment haben wir herbeigesehnt. Jeder geht jetzt auf seinen Posten und wartet auf das Signal. Attor, hol Elmer vom Fluss, damit er die Frauen und Kinder in Sicherheit bringt.«
Jetzt kündigte das erste Licht des Tages am Horizont das Ende der Sommernacht an, und Beobrand sah schemenhafte Gestalten zwischen den Häusern der Siedlung hindurchhuschen. Sie näherten sich dem Hügel, auf dem, hoch über dem Tal, der neue Saal thronte. Er streckte sein rechtes Bein, spannte testweise seinen Wadenmuskel an. Dann fluchte er innerlich. Die Pfeilwunde war immer noch nicht vollständig verheilt. Er war noch nicht in der Lage, schnell zu laufen. Das bedeutete, dass er früher, als ihm eigentlich lieb war, seine Deckung verlassen musste, weil er sonst womöglich nicht nahe genug an den Feind herankam. Er spürte das Pochen der Wunde. Ob Torran wohl unter den Pikten war, die sein Dorf überfallen wollten? Torran, Sohn des Nathair, hatte den Pfeil abgeschossen, der sich in Beobrands Bein gebohrt hatte, allerdings erst, nachdem Beobrand dessen Bruder erschlagen hatte. Er streckte den linken Arm aus und verzog erneut das Gesicht. Über der Stelle, wo sich die Streitaxt von Broden tief in sein Fleisch versenkt hatte, spannte sich die Haut unangenehm. Beobrand fletschte die Zähne in der Dunkelheit. Die Schmerzen und die Erinnerung an die nur wenige Wochen zurückliegende Schlacht vor Nathairs Saal erweckten in seinem Kopf eine leise Stimme zum Leben. Der Schlachteneifer überkam ihn. In den vergangenen Wochen hatte er nicht viel gespürt, und dieser Mangel an Gefühlen machte ihm mehr Angst als der Gedanke an das bevorstehende Blutvergießen.
Er gab Acennan, der im Schatten der Schmiede stand, ein Zeichen. In der Dunkelheit waren die Umrisse seines Freundes kaum zu erkennen, doch dann nahm Beobrand die Andeutung einer Bewegung wahr, gefolgt vom durchdringenden Klang eines Horns. Das Signal, mit dem Acennan den Verteidigern befahl loszuschlagen.
Urplötzlich flackerten Lichter auf. Die Männer enthüllten ihre Fackeln und stießen sie in vorbereitete Zunderstapel. Beobrands Kampfgefährten stürmten aus den Schatten, der rote Feuerschein spiegelte sich in ihren Waffen und Rüstungen. Auch Beobrand sprang hervor und zog sein edles Schwert, Hrunting, aus der mit Fell gefütterten Scheide. So schnell er konnte, humpelte er auf einen der Angreifer zu, der ihm den Rücken zugekehrt hatte. Sein verletztes Bein fühlte sich instabil und kraftlos an, sein Arm nackt, so ganz ohne Schild. Aber er hatte schon vor dem Kampf entschieden, dass der Schutz aus Lindenholz ihn in seinem momentanen Zustand nur behindern würde. Sein Arm und sein Bein würden mit der Zeit schon wieder heilen, aber bis dahin musste er ohne Schild kämpfen und darauf hoffen, dass die Pikten nicht die Flucht ergriffen, bevor sie ihnen den Garaus machen konnten.
Im allerletzten Moment drehte sich einer der Feinde, den er ins Auge gefasst hatte, zu ihm um. Sein Gesicht war bleich. Er war jung, wahrscheinlich noch keine zwanzig Jahre alt, vielleicht im gleichen Alter wie Beobrand. Aber er war kein Krieger. Zwar hielten seine Finger ein langes Messer, aber er hatte es kaum erhoben, um sich zu verteidigen, als Hruntings Klinge ihm schon in die Kehle fuhr. Feuchte Wärme breitete sich auf Beobrands Arm und Gesicht aus, und der junge Pikte fiel lautlos und mit weit aufgerissenen Augen auf den Rücken. Sein Mund öffnete und schloss sich immer wieder wie der eines gestrandeten Lachses.
Mit dem ersten Toten dieser Nacht legte sich der Bann der Schlacht auf Beobrand. Nach Wochen der Tatenlosigkeit und Taubheit nach Sunnivas Tod und den Ereignissen bei Dor ließ Beobrand sich bereitwillig vom Kampfeifer mitreißen. Der vertraute Rausch der Macht hüllte ihn ein wie ein warmer Mantel während eines Schneesturms, und er genoss das Gefühl.
Als er sich nach dem nächsten Gegner umblickte, musste er feststellen, dass er sein Versteck zu früh verlassen hatte. Die Nacht schien aus Schatten zu bestehen, die zwischen den Häusern tanzten. In dem Durcheinander war es kaum möglich, Freund und Feind voneinander zu unterscheiden. Doch im selben Augenblick sah Beobrand einen Mann, der vom Dorf dem neuen Saal auf dem Hügel entgegenlief. Er wollte ihn verfolgen, wusste jedoch sofort, dass er den flinken Pikten niemals einholen würde. Als sich ein Feuerschein auf die Gestalt des Mannes legte, erkannte Beobrand ihn sofort. Torran. Er war also tatsächlich gekommen, um Rache zu nehmen, so wie er es vor dem brennenden Saal seines Vaters geschworen hatte.
Mit lautem Gebrüll stürzte sich auf einmal ein weiterer Pikte, ein älterer Mann mit Vollbart, auf Beobrand. Er schwang ein Schwert mit breiter Klinge, das ihn als geachteten Krieger auswies. Mit einigen wenigen Schildstößen trieb er Beobrand etliche Schritte zurück. Beobrand spürte das Pochen in seinem rechten Bein und biss die Zähne zusammen. Als sein Gegner ein weiteres Mal auf ihn losstürmte, wich er zur Seite aus und ließ sich auf ein Knie fallen. Der Pikte wurde von seinem eigenen Schwung vorwärtsgetrieben, und Beobrand versetzte ihm einen heftigen Hieb gegen das Schienbein. Hruntings stählerne Klinge zerschmetterte Knochen und durchtrennte Sehnen. Der Mann taumelte noch einen Schritt weiter, ohne zu begreifen, dass ihm sein rechtes Bein vom Knie an abwärts nicht mehr gehorchte, bevor er zu Boden stürzte. Das Entsetzen in seinem Blick verriet, dass er nicht verstand, was gerade geschehen war. Dann setzte der Schmerz ein, und er wand sich schreiend auf dem Boden. Blut quoll aus dem Stumpf, wo vor wenigen Augenblicken noch sein Bein gewesen war. Beobrand ließ ihn nicht lange leiden. Mit einem einzigen Stich durchbohrte er das Herz des Kriegers und wandte sich sofort wieder Torran zu.
»Torran!«, brüllte er so laut, dass seine Stimme das Klirren der Schwerter übertönte. »Torran, du ziegenschändender Sohn einer aussätzigen Hure! Stell dich mir im Kampf!«
Torran blieb stehen und drehte sich um. Sein Gesicht glühte rot im Schein der Feuer. »Dein Leben gehört mir, Beobrand! Ich fordere dein Blut als Vergeltung für das meiner Angehörigen.«
Beobrand breitete die Arme aus. Der trocknende Lebenssaft seiner bisherigen beiden Opfer kühlte seine Haut. »Dann komm her, du Made. Komm her und stell dich. Hol dir alles Blut, das du bekommen kannst.«
Da ertönte links von Beobrand ein schriller Schmerzensschrei. Beobrand erkannte die Stimme sofort und drehte sich um. Auch Acennan war gezwungen, ohne Schild zu kämpfen, weil Broden ihm während der letzten Schlacht mit seiner beidhändig geführten Streitaxt die Schulter zerschmettert hatte. Er konnte den Arm immer noch nicht voll belasten, obwohl die Wunde gut verheilt war … zumindest bis jetzt. Ein stämmiger Pikte, die Augen vor Angst oder Wut aufgerissen, prügelte mit einer Keule auf Acennan ein. Gerade hatte er mit seinem mächtigen Knüppel einen weiteren Schultertreffer gelandet und Acennan dadurch in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Als der Pikte seine Waffe erneut herumschwang, blockte Beobrands untersetzter Freund den Schlag geschickt ab, doch an seinen Bewegungen war zu erkennen, dass seine Schulter erneut Schaden genommen hatte.
Beobrand humpelte auf die beiden Kämpfer zu. Acennan wehrte sich tapfer, schaffte es aber nicht, den knüppelschwingenden Angreifer in Bedrängnis zu bringen. Einen Moment bevor Beobrand den Kerl mit seiner Klinge hätte erreichen können, spürte der Pikte die Gefahr. Er wirbelte herum und ließ seine Keule durch die Luft zischen. Beobrand wich einen Schritt zurück, sodass der Schlag wirkungslos verpuffte.
Acennan war zwar verletzt, aber ein tödlicher Krieger und immer noch flink auf den Beinen. Kaum war sein Gegner abgelenkt, ergriff er die Gelegenheit beim Schopf, machte einen Satz nach vorne und rammte dem Pikten sein Schwert tief in den Rücken. Der Mann erstarrte und blickte verwundert auf den blutverschmierten Stahl, der plötzlich aus seiner Brust herausragte. Er hob den Blick, sah Beobrand mit einem erstaunten »Oh« auf den Lippen an und fiel vornüber.
Acennan stieg über den Leichnam hinweg und nickte Beobrand dankbar zu. »Ein paar Wochen mehr Erholung hätten mir schon gutgetan«, sagte er grinsend.
»Hab dich nicht so. Als Nächstes wünschst du dir noch, dass sich unsere Angreifer gleich selbst umbringen«, gab Beobrand zurück. Jetzt, wo der Rausch der Schlacht ihn ergriffen hatte, spürte er seine Schmerzen kaum noch. Er wollte nur noch Blut sehen. Wollte töten. Vielleicht konnte das Blut ja seine Schmerzen abwaschen, so wie das Blut des Christus einen angeblich von allen Sünden reinwaschen konnte. Doch ringsum sanken immer mehr Pikten zu Boden. Der Kampf war so gut wie zu Ende.
Aber was war mit Torran? Beobrand suchte den dunklen Abhang mit Blicken nach Nathairs Sohn ab. Am östlichen Himmel dahinter war die Dämmerung jetzt deutlicher in Form von grauen Streifen zu erkennen. In einiger Entfernung blitzte etwas Weißes auf, und dort erblickte er jetzt auch den jungen Pikten. Gleichzeitig erkannte er, was das Weiße war – die Federn eines Pfeils. Schon einmal hatte Torran ihn angeschossen. Dass er sehr gut mit Pfeil und Bogen umgehen konnte, hatte Beobrands Bein zu spüren bekommen. Auf diese Entfernung konnte er sein Ziel gar nicht verfehlen. Und weder Beobrand noch Acennan trugen einen schützenden Schild.
Beobrand fühlte sich ausgeliefert und sah sich um, doch das nächste Haus war zu weit entfernt, um dahinter in Deckung zu gehen, bevor Torran schießen konnte. Ob sein Kettenhemd ihn vor dem Pfeil schützen würde? Er hatte schon von Fällen gehört, wo die Eisenspitze durch die Kettenglieder in den Körper des Opfers eingedrungen war. Mit breitem Kreuz stellte er sich hin. Wenn er sich vor dem Bogenschützen schon nicht verstecken konnte, so konnte er zumindest dafür sorgen, dass diesem weniger Zeit zur Konzentration blieb. Weniger Zeit, um auf ihn zu zielen.
Mit steifen Beinen und schmerzender Wade stapfte Beobrand auf Torran zu. Acennan gesellte sich zu ihm.
»Hast wohl Schiss, dich mir im Kampf zu stellen, was? Pisst dir schon in die Hose bei der Vorstellung, einem echten Mann gegenüberzutreten!«
»Ich habe keine Angst vor dir, du sächsischer Abschaum!«, entgegnete Torran. Er ließ seine Waffe ein wenig sinken, legte einen Pfeil an die Sehne, hob den Bogen wieder und spannte ihn, alles in einer einzigen kraftvollen und fließenden Bewegung.
Einen Moment lang sah Beobrand den zuckenden Widerschein der Feuer auf dem glänzenden Eisen der Pfeilspitze. Torran zielte und hielt den Pfeil einen Augenblick lang fest.
Beobrand und Acennan waren immer noch zu weit entfernt, um ihn mit ihren Schwertern anzugreifen. Und mit jedem Schritt dem Pikten entgegen nahm die Chance ab, dass seine Pfeile sie verfehlten oder ihre Kettenhemden ihnen Schutz bieten würden.
»Wenn du wirklich keine Angst hast, dann leg dieses Spielzeug weg und stell dich mir mit einem Schwert oder einem Speer!«
Torran gab keine Antwort. Seine rechte Hand ließ die Sehne los, und der Pfeil zischte unbeirrt und auf geradem Weg Beobrand entgegen.
Im Dämmerlicht sah Beobrand etwas Weißes auf sich zukommen. Als einzige Reaktion schloss er die Augen und akzeptierte sein Schicksal.
Erst ertönte ein Knall, dann ein lautes Scheppern, doch Beobrand spürte nichts. Keinen stechenden Schmerz, während der Pfeil sich durch die Glieder seines Kettenhemdes und in sein Fleisch darunter bohrte.
Er schlug die Augen auf. Im Schatten des Hügels sah er etwas, das sein Geist nicht begreifen wollte. Vor ihm lag jemand auf dem Boden, Arme und Beine von sich gestreckt. Acennan? Nein, der untersetzte Krieger stand nach wie vor neben ihm. Dann erhob sich die Gestalt unter lautem Ächzen und ließ ein wildes Grinsen sehen. Zähne blitzten hell in der Dunkelheit. Es war Attor, der einen Schild in der linken Hand hielt. Aus dem mit Fell bezogenen Holz ragte der Pfeil hervor, der für Beobrand bestimmt gewesen war.
»Ich hatte das Gefühl, dass Ihr einen Retter gebrauchen könntet, Herr«, sagte Attor, und das Hochgefühl der Schlacht ließ seine Stimme schrill klingen.
Beobrand grinste ihn an und setzte seinen Weg den Hügel hinauf fort. Torran würde bestimmt keine Zeit verschwenden.
Tatsächlich war der Pikte bereits dabei, den nächsten Pfeil einzulegen. Als er den Bogen spannte, jagte Attor an Beobrand und Acennan vorbei und ließ seinen Schild zu ihren Füßen fallen.
»Dieses Mal entkommst du mir nicht, du piktischer Schweinehund!«, brüllte er.
»Das glaube ich auch nicht«, ließ sich da eine weitere dröhnende Stimme vernehmen.
Torran zögerte. Die Stimme war von oberhalb des Hügels gekommen, der Sprecher konnte eigentlich nur unmittelbar hinter ihm stehen.
Beobrand warf Acennan einen verdutzten Blick zu, woraufhin sein Freund mit den Schultern zuckte. Der Sprecher, so viel war klar, war keiner von Beobrands Kampfgefährten.
Doch Attor ließ sich von dem Neuankömmling nicht aufhalten und stürmte weiter den Hang hinauf.
»Flieh oder stirb, kleiner Pikte«, sagte die Stimme.
Als Torran sich umdrehte, sah er, wie aus der Düsternis ein Riese auf ihn zustapfte. Vor der blassgrauen Dämmerung hob sich seine Silhouette so beeindruckend ab wie die eines Kriegers aus einer Legende. Er war groß und breitschultrig, und in seinem polierten Helm spiegelte sich das Licht der allmählich erlöschenden Feuer im Dorf. Der Buckel des Schildes an seiner Seite glänzte. Er zog sein Schwert und schwang es durch die Luft, als wäre es nicht schwerer als ein Zweig.
Attor hatte sich Torran währenddessen bis auf Schlagdistanz genähert und ließ einen blutrünstigen Schrei entweichen, während er sein tödliches Sachsmesser schwang, um dem Pikten den Leib aufzuschlitzen.
Auch der Riese hatte Torran gleich erreicht, aber Attor war schneller.
Im Nu traf der Pikte eine Entscheidung und spannte den Bogen erneut. Doch er hatte keine Zeit mehr, die Sehne ganz durchzuziehen, sodass der Schuss überhastet und ungenau geriet. Der Pfeil traf Attor an der Schulter; er strauchelte und wurde langsamer.
Der riesenhafte Krieger war hingegen nur noch wenige Schritte von Torran entfernt. Seine Klinge glühte rot im Feuerschein, aber Torran gestattete ihm nicht, seine Waffe zu benutzen. Vielmehr drehte sich der Pikte um und flüchtete ins Tal, das immer noch im Schatten lag.
»Bei Tyrs Eiern!«, brüllte Attor. »Ich werde dich töten, Torran! Du kannst dich nicht ewig verstecken!« Aus der Dunkelheit war keine Antwort zu hören. Nur ein Platschen verriet, dass Torran den Tuidi durchquerte.
Die Schlacht war vorüber. Etliche andere Pikten, die den Kampf überlebt hatten, verschwanden in der morgendlichen Dämmerung.
Attor packte den Schaft von Torrans Pfeil, biss die Zähne zusammen und zog ihn sich unter einem langen Stöhnen aus dem Fleisch.
Stille legte sich über das Tal.
»Gut gemacht, Attor«, sagte Beobrand. »Sieh zu, dass Ceawlin deine Wunde versorgt.«
Attor nickte, machte jedoch keine Anstalten zu gehen. Vielmehr wandte er sich dem riesenhaften Krieger zu, der auf sie zukam. Ein dichter Vollbart quoll unter seinem Helm hervor, seine Schultern schienen stark genug, um einen Ochsen zu tragen. Eine zweite Gestalt tauchte aus der Dunkelheit hinter ihm auf, etwas schmächtiger zwar, aber mit Schild, Speer und Helm zum Kampf bereit. Seite an Seite schritten die beiden Krieger den Hügel herab.
Attor baute sich schützend vor Beobrand auf, das Sachsmesser fest in der Hand.
»Du bist ein tapferer Mann«, sagte der Riese, »aber wenn du mich wirklich mit diesem winzigen Messer da aufhalten willst, solltest du dich besser darauf gefasst machen, Woden in seinem Totensaal gegenüberzutreten.«
Attors Zorn flammte auf. Seine Kampfeslust war noch lange nicht erloschen, und auch der sichere Tod würde ihn nicht davon abhalten loszustürmen.
Beobrand legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig, Attor.«
Dann ging er an seinem verwundeten Kämpfer vorbei den beiden Neuankömmlingen entgegen.
Attor und Acennan beobachteten ihn mit angehaltenem Atem. »Warte«, sagte Acennan und versuchte, Beobrand an seinem Mantel zurückzuhalten.
Doch Beobrand schüttelte seine Hand ab und setzte seinen Weg unbeirrt fort.
Zwei Schritte vor dem riesigen Krieger und seinem Gefährten blieb er stehen, bohrte Hrunting mit einer solchen Wucht in die weiche Erde, dass das Schwert vibrierte, und breitete die Arme aus.
Fassungslos sahen Acennan und Attor, wie der hünenhafte Krieger, der noch größer und muskulöser war als Beobrand selbst, mit einer schwungvollen Bewegung sein Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ und Beobrand umarmte.
»Ich hätte mir denken können, dass ich dich bei einem Kampf antreffe, Beobrand, Sohn des Grimgundi«, sagte er, und seine Stimme klang tief und so warm wie ein loderndes Kaminfeuer.
»Das ist guter Met«, dröhnte der riesige Krieger, der im Morgengrauen eingetroffen war. Dann ließ er das Horn, das er soeben geleert hatte, auf den Tisch krachen, schob die Sitzbank zurück und erhob sich. Auf dem Weg zur Tür strauchelte er und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren.
»Gut und stark«, erwiderte Beobrand lächelnd. »Pass auf, alter Mann. Nicht, dass du noch hinfällst.«
»Wen nennst du hier alt?«, protestierte Bassus. Ruckartig drehte er sich zur Hohen Tafel um und hob die Arme, als wollte er sich zum Kampf bereit machen. Dabei schwankte er erneut und musste einen Arm ausstrecken, um sich an einem der Holzpfeiler im Saal festzuhalten. »Ich bin nicht alt.« Er schüttelte den Kopf, um den Nebel daraus zu vertreiben. »Betrunken, ja, aber nicht alt!« Nachdem er sich von dem Pfeiler abgestoßen hatte, torkelte er auf unsicheren Beinen zum Saal hinaus.
Das Gelächter der Männer – die meisten von ihnen ebenso betrunken wie Bassus – schallte durch den warmen, rauchgeschwängerten Raum. Sie alle kannten den einstigen Kampfgefährten König Edwins, den Anführer seiner Kriegerschar. Bassus und Beobrand hatten Schulter an Schulter in der Schlacht von Elmet gekämpft. Der ältere Recke war der Freund ihres Herrn und hatte sich im Kampf gegen die Pikten im Morgengrauen auf ihre Seite gestellt, also hießen sie ihn willkommen.
Reaghan zuckte zusammen, als sie das raue Lachen der Männer im Großen Saal vernahm. Sie waren guter Dinge. Froh, am Leben zu sein. Erfüllt von ihrem Sieg über die Pikten. Die Männer ebenso wie die Frauen. Sie alle badeten in der Jubelstimmung, die im Saal herrschte. Der Tag war warm, und es gab Essen und Trinken in Hülle und Fülle.
Und doch empfand Reaghan keinerlei Glücksgefühl. In der Stille der ausgehenden Nacht, als sie sich mit den anderen Frauen und den Kindern versteckt hatte, war sie voller Angst gewesen. Hatte darauf gewartet, dass der Lärm der Schlacht einsetzte. Dass Flammen in der Dunkelheit zuckten.
Beobrand, der am anderen Ende des Saales Platz genommen hatte, winkte sie zu sich. Mit gesenktem Kopf ging sie an den voll besetzten Tischen vorüber, spürte die Blicke der Männer auf sich. Sie wusste, was sie wollten. Was alle Männer wollten.
»Mehr Met, mein Herr?«, fragte sie Beobrand leise.
Lächelnd streckte er ihr seinen Becher entgegen.
Es war das erste Mal seit Sunnivas Tod, dass sie ihn lächeln sah. Nicht einmal wenn er seinen Sohn Octa anblickte, der noch ein Säugling war, ließ er eine Gefühlsregung erkennen, mit Ausnahme vielleicht von einem grüblerischen Unbehagen.
Reaghan schenkte ihm etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein und trat einen Schritt zurück. Die Angst der vergangenen Nacht klebte noch wie regennasse Wolle an ihr. Sie schauderte.
Das Kampfgebrüll, der Zusammenprall der Schilde und das Knistern der Feuer hatten sie in jene Nacht zurückversetzt, als sie von Torran und seinem Bruder verschleppt worden war. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich nicht mehr so gefürchtet, seit jenem Herbsttag, als die Angeln über sie hergefallen waren und ihre gesamte Familie getötet hatten. Doch seither waren viele Jahre vergangen. Die Erinnerung hatte ihren Stachel längst verloren, die Steine waren vom Strom der Zeit glatt geschliffen worden. Die Entführung durch die Söhne Nathairs war hingegen noch nicht so lange her. Ihre Wunden waren noch frisch.
Sie hatten sie nicht besonders gut behandelt. Reaghan wusste, wie Krieger waren, sie war schließlich eine Sklavin. Erst war sie Fürst Ubbas Eigentum gewesen, bis dieser, zusammen mit seinen beiden Söhnen, im letzten Jahr in einer Schlacht den Tod gefunden hatte. Alle drei hatten sie bei ihr gelegen, hatten gekeucht und zugestoßen und in ihr langes schwarzes Haar gestöhnt. Trotzdem hatte sie niemals Angst verspürt, dass sie ihr ernsthaft wehtun würden. Vielmehr hatte sie sie bedauert. Und verachtet. Aber sie hatte nie geglaubt, dass sie ihr Böses wollten.
Doch die Pikten waren anders. Sie hatten sie geschlagen und geohrfeigt und ihren zarten Leib mit Faustschlägen traktiert. Da sie nicht stark genug war, um sich zu wehren, griff sie zu dem einzigen Mittel, das sie kannte. Bevor sie sie bewusstlos prügeln konnten, hob sie ihren Rock, machte die Beine breit und bot sich ihnen an. Von diesem Augenblick an hörten die Schläge auf.
Aber was folgte, war kaum besser gewesen. Die Erinnerung an jene Nacht drohte sie noch immer mit ihren schwarzen Schwingen zu umhüllen. Sie war ohnmächtig geworden, noch bevor die Männer mit ihr fertig waren.
Als sie geschunden und voller Schmerzen wieder zu sich kam, bestand die Nacht aus Feuer und tödlichem Entsetzen. Rauch quoll dick in den Saal, und die Männer um sie herum schrien aufgeregt. Sie dachte an ihr Heimatdorf, an ihre Hütte, die vor vielen Jahren in einer ähnlichen beißenden Rauchwolke vernichtet worden war. An die Schreie ihrer Mutter. Die Angeln, die Nachfahren der Krieger, die über die Straße der Wale gekommen waren, hatten ihre Familie getötet und sie selbst versklavt. Und doch waren es Pikten gewesen, Angehörige jenes Stammes, der sich seit Urzeiten die Insel Albion mit ihrem Volk teilte, die ihr Gewalt angetan hatten. Die sie getreten und geschlagen hatten. Zuvor hatte sie sich jahrelang ausgemalt, wie sie aus Ubbanford flüchten und ihrem Sklavenleben entkommen würde. Wie sie den verfluchten Angeln für immer den Rücken kehren und zu ihrem Volk im Westen zurückkehren würde.
Da bemerkte sie eine Bewegung im Saal. Aus ihren Tagträumen gerissen sah sie, wie Beobrand seinen Becher leerte und sich erhob. Er reckte den Kopf und sah sich suchend nach ihr um. Als er sie im Schatten entdeckt hatte, schenkte er ihr ein weiteres kurzes Lächeln, bevor er Bassus nach draußen folgte.
Sie blickte ihm nach. Sah sein langes blondes Haar. Seine geschmeidigen, entschlossenen Bewegungen, selbst jetzt, da der Alkohol ihn eigentlich schon träge hätte machen müssen.
Die Angeln waren eine Geißel für das ganze Land. Das hatte sie immer geglaubt. Stumpfsinnige Trottel, die sich alles, was sie begehrten, mit Gewalt nahmen. Sie besaßen weder Ehre noch Sinn für die Gepflogenheiten der Göttin Danu und ihrer Kinder; für Traditionen, die Reaghans Mutter ihr beigebracht hatte.
Ja, sie waren eine Plage. Sie hatten ihre Landsleute abgeschlachtet, sie selbst versklavt und nur benutzt. Und Beobrand war einer ihrer Recken. Ein Fürst.
Kurz bevor er in die Nachmittagssonne hinaustrat, wurde seine muskulöse Gestalt im Türrahmen zur strahlenden Silhouette. Reaghan schluckte, und ihr Mund fühlte sich schlagartig trocken an.
Eigentlich müsste sie ihn hassen, so wie sie Ubba und seine Söhne gehasst hatte. Sie errötete.
Doch als sie, eine Sklavin, aus Ubbanford verschleppt worden war, hatte Beobrand sie nicht im Stich gelassen. Inmitten der nächtlichen Feuersbrunst war sie im Piktensaal zu sich gekommen, allein und fest davon überzeugt zu sterben.
Das Nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie auf seinem Pferd gesessen hatte und er, Beobrand, sie fest im Arm gehalten und über ihr Haar gestrichen hatte.
Ja, eigentlich müsste sie ihn hassen, aber ihr war klar, dass sie das niemals konnte. Denn als alles verloren schien, als sie keinen Ausweg mehr gesehen hatte, da war Beobrand gekommen, um sie zu retten.
»Dein Bruder Octa wäre stolz auf dich.« Bassus streckte die Beine aus und lehnte sich an den Stamm der Eiche. Von seinem Platz aus hatte er freie Sicht auf den neuen Saal, den Beobrand hatte bauen lassen, sowie auf die Siedlung, die sich unter ihnen in die Flussbiegung schmiegte. »Ich lasse dich gerade mal ein Jahr alleine, und schon bist du ein Fürst, hast eigene Kampfgefährten und einen eigenen Saal.«
Beobrand suchte sich einen Flecken Gras im Schatten des Baumes und ließ sich stöhnend zu Boden sinken.
Bassus registrierte, dass er hauptsächlich das linke Bein belastete und das rechte nicht anwinkelte. Vermutlich eine frische Verletzung, dachte er. Beobrands linke Hand trug ebenfalls Spuren vergangener Schlachten. Der kleine Finger fehlte ganz, der daneben zur Hälfte. Außerdem prangte unter dem linken Auge eine unschöne Narbe. Bassus erinnerte sich daran, dass Beobrand mit einer gefährlichen Augenverletzung vom Schlachtfeld bei Elmet geflohen und schließlich von Mönchen gesund gepflegt worden war.
»Du musst unbedingt wieder den Umgang mit dem Schwert trainieren«, fuhr Bassus fort. »Du kannst dich kaum auf den Beinen halten, und die linke Hand ist schwach.«
»Ja, ich war im Kampf unvorsichtig«, erwiderte Beobrand. »Obwohl Hengist erheblich mehr verloren hat als ich.«
»Ich habe von der Schlacht bei Bebbanburg und davon gehört, dass du ihn dort getötet hast. Die Erzählung ist bis zu uns nach Cantware gedrungen. Dein Onkel war voller Stolz, als er von deinem Geschick im Umgang mit dem Schwert hörte.«
Beobrand hob ruckartig den Kopf. »Selwyn lebt?«
»So ist es. Er war zäh wie ein Bär, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«
»Und ich war mir sicher, dass er längst tot ist«, erwiderte Beobrand. »Als ich Hithe verließ, hatte er das Fieber.«
Bassus ließ die Fingerknöchel knacken. »Nun, er lebt immer noch und ist wohlauf. Er war begierig darauf, von deinen Taten zu erfahren … und von denen deines Bruders.« Bassus schwieg, während er an jenen Augenblick zurückdachte, als er dem alten Krieger von Octas Tod und Beobrands Racheabsichten berichtet hatte. Stolz und Trauer waren eine mächtige Mischung.
»Was hast du ihm berichtet?«, wollte Beobrand wissen. Die Wirkung des Alkohols, der seine Zunge hatte schwer werden lassen, war fast vollständig verflogen.
»Die Wahrheit. Dass Octa ein großer Krieger war, er von einem Feigling getötet wurde und du entschlossen bist, seinen Tod zu rächen. Als mich die Nachrichten erreichten, dass Hengist sein Ende gefunden hat und du auch beim Tod von König Cadwallon zugegen warst, habe ich alles deinem Onkel berichtet.«
Beobrand fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Bassus betrachtete ihn von der Seite. Der junge Mann hatte sich gewaltig verändert. Ihre letzte Begegnung war etwas mehr als ein Jahr her, und seither war Beobrand zum Mann gereift. Seine Schultern waren jetzt breiter, seine Züge härter. Trotz seiner Unerfahrenheit hatte schon immer ein Kämpfer in ihm gesteckt. Er war geschickt im Umgang mit Waffen und der geborene Krieger. Die Ereignisse des vergangenen Jahres hatten ihn jeder Weichheit beraubt und den Krieger mit steinerner Miene aus ihm gemacht, der jetzt neben Bassus saß.
»Der fahrende Händler, der uns von Cadwallons Niederlage erzählt hat«, fuhr der alte Recke fort, »berichtete auch von einem jungen Kämpfer aus Cantware, der Cadwallon, den König der Waliser, Oswald, dem Herrscher über ganz Northumbria, zu Füßen gelegt hat.«
Beobrand rutschte unruhig hin und her, gab jedoch keine Antwort. Stattdessen starrte er über das breite Tal des Tuidi hinweg. Der Fluss glitzerte in der Sommersonne wie poliertes Gold. Schwalben sausten auf der Jagd nach unsichtbaren Insekten durch die Luft.
»Ich stelle fest, dass du immer noch kein Plappermaul bist«, lachte Bassus. »Dein neuer Herr hat dich ausgiebig belohnt, Beobrand. Du bist ein reicher Mann geworden.«
»Ich fühle mich aber nicht reich.«
»Du hast Krieger, die dir folgen. Du hast Land. Einen Saal. Sklaven. Und was ist aus diesem reizenden Mädchen geworden, der Tochter des Schmieds? Hast du sie zum Schluss auf dein Lager gelockt? War sie es nicht wert, bei ihr zu bleiben?«
Kaum hatte er die Sätze ausgesprochen, wusste Bassus, dass er sich auf dünnes Eis begeben hatte. Wann würde er wohl lernen, seinen Mund zu halten?
Beobrands Haltung versteifte sich, und er wandte sich von ihm ab. »Sie ist tot.« Seine Stimme war so leise, dass die Worte kaum zu verstehen waren.
»Das tut mir leid. Bei Frige, ich muss endlich lernen, meine Zunge im Zaum zu halten. Ich benehme mich wie ein altes Waschweib.«
Beide schwiegen eine Zeit lang. Durch die geöffneten Saaltore drangen Gesprächsfetzen und Gelächter zu ihnen. Von einem Hang im Süden ertönte das ferne Pfeifen eines Hirten. Die beiden Männer sahen zu, wie dessen Hund die Schafe Richtung Ubbanford trieb.
Als Beobrand endlich das Wort ergriff, zitterte seine Stimme wie ein Zweig im Winterwind. »Ich habe sie hier auf diesem Hügel verbrannt. Auf einem Scheiterhaufen, der einer Königin würdig war.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Die Götter haben sie mir genommen. Sie haben mir einen Sohn geschenkt, aber mir die Frau geraubt.«
»Einen Sohn?«, platzte Bassus heraus. »Das wusste ich nicht.«
»Ich habe ihn Octa genannt.«
»Ein guter Name.« Bassus dachte an Beobrands älteren Bruder. Seinen eigenen Schwertbruder. Seinen Freund. »Ich hoffe, der kleine Octa wird eines Tages ein ebenso tapferer Mann, wie sein Namensgeber einer gewesen ist.«
Er hätte gerne noch mehr Fragen gestellt, noch mehr Antworten bekommen, doch eine tiefe Schwere hatte sich über die beiden Männer gelegt. Er schluckte hinunter, was er sagen wollte, und biss sich auf die Lippen.
Beobrand stand auf und zog eine Grimasse, als ihm der Schmerz in das verletzte Bein fuhr. Als er sich vor Bassus aufbaute, lag sein Gesicht im Schatten, aber die Sonne umgab seinen Haarschopf mit einem Lichtkranz.
»Aber genug von mir«, sagte er betont munter, um die Stimmung ein wenig zu heben. »Wie ist es dir und Gram ergangen? Und was bringt euch nach Bernicia? Reist ihr in Ethelburgas Auftrag? Was ist euer Ziel?«
»Ziel?«, gab Bassus zurück.
Beobrand glaubte zu verstehen. »Ihr könnt selbstverständlich so lange in meinem Saal bleiben, wie ihr wünscht«, erwiderte er. »Ich war lediglich neugierig.«
Lächelnd streckte Bassus ihm die Hand entgegen. Beobrand packte sie mit dem Kriegergriff und zog den alten Recken in die Senkrechte.
Bassus klopfte ihm auf die Schulter. »Ich habe kein Ziel mehr«, sagte er.
Beobrand sah ihn verwirrt an. »Aber wo wollt ihr denn hin?«
Bassus’ Lächeln wurde breiter. »Nirgendwohin. Wir sind schon da.«
Beobrand runzelte die Stirn. »Ihr wolltet mich besuchen?«
»Wir wollten dich besuchen, ja. Aber nicht nur das. Wir wollen dir auch dienen.« Bassus war erleichtert, dass die dunkle Stimmung verflogen war. Fast wäre er angesichts von Beobrands verdutzter Miene in schallendes Gelächter ausgebrochen. »Aber natürlich nur«, fuhr er mit verschmitztem Lächeln fort, »wenn du in deiner Kriegerschar noch ein Plätzchen für einen alten Mann wie mich übrig hast.«
Gram, schlank, kräftig und selbstbewusst, sah Elmer mit gebleckten Zähnen an. Sie umkreisten einander mit erhobenen Schilden, jederzeit bereit zum Sprung. Ihre Kettenhemden und Helme blitzten in der Morgensonne, ganz im Gegensatz zu den Klingen ihrer Waffen, die mit Leder und Wolle umwickelt waren. Der Übungskampf war Bassus’ Idee gewesen. Die Männer sollten so schnell wie möglich zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen, wofür es nichts Besseres gab als einen zünftigen Kampf. Beobrands Gefährten hockten im Gras und feuerten die beiden Gegner an.
Die meisten waren auf Elmers Seite. Er war beliebt bei der wachsenden Kriegerschar und hatte mit ihnen gemeinsam schon so manche Schlacht geschlagen. Gram hingegen war ein Neuling und der Freund des hünenhaften Bassus. Ihr Herr hatte sich für die beiden verbürgt, die den anderen beim Trinken, Prahlen und Stellen von Rätseln in nichts nachstanden, dennoch waren sie Fremde. Sie mussten sich den Respekt der anderen Krieger erst noch verdienen, ebenso wie ihr Vertrauen.
»Komm schon, Gram!«, rief Bassus. »Du bewegst dich wie eine Ziege, die gerade von einem Bullen bestiegen wurde.«
Die Männer lachten. Eine gute Beleidigung war nie zu verachten. Auch Beobrand konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Durch Bassus’ Auftauchen hatte sich seine Stimmung zumindest ein wenig gebessert.
Maida, Elmers Gemahlin, bedachte Bassus mit einem wütenden Blick. Sie war von Kindern umringt. Das kleinste war Octa, Beobrands Sohn, den sie auf der Hüfte trug. »Hüte deine Zunge. Es sind schließlich auch Kinder hier«, fauchte sie ihn an. »Außerdem bist du selbst kaum besser als ein Bulle!«
»Schön, dass Ihr das bemerkt habt, Verehrteste.« Bassus grinste. »Viele Frauen durften das schon am eigenen Leib erfahren.«
Noch mehr polterndes Gelächter folgte, während die Falten auf Maidas Stirn tiefer wurden. Mit knallroten Wangen setzte sie zu einer Erwiderung an. Doch kein Laut kam über ihre Lippen, denn im selben Augenblick stieß Elmer einen lauten Schrei aus und ging zum Angriff über.
Er hatte breite Schultern, war gesund und kräftig und ließ seine Schläge auf Grams Schild niederprasseln. Das dumpfe Dröhnen der umwickelten Klinge auf dem Lindenholz und das angestrengte Stöhnen der Kämpfer gingen fast unter in den heiseren Anfeuerungsschreien der Männer. Auch Maida und die anderen Frauen trugen jetzt mit schrillen Stimmen ihren Teil zu dem Lärm bei.
Gram wich zurück. Er setzte seine Füße schnell und sicher, ohne sein Gleichgewicht zu verlieren. Elmer drängte ihn noch weiter. Seine Augen funkelten unter dem Helm, er konnte den Sieg bereits riechen. Sein Gegner war in der Defensive, seine Frau, seine Kinder und seine Freunde sahen zu.
Doch bald waren Elmers Hiebe mit Verzweiflung durchsetzt. Beobrand konnte es spüren. Sein Kampfgefährte machte sich immer noch Vorwürfe wegen Tobrytans Tod. Vor Kurzem hatte er die beiden als einzige Krieger in Ubbanford zurückgelassen, um das Dorf zu beschützen, und als Torran und Broden, die Söhne Nathairs, die Siedlung angegriffen hatten, hatte einer von Torrans Pfeilen Tobrytans Hals durchbohrt und den Kameraden tödlich verletzt.
Erneut stieß Elmer einen wilden Schrei aus, während er auf Grams Schild eindrosch. Doch nun lag Frustration in seiner Stimme. Elmer wollte sich vor seinen Gefährten und seinem Herrn als Kämpfer beweisen, doch der Neue wehrte jeden seiner Schläge ab. Er fand einfach keine Lücke.
Und dann geschah ohne Vorwarnung das, was Beobrand erwartet hatte. Urplötzlich wich Gram nicht mehr zurück, sondern blockte stattdessen mit der Kante seines Schildes einen kraftvollen, auf seinen Kopf gezielten Hieb ab. Gleichzeitig ließ er die rechte Schulter nach unten sacken und stieß seine Schwertspitze unter Elmers Schild hindurch in dessen Lenden.
Wie ein einziger Mann verzogen die zuschauenden Krieger das Gesicht. Mit einer ungeschützten Klinge wäre der Stoß tödlich gewesen. Wer so getroffen wurde, verblutete wie ein im Blotmonath geopfertes Schwein. Und selbst jetzt litt Elmer mit Sicherheit heftige Schmerzen. Die Klingen waren schwer, und Gram hatte nicht gerade sanft zugestoßen.
Dieser sprang jetzt zurück, tänzelte auf den Fußballen und machte sich auf Elmers Gegenangriff gefasst. Doch das war unnötig. Kurz sah es zwar so aus, als wollte Elmer sich auf ihn stürzen, aber dann erbleichte er und sackte zu Boden, die Hände zwischen seine Beine geklemmt. Maida eilte zu ihm, wurde jedoch wütend von ihm weggescheucht.
»Gut gemacht, Gram«, sagte Beobrand, als er in den Kampfring hinkte, den die Männer mit Seilen abgesperrt hatten. Sein Bein schmerzte, genau wie sein rechter großer Zeh. Er sah zum Himmel hinauf, über den jedoch nur weiße Wolkenfetzen zogen. Normalerweise kündigte sein schmerzender Zeh Regen an. Er musterte Elmer, der immer noch um Atem rang. Beobrand wäre es lieber gewesen, Gram hätte ihn nicht besiegt. Elmer war ein guter Mann. Tapfer und aufrichtig. Aber jetzt war sein Selbstbewusstsein angeschlagen.
Lächelnd streckte er ihm die Hand entgegen. »Steh auf, Elmer, Sohn des Eldrid.«
Elmer griff zu und ließ sich von seinem Herrn auf die Füße ziehen.
»Du hast dich gut geschlagen.« Beobrand klopfte ihm auf den Rücken. »Gram hatte keine andere Wahl, als sich ein großes Ziel zu suchen. Vielleicht sollten wir dich von nun an Elmer der Stier nennen.«
Die Männer ließen zustimmendes Gebrüll hören, und Elmer errötete. Mit einem dümmlichen Grinsen auf den Lippen suchte er Maidas Blick.
»Wer ist als Nächstes an der Reihe?«, fragte Beobrand in die Runde. Alle, die nicht verletzt waren, hatten vorher Lose gezogen.
Jetzt stiegen Aethelwulf und Garr über die Seile in den Ring. Aethelwulf, der deutlich kleiner war als sein Gegenüber, ließ den Kopf kreisen, um seine Nackenmuskeln zu lockern. Garr, groß gewachsen und hager, reckte die Arme in die Höhe und beugte sich anschließend vornüber, bis seine Fingerspitzen seine Zehen berührten. Schließlich machte er noch ein paar hohe Sprünge auf der Stelle.
Aethelwulf wirkte unbeeindruckt. »Hör auf, wie ein Floh herumzuhüpfen, und kämpfe lieber wie ein Mann.«
Beobrand kehrte zu seinem Stuhl zurück, der zwischen Acennan und Bassus auf ihn wartete. Er nickte Rowena zu, der einstigen Herrin von Ubbanford. Nachdem ihr Gemahl in der Schlacht den Tod gefunden hatte, hatte König Oswald Beobrand die Siedlung und das sie umgebende Land zum Geschenk gemacht. Jetzt hatte Rowena zusammen mit ihrer Tochter Edlyn im Schatten der Eiche Platz genommen. Als Garr und Aethelwulf den Kampf aufnahmen, wurden die Augen des jungen Mädchens groß.
Beobrand wandte sich ab. Auch Sunniva hatte gern unter dieser Eiche gesessen und von dort aus die Bauarbeiten am neuen Saal verfolgt. Er schluckte den dicken Kloß in seiner Kehle hinunter. Er wollte nicht an sie denken, es war zu schmerzhaft. Und doch war sie allgegenwärtig. Der Große Saal, majestätisch und prachtvoll, war ihre Idee gewesen. Die überbordende Zahl an Ziernägeln und die extravaganten Türangeln an den Toren waren ihr Werk. Sunniva hatte sie selbst mit ihren kleinen, aber kräftigen und geschickten Händen geschmiedet.
Das Geschrei seiner Männer holte Beobrand aus seinen Gedanken. Aethelwulf hatte einen mächtigen Schlag auf Garrs Helm gelandet. Der große Krieger taumelte, als wäre er betrunken. Der Schild hing kraftlos an seiner Seite, und er hatte Mühe, sein Schwert zu heben. Aethelwulf, der seinen Gegner keinesfalls beschämen wollte, trat mit schnellen Schritten zu ihm und nahm ihm das Schwert aus der Hand.
»Na, komm, Garr«, sagte er. »Diese ganze Hüpferei davor hat dich wahrscheinlich müde gemacht. Besorgen wir uns einen Becher Met.«
Die Zuschauer applaudierten.
Als Nächster trat Ceawlin in den Ring. Er hatte ein flaches, mürrisches Gesicht und trug sein dünner werdendes rotblondes Haar zu einem Zopf geflochten. Er nahm Aethelwulf das Schwert und den Helm ab. Die beiden waren gute Freunde und einander wie Brüder zugetan.
Gleichzeitig stemmte sich Bassus, der neben Beobrand saß, auf die Füße. Allein sein Körperbau war furchteinflößend, und Beobrand wusste, dass sein Können und seine Cleverness dem in nichts nachstanden. »Es ist noch nicht zu spät zum Weglaufen, kleiner Mann«, sagte Bassus.
Ceawlin erwiderte etwas, das Beobrand nicht verstand. Etliche der Männer, die dichter am Kampfring saßen, kicherten.
Da bemerkte Beobrand eine Bewegung nahe dem Saal. Sklaven und Bedienstete stellten Essen und Trinken bereit. Bauschende Röcke und der Schwung langer dunkler Haare fesselten seine Aufmerksamkeit, obwohl er den Jubel seiner Männer angesichts des Wortgefechts der Krieger hörte.
Reaghan.
Als sie in seine Richtung sah, begegneten sich für einen Moment ihre Blicke. Hastig wandte sie sich ab.
Schild krachte auf Schild, dann ertönte ein Schmerzensschrei. Noch immer betrachtete Beobrand unverwandt die zierliche Waliserin.
»Bei allen Göttern, Mann«, sagte Acennan. »Du machst wirklich lieber einer Sklavin schöne Augen, als einem zünftigen Kampf zuzusehen. Als Nächstes gesellst du dich noch zu den Mönchen auf Lindisfarena und verlegst dich ganz auf das Gebet und die innere Einkehr, was?«
Beobrand gab sich einen Ruck und riss sich von Reaghans Anblick los. Er empfand nicht das für sie, was er für Sunniva gefühlt hatte, und doch musste er jedes Mal, wenn er sie sah, daran denken, wie sich ihr zitternder Körper unter seinen Händen angefühlt hatte. Wie ihr Haar roch. Als sie von den Pikten geraubt worden war, hatte er nur noch daran denken können, sie zu befreien. Und jetzt, da sie in Sicherheit war, schlich sie sich immer öfter in seine Gedanken.
Er schüttelte den Kopf und lächelte Acennan an. Es war klar, dass sein Freund noch mehr sagen wollte – vermutlich lag ihm eine weitere scherzhafte Bemerkung auf der Zunge –, doch dann schloss er den Mund und wandte sich wieder den beiden Kontrahenten des gerade begonnenen Kampfes zu. Die Ereignisse der vergangenen Monate hatten viele Narben auf Beobrands Seele hinterlassen, und Acennan war ihm gegenüber immer noch sehr vorsichtig. Er wollte auf keinen Fall den Schorf von den noch verheilenden Wunden reißen.
Unvermittelt stießen die Männer einen Freudenschrei aus. Ceawlin hatte erheblich unter Druck gestanden und Bassus’ kraftvolle Hiebe nur unter Aufbietung seiner ganzen Schwertkünste abwehren können. Aber eine Siegchance hatte er nie gehabt. Bassus war einfach zu stark, seine Reichweite zu groß. Und er war ebenso flink wie stattlich. Doch als es gerade so aussah, als würde Ceawlin endgültig zu Boden gehen, strauchelte der Hüne Bassus und landete, alle viere von sich gestreckt, im schon bräunlichen Sommergras. Aethelwulf pirschte sich von hinten an ihn heran und ließ sich auf Knie und Hände nieder. Ceawlin nutzte die Gelegenheit und rammte seinen Schild auf den seines Gegners, Buckel auf Buckel. Dann bedurfte es nur mehr eines letzten kräftigen Stoßes, und Bassus stolperte rückwärts über Aethelwulf.
Beobrands Kampfgefährten lachten und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Ein einfacher, aber wirkungsvoller Trick. Außerdem freuten sie sich, den Hünen am Boden zu sehen.
Von einem wutentbrannten Schrei begleitet sprang Bassus auf. »Ihr Hurensöhne!«, brüllte er und ließ seine gepolsterte Klinge kreisen. »Das war nicht fair!«
Beobrand erhob seine Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Ganz ruhig, Bassus. Du sprichst die Wahrheit. Es war ein unfairer Kampf.«
Der Lärm verstummte, und die Männer starrten ihren Herrn an.
»Unfair«, wiederholte Beobrand, »aber Ceawlin hat nur das getan, was du mir immer wieder eingebläut hast, Bassus.«
Das Gesicht des Hünen war gerötet und schweißbedeckt, sein Mund abschätzig verzogen. »Und das wäre?«
»Zu siegen.«
Beobrand wusste nur zu gut, was der Gestank in dem kleinen Zimmer zu bedeuten hatte. Am liebsten hätte er die Flucht ergriffen. Der Übelkeit erregende Fäulnisgeruch legte sich auf seinen Gaumen. Der Gestank war kaum zu ertragen. So lange wie nur möglich hatte er sich davon ferngehalten. Er wollte nicht Zeuge dessen werden, was sich unweigerlich ankündigte, und fand zahlreiche Aufgaben, um sich abzulenken.
So erforderten Zwistigkeiten zwischen ein paar Bauern seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Wem gehörte dieses Schaf? Wer hatte jenen Laib Brot gestohlen? Er musste sich mit diesen Fragen beschäftigen. Schließlich war er der Fürst von Ubbanford, und es war seine Pflicht, sich um seine Untertanen zu kümmern.
Aber er hatte auch noch eine andere Aufgabe. Er musste seine Leute beschützen und sie belohnen. War Lehnsherr. Oberhaupt. Fürst.
Er verteilte Geschenke, und im Gegenzug schenkten die Kampfgefährten ihm ihre unverbrüchliche Treue. Ihren Eid. Das Band zwischen ihnen war so stark wie Eisen.
Aber selbst Eisen konnte zerbrechen, konnte rosten und zu Staub zerfallen.
Zwei Tage nach den Übungskämpfen auf dem Hügel hatte Acennan ihn im Saal ausfindig gemacht. »Komm schnell, Beobrand!«
Beobrand hob ruckartig den Kopf. Eben noch hatte er in die Glut des Kaminfeuers gestarrt und sich in Erinnerungen an Flammen und den Tod verloren. An Höhlen und gegen ihn ausgestoßene Flüche. Er griff nach seinem Metbecher und stellte fest, dass er leer war.
»Ich soll also kommen, was?«, lallte er.
Acennan seufzte und baute sich in seiner gesamten Größe vor ihm auf.
Obwohl Beobrands Sinne vom Alkohol betäubt waren, sah er, dass sein Freund sich zum Kampf bereit machte. Beobrand holte tief Luft. Zu oft schon hatte Acennan einen hohen Preis für den Jähzorn seines Herrn bezahlt. Aber Acennan trug keine Schuld für seine Stimmung. Beobrand durfte seinen Zorn nicht gegen ihn richten.
»Wie steht es um ihn?«, erkundigte er sich daher in sanfterem Tonfall.
Acennan entspannte sich sichtlich. »Schlimm.«
Mehr hatte er nicht sagen müssen. Beobrand war Herr über Land und Leute. Er befehligte Männer, die bereit waren, für ihn im Schildwall zu kämpfen. Für ihn zu töten. Und für ihn zu sterben.
Im Verlauf der vergangenen Monate hatte Beobrand so viel vom Tod gesehen, dass er gehofft hatte, wenigstens eine Zeit lang von ihm verschont zu bleiben. Doch sein Schicksal hatte offensichtlich etwas dagegen. Es schien, als bestünde es darin, die Menschen in seiner Umgebung dahinschwinden zu sehen.
Beobrand wappnete sich innerlich, als er jetzt zur Pritsche in dem abgedunkelten Zimmer trat. Eine Gestalt, die sich gerade noch über das Krankenlager gebeugt hatte, richtete sich auf und schlurfte auf ihn zu. Das war Odelyna, die alte Heilerin, die vergeblich versucht hatte, Sunnivas Leben zu retten.
»Das Elfenfieber, Herr«, flüsterte sie. Ihr Atem fügte dem Pesthauch im Raum eine weitere unangenehme Note hinzu. »Die Fäulnis ist schon in die Wunde eingedrungen.«
Für einen kurzen Moment verspürte Beobrand das schreckliche Bedürfnis, die Frau zu schlagen. Sie stand für Krankheit und Tod, überbrachte ihm fast ausschließlich Botschaften des Verderbens.
Doch sie hatte auch geholfen, seinen Sohn zur Welt zu bringen. Den Säugling, der seine eigene Mutter getötet hatte.
Beobrand ballte die Fäuste. »Lass uns allein«, herrschte er Odelyna mit kalter, harter Stimme an.
Acennan scheuchte die Alte fort, während Beobrand seinen Blick auf das Lager senkte.
Ein Schweißfilm lag auf Attors Gesicht, das so bleich war, dass man glauben konnte, er wäre bereits aus dem Leben geschieden.
Beobrand schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. Attors Schulterwunde von Torrans Pfeil war nicht tief gewesen, aber kurz nach der Attacke im Morgengrauen war das Fleisch darum herum angeschwollen, hatte sich stark gerötet und entzündet. Und jetzt würde Attor sterben. Noch ein Tod, der nach Vergeltung schrie. Noch ein Freund, der diese Erde verlassen musste.
Als Beobrand die Augen wieder aufschlug, starrte Attor ihn an. Seine Augen leuchteten in der Düsternis wie mondbeschienene Teiche.
»Seid nicht traurig, mein Fürst«, sagte Attor. »Der Pfeil des Pikten galt Euch.«
Beobrand verzog das Gesicht. »Das weiß ich, Attor. Und ich will nicht, dass du sterben musst, weil du mir das Leben gerettet hast. Der Preis ist zu hoch.«
Attors Lächeln war schmal. »Ich habe Euch meinen Eid geleistet, und Ihr seid mir ein guter Herr gewesen. Wie sollte es anders sein?« Der Krieger stoppte kurz, biss die Zähne zusammen und hielt den Atem an, während eine Woge des Schmerzes über ihn hinwegbrandete. »Ich hätte es nicht anders gewollt. Wie hätte ich als Euer Kampfgefährte mit der Scham leben können, diesen Pfeil nicht aufgehalten zu haben?«
Beobrand dachte an den Angriff am frühen Morgen zurück. Er hatte sein Kettenhemd zum Schutz getragen, Attor nur seinen Schild. Möglicherweise hätte der Pfeil ihn gar nicht verletzt, hätte er denn sein Ziel getroffen. Doch das würden sie niemals erfahren.
»Denkt nicht daran, was hätte sein können«, sagte Attor nun, als hätte er die Gedanken seines Herrn gelesen. »Mein Lebensfaden ist von den Schicksalsgöttinnen längst gesponnen.«
Beobrand begegnete Attors fiebrigem Blick und nickte langsam und mit fest zusammengepressten Zähnen. Bassus sagte immer, dass man keine Zeit mit Dingen vergeuden sollte, über die man keine Macht hat. Scand, der Beobrand ein vorzüglicher Herr gewesen war, hatte sich auf ganz ähnliche Art geäußert. Beobrand wusste also, dass er sich nicht mit der Vergangenheit aufhalten sollte, mit den Dingen, die niemand mehr ändern konnte. Er wusste das, aber er war nicht in der Lage, auch so zu handeln.
»Du warst der beste Krieger, den ich mir wünschen konnte. Treu und tapfer.« Er schluckte hart. »Wir werden die Erinnerung an dich in Ehren halten. Und ich werde dich rächen.«
Tränen standen in Attors Augen.
Beobrand streckte ihm die Hand entgegen, und Attor umfasste Beobrands Unterarm fest mit dem Kriegergriff. Seine Hand war heiß und feucht.
Die Stille wurde von drei kurzen Tönen aus einem Horn unterbrochen, die aus dem Tal zu ihnen drangen.
Beobrand drückte Attors Handgelenk ein letztes Mal, bevor er sich Acennan zuwandte. »Schnell. Lass uns nachsehen, wer Ubbanford diesmal einen Besuch abstattet. Wenn es die Pikten sind, werden sie ihr Auftauchen mit ihrem Blut bezahlen.«
Sie huschten nach draußen in die Sonne. Das wilde Grinsen, das sich bei den Worten seines Fürsten auf Attors Lippen gelegt hatte, sahen sie nicht mehr.
»Wer seid ihr, und was wollt ihr?« Beobrands Stimme klang unfreundlich. Er hatte keine Lust, für diese durchnässten Männer den Gastgeber zu spielen. Natürlich war ihm klar, wer sie waren, schließlich trugen sie die Talare der Christusnachfolger. Aber noch nie zuvor hatte er so viele Mönche auf einmal außerhalb eines Klosters gesehen.
Es waren insgesamt dreizehn an der Zahl. Einer von ihnen, ein mageres Bürschchen, schien nass bis auf die Knochen zu sein. Zitternd stand er am steinigen Flussufer, während sein Talar an seinem knochigen Körper klebte. Etliche der anderen trieften ebenfalls, waren jedoch bei Weitem nicht in einem solch erbärmlichen Zustand wie der Junge.
Elmer, der in das Horn gestoßen hatte, trat zu Beobrand. »Sie sind einfach zwischen den Bäumen aufgetaucht und haben die Furt durchquert. Bevor ich am Ufer war, ist der Kleine da ausgerutscht und flink wie ein Otter im Wasser verschwunden. Er hat Glück gehabt, dass der Dicke da ihn so schnell gepackt hat.« Er zeigte auf einen der Mönche. Er war groß und kräftig gebaut und wirkte wie ein Krieger im Talar, nicht wie ein frommer Mann.
Beobrand erkannte ihn sofort. »Biorach!«, sagte er und musste unwillkürlich lächeln. Der Mönch hatte sie damals mit einem Boot auf die Insel Muile zur Höhle von Nelda der Hexe gebracht. Doch Beobrand wollte an jene finsteren Stunden nicht erinnert werden, seine Gedanken waren ohnehin schon düster genug. Er schob die aufsteigenden Bilder beiseite und trat mit ausgebreiteten Armen auf den Mönch zu. »Du bist mir in meinem Saal herzlich willkommen. Was bringt dich und deine Brüder hierher?«
Der Mönch strahlte vor Freude über das Wiedersehen. »Meine Brüder und ich begleiten den Heiligen Abt Aidan.« Er zeigte auf einen Mann mittleren Alters. Wie alle Mönche hatte er sich die Vorderseite seines Schädels kahl rasiert, sodass seine bereits ergrauenden Haare nur hinter den Ohren hinabhingen. Er trug einen Vollbart und hatte freundliche dunkle Augen.
Da er der Anführer der Gruppe zu sein schien, richtete Beobrand das Wort an ihn. »Wohin des Wegs?«, wollte er wissen.
Aidan begegnete seinem Blick und nickte sanft, gab jedoch keine Antwort.
Beobrand schüttelte verständnislos den Kopf, dann sagte Biorach etwas in der singenden Sprache der Hibernier, woraufhin Aidan etwas erwiderte.
»Vater Aidan ist der Sprache der Angeln noch unkundig«, erklärte Biorach. Dann sagte Aidan noch einmal etwas, und der Mönch nickte. »Aber er ist begierig, sie zu lernen. Wir sind auf dem Weg nach Lindisfarena und würden uns sehr freuen, heute Nacht Eure Gastfreundschaft in Anspruch nehmen zu dürfen. Unsere Körper sind erschöpft und unsere Füße wund. Zudem fürchte ich, dass der junge Conant erfriert, wenn wir ihn nicht bald ins Trockene bringen.«
»Ihr habt den ganzen Weg von der Insel Hii zu Fuß zurückgelegt?«, fragte Beobrand überrascht. Er hatte die Strecke auf dem Rücken eines Pferdes bewältigt. Die Anstrengung zu Fuß konnte er sich nicht vorstellen. Die Reise war weit und gefährlich.
»So ist es. Der Abt reitet nicht gerne, und auf diese Weise sind wir Gottes Land und Seinem Volk erheblich näher.«
Beobrand konnte es immer noch kaum glauben, dass sie die gesamte Insel Albion von Küste zu Küste zu Fuß durchquert hatten, noch dazu ohne den Schutz einer sie begleitenden Kriegerschar.
Plötzlich nieste der junge Conant und begann, unkontrolliert zu zittern.
Beobrand wollte nur ungern seine Zeit den Christusmännern opfern, aber sie waren Reisende, die eine Unterkunft benötigten, und hatten ihn ebenfalls beherbergt, als er sich im vergangenen Winter auf ihrer heiligen Insel aufgehalten hatte.
»Folgt mir«, sagte er daher. »In meinem Kamin brennt ein Feuer, und ich werde euch Speis und Trank bringen lassen.« Er drehte sich um und ging voraus, seinem neuen Saal auf dem Hügel entgegen.
Reaghan fühlte sich nicht wohl. Ungewohntes vielstimmiges Geplapper in ihrer Muttersprache umgab sie und weckte Erinnerungen. Die durch den Saal hallenden Worte beschworen das verschwommene Bild einer kleinen Strohpuppe herauf, die ihr Vater für sie gefertigt hatte. Doch bald schon wurden diese bittersüßen Bilder ihrer Kindheit von aktuelleren verdrängt. Sie schloss für einen Moment die Augen und hatte wieder die heiseren Stimmen ihrer Entführer in Nathairs Saal im Ohr.
»Was machst du da, Reaghan?« Die Frage, so scharf wie eine schartige Klinge, holte sie in die Gegenwart zurück. Sie öffnete die Augen.
»Siehst du nicht, dass die Männer auf ihr Bier warten?«, fuhr die Stimme fort.
Reaghan drehte sich um und sah Edlyn vor sich stehen. Das Mädchen war etliche Jahre jünger als Reaghan. Früher einmal hatten sie sich nahegestanden, doch das war eine Weile her. Vom Winde verweht, zusammen mit der Asche von Sunnivas Scheiterhaufen und von Nathairs abgebranntem Saal. Einst hatte Edlyn zu Reaghan aufgesehen. Sie hatten zusammen gespielt, wenn Reaghan von ihren Pflichten entbunden worden war. Eine Zeit lang waren sie wie Schwestern gewesen. Doch mit Sunnivas Ankunft veränderte sich ihre Beziehung. In Sunniva fand Edlyn ein neues Objekt für ihre Zuneigung. Sunniva war wunderschön, liebevoll und die Gattin eines Fürsten. Vor allem aber war sie keine Sklavin und gehörte zu Edlyns Volk.
Solange Sunniva lebte, ignorierte Edlyn Reaghan lediglich, wo sie zuvor ihre Nähe gesucht hatte. Doch als Beobrand nach dem Tod der Fürstin Interesse an Reaghan zeigte, schlug Edlyns Ignoranz in Hass um. Als würde sie Reaghan die Schuld an Sunnivas Tod geben. Je mehr Aufmerksamkeit Beobrand ihr schenkte, desto schlechter behandelte Edlyn sie. Doch das Schlimmste war, dass die anderen Frauen sich ein Beispiel an Edlyns Verhalten zu nehmen schienen. Auch Rowena, die Mutter ihrer einstigen Freundin, verhielt sich ausgesprochen unfreundlich Reaghan gegenüber und hatte sie sogar geschlagen, nur weil sie ein frisch gewaschenes Kleid hatte fallen lassen. Zum ersten Mal hatte sie Gewalt angewendet. Und sogar die anderen Sklavinnen und Bauersfrauen in Ubbanford zeigten Reaghan mittlerweile die kalte Schulter.
Dabei hatte sie nichts mit Sunnivas Tod zu tun. Und Beobrand daran hindern, dass er sie zu sich in seine Schlafkammer holte, konnte sie auch nicht. Er war der Fürst von Ubbanford und sie eine Sklavin, sie hätte keine Wahl gehabt. Das alles war sehr verwirrend und ungerecht.
Doch an Ungerechtigkeiten war sie gewöhnt. Das Leben war schon seit vielen Jahren ungerecht zu ihr.
Ihre momentane Verwirrung hatte jedoch nicht nur damit zu tun, wie sie von anderen behandelt wurde, sondern auch mit ihren eigenen Gefühlen. Sie warf Beobrand, der an der Hohen Tafel saß, einen Blick zu. Gerade beugte er sich nach vorn, um eine Bemerkung Acennans besser verstehen zu können. Die beiden hatten ernste Mienen aufgesetzt. Eigentlich waren alle Krieger düsterer Stimmung.
Beobrand schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete, denn er hob den Kopf und sah sie an. Der Anblick seiner eisblauen Augen jagte ein leises Zittern ihren Rücken hinunter. Sie musste an sein Gewicht auf ihrem Körper denken. Daran, wie er sie genommen hatte, sanft und wild zugleich. Ganz anders als die anderen Männer, bei denen sie gelegen hatte. Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Ja, ganz anders.
»Welcher Geist hat dir bloß die Sinne geraubt?«, brüllte ihr Edlyn da ins Ohr. »Zwing mich nicht, dich vor den Gästen mit der Gerte zu schlagen.«
Sofort senkte Reaghan den Blick und hastete zu den Tischen, um die Mönche und die Krieger zu bedienen.
Beobrand war ruhelos. Er sah, wie Reaghan Becher und Trinkhörner mit Bier füllte, und griff nach seinem eigenen Becher. Am liebsten hätte er den Saal verlassen, hätte den Trubel hinter sich gelassen und wäre irgendwohin gegangen. Zum Fluss vielleicht. Er mochte es dort. Gut möglich, dass der Reiher wieder an der üblichen Stelle hockte. Beobrand saß gerne einfach nur da und beobachtete ihn. Der Vogel war so still. Wirkte konzentriert. Er hätte Reaghan mitnehmen können. Sie war eine angenehme Gesellschaft, redete nur wenig und beklagte sich nie. Er schnaubte. Wie dumm konnte er nur sein? Sie war eine Sklavin – natürlich beklagte sie sich nicht.