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Der Tod des Patriarchen einer schwäbischen Spielzeugfabrik wird zum Auslöser für heftige Erbstreitigkeiten und führt zur Aufdeckung lange zurückliegender Familiengeheimnisse, deren Spur bis nach Schweden führt. Ein überraschend aufgetauchter unehelicher Sohn sorgt für Gefühlsverwirrungen und spaltet die Familie, die in ihren Grundfesten erschüttert wird. Doch eine solch tiefe Krise bietet zugleich auch die Chance auf einen Neuanfang.
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Seitenzahl: 500
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Simone Dorra erblickte 1963 in Wuppertal das Licht der Welt und ist seit 1983 in Baden-Württemberg zu Hause. Die gelernte Buchhändlerin arbeitete zunächst in einem Stuttgarter Verlag und gestaltete dann als Sprecherin und Journalistin Radioprogramme für den Privatrundfunk. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Welzheim, wo sie heute als Lokaljournalistin für die örtliche Tageszeitung arbeitet. www.simonedorra.de
Ingrid Zellner wurde 1962 in Dachau geboren. Nach ihrem Theaterwissenschafts-, Literatur- und Geschichtsstudium in München war sie am Stadttheater Hildesheim und zwölf Jahre an der Bayerischen Staatsoper München Dramaturgin. Heute lebt sie als Übersetzerin (Schwedisch) und Schriftstellerin, Regisseurin und Theaterschauspielerin wieder in Dachau. Sie hat bereits Romane, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten und Theaterstücke veröffentlicht. www.ingrid-zellner.de
SIMONE DORRA – INGRID ZELLNER
ROMAN
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1. Auflage 2019
© 2019 by Silberburg-Verlag GmbH,Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Satz:César Satz & Grafik GmbH, Köln.Coverfoto: © s_oleg – ShutterstockLektorat: Michael Raffel, Tübingen.Druck: CPI books, Leck.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-8425-2141-4eISBN 978-3-8425-1843-8
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PROLOG
ABSCHIED NEHMEN
VÄTER UND SÖHNE
DER SOHN AUS SCHWEDEN
FAMILIENVERHÄLTNISSE
PAUKENSCHLAG
ABGEBROCHENE BRÜCKEN
POST NACH SCHWEDEN
URLAUBSPLÄNE
NEULAND
HOLZ UND LICHT
KUNST UND NATUR
WUNDERBARE WELT
GEBURTSTAG
ZWISCHENSPIEL
FEUER
HEIMKEHR
NEUE WEGE
ENTDECKUNGEN
STILLE NACHT
BÖSES SPIEL
ERDRUTSCH
ENDSTATION
TÄUSCHUNGSMANÖVER
ABSTURZ
NACHWEHEN
KLARTEXT
DU BIST MEIN, ICH BIN DEIN
ENTSCHEIDUNGEN
ÜBERSETZUNG FREMDSPRACHIGER STELLEN
NACHWORT
»Ade, Herr Gebhard. I gang jetzt hoim.«
»Isch recht, Frau Schneider. Schönen Abend noch.«
Traugott Gebhard nickte seiner Sekretärin zu und wartete, bis sie sein Büro wieder verlassen hatte. Ruth Schneider hatte die Stelle in seinem Vorzimmer vor zwanzig Jahren als frisch verheiratete Frau angetreten. Er lernte ihren Mann wenige Monate später bei der Betriebsweihnachtsfeier der Spielzeugfabrik Gebhard kennen und fand ihn auf Anhieb herzlich unsympathisch; es wunderte ihn wenig, als sie sich kaum vier Jahre später wieder scheiden ließ. Seither war sie allein geblieben. Sie hatte sich mit ihrem recht ansehnlichen Gehalt ein nettes Häuschen in Hussenhofen zusammengespart, besaß einen innig geliebten Kartäuserkater, und in ihrer knappen Freizeit züchtete sie Rosen. Sie war außerdem seine überaus verlässliche rechte Hand … und manchmal sogar seine linke.
Er lehnte sich in seinem rückenschonenden Ledersessel zurück und warf einen kurzen Blick auf die kleine Tür in seinem Schreibtisch, zu der er allein einen Schlüssel besaß. Dahinter befand sich ein Cognac Albert de Montaubert XO Impérial von 1956, ein Geschenk von ihm an sich selbst zu Weihnachten. Selbst jetzt noch, knapp zwei Monate danach, versetzte ihm sein schwäbisches Gewissen einen Stich, wenn er daran dachte, was dieser samtweiche, goldbraune Göttertrank gekostet hatte.
Er klopfte auf seine Westentasche, in der der Schlüssel steckte … aber nein, das war nicht die richtige Gelegenheit. Sein nächster Geburtstag würde erst im Oktober sein. Der einundsiebzigste. Die Geburtstage seiner Söhne waren im Februar und im April, die seiner Schwiegertöchter im Juni und Juli. Und nur bei der Frau seines älteren Sohnes konnte er sich vorstellen, einen ehrlich gemeinten Toast auszubringen. Elisabeth – die zu Hause die Dinge ebenso makel- und reibungslos am Laufen hielt wie Ruth Schneider hier in der Firma. Kluge, freundliche, liebevolle Elisabeth.
Eigentlich war es traurig, dass ihm seine beiden Söhne und seine andere Schwiegertochter nicht halb so viel bedeuteten. Markus – sein Ältester – konnte noch am wenigsten dafür. Er war Anwalt in einer florierenden Kanzlei, er liebte seine Tochter Vivien, und er war Elisabeth (jedenfalls soweit Traugott das beurteilen konnte) ehrlich zugetan und vermutlich treu. Allerdings musste Traugott zugeben, dass er eigentlich nie so genau wusste, was Markus empfand. Sein Ältester war ziemlich verschlossen; früher, in seiner Jugend, war er viel lockerer gewesen.
Traugott seufzte. Das galt auch für ihn selbst. Vielleicht war Markus ihm doch ähnlicher, als er dachte.
In den letzten Wochen und Monaten waren seine Gedanken immer häufiger in die Vergangenheit gewandert – zurück in eine Zeit, als er eben erst neuer Direktor der Firma in Schwäbisch Gmünd geworden war, mit gerade dreißig und seit einem knappen Jahr verheiratet mit Reinhild, einer geborenen Schäuffele aus Stuttgart. Damals war er vollauf damit beschäftigt gewesen, das Unternehmen zu erweitern. Schwaben, selbst Deutschland war ihm damals zu klein vorgekommen.
Er hatte Kooperationsverträge geschlossen mit einer kleinen Manufaktur im italienischen Bologna, die für ihn naturgetreue Tierfiguren herstellte, mit einem Betrieb für Kunsthandwerk und Spielwaren aus Blech im tschechischen Riesengebirge und mit einer Firma in Schweden, in der Nähe von Stockholm. Von dort bezog er schön geschnitztes Spielzeug aus Holz, das sich im Lauf der Jahre zu einem Verkaufsschlager entwickelte. Damals war er sehr oft nach Stockholm gereist und hatte sogar die Sprache gelernt.
Schweden faszinierte ihn. Das intensive Licht, die Ruhe und Weite, die ihn umgaben, sobald er ins Landesinnere oder nach Norden fuhr, waren ein fast schockierender Gegensatz zu den vertrauten, dicht besiedelten Hügeln seiner Heimat. In Schweden konnte er durchatmen, wenn ihm zu Hause durch seinen übervollen Terminkalender und die selbst gesetzten Ziele die Luft ausging.
Inzwischen war er schon lange nicht mehr in Skandinavien gewesen.
Traugott warf einen Blick aus dem Fenster. Der regnerische Freitagnachmittag neigte sich dem Ende zu; jeden Moment musste sich sein Fahrer melden. Selbst durfte er nicht mehr hinter das Steuer; nach einer Operation am linken Auge im vergangenen Frühjahr war der graue Star zwar verschwunden, aber ein hartnäckiger Rest Linsentrübung war geblieben.
Außerdem hatte er mit einer ständig wachsenden Müdigkeit zu kämpfen, die ihm noch mehr zu schaffen machte als sämtliche Zipperlein, an die er sich notgedrungenermaßen gewöhnt hatte. Er war es leid, in jeder Angelegenheit das letzte Wort haben zu müssen. Es wurde Zeit für den Ruhestand. Markus wollte die Firma nicht übernehmen, sein jüngerer Sohn Julius durfte es nicht … aus mehr Gründen, als es Traugott lieb war. Aber zum Glück hatte er vorgesorgt. Sein Lebenswerk war sicher.
Nun nestelte er doch noch den Schlüssel aus der Westentasche und öffnete das Schrankfach. Da war der Cognac in seiner trügerisch schlichten Flasche, die ihn immer an einen überdimensionalen Parfumflakon erinnerte, und daneben ein schön geschliffener Schwenker.
Warum eigentlich nicht?
Er holte Flasche und Schwenker heraus und goss sich einen Fingerbreit ein. Als er das Glas mit der Handfläche umschloss und hochhob, stieg ihm der Duft wie eine köstliche Wolke in die Nase.
Er schloss die Augen, und in Vorfreude auf den ersten Schluck schickte er seine Gedanken auf die Reise. Aber merkwürdigerweise sah er nicht die weichen, grünen Hügel der Charente vor sich, woher sein nobles Lieblingsgetränk kam. Nein … was er jetzt sah, war eindeutig das Meer. Obwohl er den Schwenker immer noch festhielt, schwand der Duft des Cognacs, und nun konnte er das Meer nicht nur sehen, sondern auch riechen. Er befand sich an Bord eines Schiffes. Er konnte förmlich spüren, wie die Decksplanken leicht unter seinen Füßen vibrierten. Plötzlich begriff er. Das war die kleine Fähre, die von Gamla Stan nach Djurgården verkehrte. Er war wieder in Stockholm.
»Kom och hälsapå mig så ska jag visa dig norrskenet.«
Er hatte ihre Stimme vierzig Jahre lang nicht vergessen. Kummer und Enttäuschung waren plötzlich vergangen wie Rauch, und jetzt drehte er sich zu ihr um und sah in ihr schönes Gesicht.
Komm mich besuchen, und ich zeige dir das Polarlicht.
»Hej!«, sagte er leise. Mit einem Mal war alle Müdigkeit wie weggeblasen; er fühlte sich hellwach, voller Freude … und jung. So jung. »Da bisch du ja wieder!«
Weit entfernt rutschte ihm das Glas aus den Fingern und rollte über den Teppich unter den Schreibtisch. Er merkte es nicht. Sein Mund verzog sich zu einem glücklichen Lächeln.
Als der Fahrer eine Viertelstunde später in das Büro im ersten Stock heraufkam, da der Chef nicht auf seine wiederholten Telefonanrufe reagiert hatte, saß Traugott Gebhard mit nach hinten gesunkenem Kopf in seinem Ledersessel. Er lächelte immer noch, aber er atmete nicht mehr.
Als Elisabeth Gebhard am Morgen des 20. Februar aus dem Fenster schaute, seufzte sie unwillkürlich vor Erleichterung. Es war kalt, aber am Himmel stand nicht eine einzige Wolke. Kein Begräbnis im Regen – gottlob.
Sie sah dem Tag entgegen wie einem anspruchsvollen Hindernisparcours, der sich nur mit einer ausgefeilten Strategie bewältigen ließ. Der Beerdigungsunternehmer würde alle Blumen und Kränze, die versehentlich hier an der Villa auf dem Kaffeeberg in Schwäbisch Gmünd abgeliefert wurden, rechtzeitig zum Dreifaltigkeitsfriedhof schaffen und dort um den schlichten Eichensarg herum dekorieren. Die Feier begann offiziell um zwölf, mit einem festgelegten Programm. Zwei Lieder des Chores, in dem Traugott Gebhard dreißig Jahre lang Bass gesungen hatte, und zwei Choräle, in die die Trauergemeinde einstimmen konnte … alles von Johann Sebastian Bach. Elisabeths Schwiegervater hatte die Musik des Thomaskantors aus Leipzig sehr geliebt. Hasch du dir amol seine Kantate a’ghört?, hatte er einmal zu Elisabeth gesagt. Die sen wie so a hoch komplizierte mathematische Formel, und am Ende goht älles uff. Großartig isch des.
Elisabeth wurde jäh klar, dass sie nie wieder abends in Traugotts Arbeitszimmer gehen würde, um mit ihm zusammenzusitzen und bei einem Glas Rotwein mit ihm zu plaudern, während im Hintergrund das Präludium für Cello in G-Dur von Bach leise aus den Lautsprechern seiner Stereoanlage kam. Dieses Stück hatte er in den vergangenen Wochen immer wieder gehört … als wäre es die Antwort auf eine Frage, die nur er allein kannte. Und sie hätte sehr gern gewusst, welche Frage das gewesen war.
»Lisa, bist du hier?«
Markus. Ihr Mann war schon vor einer halben Stunde aufgestanden. Normalerweise ließ er sich mehr Zeit; aber dies war kein normaler Tag.
»Ja, bin ich. Ich komm gleich runter.«
Sie trat vor den Spiegel, den Markus ihr zur Hochzeit geschenkt hatte – zwei Meter hoch, mit einem üppigen Barockrahmen, den sie schon damals schrecklich kitschig gefunden hatte. Jetzt betrachtete sie ihr müdes Gesicht, das ihr zwischen vergoldeten Puttenköpfen, stilisierten Blätterranken und Rosenknospen aus weiß lackiertem Holz entgegenschaute. Sie war furchtbar blass. Aber andererseits würde bei einer Beerdigung wohl niemand von ihr erwarten, dass sie aussah wie das blühende Leben.
»Frau Gebhard?«
Marlies Hinderer, die als Köchin und Haushälterin für das leibliche Wohl der Familie sorgte, stand in der Tür.
»Der Caterer für d’r Empfang nach der Beerdigung hat ag’rufe«, sagte sie. Es klang unheilverkündend. »Denen isch die Kühlahlag ausg’falle, ond die Blätterteigtäschle med Lachs für die Herre vom Vorschtand sen hinüber. Außerdem isch en Bote vom Rathaus komma ond hat en große Kranz mit Schleife hierher bracht anschtatt zom Friedhof. Was mach i jetzed bloß mit dem Ding?«
Elisabeth seufzte. Der Tag hatte gerade erst begonnen, und das Chaos war bereits in vollem Gang.
»Legen Sie den Kranz in die Waschküche«, erwiderte sie. »Der Herr vom Beerdigungsinstitut kommt in einer halben Stunde und nimmt ihn mit. Und ich ruf gleich bei dem Fischzüchter in Schorndorf an, bei dem mein Schwiegervater immer seine Räucherforellen bestellt hat. Ich bin sicher, der kann uns aushelfen.«
Sie wandte dem Spiegel entschlossen den Rücken zu.
»Ich zieh mich schnell an, und dann kriegen wir das schon hin.«
Der Trauergottesdienst war gottlob gnädig kurz. Nachdem die Trauergemeinde gesungen und der Pfarrer den abschließenden Segen gesprochen hatte, rollte der Sarg auf seinem Wagen an Elisabeth vorbei in Richtung Ausgang. Sie erhob sich mit der Familie und folgte Traugott auf seinem letzten Weg quer über den weitläufigen Friedhof dorthin, wo das Grab ausgehoben worden war.
Die Worte des Pfarrers rauschten nahezu ungehört an ihr vorüber. Schließlich war der Moment gekommen, ihr kleines Sträußchen aus Rosen und Schleierkraut in das Grab zu werfen. Die Oberfläche des Sarges war bereits teilweise unter Blumen und lockerer Erde verschwunden.
Leb wohl, Traugott, dachte sie. Du bist so ein wunderbarer Mensch gewesen. Ich hab dich lieb. Und du fehlst mir.
Sie trat wieder zurück und wartete, bis sich auf ihrer linken Seite die unvermeidliche Schlange derer bildete, die kondolieren wollten. Vivien berührte sie am Ellenbogen.
»Du musst bloß bis nach dem Empfang durchhalten, Mama«, raunte sie tröstend. »Dann machen wir die Türen hinter uns zu, ich koch uns einen Tee, und du kannst dich ausruhen.«
Elisabeth betrachtete Viviens Gesicht und stellte wieder einmal mit einer Art von sanftem, verwundertem Schrecken fest, wie sehr sie ihre schöne, kluge Tochter liebte.
»Danke, mein Schatz«, sagte sie leise.
Zwei Tage nach Traugott Gebhards Beerdigung verabschiedete Markus sich wie gewohnt morgens um neun und fuhr in die Kanzlei; nachmittags war er mit Dr. Pfleiderer verabredet, dem Notar der Familie, der Anfang der kommenden Woche das Testament eröffnen würde. Es war ein offenes Geheimnis, dass die eigentliche Firma vom Erbe ausgenommen war (das nun im Wesentlichen aus mehreren Immobilien und einem beträchtlichen Barvermögen bestand, dessen genaue Summe Elisabeth allerdings nicht kannte). Über ein ausgeklügeltes System von Stiftungen hatte der alte Patriarch dafür gesorgt, dass sein Lebenswerk nicht etwaigen Streitereien seiner Nachkommen zum Opfer fiel, sondern am Stück erhalten blieb.
Was Markus anging, musste er sich finanziell wenig Sorgen machen. Elisabeths Mann bezog als Anwalt ein beruhigend solides Gehalt. Der einzige Grund, weswegen er noch mit Frau und Tochter in der Familienvilla wohnte, war der, dass Elisabeth für ihren Schwiegervater zu dessen Lebzeiten alle Firmenevents vorbereitet und eine exakte Kopie des Terminkalenders besessen hatte, den Traugotts getreue Sekretärin Ruth Schneider führte. Die beiden hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass nicht nur in der Firma, sondern auch daheim alles lief wie am Schnürchen.
Elisabeth trank eine letzte Tasse Kaffee und fragte sich, was Ruth Schneider nun, nach Traugotts Tod, wohl tun würde – wahrscheinlich in ihrem hübschen, abbezahlten Häuschen in Rente gehen, neue Rosensorten züchten und ihren prächtigen Kartäuserkater pflegen, der dort auf seinem eigenen Sessel im Wohnzimmer residierte wie ein König.
Die Tür öffnete sich, und Frau Hinderer steckte den Kopf herein. »Derf i abräume?«
»Aber sicher.« Elisabeth stand auf. »Tut mir leid, dass ich getrödelt habe.«
Die Haushälterin schnaubte. »Hen Sie doch garet. Sie sen früh dran; der Herr Julius und sei Holde sen no gar net wach, glaub i. Aber i han koi Luscht zom warte, bis die endlich nonder kommet … bis dahin isch die Wurscht grün und der Käs wird trocka.«
Elisabeth unterdrückte ein Grinsen. Es war kein Geheimnis, dass die tüchtige Perle von Julius und seiner Frau nicht gerade viel hielt.
Ihr Schwager hatte nach einem mit Ach und Krach absolvierten BWL-Studium zunächst versucht, als Investmentbanker an der Börse Karriere zu machen. Zwischenzeitlich heiratete er Fiona, die sich von ihm eine schicke Modeboutique in Gmünd mieten und einrichten ließ. Dummerweise fehlten Julius sowohl der Instinkt als auch das Talent für den gewählten Job, und auch die Boutique lief bei Weitem nicht so glänzend, wie Fiona sich das vorgestellt hatte. Auf diese Weise schafften die beiden es binnen weniger Jahre, einen erschreckenden Berg Schulden anzuhäufen.
Traugott glich die Konten von Sohn und Schwiegertochter aus und bot ihnen an, mit Fachleuten und dem nötigen Knowhow auszuhelfen. Der Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe. Als Elisabeth und Markus ihren zehnten Hochzeitstag feierten und Vivien auf das Gymnasium kam, waren Julius und Fiona erneut in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Diesmal sprach Traugott ein Machtwort. Er verschaffte Julius einen Posten in der Familienfirma, bei dem er seinen Charme nutzbringend einsetzen konnte, aber nicht einflussreich genug war, um Schaden anzurichten. Fionas Boutique wurde geschlossen, und anstatt sich eine andere Verdienstmöglichkeit zu suchen, wurde Julius’ »Holde« Teil der auch in Gmünd durchaus vorhandenen Schickeria. Dank der Tatsache, dass sie mit ihrem Mann mietfrei das Dachgeschoss der Familienvilla bewohnte, reichte das Geld, um ihr diesen Lebensstil einigermaßen zu finanzieren. Jetzt, da Traugott tot war, warteten sie und Julius mit Sicherheit nur noch darauf, ihr Erbe einzustreichen und sich damit endlich zu sanieren.
Elisabeth zuckte die Achseln. Sie beschloss, keinen weiteren Gedanken an die Angelegenheiten von Schwager und Schwägerin zu verschwenden und sich stattdessen lieber mit Frau Hinderer an das Ausräumen von Traugotts Kleiderschrank zu machen.
Das Wochenende verstrich, der Montag kam und mit ihm der Termin für die Testamentseröffnung. Pünktlich morgens um elf hatte sich die ganze Familie in der Kanzlei von Dr. Pfleiderer versammelt. Am Kopfende des Sitzungstisches saß der Notar in einem dunklen Anzug, die Hände auf der dicken Mappe gefaltet, die vor ihm lag.
Er räusperte sich.
»Zunächst einmal«, sagte er, »möchte ich nochmals erwähnen, dass die Firma Gebhard nicht Teil des Erbes ist, sondern über die ›Traugott-Gebhard-Stiftung‹ vom Vorstand weitergeführt wird. Die Reingewinne der Firma fließen ausschließlich in die Finanzierung des Unternehmens. Ist das soweit in Ordnung?«
Allgemeines Nicken rund um den Tisch. Elisabeth sah, wie Dr. Pfleiderer seine Unterlagen durchblätterte und einen verstohlenen Blick Richtung Tür warf. Erwartete er noch jemanden?
»Das flüssige Barvermögen beläuft sich auf eine Summe von bislang insgesamt gut 900 000 Euro«, fuhr er fort. »Es gehen Legate von jeweils 40 000 Euro an die beiden Schwiegertöchter und die Enkelin von Traugott Gebhard sowie eine Summe von jeweils 10 000 Euro an Marlies Hinderer und Ruth Schneider. Der Rest geht zu gleichen Teilen an die Söhne des Erblassers.«
Elisabeth freute sich darüber, dass ihr Schwiegervater auch seine Haushälterin und die Sekretärin bedacht hatte. Außerdem war sie erleichtert, dass sie nicht mehr Geld bekam als Fiona; eine bestimmte Sorte Ärger musste man wirklich nicht mit aller Gewalt herausfordern.
Julius wirkte sichtlich zufrieden.
»Mindestens 380 000 pro Nase, großer Bruder«, sagte er und lächelte breit. »Gar nicht übel, was?«
Dr. Pfleiderer räusperte sich erneut und warf gerade einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr, als es plötzlich klopfte.
»Herein.«
Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle stand ein Mann, den Elisabeth noch nie gesehen hatte. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig; er war hochgewachsen und schlank, mit breiten Schultern, langen Beinen und einem klaren Gesicht unter einem dichten, weizenblonden Haarschopf. Er trug Jeans, Stiefel, eine dicke Winterjacke und darunter einen Pullover mit Norwegermuster.
»Dr Pfleiderer, I suppose?«, sagte er. »Hi, I’m Göran Åsasson. Excuse me for being late. I missed the earlier train.«
Markus, der den Neuankömmling ebenso verwirrt musterte wie der Rest der Familie, fand als Erster die Sprache wieder und wandte sich an den Notar.
»Wer ist das, bitte?«
»Und was hat er hier zu suchen?« Julius klang deutlich aggressiver als sein Bruder. »Ich dachte, das ist eine Privatveranstaltung.«
»Das ist es auch«, erwiderte Dr. Pfleiderer. »Welcome, Mr Åsasson. Have a seat!«
Der Fremde nickte, streifte die Jacke ab und setzte sich dem Notar gegenüber an den Tisch. Dass er von fünf Augenpaaren gleichzeitig angestarrt wurde, schien ihm wenig auszumachen.
»Ich darf Ihnen vorstellen: Das ist Göran Åsasson aus Schweden. Aus der Gegend von Kiruna genauer gesagt. Das liegt jenseits des Polarkreises.«
»Danke für die Geografiestunde«, versetzte Julius sarkastisch. »Aber damit weiß ich immer noch nicht, was der Mann hier zu suchen hat.«
»Ich habe ihn letzte Woche angerufen«, antwortete Dr. Pfleiderer. »Traugott Gebhard hatte mich gebeten, einen bestimmten Zusatz seines Testaments erst nach seinem Tod zu lesen. Deswegen kenne ich erst seit Kurzem ein wichtiges Detail, dessetwegen ich Herrn Åsasson gebeten habe, hierherzukommen. Er hat leider seinen ursprünglich vorgesehenen Zug vom Flughafen aus versäumt. Sonst wäre er schon vor einer Stunde hier gewesen, und ich müsste jetzt nicht so unvorbereitet die Bombe platzen lassen.«
»Was für eine Bombe soll denn das sein?« Julius sah aus, als würde ihm jeden Moment der Geduldsfaden reißen. »Rücken Sie doch endlich raus damit, verdammt noch mal!«
»Na schön.«
Dr. Pfleiderer warf dem Schweden, der den Austausch schweigend und aufmerksam verfolgt hatte, einen entschuldigenden Blick zu.
»Göran Åsasson ist der Sohn von Åsa Lund und Traugott Gebhard«, erklärte er. »Und das heißt, er ist Ihr Halbbruder.«
Markus erhob sich halb von seinem Stuhl. Sein Blick ging zwischen dem Notar und dem Neuankömmling hin und her.
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Sehe ich so aus, als wollte ich Spaß machen?« Der Notar seufzte. »Ich werde versuchen, ein paar Fakten nachzuliefern, soweit sie mir aus dem Testamentszusatz bekannt sind. Herr Åsasson spricht Englisch und Schwedisch, aber nur sehr wenig Deutsch. Bei Fragen an ihn kann ich gern übersetzen.«
»Das dürfte kaum nötig sein«, versetzte Markus ein wenig steif und setzte sich wieder. »Mein Englisch ist ausgezeichnet.«
»Gut. Im Sommer 1976 lernte Traugott Gebhard bei einer Geschäftsreise nach Schweden Åsa Lund kennen. Die beiden freundeten sich miteinander an, und bald wurde wohl … etwas mehr daraus. Nach einigen Wochen kehrte Ihr Vater wieder nach Deutschland zurück.«
»Wo er schon seit einem Jahr mit meiner Mutter verheiratet war«, sagte Markus.
»Richtig.« Dr. Pfleiderer nickte. »Im Jahr darauf flog er im August noch einmal nach Stockholm und bot Åsa an, sich für sie scheiden zu lassen. Aber Åsa war nicht damit einverstanden. Sie konnte sich wohl nicht vorstellen, nach Deutschland zu ziehen … genauso wenig, wie Ihr Vater die Absicht hatte, fortan in Schweden zu leben. Jedenfalls war das das Ende dieser Beziehung.«
»Dieser Affäre.« Markus’ Stimme klang bitter.
Elisabeth hätte ihren Mann gern berührt, um ihn zu trösten; sie ließ es bleiben, weil er nichts so sehr verabscheute, wie Gefühle oder gar Betroffenheit öffentlich zu zeigen. Und die Tatsache, dass sein Vater seine Mutter betrogen, eine andere Frau geliebt und einen Sohn mit ihr gezeugt hatte, musste ihm gewaltig an die Nieren gehen.
»Wissen Sie, wann Traugott davon erfuhr, dass er in Schweden ein Kind hatte?«, fragte sie.
»Erst ein paar Jahre später«, erklärte der Notar. »Da war Åsa mit ihrem Sohn gerade in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter gezogen und finanziell in großer Not. Ihre Eltern konnten – oder wollten – sie nicht unterstützen. Also wandte sie sich in einem Brief an Traugott und bat ihn um Hilfe. Herr Åsasson hat mir Traugotts Antwortschreiben im Vorfeld bereits als Kopie zukommen lassen; es stammt zu hundert Prozent von Traugott, ich hab das von einem Grafologen überprüfen lassen. Und da es auf Schwedisch geschrieben wurde, hat Herr Åsasson freundlicherweise auch gleich eine englische Übersetzung beigefügt, die ich vorsorglich ins Deutsche übertragen habe.«
Er nahm einen Bogen aus seiner Mappe.
»Da heißt es unter anderem: Ich wünschte, du hättest mir damals gesagt, dass du schwanger bist. Vielleicht wäre dann einiges anders gekommen. Aber ich danke dir dafür, dass ich wenigstens jetzt etwas für dich und das Kind tun darf. Ich werde dir in den nächsten Tagen 100 000 überweisen. Solltest du mehr brauchen, dann sag es mir bitte. Ich will dir helfen, so gut ich nur kann.«
»100 000?« Zum ersten Mal seit der verblüffenden Erklärung des Notars meldete sich Julius wieder zu Wort. »Das heißt, mein alter Herr leistet sich eine Liebschaft im Knäckebrotland, schluckt die Geschichte von dem Braten im Ofen ohne Widerspruch und lässt 100 000 springen? Das ist ja nicht zu fassen!«
»100 000 schwedische Kronen«, sagte Dr. Pfleiderer. »Das entsprach damals nach heutigem Kurs ungefähr 15 000 Euro. Und danach hat er laut Herrn Åsasson keinerlei Zahlungen mehr geleistet; er hat zwar einen monatlichen Unterhalt angeboten, aber den hat Åsa kategorisch abgelehnt.«
Julius schaute noch immer so angriffslustig wie fassungslos drein. »Und woher wollen wir wissen, dass dieser Wikinger da wirklich der Sohn meines Vaters ist? Vielleicht hat sie ihm das Kind ja bloß untergeschoben.«
»Göran Åsasson wurde am 5. Mai 1978 geboren«, antwortete der Notar. »Als Åsa die Beziehung mit Traugott beendete, war er gerade erst … entstanden. Daher kann hier von ›Unterschieben‹ wohl nicht die Rede sein. Sie hat Traugott erst Jahre später um Unterstützung gebeten, als es gar nicht anders ging – und auch nur ein einziges Mal.«
»Klar doch.« Julius schnaubte verächtlich. »Weil er wahrscheinlich der einzige von ihren Lovern war, bei dem sich diese linke Tour gelohnt hat. Und beruhigend weit weg gewohnt hat er auch noch. Also hat sie ihm ein rührseliges Märchen erzählt, und er ist prompt darauf hereingefallen.«
»Entschuldigung?« Das war Vivien, die bislang stumm und mit großen Augen gelauscht hatte. Kein Wunder, dachte Elisabeth. Das hier ist spannender als jede Daily Soap.
Der Notar warf ihrer Tochter ein beinahe erleichtertes Lächeln zu. »Ja?«
»Könnte man vielleicht … es gibt doch DNA-Tests«, sagte Vivien. »Auf diese Weise könnte man bestimmt überprüfen, ob dieser Mann zur Familie gehört. Oder?«
»Natürlich.« Das Lächeln des Notars vertiefte sich. »Und danach können wir dann endlich damit aufhören, Spekulationen über das … ähm … Liebesleben von Åsa Lund anzustellen.«
» Vor dem Test sollten wir das auch«, fügte Elisabeth leise hinzu.
Sie sah, dass Julius zusammenzuckte wie ein gescholtenes Kind. Dann veränderte sich ganz plötzlich sein Gesichtsausdruck.
»Moment mal.« Er starrte den Notar an. »Haben Sie nicht vorhin gesagt, dass das Barvermögen zu gleichen Teilen an … nein. Das glaub ich jetzt einfach nicht!«
»Die Summe wird – abzüglich der Legate für Schwiegertöchter, Enkelin, Haushälterin und Sekretärin – zu gleichen Teilen an Traugott Gebhards Söhne vererbt«, antwortete der Notar ruhig. »Und Göran Åsasson ist einer seiner Söhne – jedenfalls gehe ich bislang davon aus.«
»Ich nicht!« Julius’ Stimme überschlug sich beinahe. »Ich meine, die kleinen Schwedinnen haben es in den Siebzigern doch ordentlich krachen lassen, oder? Da kann ja jeder kommen und Erbansprüche anmelden, bloß weil seine Mama mal mit einem reichen Fabrikanten aus Germany herumgevögelt hat!«
Noch ehe irgendjemand in der Familie auf diesen Ausbruch reagieren konnte, erhob sich plötzlich Göran Åsasson und sah Julius scharf an.
»I don’t care what you think about me«, sagte er kalt, »but I won’t let you keep insulting my mother. I’ve been looking forward to the chance to meet my German family – without any demands. But it’s obvious that I’m not welcome here. Guess I’ll better leave now.«
Er wandte sich an den Notar.
»Did you manage to book a guesthouse room for me?«
»Of course.« Dr. Pfleiderer zog eine verlegene Grimasse. »Meine Sekretärin gibt Ihnen die Adresse und ruft Ihnen ein Taxi. Für alles, was noch zu klären ist, hab ich ja Ihre Handynummer und E-Mail.«
»Thank you.« Göran griff nach seiner Winterjacke. »I’m at your disposal – even for that DNA test, if those people insist. I’m not afraid; I know that my mother was no liar.«
Er warf einen flüchtigen Blick in die Runde.
»Good-bye, Ladies and Gentlemen. Have a nice day.«
Dann nickte er dem Notar zu und verließ den Raum.
Für eine Weile herrschte fast ohrenbetäubende Stille.
»Wenn man sich bei dir auf eines verlassen kann«, bemerkte Markus endlich, an seinen Bruder gewandt, »dann, dass du dich mit unfehlbarer Sicherheit danebenbenimmst. Musstest du uns dermaßen bloßstellen?«
»Als ob das meine Schuld war«, murrte Julius. »Woher sollte ich denn wissen, dass der Kerl alles versteht, was ich sage!«
»Der Mann ist der Sohn von Traugott?«, fragte Fiona, als hätte sie die Tragweite dessen, was gerade vorgefallen war, erst jetzt richtig begriffen. »Und wenn er das beweisen kann, dann erbt er genauso viel wie du und Markus?«
»Präzise zusammengefasst«, bestätigte der Notar und erhob sich. »Ich würde sagen, wir sorgen jetzt erst einmal dafür, dass die Nerven sich beruhigen. Meine Sekretärin hat nebenan Kaffee, Kuchen und Laugenbrezeln hergerichtet. Wollen wir hinübergehen?«
Allgemeines Stühlescharren setzte ein. Markus entschuldigte sich, weil er zurück in die Kanzlei musste, und Elisabeth stellte fest, dass sie weder Lust auf Kaffee noch auf Brezeln oder Kuchen hatte. Sie wollte nach Hause. Sie hatte früher oft Unterlagen in Traugotts Arbeitszimmer herausgelegt, wenn er sie in der Firma brauchte; vielleicht fand sie dort irgendetwas, das bewies, dass die Geschichte von Göran Åsasson die Wahrheit war.
Sie war schon halb vor der Tür des Notariats, als ihre Tochter sie einholte.
»Du lässt mich hier jetzt aber nicht allein, Mama, oder?«, sagte Vivien. »Ich hab keine Lust, dabei zuzuschauen, wie Onkel Julius und Tante Fiona beim Vespern ihren genauen Anteil am Erbe ausrechnen und über die Mutter von meinem nagelneuen Onkel herziehen.«
»Verständlich«, meinte Elisabeth. »Du kannst gern mitkommen, wenn du möchtest.«
»Und wie ich das möchte«, antwortete ihre Tochter energisch. »Nichts wie raus hier.«
Zum Glück war Elisabeth mit ihrem eigenen Wagen zur Kanzlei gefahren und brauchte keine Viertelstunde zurück zur Villa. Vivien folgte ihr in Traugotts Arbeitszimmer und blieb vor dem Schreibtisch stehen, während ihre Mutter einen Schlüssel aus einer kleinen Alabasterschale holte und die Tür auf der rechten Seite aufschloss.
»Es kommt mir komisch vor … dass du einfach so an Opas Sachen gehst, meine ich«, gestand sie.
»Da war ich schon öfter dran«, gab Elisabeth ruhig zurück. »Allerdings nur an bestimmten Fächern und auch nur, wenn dein Opa mich darum gebeten hat. Jetzt würde ich gerne etwas gründlicher nachschauen.«
Sie öffnete die Tür. Da lagen die Notizblöcke, Mappen und Umschläge, die ihr vertraut waren … aber als sie nun genauer nachsah, entdeckte sie zum ersten Mal ganz hinten, dicht an der Rückwand des Schreibtisches, ein Kästchen aus hellem Holz. In die Mitte des lose aufliegenden Deckels war ein Bild eingeschnitzt worden – ein Kreuz, umgeben von kleinen, dünn eingekerbten Symbolen, die aussahen wie einfach skizzierte Strichmännchen und Kinderzeichnungen. Elisabeth runzelte die Stirn; sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Sie hob den Deckel ab und fand einen kleinen Stapel Briefe – insgesamt fünf, allesamt aus Schweden abgeschickt und an Traugott adressiert, allerdings nicht an die Villa, sondern an sein Büro in der Firma. Die Handschrift auf den Umschlägen war schräg und energisch. Unter den Briefen lag ein Foto, auf dem ein sommerlich grüner Wald zu sehen war. Eine junge Frau in roten Hosen und einer weißen, ärmellosen Bluse saß auf einem Baumstumpf und lachte strahlend in die Kamera. Langes Haar fiel ihr über die Schultern, so hell wie reifer Weizen und mit einem Kranz aus Blättern und Blüten geschmückt.
Elisabeths Stirnrunzeln vertiefte sich. War das etwa Åsa Lund?
Sie drehte das Foto um. Auf die Rückseite war etwas gekritzelt, in der Handschrift ihres Schwiegervaters. Midsommar 1976.
1976. Das Jahr, in dem Traugott laut Auskunft von Dr. Pfleiderer Görans Mutter kennengelernt hatte.
Elisabeth reichte das Bild Vivien. Die betrachtete die Aufnahme aufmerksam und las auch die Notiz auf der Rückseite.
»Ist die aber hübsch!«, stellte sie fest. »Meinst du, das ist die Mutter von Göran?«
»Ähnlich sieht er ihr jedenfalls«, meinte Elisabeth. »Er ist genauso blond, und er hat die gleichen grünen Augen. Zeitlich würde es auch hinkommen. Vielleicht helfen uns ja die Briefe weiter.«
Sie legte die fünf Umschläge nebeneinander vor sich hin. Sie waren alle geöffnet worden; Elisabeth wählte den in der Mitte, zog das einzelne Blatt heraus, das darin steckte, und faltete es auseinander.
Kiruna, 12/12 1976, las sie. Kära Traugott, så är du hemma i Tyskland igen. Tiden tillsammans med dig var underbar igen, men jag tycker fortfarande inte vi har någon framtid ihop. Kom ihåg att du är gift. Det mellan oss var en semesterkärlek och kan aldrig bli något annat.
Sie konnte nur vermuten, was dort stand. Sie sprach fließend Englisch und passabel Französisch, aber kein Schwedisch; und nördlicher als bis Flensburg war sie noch nie gekommen.
Sie steckte den Brief zurück, nahm den nächsten und überflog ihn. Vad vill du med mig?, stand da. Jag tror inte det är någon bra idé att du kommer nästa sommar. Diese Zeilen stammten aus dem April 1977; Elisabeth reimte sich zusammen, dass es um einen neuerlichen Besuch von Traugott im Sommer ging. Vermutlich um den, den Dr. Pfleiderer erwähnt hatte … den, bei dem Traugott mit Åsa über seine Bereitschaft zur Scheidung gesprochen hatte. Als er danach unverrichteter Dinge wieder nach Hause geflogen war, erwartete Åsa ein Kind, aber sie sagte ihm nichts davon, und ihre Liebe war offensichtlich erloschen.
Elisabeth griff nach dem Brief, der nach dem Poststempel auf dem Umschlag zuletzt geschrieben worden war … im August 1982.
Laxforsen, 15/8, las sie. Detta blir nog en chock för dig, men du har en son. Han heter Göran och är fyra år.
Sie atmete tief durch. Das war auch für jemanden, der kein Schwedisch sprach, kaum misszuverstehen. Sie reichte Vivien den Brief.
»Son heißt Sohn, oder?«, sagte ihre Tochter stirnrunzelnd. »Wie im Englischen. Offenbar stimmt es also. Und was machen wir jetzt?«
»Ich möchte Göran diese Briefe gern zeigen«, antwortete Elisabeth. »Er kann sie mir bestimmt übersetzen. Außerdem wird es Zeit, dass jemand von uns endlich mal mit ihm redet anstatt bloß über ihn.«
»Der ist aber bestimmt noch ziemlich sauer«, mutmaßte Vivien. »Vielleicht mag er mit keinem von uns reden … auch nicht mit dir.«
»Dann geb ich ihm noch Zeit bis morgen, sich zu beruhigen«, beschloss Elisabeth. »Und jetzt geh ich runter zu Frau Hinderer und überrede sie, ihren berühmten Zwiebelrostbraten zu machen. Den mag dein Vater besonders gern, und nach der Sitzung bei Dr. Pfleiderer braucht er etwas, worauf er sich heute Abend freuen kann.«
»Es ist bestimmt komisch für Papa, dass er plötzlich noch einen Bruder hat«, sagte Vivien nachdenklich.
Elisabeth sah sie an. »Genauso komisch wie für dich, plötzlich noch einen Onkel zu haben, nehme ich an.«
Vivien grinste. »Ich find ihn cool. Und wenn ich ihn erst besser kennenlerne, ist er bestimmt noch viel cooler.« Ihre grauen Augen funkelten. »Außerdem ist verglichen mit Onkel Julius jeder andere Onkel ein Fortschritt.«
Elisabeth dachte an Julius’ Auftritt bei der Testamentseröffnung und gluckste in sich hinein. Wo ihre Tochter recht hatte, hatte sie recht.
Es wurde fast zehn, bis Markus an diesem Abend nach Hause kam. Elisabeth hatte an dem Esstisch in ihrem Wohnzimmer ein Gedeck für ihn aufgelegt, eine Flasche Schwarzriesling geöffnet und den Zwiebelrostbraten von Frau Hinderer mitsamt den handgeschabten Spätzle für ihn warmgehalten.
Er nahm – wie immer – die Krawatte ab, kam zu ihr und küsste sie, bevor er sich an den Tisch setzte.
»Wie war dein Tag?«
»Chaotisch«, sagte er und begann zu essen. »Nach dem Termin bei Dr. Pfleiderer hatte ich zum Glück genügend zu tun, um mich abzulenken.«
Sie wartete, während er langsam und methodisch seinen Teller leerte. Markus war kein großer Fan von Tischgesprächen; wenn es etwas zu klären gab, tat man gut daran zu warten, bis er seine Mahlzeit beendet hatte. Also schwieg sie, bis er aufgegessen hatte, füllte sein Weinglas noch einmal nach und räumte das schmutzige Geschirr ab. Danach holte sie ein zweites Glas und goss sich selbst etwas ein.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte sie ruhig.
Er nahm einen kräftigen Schluck, ohne sie anzusehen.
»Worüber denn? Dass mein Vater gerade mal ein Jahr nach seiner Heirat mit Mama mit einer anderen Frau ein Verhältnis angefangen hat?«
Er stellte das Glas mit so viel Schwung auf den Tisch, dass ein hoher, vibrierender Ton erklang.
»Göran ist drei Monate nach mir geboren. Im August davor ist Papa nach Schweden geflogen, um dieser Åsa Lund zu sagen, dass er sich für sie scheiden lassen will – und hat bei dieser Gelegenheit meinen nun wundersamerweise aus der Versenkung aufgetauchten Halbbruder gezeugt. Dabei hat er damals mit Sicherheit schon gewusst, dass ich unterwegs war. Er muss es gewusst haben. Und es war ihm egal.«
»So einfach ist es bestimmt nicht gewesen.« Elisabeth nahm seine Hand. »Was es auch immer für Probleme zwischen ihm und deiner Mutter gegeben hat … du hast ihm viel bedeutet. Wie alle seine Kinder.«
»Glaubst du?«
Seine Hand drehte sich, und für einen langen Moment verschränkten sich ihre Finger miteinander. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach.
»Ich war ihm nützlich«, sagte er endlich. »Auf mich konnte er sich verlassen – ich hab das richtige Studienfach gewählt, mir die richtige Kanzlei ausgesucht und die richtigen Mandanten. Sogar die richtige Frau, nicht?«
»Ich hoffe doch, du hast mich geheiratet, weil du mich liebst«, sagte Elisabeth, um einen leichten Tonfall bemüht. »Und nicht bloß, um deinem Vater eine Freude zu machen.«
»Sieht so aus, als hätte ich in diesem Fall zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, antwortete Markus trocken. Er ließ ihre Hand los und machte mit dem Rest seines Weins kurzen Prozess. Dann schob er den Stuhl zurück und stand auf.
»Ich gehe jetzt besser ins Bett«, sagte er. »Morgen früh um halb acht ist eine Konferenz mit einem halben Dutzend Anwälten, die einem unserer gewichtigsten Kunden gerne qua Gesetz die Konten leer räumen würden. Da sollte ich besser ausgeschlafen sein, sonst ziehen uns die Jungs über den Tisch. Nacht, Lisa.«
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zum zweiten Mal an diesem Abend. Dann ging er hinaus, schloss die Tür leise hinter sich, und Elisabeth blieb vor ihrem unberührten Glas am Tisch sitzen, den herbsüßen Geschmack des Schwarzrieslings auf den Lippen.
Am nächsten Morgen verließ Markus das Haus um drei viertel sieben. Ihre Tochter bekam Elisabeth gerade lange genug im Frühstückszimmer zu Gesicht, um mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken, dann war sie auf dem Weg zur Schule, wo sie kurz vor dem Abitur stand.
Bislang hatte sich Elisabeth noch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, was sie tun würde, wenn Vivien im Herbst ihr Jurastudium in Tübingen begann. Inwieweit die Firma nach Traugotts Tod ihr Organisationstalent weiter zu nutzen gedachte, wusste sie noch nicht. Die Zeit mit kostspieligen Hobbys totzuschlagen, wie Fiona es tat, war absolut nicht nach ihrem Geschmack. Aber was dann?
Sie band die Haare energisch zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms. Eins nach dem anderen … und jetzt war erst einmal ihr brandneuer Schwager an der Reihe. Das geschnitzte Holzkästchen steckte bereits in ihrer großen Lederhandtasche. Sie musste nur noch herausfinden, wo Göran Åsasson untergekommen war.
Fünf Minuten und ein Gespräch mit Dr. Pfleiderer später kannte sie Namen und Adresse des Hotels, holte ihren Renault Twingo aus der Garage und machte sich auf den Weg. Der Notar hatte den Gast aus Schweden mitten in der Altstadt untergebracht, nur wenige Minuten zu Fuß vom Marktplatz und der Basilika entfernt. Wundersamerweise erspähte sie direkt vor dem Hotel Pelikan eine Parklücke und fädelte sich mit ihrem Wagen hinein.
An der Rezeption ließ sie sich von einer jungen Dame mit dem Zimmer von Göran verbinden. Es klingelte zweimal, dreimal, viermal, und Elisabeth wartete nervös darauf, dass er sich meldete.
»Åsasson. Hello?«
»Guten Morgen, Göran«, sagte sie auf Englisch. »Hier ist Elisabeth Gebhard – die Frau Ihres Halbbruders Markus. Wir sind uns gestern begegnet.«
»Okay …« Langsam und ausgesprochen reserviert. »Was wollen Sie?«
»Ich weiß, das ist ein ziemlicher Überfall.« Elisabeths Herz pochte heftig. »Ich könnte es verstehen, wenn Sie mich nicht sehen wollen. Aber ich habe etwas mitgebracht, das würde ich Ihnen gerne zeigen.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es eine Weile still. Dann: »Wollen wir zusammen frühstücken?«
Elisabeth ließ die Luft, die sie vor lauter Spannung angehalten hatte, explosionsartig entweichen; in diesem Moment war es ihr vollkommen egal, ob er das mitbekam.
»Gerne.« Sie lächelte erleichtert.
Der Frühstücksraum des Hotels wirkte hell und freundlich. Die quadratischen Holztische waren mit Teelichten, kleinen Blumenvasen und weißen Servietten eingedeckt, das Buffet bot so ziemlich alles, was man morgens essen konnte oder wollte. Göran war noch nicht da; kurz entschlossen nahm Elisabeth an einem der Tische Platz und bestellte schon mal Kaffee.
Ein paar Minuten später sah sie ihn hereinkommen. Er schaute sich um, wahrscheinlich auf der Suche nach einem der Gesichter, die er gestern bei Dr. Pfleiderer vor sich gehabt hatte. Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl und winkte.
»Göran, hier!«
Ihre Augen trafen sich. Er kam an ihren Tisch und streckte ihr die Hand hin.
»Good morning … Mrs Gebhard?«
»Richtig«, sagte sie. »Elisabeth, die Frau Ihres älteren Bruders Markus. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie so überfalle. Aber ich fand, nach dem Drama gestern wäre es vielleicht schön für Sie, jemanden aus Ihrer deutschen Familie kennenzulernen, der bei Ihrem Anblick nicht sofort anfängt, herumzubrüllen.«
Einer seiner Mundwinkel hob sich.
»Sie haben recht, das ist wirklich eine nette Abwechslung«, meinte er und setzte sich ihr gegenüber hin. »Wer war das eigentlich, der sich da so furchtbar aufgeregt hat?«
»Julius.« Elisabeth seufzte. »Ihr jüngerer Bruder. Und das dürfen Sie nicht persönlich nehmen – fünf Minuten, bevor Sie dazugekommen sind, hatte er erfahren, dass das Barvermögen meines Schwiegervaters bis auf einige kleinere Legate zu gleichen Teilen an seine Söhne geht. Er hat sich bereits im Besitz von knapp 400 000 Euro gesehen.«
»Aha.« Das schräge Lächeln vertiefte sich. »Und dann platze ich als Sohn Nummer drei in die traute Runde, worauf der Reichtum schlagartig schrumpft.«
»Ziemlich genau.« Elisabeth hob die silberne Thermoskanne hoch, die neben ihrem Gedeck stand. »Ich hoffe, Sie trinken Kaffee – sonst kann ich gern Tee für Sie bestellen, wenn Sie möchten.«
»Ohne Kaffee geht bei mir morgens gar nichts«, erwiderte Göran; es klang beinahe belustigt. »Sonst wäre ich kein Schwede … auch wenn ich es nur zur Hälfte bin. Danke.«
Elisabeth goss seine Tasse voll und bediente sich selbst.
»Ich muss gestehen, ich bin furchtbar neugierig«, bekannte sie. »Aber bevor ich Sie mit Fragen löchere, möchten Sie vielleicht erst einmal frühstücken.«
»Das wäre nicht schlecht«, sagte Göran. »Darf ich Ihnen auch etwas bringen, oder möchten Sie sich selbst bedienen?«
»Ich hol mir was.«
Sie gingen zum Buffet hinüber. Elisabeth entschied sich für ein Laugenbrötchen, Butter und Brie, dazu frisch geschnittene Ananasscheiben. Göran füllte eine Schüssel mit Cerealien und Naturjoghurt und nahm sich einen Apfel aus dem Obstkorb.
Beide aßen in einträchtigem Schweigen. Als sie fertig waren und eine Servicekraft die leeren Teller abgeräumt hatte, zog Elisabeth das Holzkästchen aus ihrer Tasche, holte das Foto heraus und reichte es ihm über den Tisch.
»Sie sehen Ihrer Mutter ähnlich.«
Göran warf ihr einen kurzen, erstaunten Blick zu. Dann betrachtete er das Bild eine Weile schweigend.
»Das Foto kenne ich gar nicht«, meinte er nachdenklich.
»Ich hab es im Schreibtisch meines Schwiegervaters gefunden«, erklärte Elisabeth. »Und ich weiß auch, wann es gemacht wurde. Schauen Sie mal auf die Rückseite.«
Er drehte das Bild um.
»Midsommar 1976«, murmelte er. »Da haben sie sich kennengelernt, das weiß ich.«
»Was wissen Sie sonst noch alles über Ihren Vater?«
»Seinen Namen, was er beruflich tat, wo er wohnte und so weiter. Und natürlich, dass er verheiratet war und sich für seine Familie in Deutschland entschieden hat. Morsan … also meine Mutter hat mir gesagt, dass ich das respektieren muss und ihn nicht dafür verurteilen darf. Tu ich auch nicht. Aber ich gebe zu, ich hätte ihn gerne kennengelernt.«
Elisabeth runzelte die Stirn. »Göran … wie viel haben Sie von dem verstanden, was unser Notar gestern über die Beziehung von Traugott und Ihrer Mutter erzählt hat?«
»Ziemlich viel«, versetzte Göran. »Morsan wollte immer, dass ich gut Deutsch lerne. Zum Sprechen hat mir leider zu oft die Praxis gefehlt, aber ich kann es lesen, und ich verstehe es auch. Deshalb bin ich gestern ganz gut mitgekommen. Warum fragen Sie?«
»Weil ich da jetzt einen gewissen Widerspruch sehe. Dr. Pfleiderer sagte gestern, dass Traugott 1977 nach Schweden geflogen ist, um Ihrer Mutter zu sagen, dass er sich für sie scheiden lassen will. Das klingt für mich nicht wirklich danach, als hätte er sich wegen seiner Familie von ihr getrennt.«
»Nein.« Göran lehnte sich zurück. »Darüber hab ich mich gestern auch gewundert. Ich kann mir das höchstens so erklären, dass … dass morsan vielleicht befürchtete, ich würde ihr die Schuld dafür geben, dass ich ohne Vater aufwachsen musste. Also hat sie das Ganze als eine Entscheidung von ihm hingestellt. Zu dumm, dass ich sie jetzt nicht mehr danach fragen kann.«
»Ihre Mutter ist tot?«
»Ja«, nickte Göran. »Seit sieben Jahren.«
»Das tut mir leid. Aber möglicherweise finden wir doch noch ein paar Antworten. Ich hab hier nämlich fünf Briefe, die Ihre Mutter an meinen Schwiegervater geschrieben hat. Vielleicht helfen die Ihnen ja weiter.«
Sie ließ ihm Zeit, alle Briefe zu lesen, und wartete geduldig, bis er auch den letzten Bogen zurück in den Umschlag steckte.
»Nach dem, was sie hier schreibt«, begann Göran schließlich, »ist meine Mutter von Anfang an nicht davon ausgegangen, dass das zwischen ihr und … Traugott …«
Er unterbrach sich kurz und schenkte Elisabeth ein verlegenes Lächeln.
»Ich habe ihn noch nie bei diesem Namen genannt. Fühlt sich etwas seltsam an. Also … sie ging nicht davon aus, dass aus dieser Beziehung etwas Festes werden könnte. Weil Traugott zu Hause eine Frau hatte. Und sich in eine Ehe einzumischen kam für sie nicht infrage. Deshalb war ihr auch nicht wohl bei dem Gedanken, Traugott im Jahr darauf wiederzusehen; offenbar hatte er zuvor schon durchblicken lassen, dass sie ihm mehr bedeutete, als sie mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.«
»Also haben sie ihre Beziehung in Jahr darauf beendet«, sagte Elisabeth. »Und der Brief von 1982 ist wohl der letzte, den sie ihm geschrieben hat; jedenfalls habe ich keine weiteren gefunden. Da, hier … der, in dem steht, dass er einen Sohn hat. Das ist so ziemlich der einzige Satz, den ich wirklich verstanden habe.«
Göran nickte bestätigend. »Und weil da außerdem noch steht, dass das jetzt wohl ein Schock für ihn sein würde, gehe ich davon aus, dass Traugott bis dahin noch nichts von meiner Existenz gewusst hatte.«
Das schräge Lächeln war wieder da.
»Sieht meiner Mutter ähnlich. Sie war sehr selbstbewusst und eigenständig und nahm Hilfe immer nur dann an, wenn es gar nicht mehr anders ging. August 1982 … da waren wir gerade erst in das kleine Haus in Laxforsen gezogen, das morsan von ihrer Oma geerbt hatte. Das war jedoch schwer renovierungsbedürftig und kaum noch bewohnbar. Deshalb schrieb sie noch einmal an Traugott und bat ihn um ein Darlehen – ja, sie bot tatsächlich an, ihm das Geld zurückzuzahlen. Ich könnte Ihnen jetzt aber nicht sagen, ob sie es getan hat.«
»Ich bin sicher, Traugott hätte eine Rückzahlung nie akzeptiert«, erwiderte Elisabeth. »Dass sie Hilfe von ihm annahm, war eine Chance für ihn, etwas für sie zu tun … und für dieses Kind, von dem er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte.«
Sie stützte das Kinn auf die gefalteten Hände.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«
Göran sah sie an, die Augenbrauen leicht erhoben.
»Gestern hätte ich nicht gedacht, dass ich das jemals zu einem der Menschen in diesem Notarbüro sagen würde – aber inzwischen wünschte ich wirklich, Sie hätten sie kennengelernt. Ich glaube, Sie hätten sich gut verstanden.«
Er wog prüfend die große Thermoskanne und warf Elisabeth einen fragenden Blick zu. Als sie nickte, goss er ihre und seine Tasse noch einmal voll.
»Wie gesagt, meine Mutter war sehr eigenständig. Und genügsam auch. Ich bekam alles, was zum Leben notwendig war, aber wenn ich irgendwelche Extrawünsche hatte, dann musste ich dafür sparen oder kleine Arbeiten im Haushalt übernehmen. Dadurch habe ich früh gelernt, mit wenig Besitz auszukommen und trotzdem glücklich zu sein. Im Nachhinein denke ich, dass es genau das war, was morsan damit erreichen wollte. Und das würde auch erklären, warum sie sich nur ein einziges Mal an meinen reichen Vater gewandt hat, um ihn um Hilfe zu bitten. Sie wollte wohl nicht riskieren, dass aus mir ein verwöhnter, konsumgieriger Bengel wird.« Er lächelte leicht. »Dass mein Vater mir trotzdem jedes Jahr zum Geburtstag eine Karte geschickt und einen kleinen Geldschein hineingelegt hat, konnte sie natürlich nicht verhindern. Sie hat es aber auch nie versucht.«
»Haben Sie sich über diese Geburtstagsgrüße gefreut?«
»Sehr.« Göran nickte bekräftigend. »Sie haben mir gezeigt, dass ich meinem Vater nicht gleichgültig war, und das hat mir gutgetan. Ich hatte begriffen, dass ich nie ein wirklicher Teil seines Lebens sein konnte – aber er dachte an mich, und das fand ich schön.«
»Er hat bestimmt oft an Sie gedacht«, sagte Elisabeth. »Ich habe ihn als einen sehr warmherzigen Menschen erlebt. Haben Sie eigentlich jemals versucht, ihn persönlich kennenzulernen?«
»Ich gebe zu, ich war einige Male schwer in Versuchung«, antwortete Göran. »Aber morsan hat mich immer davor gewarnt. ›Denk daran, dass er verheiratet ist und Kinder hat‹, sagte sie. ›Wenn du bei ihm auftauchst, riskierst du, eine glückliche Familie zu zerstören.‹ Und das wollte ich nicht. Also habe ich mich damit begnügt, mich im Internet über sein Leben und seine beruflichen Erfolge zu informieren. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass er seinen Angehörigen posthum noch reinen Wein einschenkt. Als der Notar mich anrief und mir mitteilte, mein Vater hätte mich in seinem Testament bedacht, bin ich fast vom Hocker gefallen.«
»Da sind Sie nicht der Einzige.« Elisabeth trank ihre Tasse leer. »Aber das passt zu Traugott. Er hatte einen sehr ausgeprägten Sinn für Fairness. Offenbar war er der Ansicht, dass sein Geld genauso Ihnen gehört wie seinen anderen beiden Söhnen.«
Göran schaute eine Weile schweigend auf die Tischplatte hinunter. Dann hob er den Kopf und sah Elisabeth ernst in die Augen.
»Das Geld ist mir eigentlich ziemlich gleichgültig«, sagte er leise. »Als der Notar mich gebeten hat, zur Testamentseröffnung zu kommen, da habe ich vor allem die Chance gesehen, jetzt wenigstens meine Halbbrüder kennenzulernen. Deswegen habe ich mich in den Flieger gesetzt. Nicht wegen des Erbes … auch wenn die Familie das offenbar ganz anders sieht.«
»Geben Sie uns ein bisschen Zeit.« Elisabeth lächelte. »Wir müssen uns daran gewöhnen, dass der untadelige Schwabe Traugott Gebhard wenigstens einmal in seinem Leben etwas völlig Unerhörtes getan hat. Und dass dabei tatsächlich ein Kind herausgekommen ist. Das hätte ihm irgendwie keiner von uns zugetraut. Wir müssen uns sozusagen erst von dem Schrecken erholen.«
Göran lächelte zurück, und zum ersten Mal wirkte dieses Lächeln auf Elisabeth beinahe herzlich.
»Offenbar habe ich die Flinte zu früh ins Korn geworfen«, meinte er. »Zumindest ein Familienmitglied hat sich ja anscheinend schon erholt. Ich freue mich sehr, dass Sie zu mir gekommen sind, Elisabeth – ich darf Sie doch so nennen, oder? Soweit ich weiß, muss man in Deutschland immer erst fragen, bevor man jemanden beim Vornamen nennt.«
Elisabeth lachte. »Dann hätte ich genauso fragen müssen, bevor ich Sie einfach Göran genannt habe. Aber schließlich sind Sie mein Schwager, und damit sind wir verwandt – na ja, wenigstens beinahe.«
»Stimmt.« Göran streckte ihr über den Tisch die Hand entgegen. »Schön, dich kennenzulernen, Elisabeth.«
Sie erwiderte seinen festen Händedruck. »Ich freu mich auch, Göran. Und selbst wenn mein Mann vielleicht noch ein Weilchen braucht, um sich mit diesem plötzlichen Familienzuwachs zu arrangieren – meine Tochter Vivien ist sehr neugierig auf dich. Sie findet dich cool.«
Görans Augen leuchteten auf. »Vivien – war das die junge Dame, die ebenso schwarze Haare hat wie du? Ist sie auch so cool?«
»Sie ist die Coolste der ganzen Familie.«
Plötzlich hatte Elisabeth eine Idee.
»Sag mal … hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang? Schwäbisch Gmünd ist wunderschön, und bisher hast du davon wohl kaum mehr gesehen als Dr. Pfleiderers Kanzlei und dieses Hotel. Das müssen wir unbedingt ändern.«
»Wenn du Zeit dafür hast«, sagte Göran zögernd. »Nicht, dass du meinetwegen zu Hause Ärger bekommst.«
»Das glaube ich kaum.« Elisabeth schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Hol dir eine Jacke, dann kann’s losgehen.«
Der Weg vom Hotel zum Johannisplatz war nicht weit. Während Elisabeth mit Göran auf die Johanniskirche zuschlenderte, ließen erste Sonnenstrahlen das Wasser in den Pfützen aufglitzern.
»Jetzt gibt’s ein bisschen Kultur«, sagte Elisabeth. Sie führte Göran zielstrebig in das Innere der Kirche. Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden; sie waren allein und hatten das hohe Gewölbe mit den rechteckigen Säulen, den großzügigen Bögen und bunten Malereien ganz für sich. Göran schaute sich aufmerksam um und blieb schließlich unter der goldgelb schimmernden Kuppel des Altarraums stehen.
»Wie alt ist das hier?«, fragte er.
»Achthundert Jahre«, erklärte Elisabeth. »Im 19. Jahrhundert ließ die Stadt einiges von dem überflüssigen Dekor entfernen, das sich in all der langen Zeit angesammelt hatte. Jetzt sieht man wieder, was die Johanniskirche ursprünglich einmal war: eine spätromanische Pfeilerbasilika.«
Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Du kennst dich gut aus.«
»Kunststück.« Elisabeth lächelte. »Wenn Traugott Besuch von Firmen aus dem Ausland hatte, dann wurden die Leute ausnahmslos durch die Altstadt gescheucht. Und dafür hat er üblicherweise mich zum Dienst verpflichtet. Das hat mir immer Spaß gemacht – ich bin hier geboren und kenne jeden Winkel. Aber beim nächsten Mal sollten wir Vivien mitnehmen; die hat auf dem Gymnasium ein paar Einserarbeiten über die Gmünder Stadtgeschichte geschrieben und erzählt dir wahrscheinlich mehr darüber, als du jemals wissen wolltest.«
»Und du glaubst nicht, dass dein Mann es merkwürdig findet, wenn du hinter seinem Rücken Familienzusammenführung spielst?«, meinte Göran, während sie wieder ins Freie traten.
»Ich werde ihm heute Abend erzählen, dass ich dich besucht habe«, erwiderte Elisabeth. »Vielleicht möchte er dich doch noch kennenlernen, und dazu hat er im Moment ja wohl die beste Gelegenheit, oder?«
»Stimmt.«
Göran blieb stehen und ließ seinen Blick über den Marktplatz schweifen. Dann gab er sich plötzlich einen Ruck.
»Ich würde gerne sehen, wo mein Vater begraben liegt«, sagte er leise.
»Das ist zu weit weg, um zu Fuß hinzugehen.« Elisabeth überlegte. »Aber ich kann dich fahren, wenn du möchtest. Mein Wagen steht direkt vor deinem Hotel.«
Görans Augen leuchteten, als hätte sie ihm ein unverhofftes Geschenk gemacht.
»Ich danke dir«, sagte er.
Elisabeth parkte den Twingo neben der Gärtnerei des Dreifaltigkeitsfriedhofes und führte Göran am Hauptgebäude vorbei auf die große, parkähnliche Anlage. Vor dem Familiengrab der Gebhards blieben sie stehen.
Die vielen Kränze waren verschwunden, und der Friedhofsgärtner hatte das breite Geviert frisch mit weißen Kieseln bestreut. Am Kopfende stand ein alter, rechteckiger Gedenkstein, auf dem eine Engelskulptur trauernd den Kopf senkte, die granitenen Flügel ausgebreitet. Auf diesem Stein waren die Namen und Daten von Firmengründer Anton Gebhard und seiner Frau Gerda eingemeißelt, darunter die von Traugotts Eltern Johannes und Emilie. Schräg rechts davon befand sich ein schlichter, hellgrauer Findling mit einem schmucklosen Messingkreuz. Vor elf Jahren war er bereits mit den Geburts- und Sterbedaten von Reinhild Gebhard versehen worden, nun standen direkt darüber auch die ihres Mannes.
»Den Stein hab ich ausgesucht«, sagte Elisabeth. »Zusammen mit Traugott, damals nach dem Tod seiner Frau. Er wollte auf keinen Fall etwas Protziges und meinte, Markus würde nur zu viel Geld ausgeben, deshalb macht er das lieber mit mir.«
Göran gab ein amüsiertes Schnauben von sich. »Du wirst lachen, ich hab jetzt tatsächlich mit irgendeinem pompösen Ungetüm gerechnet. Aber dass mein Vater sich für so etwas entschieden hat, das gefällt mir.«
»Er hätte dir auch gefallen«, sagte sie leise. »Und du hättest ihm gefallen, glaube ich.«
Ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht. Dann wandte er sich dem Grab zu und betrachtete es schweigend. Elisabeth fiel auf, dass er die Hände gefaltet hatte, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, ob er wohl betete.
Nach einer Weile senkte Göran den Kopf.
»Vila i frid, kära far«, murmelte er.
Es war keine Übersetzung nötig, um ihn zu verstehen. Ruhe in Frieden, lieber Vater.
Sie schluckte und sah Traugott plötzlich erstaunlich deutlich vor sich – lächelnd, in dem Ohrensessel in seinem Arbeitszimmer, während er ihr ein Glas Wein eingoss und im Hintergrund ein Cello Bach spielte.
Ich wünschte, ihr hättet euch kennengelernt, dachte sie. Es tut mir so leid, für euch beide.
Göran drehte sich um und schaute Elisabeth an.
»Noch einmal – danke.«
»Gern geschehen.«
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie öffnete ihre Handtasche und zog das Holzkästchen heraus.
»Übrigens, hast du eine Ahnung, was das Symbol auf dem Deckel bedeutet? Das Zeichen in der Mitte sieht aus wie ein Kreuz, finde ich.«
»Das ist ein samisches Zeichen«, erklärte Göran. »Hast du schon einmal von den Sámi gehört? Das ist ein indigenes Volk, das im Norden Skandinaviens lebt.«
»Ja, ich weiß.«
»Mit solchen Zeichen wurden in alten Zeiten unter anderem die Trommeln der Schamanen bemalt. Im Zentrum stand dabei oft das Symbol für die Sonne – ein Kreuz mit kleinen Götter- und Tierfiguren, so wie dieses hier.«
»Das Kästchen stammt also aus Schweden?«
»Mit Sicherheit. Vielleicht hat meine Mutter es Traugott geschenkt, oder er hat es sich selbst irgendwo gekauft.«
»Alles klar. Danke.« Sie packte das Kästchen wieder ein. »Möchtest du noch ein bisschen bleiben, oder soll ich dich ins Hotel bringen?«
Görans Blick wanderte noch einmal zu dem schlichten Grabstein.
»Weder noch«, entschied er. »Ich würde gerne zurück in die Altstadt gehen und mir noch ein wenig die Beine vertreten, bevor ich in dem Hotelzimmer einen Lagerkoller bekomme. Kannst du mich da irgendwo absetzen?«
»Sicher.« Elisabeth nickte. »Mach ich gern.«
Beim Abendessen war Markus bester Laune; die Verhandlung mit den gegnerischen Anwälten war sehr erfolgreich verlaufen und der Kunde hochzufrieden. Jetzt ließ er sich Laugenbrezeln, Holzofenbrot und Schwarzwälder Schinken von einem reichhaltigen Vesperbrett schmecken. Elisabeth entschied, dass dies genau der richtige Moment war, ihm von ihrer Begegnung mit Göran Åsasson zu erzählen.
»Ich habe heute Morgen deinen Halbbruder in seinem Hotel besucht«, sagte sie.
Die Gabel mit dem Stück Landjäger, die gerade unterwegs zu seinem Mund war, blieb mitten in der Luft stehen. Markus starrte sie an.
»Du hast was?«
»Deinen Halbbruder besucht«, wiederholte Elisabeth geduldig. »Göran. Dr. Pfleiderer hat ihn im Pelikan untergebracht.«
»Ach so?«
Das Stück Landjäger verschwand, und Markus kaute ausgiebig. Offensichtlich hatte er die Absicht, sie zappeln zu lassen. Elisabeth spürte, wie ihr Rücken sich versteifte, und atmete tief durch.
»Ich fand es richtig, dass er unsere Familie von einer anderen Seite kennenlernt«, erklärte sie. »Gestern hat er nur ein Rudel Leute erlebt, die ihn fassungslos anstarren – und einen Kerl, der ihn und seine Mutter übel beschimpft hat.«
»Verstehe.« Markus legte die Gabel hin. »Und da hast du es zu deiner Mission gemacht, ihm die … äh … sanfteren Aspekte der Sippe nahezubringen?«
»Vielleicht.« Elisabeth seufzte. »Außerdem hab ich in Traugotts Schreibtisch ein Kästchen mit Briefen aus Schweden und einem Foto entdeckt. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, ihm diese Sachen zu zeigen.«
»Dachtest du.« Markus griff zu seinem Weinglas und nahm einen Schluck. »Auf die Idee, sie zuerst mir zu zeigen, bist du wohl nicht gekommen.«
»Die Briefe waren auf Schwedisch«, sagte Elisabeth, die allmählich das unangenehme Gefühl hatte, abgekanzelt zu werden wie ein Schulmädchen. »Und du sprichst genauso wenig Schwedisch wie ich. Göran konnte mir immerhin sagen, was in den Briefen steht. Die hat nämlich seine Mutter geschrieben, und das Foto war ein Bild von ihr. Traugott hat das Kästchen all die Jahre aufbewahrt.«
»Wie rührend.« Markus räusperte sich. »Wo ist dieses Kästchen jetzt?«
»Wieder in Traugotts Schreibtisch.« Elisabeth schaute ihm geradewegs in die Augen. »Nach dem Frühstück habe ich mit Göran einen kleinen Spaziergang durch die Altstadt gemacht. Ich glaube, er war ganz froh, nicht die ganze Zeit allein in seinem Hotelzimmer herumsitzen zu müssen.«
Markus schürzte die Lippen.
»Wie schön, dass du dich allezeit aufopferungsvoll um die Bedürfnisse deiner Mitmenschen kümmerst«, meinte er. Der Sarkasmus in seinem Tonfall war kaum zu überhören. »Sogar dann, wenn du den besagten Mitmenschen eigentlich überhaupt nicht kennst.«
»Aber Papa … Dr. Pfleiderer sagt doch, er ist dein Bruder«, warf Vivien ein, die den Austausch stumm und sehr aufmerksam verfolgt hatte. »Und Göran hat angeboten, einen Test zu machen, um das zu beweisen. Außerdem hat er gesagt ›without any demands‹ – das klang nicht so, als ob er unbedingt an Opas Geld will.«
»Er ist überhaupt nicht wegen des Geldes hier«, antwortete Elisabeth; sie war ihrer Tochter für das Stichwort ausgesprochen dankbar. »Eigentlich wollte er bloß seine deutsche Familie kennenlernen. Das Erbe ist ihm gar nicht wichtig.«
»Und das hast du ihm natürlich abgekauft.« Markus verdrehte die Augen. »So was sagt sich leicht, wenn man schon weiß, dass man demnächst mit schätzungsweise 250 000 Euro wieder nach Hause fliegen darf. Ich würde sagen, der Mann hat dich sauber eingewickelt.«
»Es muss ungeheuer anstrengend sein, von Berufs wegen bei jedem automatisch das Schlimmste zu vermuten.« Elisabeth schluckte den Ärger hinunter, der in ihr aufstieg. »Aber Göran kann nichts für Traugotts Geheimniskrämerei. Åsa hat ihm nur Gutes über seinen Vater erzählt und ihm gleichzeitig davon abgeraten, ihn zu besuchen. Sie hat gefürchtet, dass er in unserer Familie für Aufruhr sorgen würde. Deswegen wollte sie übrigens auch nicht, dass Traugott sich scheiden lässt – sie fand, sie hätte kein Recht dazu, seine Ehe zu zerstören.«
»Das hat mein Vater auch ganz ohne ihre Hilfe hinbekommen«, gab Markus bitter zurück. »Sich in ein wildfremdes Schwedenmädel zu vergucken, ihr ein Kind zu machen, über vierzig Jahre heimlich ihre Liebesbriefe im Schreibtisch zu horten und gleichzeitig von seiner Umgebung moralisch untadeliges Benehmen zu erwarten – so viel Chuzpe muss man erst mal haben.«