Kunduztochter - Sybille Schnehage - E-Book

Kunduztochter E-Book

Sybille Schnehage

4,4

Beschreibung

Ein junges Mädchen im Netz uralter Tradition Masumah, ein kleines Mädchen, verliert in Afghanistan ihre Eltern durch einen Akt der Blutrache und kommt durch die Verquickung glücklicher Umstände nach Deutschland, wo sie eine neue Familie findet. Doch die alte Heimat und die Sehnsucht nach ihren zurückgebliebenen Bruder lässt sie nicht los. Sie kehrt zurück ins Land am Hindukush und gerät in den Sog der traditionellen Kulturen, welche ihr Leben völlig durcheinander bringen. Es beginnt ein Kampf um ihre Freiheit und um ihr Glück. Eine fesselnde Geschichte, die den Lesern die traditionellen Werte des Landes am Hindukush verständlich machen möchte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 320

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
4
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Die Autorin Sybille Schnehage bereist seit 25 Jahren regelmäßig Afghanistan und leitet eine Hilfsorganisation in Kunduz im Norden des Landes.

Alle Erlebnisse, die in dem Buch geschildert sind, spiegeln die Kultur des Landes wider, welches von jahrhundertealten Traditionen geprägt ist.

Die Protagonistin des Romans ist eine fiktive Figur, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Roman

Die Geschichte eines Waisenmädchens aus dem Stamm der Pashtunen im Zwiespalt der Kulturen

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf getreue Wiedergabe von Fakten. Es schildert vielmehr Begebenheiten, die verschiedene Personen im Land am Hindukush so oder ähnlich erlebt haben könnten. Diese Geschehnisse und die darin vorkommenden fiktiven Personen wurden künstlerisch verändert, die Protagonisten und Texte den reellen Vorlagen gegenüber frei gestaltet.

Ähnlichkeiten sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Kunduzschicksal

1995

2005

Drei Jahre später

Fremdes Land

Die neue Familie

Wiedersehen mit der Heimat

Endlich erwachsen

Abschied von Zuhause

Zweiter Teil: Suche nach den Wurzeln

Sehnsucht

Zu den Wurzeln in Afghanistan

Familienbande

Gefangen

Die Chance

Freiheit

Nachwort

Erster Teil

Kunduzschicksal

1995

Rahima ist eine junge Frau aus dem kleinen Dorf Ludin in der afghanischen Provinz Kunduz. Mit ihren 17 Jahren ist sie ein hübsches aufgewecktes Mädchen, genau im heiratsfähigen Alter, so dass ihre Mutter schon ab und zu Gespräche mit anderen Frauen führt, Müttern von jungen Männern, die eventuell als Ehemann für Rahima in Frage kämen.

Es ist ein Geschäft, sogar ein gutes, wenn man das Glück hat, solch eine gut aussehende Tochter zu haben, denn das blendende Aussehen erhöht den Brautpreis und damit deutlich das Einkommen der Familie: Mit 5000 Dollar, da könnten Aziza und ihr Mann sich schon eine besondere Anschaffung leisten. Mutter Aziza hat auch schon seit Rahimas frühester Kindheit einen Jungen namens Barialai ins Auge gefasst und mit dessen Mutter immer wieder getuschelt. Schließlich sind Rahimas Mutter und Barialais Mutter Schwestern, und es ist gang und gäbe, Cousin und Cousine miteinander zu verheiraten. Wichtig ist dabei aber in erster Linie der Brautpreis. Stimmt die Dollarsumme, dann stimmt auch der Bräutigam, egal wie er aussieht und was er kann.

Doch Rahima denkt nicht daran, sich an irgendeinen Verwandten im Dorf verheiraten zu lassen, schon gar nicht an den vorlauten Barialai. Ihre Augen blitzen jedes Mal, wenn sie den Stallknecht sieht, der als Arbeiter ihrem Vater zur Hand geht. Joma Khan ist zwar arm und aus einfachen Verhältnissen, doch sein Lachen und sein kräftiger, von der Arbeit durchtrainierter Körper hat vom ersten Tag an ihre Blicke auf sich gezogen.

Natürlich kann er sich den Brautpreis für Rahima nicht leisten, denn er hat noch fünf Brüder, für deren Verheiratung seine Familie erst einmal sparen muss. Joma Khan ist erst dran, wenn seine älteren Brüder eine Frau genommen haben. Das hindert ihn nicht daran, immer wieder einen Blick auf die hübsche Rahima zu werfen. Ihm ist die Schönheit dieser Blume unter den Mädchen nicht entgangen.

Da Rahima immer streng von Oma und Mutter sowie ihren drei Brüdern bewacht wird, gibt es keinerlei Chance, sich mit Joma Khan zu unterhalten, bis eines Tages der Zufall den beiden zur Hilfe kommt.

Joma Khan muss die Streu für die Kuh in den kleinen Abstellraum auf dem Hof bringen und müht sich mit den großen unhandlichen Säcken ab, als Rahima über den Hof geht, um am Brunnen einen Eimer mit Wasser zu holen.

Er sieht, wie sie sich müht, den vollen Eimer aus dem Ringbrunnen zu heben, lässt den Sack zu Boden fallen und eilt Rahima zu Hilfe, um den schweren Eimer aus dem Brunnen zu hieven. Dabei treffen sich die Blicke der beiden und beide wissen: Das ist der Partner meines Lebens. Sie wechseln scheu ein paar Worte, die ausreichen, sich für die frühen Morgenstunden zu verabreden, dann, wenn Vater und Brüder in der Moschee zum Beten sind und die Mutter mit den kleinen Schwestern das Fladenbrot bäckt.

Von nun an finden sie immer wieder eine Gelegenheit, sich allein zu treffen, und nach einigen Wochen sind beide fest davon überzeugt, füreinander mehr zu empfinden, als sie es sich jemals erträumt haben. Das bestärkt sie im Vorhaben, ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Joma Khan verspricht Rahima, den Brautpreis für sie aufzubringen.

Doch die Zeit drängt. Rahimas Mutter hat den inzwischen wohlhabenden Cousin Barialai fest im Visier, der bereit ist, sogar 6000 Dollar für die kleine dunkeläugige Schönheit zu bieten, so dass der Tag der Verlobung schon festgelegt ist.

Joma Khan ist verzweifelt. Seine Mutter hat das Geld der Familie für einen großen Bruder gespart, so dass er keine Chance hat, seine geliebte Rahima zu erwerben. Auch Rahima ist verzweifelt, nie und nimmer will sie ihren arroganten Cousin heiraten, und so versprechen sich die beiden Liebenden, gemeinsam eine Lösung zu finden.

Joma Khan hat einen Onkel vier Dörfer weiter. Er ist ein lieber älterer armer Mann, der keinen Sohn hat und daher froh wäre, einen so fleißigen Jungen wie Joma Khan in seinem Haus aufnehmen zu können. Und so wächst bei Joma Khan der Gedanke, mit Rahima zu fliehen und beim Onkel Unterschlupf zu finden.

Eines Morgens, als wieder Vater und Brüder das Haus verlassen haben, packt Rahima ihr Bündel mit den persönlichsten Sachen, schiebt das Paket unter ihr Kleid und huscht unbemerkt aus dem Hoftor, wo Joma Khan schon wartet und mit ihr an den Nachbarhöfen vorbeirennt, dorthin, wo schon zwei Motorräder mit seinem Freund warten. Schnell schwingt er sich auf ein Motorrad, Rahima fasst die Burka zusammen, und beide Motorräder brausen davon. Rahima und Joma Khan wissen, wie gefährlich ihr Handeln ist, aber für beide zählen nur die gemeinsamen Stunden.

Sie kommen in das Haus des Onkels, er nimmt die beiden auf, und Rahima und Joma Khan erhalten einen eigenen Raum zum Leben und gründen eine Familie.

2005

Zehn Jahre später ist die Zeit der Rache für den Cousin Barialai gekommen, der es nicht hinnimmt, dass das junge Mädchen damals seine Werbung und die Absprache mit seiner Mutter nicht angenommen hat und seither in wilder Ehe lebt und mit Joma Khan fünf Kinder gezeugt hat. Die Pashtuwali, das Gesetz der Pashtunen, erlaubt es nicht, auf diese Weise die Gesetze für Eheschließungen und damit die Zahlung des Brautpreises zu umgehen. Rache der Pashtunen muss sein, und sei es nach Jahren. Der Spruch der Pashtunen ist: „Wenn eine Familie die Blutrache nach 100 Jahren verübt, so war es eine schnelle Rache.“ Das besagt nichts anderes, als dass eine Tat nie vergessen wird - es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Strafe das junge Paar ereilen wird.

Cousin Barialai sitzt zusammen mit einigen jungen Männern aus dem Dorf, darunter auch die groß gewordenen Brüder Rahimas, alle bewaffnet mit Kalaschnikows und im Kampf der Mujaheddin erprobt. Gemeinsam bespricht man, wie man nun endlich die Schande durch eine Bluttat bereinigen kann. Bei ihnen sitzt auch ein anderer Mann, den alle ehrfurchtsvoll „Kommandante“ nennen. Sein Blick ist tückisch, und immer wieder hebt er die Hand, um sich die schniefende Nase zu wischen. Seine Hand hat eine kleine Tätowierung, fünf kleine blaue Punkte, angeordnet wie eine kleine Raute mit Mittelpunkt. Anscheinend eine Amateurarbeit, denn die Raute ist ein bisschen schief geraten, der Mittelpunkt ist aus der Mitte verrückt.

Seine Hand legt er immer wieder neben sich auf einer schweren Kalaschnikow ab, deren Schulterstück abgesägt wurde und mit dickem Klebeband gepolstert ist. Damit ist die Waffe erheblich leichter zu handhaben als bei den andern Kämpfern.

Er, der Kommandante, hat das Wort. Er bestimmt, was geschehen soll.

Kosheraltan liegt im ersten Sonnenlicht. Die flache Ebene von Kunduz wird vom Dunst der Feuchtigkeit wie von einer leichten Wolldecke überzogen. Die Reisfelder stehen unter Wasser, der Frühnebel steigt aus ihnen auf.

Im Hintergrund, weit im Norden, kann man die Kante der Hochebene sehen, dort, wo der Lalam beginnt, die Hochebene, die nur vom Regen bewässert werden kann und die im Sommer das Grün verliert und nur noch eine lehmfarbene Wüstenfläche ist. Dort, wo es über nicht endende Hügel nach Dashti Archi geht, der Ebene, die fest in Talibanhand liegt, und gleich dahinter kommt dann der mächtige Amur Daria, von wo man schon die kleinen weißen Häuser Tadjikistans sehen kann.

Die milde Wärme der Nacht weicht der noch intensiveren Tageshitze. Der Mond verblasst im aufgehenden Morgen und die ersten Vögel, blaue und hellgrüne Bienenfresser, fliegen über die Felder. In den Nachbarhöfen hört man die Hunde bellen, so viele Stimmen, als wäre es das internationale Hundetelefon.

Der Hofhahn kräht und weckt die gackernden Hennen, als Rahima an ihren Küchenplatz geht, um zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter den Teig für das morgendliche Fladenbrot zu kneten. Das Feuer in dem Lehmbackofen, der im Boden eingelassen ist, brennt hell, und sie berührt vorsichtig den Rand, um zu fühlen, ob der Ton schon die richtige Temperatur angenommen hat. Sie legt sich den dicken gepolsterten Handschuh neben den Ofen, um damit dann die großen weichen Fladen ins Innere gegen die Wand zu drücken, damit sie dort durchgebacken werden.

„Sargola, tez, schnell,“ mahnt sie ihre älteste Tochter, „Papa will bestimmt gleich essen, und wenn du trödelst, dann wird er mit uns beiden schimpfen.“

Sie nimmt ein Stück Teig und wirft es in die Luft, um ihm die Kreisform zu geben, die in der Region die breitflächigen Fladen haben. Geschickt dreht sie ihr Handgelenk, wie ein italienischer Pizzabäcker. Sie wirft sich den Fladen über den Handschuh über ihrer rechten Hand, beugt sich zum Ofenloch im Boden hinunter und klatscht mit Schwung das erste Brot gegen die heiße Lehmwand. Heiße Luft steigt auf, sie dreht zum Schutz ihr Gesicht zur Seite.

Auf dem Hof spielen zwei große achtjährige Zwillingsjungen mit einem kleinen dreijährigen Steppke. An der Seite sitzt ein kleines sechsjähriges Mädchen und wirft mit Steinen. Das Mädchen hat ein verkrüppeltes Bein, das sie vor sich ausstreckt. Es lässt sich nicht einknicken. Der rechte Fuß ist verdreht, wie es bei Klumpfüßen üblich ist. Ihr rotes Kleid aus Kunstseide ist sauber, aber überall sieht man Verschleißerscheinungen, die zeigen, dass es von der großen Schwester auch schon getragen wurde. Um den Kopf trägt sie ein dünnes rot-grün gestreiftes Tuch, das die dicken schwarzen verfilzten Haare verdeckt. Sie blickt hinüber zu Rahima und zieht den Duft des frischen Brotes in ihre Nase. Hmm, wie liebt sie diesen Duft vom frischen Brot, das natürlich keine Frau so gut backen kann wie Rahima, ihre Mutter.

Plötzlich klopft jemand laut an die Hoftür.

Joma Khan kommt aus dem Stall, wo er die Kuh gefüttert hat, wischt seine Hände an dem Kamizhemd ab und geht an die Tür, schiebt den Riegel auf, die Tür wird aufgestoßen und fünf vermummte Männer stürmen in den Hof. Alle tragen Lungis, die ortsüblichen Turbane. Die herunterhängenden Tuchstreifen haben sie vor ihre Gesichter gezogen. Joma Khan wird auf den Boden geworfen und kann sich vor Entsetzen nicht wehren. Einer der Männer setzt seinen Fuß auf Joma Khan und bedroht ihn mit seinem Gewehr. Der Vermummte schreit laut auf Joma Khan ein, welch eine Schande er über die Familie gebracht habe, und Rahima rennt in Vorahnung dessen, was jetzt kommen wird, in Panik ins Lehmhaus, ihre große Tochter mit sich ziehend.

Der Anführer packt die beiden Kleinsten, den kleinen Jungen Said grob auf seinen Arm und das behinderte Mädchen Masumah an der Hand und schiebt die beiden durch das verbeulte Blechtor auf die Schotterstraße.

Masumah hat Angst, Angst vor diesen vermummten Männer, besonders aber vor dem Anführer, dessen feste Hand sie bestimmt nach draußen schiebt und dessen leise krächzenden Worte sie Schlimmes erahnen lassen. Dabei fällt ihr auf, dass der Mann fünf Kohlepunkte in Form einer Raute als Tätowierung an seiner rechten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger hat, der mittlere Punkt ist verrutscht nach rechts, so dass die Raute leicht verzogen aussieht. Diese Hand brennt sich in ihrer Angst in ihr Gedächtnis ein, eine Figur, die sie ihr Leben lang nicht wieder vergessen wird. Die schwere Tür fällt mit einem dumpfen Knall hinter den beiden Kleinen zu.

Angstvoll zieht Masumah ihr Kopftuch enger um ihren Kopf, klammert ihren Bruder Said an sich, humpelt an der langen Lehmmauer entlang und kauert sich dann eng an Said geschmiegt in den Graben, der parallel zur hinteren hohen lehmigen Mauer verläuft. Schüsse fallen, Salven aus Kalaschnikows, Schreie, Masumah hört ihre Mutter schreien, ihre beiden großen Brüder rufen verzweifelt, doch weitere Schüsse bringen die Stimmen zum Schweigen. Masumahs Herz schlägt bis zum Hals, sie will aus Panik schreien, atmet tief ein, um sich zu beruhigen. Alles wird totenstill, die große Metalltür klappt auf, und sie hört, wie die Männer fortrennen.

Nach ein paar Minuten hört Masumah, wie die Nachbarn angelaufen kommen und den Hof betreten. Klagerufe ertönen, angstvoll packt sie den kleinen Said und zerrt ihn mit sich. Said reißt sich an einem Dornenast am Mauerrand am linken Fuß oberhalb des kleinen Zeh eine Wunde. Er blutet, aber egal. Sie zieht ihn weiter und flieht mit ihm humpelnd in Richtung Hauptstraße, denn sie weiß, was passiert ist. Alle im Hof sind tot, Opfer der Blutrache der Familie. Masumah laufen die Tränen die Wangen herab, Said jammert, dass sein Fuß weh tut, aber Masumah denkt nur an eines: Weg, weg von hier, denn sie will leben, Said und sie sollen leben.

Keiner beachtet die beiden Kinder, als sie die Straße erreicht haben. Dort kommen gerade zahlreiche Schafe vorbei, die eine Gruppe von Jogi, der herumziehenden Bettler, vor sich hertreibt.

Masumah fleht einen der Männer an: „Nehmt mich mit, helft uns, unsere Eltern sind tot, und wir werden auch getötet, denn es geht um Blutrache.“

Der verlumpte bärtige Mann blickt sich um, nimmt dann den kleinen Said und Masumah, setzt beide auf einen der nebenlaufenden Esel, beruhigt mit seiner großen schorfigen Hand den weinenden Said.

„Halt dich gut fest, fall mir nicht runter“ - er legt seine Decke, die er als Mantel um sich geschlungen hatte, um die beiden Kinder, so dass Masumahs rote Kleidung nicht zu erkennen ist, und treibt die Tiere weiter. Said und Masumah habe eine neue Gemeinschaft gefunden.

„Sumi, ich bin müde, will zu Mama“, nölt Said.

„Pscht, sei leise, Azizi man, mein Liebling.“ Masumah streichelt den Bruder tröstend und flüstert ihm ins Ohr.

Auf dem Hof der Jogis in der Stadt angekommen, hebt der Mann die beiden Kinder vom Esel und übergibt die Kleinen seiner Frau. „Hier, wir haben ein paar neue Kinder, der Junge ist gesund und kann mit arbeiten, das Mädchen können wir gut zum Betteln brauchen, denn die Leute haben ein weiches Herz und geben mehr, wenn jemand behindert ist.“

„Ihr habt doch sicherlich Hunger, Kinder?“, fragt die faltige Frau, die sicherlich noch jung an Jahren ist, deren Haut aber von Sonne und Wind wie gegerbt erscheint. Sie hat ein großes Wolltuch auf dem Kopf, unter dem zwei dünne grau-rote Zöpfe hervorschauen. Ihr Leib ist aufgeschwollen, als wäre sie hochschwanger, aber ihre Zeit zu gebären scheint vorbei. Vielen Kindern hat sie bereits das Leben geschenkt.

Der heiße Tee und das frische warme Brot schmecken den verängstigten Kindern. Masumah nimmt Said fest in den Arm und lässt den Jungen immer wieder an ihrem Fladenbrot abbeißen und aus ihrer abgeschnittenen Cola-Dose vom warmen Tee probieren.

Die Behausung der Jogis ist ein einfacher Hof, in dem provisorische Zelte aus Decken und Plastikbahnen aufgebaut sind. Den lehmigen Hofboden bedecken Plastikplanen, Decken und alte zerrissene Teppiche. Unter den Zeltplanen liegen dicke Kissen.

Die faltige Frau deutet auf eines der Kissen: „Hier könnt ihr euch hinlegen.“

Masumah nimmt Said liebevoll in den Arm und drückt den ängstlichen Knaben eng an ihren Körper. „Keine Angst, Said“, flüstert sie in sein Ohr, „ich pass auf dich auf.“ Erschöpft fallen die beiden Kinder in einen leichten Schlaf.

Drei Jahre später

Masumah packt sich ein bisschen Brot ein, legt sich ein Tuch über den Kopf und nimmt die Hand ihrer Ziehmutter. Beide gehen los in die Stadt Kunduz, um durch Betteln das Einkommen der Familie zu sichern. Der Klumpfuß ist geschwollen, das Laufen fällt Masumah immer schwerer. Dicke Schwielen haben sich an dem Fuß gebildet, so dass jeder Schritt mit Schmerzen verbunden ist.

Said ist inzwischen ein echter Jogi geworden. Fleißig packt er mit seinem Ziehvater die Taschen des Esels mit kleinen Hunden voll, es sind vier kleine Welpen, die sich nur zappelnd in die Satteltaschen stecken lassen, die beiden wollen heute gemeinsam die Hunde zum Kauf anbieten.

Masumahs neue Mutter zieht die kleine Tochter die Straße entlang und spricht alle Passanten um eine kleine Spende an.

„Paysa, paysa, dokhtari man mariz ast.“ (Geld, Geld, meine Tochter hier ist krank) - sie wird nicht müde, auf die vorbeigehenden Männer und Frauen einzureden.

Beide tragen verschmutzte Kleidung, die filzigen Haare zotteln unter dem Kopftuch hervor. Das Hosenbein Masumahs ist hochgekrempelt, damit jeder die Behinderung des Kindes auf den ersten Blick erkennen kann. Es ist ein Geschäft, die Bettelei mit einem kranken Kind.

Masumahs Nase läuft, sie leckt mit ihrer Zunge den dreckigen Schleim von ihrer Oberlippe und streicht dann mit dem Hemdsärmel der freien Hand den Rest in den Stoff. Masumah ist verschüchtert, was soll sie machen? Es wird von ihr erwartet, einen Beitrag zum Einkommen des Clans zu leisten.

Die Jogi-Frau ist müde geworden. Sie setzt sich an den Straßenrand und hält ihre Hand auf, damit die Passanten großzügig Münzen hineinwerfen. Masumah weint, sie ist ebenfalls hundemüde, und ihr Fuß tut weh.

„Madar, man khele manda astom, Mama, ich bin sehr müde.“ Masumah will nicht mehr, denn es ist heiß, sie hat Hunger und Durst.

„Sei ruhig, wir haben noch nicht genug beisammen“, wischt Jogi-Mama ihre Worte beiseite und streicht ihr noch etwas Dreck ins Gesicht. „So ist es besser, so siehst du noch Mitleid erregender aus.“ Damit dreht sie sich von ihr weg.

Die Straße ist voller Lehmstaub, denn es gab am Vormittag einen „badi chak“, einen Lehmsturm. Der feine Lehm legt sich auf Straße, Autos, Kleidung und Haut, Masumahs Oberlippe ist verklebt von Nasenrotz, Lehm und Schweiß. Sie leckt, es ist salzig, der Staub knirscht sandig zwischen ihren Zähnen, aber sie fühlt immer noch den klebrigen Dreck unter der Nase. Sie riecht nichts, alles ist wie unter einer dämmenden Kruste.

Plötzlich sieht sie eine Gruppe Leute die Straße entlang kommen. Mitten in der Gruppe der Männer, davon einige bewaffnet, sieht sie eine Frau, die nur einen dünnen weißen Schal über ihr hellblondes Haar gelegt hat. Masumah staunt, nie vorher hat sie solche Haare gesehen, sie sind nicht weiß, wie von der alten Oma der Jogis, nicht rot oder schwarz, wie alle Frauen und Männer hier sie haben, nein, das Haar ist hellgelb und leuchtet in der Sonne.

Das Gesicht der Frau ist braun gebrannt, sie hat keine Angst vor der Sonne, und jeder, auch jeder Mann kann ihr Gesicht sehen. Masumah fragt sich, ob diese Frau keine Scham hat oder wieso kein Mensch die Frau auffordert, anständig zu sein und ihr Gesicht und das Haar zu bedecken. Aber keiner sagt was, alle Männer gehen zusammen mit dieser Frau und behandeln sie, als wäre sie ganz wichtig, vielleicht wie jemand von der Regierung.

Masumahs Mund steht vor Staunen offen. Ihre großen schwarzen Augen sind auf die Frau gerichtet, ihr verfilztes Haar hängt Masumah ins Gesicht.

„Los, halte deine Hand hin und frage nach Geld!“, fordert ihre Ziehmutter sie auf.

Wie automatisch streckt Masumah ihre kleine schmutzige Hand nach vorn, vor lauter Staunen kann sie ihren Blick nicht von dem blonden Wesen lassen.

„Lotfan, paysa“, bettelt sie die Fremde an, automatisch, fast wie eine Maschine, denn ihr Blick kann sich nicht von der Kharigi, der Ausländerin, lösen.

„Vielleicht ist es gar keine Frau, sondern ein komischer Mann“, so fragt sie sich, denn Frauen gehen nicht so frei auf der Straße.

Nun ist die Frau dicht vor ihr und blickt auf Masumah hinunter. Ihr Blick bleibt an Masumahs Bein hängen. Plötzlich stoppt sie, kniet sich nieder und berührt Masumahs Bein.

„Nein, fass mich nicht an!“ Unwillkürlich zuckt Masumahs Bein zurück.

Irgendetwas sagt die Frau zu ihren Begleitern, die dann ihre Ziehmutter ansprechen und nach Masumah fragen.

Masumah hat Angst, große Angst. Was macht diese Unbekannte? Doch die Blonde lächelt sie an und streichelt ganz zärtlich Masumahs krankes Bein. Ohne Scheu hebt die Frau ihr Bein an und versucht, ihren kranken, verdrehten Fuß zu bewegen. Die Frau fragt ihre Ziehmutter etwas, redet mit ihren Begleitern, fragt einen der Männer Dinge, die Masumah nicht versteht, doch das Gesicht der Frau ist frei, das Lächeln warm, Masumahs Angst verfliegt, sie hat Vertrauen zu dieser Fremden.

Die Erwachsenen wechseln Worte, Masumah versteht nur „heute Nachmittag im Büro“. Sie weiß zwar nicht, was Büro heißt, aber Ziehmama nickt und sichert den Leuten etwas zu.

„Khoda hafez, auf Wiedersehen.“ Lächelnd verabschieden sich die fremde Frau und ihre Begleiter und gehen weiter in Richtung Ghazi Khan Schule.

„Wieso sitze ich hier und bettle mit Jogi-Mama, und andere Mädchen und Jungen gehen dort in die große Maktab-Schule?“, fragt sich Masumah.

Immer wieder kann sie das Lachen der Kinder hören. Was die Kinder dort wohl hinter den Mauern machen? Die Mädchen mit ihren schwarzen sauberen Kleidern und den weißen Kopftüchern, die Jungen mit den blauen Schulhemden.

„Was ist Schule, und warum kann ich da nicht auch hin?“, hatte sie Jogi- Mama gefragt.

„Gott will nicht, dass Jogi-Kinder lernen, das ist Sünde“, hatte die Jogi- Frau erwidert, „und du hast eh keine Zeit, wir müssen betteln.“

Damit war das Thema erledigt. Trotzdem dachte Masumah immer wieder darüber nach, was die Kinder dort hinter der Dewal-Mauer wohl so erleben durften.

„Haben die keine Angst vor Gott, wenn das doch Sünde ist?“, fragte sie sich insgeheim, aber Jogi-Mama zu fragen, davor hatte sie noch mehr Angst.

Weit ist es nicht vom Hof der Jogis, das Büro, nur vier Höfe weiter steht das große weiße Haus, das die Männer „daftar“ nennen.

Und viele Frauen und Kinder sind dort, auch viele Mädchen in ihrem Alter, aber kein Kind ist so gehbehindert wie sie selbst. Wieder hat Masumah Angst, aber auch Scham, denn die anderen starren sie mitleidig an. Ja, die anderen gehen auch teilweise zur Schule, dort drüben in die Ghazi Khan Schule, wohin jeden Morgen ganze Scharen von Mädchen in schwarzen Kleidern und schönen weißen Kopftüchern und bunten Taschen voller Bücher hingehen, um zu lernen. Masumah würde auch gern mitgehen, aber sie darf nicht. Jogi-Kinder dürfen nicht zur Schule, die sollen betteln gehen, denn jeder muss sein Essen verdienen, auch wenn es nur trockenes Brot und ab und zu Reis ist.

Der Chef der Jogis, der große Gholam, ist auch mitgekommen und passt auf sie beide auf. Er diskutiert mit lauter Stimme mit einem der uniformierten Männer auf der Straße.

Ziehmutter setzt sich vor den Büro-Hof, zerrt Masumah auch auf den Boden, Masumah streckt das kranke Bein nach vorn und versucht, es mit einem Tuch zu verstecken. Jetzt heißt es Warten.

Einer der Männer, die das Haus bewachen, ein Askar mit Waffe kommt auf die Ziehmutter zu und fragt sie etwas.

„Wieso bist du hier?“, herrscht der Askar Jogi-Mama an.

„Die Frau hat gesagt, ich soll mit Masumah hierher kommen, du kannst fragen, ich lüge nicht!“, gibt Jogi-Frau zurück.

Masumah hat Angst, sie denkt an andere Männer, die einst mit Kalaschnikows kamen, sie denkt an Rahima, die liebevolle Rahima, die ihr immer eine kleine Leckerei zugesteckt hatte, Rahima, die jetzt nach Aussage ihrer Jogi-Familie nicht mehr am Leben ist. Und Papa, den großen Papa mit den starken Armen, der immer wieder seine Kleine hochgeworfen hatte und mit ihr „Engel flieg“ gespielt hatte, bis sie ihren kranken Fuß vergessen und vor lauter Lebensfreude gequiekt hatte. Papa, warum bist du nicht bei mir?

„Kommt rein, los ihr beiden, die Frau mit dem Krüppel!“, ruft einer der Männer, und mühsam erheben sich die beiden Jogis.

Ihre neue Mutter packt ihre Hand, Masumah stolpert hinter ihr in den Hof. Alles hier ist sauber, alles ist Stein, kein Dreck und Lehm wie bei den Jogis. Und kein Zelt ist hier zu sehen, nur ein richtiges Haus, weiß gestrichen und sauber. Masumah staunt und blickt hoch zu den vielen Fenstern, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Sie kneift die Augen zusammen, es blendet so sehr. Da steht ein blauer Plastikstuhl. Ziehmutter setzt sie auf den Stuhl, hockt sich daneben, beide warten wieder. Wir haben ja Zeit, wir haben heute schon gebettelt, jetzt haben wir Feierabend.

Schritte sind zu hören, Schritte von Plastikschlappen, den Shaplis. Die blonde Frau kommt um die Ecke. Jetzt hat sie noch schrecklichere Kleidung an, eine Hose so kurz, dass man sogar die Knöchel sehen kann, obwohl doch ihr Bein nicht kaputt ist. Ihre Arme sind nur halb bedeckt, und nun hat sie keinen Schal auf dem Haar. „Ist sie schamlos oder doch ein Mann?“, schießt es Masumah durch den Kopf. „Was machen wir hier, wieso ist Mutter mit mir hier?“, fragt sie sich.

Die Frau kommt näher und bleibt erneut vor ihr stehen. Bei ihr sind ein paar Männer, mit denen sie spricht und dabei immer wieder auf Masumahs Fuß zeigt. Masumah fühlt sich beobachtet, oder eher wie ein Schaf, das die Leute ansahen und begrabschten, wenn sie es zum Schlachten kaufen wollten. Wieder kommt Angst in Masumah auf. „Was macht die Person, was will die?“

Die Frau, die Männer und ihre Ziehmutter besprechen etwas. Es geht um Masumah, das versteht sie, aber auch nicht mehr. Einer der Männer geht aus dem Hof, nach einigen Minuten kommt ihr Ziehvater durch die große Metalltür des Hofes. Nun wird mit ihm gesprochen, und immer wieder sehen die Frau und die Männer auf Masumahs Bein.

„Das arme Kind, das kann so nicht richtig gehen und daher niemals ein normales Leben führen“, sagt die Blonde zu den Mitarbeitern der Hilfsorganisation, „ich denke, dies wäre wirklich ein Fall von Verunstaltung, den man in Deutschland mit einigen Operationen beheben könnte. Dann wäre dieses Mädchen wieder gesund und könnte ein normales Leben führen.“

„Was meint ihr, ich könnte das Kind von einem deutschen Arzt untersuchen lassen, ein Gutachten erstellen lassen, ein Krankenhaus in Deutschland suchen und dem Kind die Operationen in meiner Heimat ermöglichen, was meint ihr?“

Eli Arnold blickt sich fragend um und bekommt von den Mitarbeitern ihrer Organisation nur zustimmendes Kopfnicken. Ja, das wäre eine wirkliche Hilfe, wenn es möglich wäre, das Bein des Mädchens zu richten und auch den Fuß in eine gerade Stellung zu drehen. Die Unterstützung aller Mitarbeiter ist ihr sicher.

„Also: Pack mer´s an“, murmelt sie vor sich hin.

Nun beginnt eine Prozedur, die das kleine Mädchen in ein Wirrwarr aus Gefühlen stürzt. Die fremde Frau nimmt Masumah an die Hand, steigt mit ihr in ein Auto, ja, ein richtiges Auto, wie sie auch im Bazar immer hupend an Masumah vorbeigefahren waren, und sie fahren ganz sachte, nicht so wie im Eselskarren, und ganz leise los.

„Alles gut, meine Kleine.“ Die Hand der fremden Frau, alle sprechen sie mit dem Dari-Wort „Ade“, ehrwürdige Oma, an, ist tröstend um Masumah gelegt, immer wieder beruhigt ihre warme leise Stimme das kleine verschüchterte Mädchen.

Gefühlt sind drei Stunden vergangen, tatsächlich gerade mal zehn Minuten, als das Auto vor dem Kunduz PRT, einer großen Militärfestung der deutschen Soldaten, hält. Überall gucken Soldaten mit Waffen neugierig auf das kleine Mädchen hinab, das hinter der Frau herhinkt.

„Hab kein Angst, Tars na dari“, versteht Masumah, als beide durch den langen Gang zwischen hohen Steinwänden aus Kies in Drahtgeflecht gehen. Masumahs Bein schmerzt, sie beginnt zu jammern. Da nimmt Ade Masumah auf den Arm, drückt sie ganz fest an sich, so wie dies früher Rahima getan hatte, streichelt zärtlich die filzigen Haare und trägt sie bis zu einem Kontrollhaus, wo fünf Soldaten mit Ade ein Gespräch beginnen. Ade setzt Masumah auf eine kleine Bank und beide warten, bis ein Soldat mit lustiger warmer Stimme sie abholt.

Starke Arme hat er, der große Mann ohne Haare auf dem Kopf, der nun Masumah wie eine kleine Feder trägt, wie Papa damals. „Ich bin seine kleine Prinzessin, oder Papas kleiner Vogel.“ Vorbei an staubigen Containern und gelb gestrichenen Häusern geht der große blasse Mann mit Ade, und Ade streichelt immer wieder Masumahs Bein und spricht beruhigende liebevolle Worte. Masumah staunt nur noch, die Angst ist verflogen. Das ist wie einst bei Mama Rahima zusammen mit Papa, aber Papas Namen, den hat sie schon lange vergessen.

Gemeinsam betreten die Drei ein flaches Gebäude mit Blechdach. Davor liegen überall große Pakete mit Steinen als Schutz vor Raketen oder anderen Geschossen. Der große blasse Mann setzt Masumah auf einen langen, schmalen Tisch, auf dem ein weißes Tuch liegt. Eine Frau mit weißem Kittel beugt sich in dem supersauberen Zimmer auf sie herab, helle Lampen überall, nirgendwo auch nur ein Staubkörnchen, dafür ein Geruch nach Sauberkeit und Desinfektionsmitteln.

„Na, dann wollen wir dich erst mal genau untersuchen“, versteht Masumah zwar vom Ton her, aber der Sinn der Worte erschließt sich ihr nicht. Ade und Masumah werden in einen anderen Raum gebracht, wo eine riesige Maschine drohend über einem Bett hängt.

Sanft setzt der Soldat Masumah auf das Bett, Ade nimmt ihre kleine Hand, streichelt sie wieder und flüstert mit sanfter Stimme. Ein Mann kommt in den Raum und gibt Ade eine große graue steife Schürze in die Hand.

„Ziehen Sie die über, besser ist besser, wenn Sie dabei bleiben müssen.“ Und er hilft ihr, das schwere graue Teil überzuziehen.

Die anderen verlassen den Raum, nur Ade bleibt bei ihr. Masumah ist es unheimlich zumute, ganz unheimlich, was sollte nun passieren? Dann brummt die Maschine kurz laut, und schon geht die Tür wieder auf, der Mann mit Kittel lacht: „Fertig, kleines Fräulein!“

Was soll das heißen? Aber es muss was Gutes sein, denn er hat so supertolle weiche Bonbons bei sich und drückt sie Masumah in den kleinen Mund. „Gummibärchen“, er sieht sie fragend an und zieht dabei seine Augenbraue hoch. „Magst du Gummibärchen?“

Masumah versteht kein Wort, aber die Stimme klingt sanft, freundlich - und was am besten ist: Diese „Gummibärchen“ oder wie sie heißen, die sind so lecker süß, wie sie noch nie in ihrem Leben etwas auf der Zunge gespürt hatte.

„Ja, Frau Arnold, diesem Kind könnte man in Deutschland sicher helfen. Ich würde dies auch befürworten, damit sie zügig ein Einreisevisum bekommt. Das sollte schon möglich sein, dass wir diesem kleinen Mädchen helfen. Ich bin Arzt, es ist meine Lebensaufgabe, Menschen zu helfen.“ Das ist der Auftakt zu einer langwierigen Prozedur, um Masumah die Behandlung in Deutschland zu ermöglichen. „Aber bitte warten Sie draußen, ich muss den Bericht erst schreiben und dann beim Auswärtigen Amt hier um Mithilfe bitten“, schickt der Arzt die beiden nach draußen. Geduldig wartend, sitzt Masumah neben Ade, das Köpfchen angelehnt an die unbekannte und doch vertraute Person, die ab nun ihr Leben bestimmen sollte.

Ade reicht ihr eine Plastikflasche mit Wasser. „Trink was, das tut dir jetzt gut.“

Masumah dreht die Flasche auf und setzt sie an ihren kleinen Mund. Das Wasser fließt auf ihre Zunge.

„Pscht!“ Erschreckt setzt sie die Flasche ab, es prickelt alles in ihrem Mund. Sie verzieht das Gesicht und blickt fragend auf Eli.

Eli lacht sie an. „Alles okay, kannst du ruhig trinken, das ist Wasser mit Gas, Blubberwasser, schmeckt gut“, ermuntert sie Masumah zum Weitertrinken.

Vorsichtig versucht es Masumah nochmal. Jetzt ist es besser, die Gasperlen kitzeln an ihrem Gaumen. „Lecker!“

Nachdem beide jeweils die halbe Flasche geleert haben, zieht Eli ein Portmonee aus der Hose und holt ein paar Fotos heraus, die sie Masumah zeigt. Fotos von fremden Menschen, alle in ganz anderer Kleidung, ohne Schal und fast immer mit Lachen im Gesicht.

„Sieh mal, das sind meine Kinder“, erklärt Eli dem staunenden Mädchen, das natürlich nicht wirklich versteht.

Ein Foto beeindruckt Masumah mehr, viel mehr als die anderen Bilder. Das ist das Foto eines Jungen, vielleicht drei oder vier Jahre älter als sie selbst, ein großer schlanker Junge mit strohblondem Haar, so wie Ade, und ganz blauen Augen, komisch blaue Augen, und wie der Junge Masumah ansieht! So wunderschön ist er. Fest nimmt sie sich vor, diesen jungen Mann zu heiraten, wenn sie groß ist. Oder einen, der genau so aussieht, wie ein kleiner Gabrielengel.

Gabriel ist nämlich der Engel im Paradies, der neben Gott sitzt und auf Khoda aufpasst. Dort, wo es wunderschön ist und alle Menschen glücklich sind.

Masumah hat keine Angst mehr. Von diesem Moment an ist es nur noch eine freudige Erwartung: Was wird die Zukunft bringen, welches Leben wartet auf mich? Sie denkt an Springen, Laufen, Ballspielen mit gesunden Beinen und Füßen, mit Lachen, hellem Lachen und Kindern mit gelben Haaren und dem freudigen Lachen von einem hübschen dunkelhaarigen Mädchen, das alle anderen Masumih rufen. Und diese Masumih hätte dann einen Schulranzen und würde lachen mit den anderen, so wie die Schülerinnen der Ghazi Khan Schule.

Masumah wird ihrer Jogi-Mutter am Abend viel zu erzählen haben, denn die deutsche Ade hatte mit ihr an diesem Nachmittag einiges zu erledigen gehabt. Der nette Arzt hat ihr erst mal einen dicken Packen Papier in die Hand gedrückt, und danach hat Tom, der starke Papa-Soldat, sie hinüber durch das ganze Camp zu einem Büro getragen, das Ade immer AA nannte: Es war das Auswärtige Amt im PRT, Provincial Rekonstruktion Team, Kunduz. Dort hat Ade alle Unterlagen vorgelegt und geredet und geredet.

Es hat gefühlt einhundert Stunden gedauert, aber für Masumah war es diesmal kein Problem zu warten, denn sie hatte ja den starken Soldaten, den die Frau Tom nannte, also Tom-Papa, der die Tüte Gummibärchen dabei hat und mit seinem süßen Paradies immer wieder Masumahs Mund vollstopft.

Auf die Frage, ob es nicht schon genug an Süßigkeiten wäre, kann Masumah nicht antworten. Erstens weil sie nichts versteht, zweitens weil sie immer wieder ihren leeren Mund zeigt, um zu signalisieren, dass Platz für Nachschub war. Paradies - so empfindet Masumah - ist eine liebevolle Ade, ein starker Soldatpapa und diese wundervollen süßen Weichteile.

„Ist sie nicht ein bildhübsches liebes Mädchen, Tom?“ Die blonde Frau blickt zu den beiden. Und lächelnd zu Masumah gewandt: „Dein Bein kriegen wir schon wieder hin.“

Ade macht sich eine lange Liste, denn irgendwie ist das Paket vom Arzt wohl noch nicht genug gewesen. Also meint der Mann vom AA, dass sie jetzt diese Formulare alle noch bringen müsste, ja, und telefoniert hat der blauhemdige Mann vom AA auch immer wieder und nach sowas wie Pass, Elterngenehmigung, Einreisegenehmigung gefragt. Und immer wieder gefragt, welches Krankenhaus denn das Kind gratis behandeln würde.

Ade telefoniert auch ein paar Mal. „Klara, kannst du da mal anrufen, frag Dr. Hartmann, ob er diese OP machen wird, die Unterlagen maile ich ihm heute Abend noch zu, ja, es wird nicht so spät, wegen der Zeitverschiebung zwischen Afghanistan und Deutschland von zweieinhalb Stunden kommt jede Mail noch rechtzeitig an.“

„Komm mein Schatz, jetzt fahren wir wieder in die Stadt“, sagt Ade. Masumah versteht gar nichts, aber Soldaten-Papa Tom trägt sie auf seinen starken Armen zum PRT-Ausgang, wo eine freundliche Soldatin Masumah noch einen Kuschelbär mit nur einem Auge in die Hand drückt.

„Er soll dir Glück bringen, Kleine.“ Masumah lächelt – das kommt trotz Nichtverstehen immer gut an.

Schade, im Auto gibt es dann keine Gummitierchen mehr.

Ades Auto hält vor dem Hof der Jogis. Ein Mitarbeiter und Ade haben sich lange was zu erzählen. Masumah hatte sich unter die Zeltplane verzogen. Mit einem Auge konzentriert sie sich auf ihre Jogi-Schwester, um zu erzählen, was sie erlebt hat, mit dem anderen Auge beobachtet sie Ade und Jogi-Eltern, wie sie mit Papieren in der Hand eifrig verhandeln.

Neugierig ist Masumah schon, aber das hilft nichts, wenn man kein Wort versteht. „Jedenfalls, wenn Said kommt, dann kann ich ihm von meinem Ausflug und der großen Doktormaschine erzählen, und vielleicht werde ich eines Tages gesund werden“, glimmt ein Funke Hoffnung in Masumahs Herzen. Einaugebär von der Soldatin hält sie fest an sich gedrückt.

„Dich lass ich nicht mehr los, mit dir werde ich jetzt wohl Abenteuer erleben“, flüstert sie ihm unhörbar zu.

Schon früh am Morgen wäscht Jogi-Mutter Masumah und zieht ihr saubere Kleidung an. Heute wird mal die Haarbürste benutzt, aber das Ergebnis ist ein anderes als das gewünschte: Es ziept ganz furchtbar, Masumah fängt an zu heulen.

„Au, ich will das nicht, lass das“, wehrt sie sich gegen die ungewohnte Behandlung. Sonst lief sie immer ungekämmt umher, daher sind ihre Haare europäischen Teuerhaarfrisuren ähnlich, den Rastazöpfen, nur halt viel, viel billiger. Auch Jogi-Eltern ziehen sich ordentlich an, als wäre Ramadanfest oder Nowroz, Neujahr.

Irgendwann kommt das Adeauto mit der blonden Frau, diesmal trägt sie eine lange Hose und ein Hemd mit langen Ärmeln. Auch einen Schal hat sie um die hellen Haare gebunden, so dass sie richtig afghanordentlich aussieht. Irgendwas Wichtiges muss heute wohl passieren.

„Salam habibi, hallo Liebling“, begrüßt Ade Masumah. „Maleikum“, wispert die Kleine zurück.

Das Auto fährt über die holprige Straße zur Teerstraße und hinein in die Stadt. Zuerst hält das Auto an einem bunten Geschäft, wo man auch diese wunderschönen Hefte für die Schule kaufen kann. Ademitarbeiter hebt Masumah aus dem Auto und trägt sie in den Laden, wo er sie mit Schwung auf den harten Drehstuhl setzt, so dass Masumahs Kopf dröhnt.

Aber das „Autsch“ verkneift sie sich vor lauter Schüchternheit. Der Ladenbesitzer oder sein Mitarbeiter, das kann man nicht genau erkennen, macht mit einer großen Kamera ein Foto und zieht ein dickes Blatt aus dem Apparat. Er wartet eine Weile und teilt dann das Pappblatt. Masumah staunt nicht wenig, denn da war es, das erste Passfoto von Masumah, Tochter der Rahima und des Joma Khan, eine Tochter der Liebe, wenn auch eine Tochter, die es nie hätte geben dürfen. Masumah ist stolz. Sie weiß, sie ist jetzt wichtig, besonders für Ade.

Vom Bazar fährt das Auto weiter, dahin, wo der große Wali, der Gouverneur, seinen gesicherten Sitz hat, und gemeinsam - Ade, ihr Chefmitarbeiter, Jogi-Mutter, Jogi-Vater und Masumah-Prinzessin - marschieren die Fünf in das neu errichtete Gebäude im Kiefernhain.

Jogi-Vater nimmt Masumah nicht auf den Arm, und so humpelt sie die Marmorebene vor dem Gebäude entlang.

Drinnen angekommen, muss erst jeder durch eine Sicherheitsschleuse, nur Ade nicht, irgendwie ist sie wichtig. Dann müssen alle eine breite Treppe nach oben.

Ade wendet sich an ihren Chefmitarbeiter: „Kannst du bitte Masumah auf den Arm nehmen und hochtragen?“

„Danke, taschakor.“

Das ist auch ganz okay, aber Soldatpapa Tom war da viel besser und kuscheliger.