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Kurzer Abriss der Geschichte der Transplantatorischen Zufallsre-publik Opportunien RTF (République Transplantatoire Fortuite) und ein viel zu langes Aperçu auf die kleine Industriestadt Furz an der Brunze mit etwas zu vielen ärgerlichen Wiederholungen und pein-lichen Vergleichen. Eine inoffizielle und behördlicherseits gewiss nicht autorisierte Geschichtsklitterung und zudem für Nationalisten völlig ungeeignet.
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Seitenzahl: 258
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der Geschichte der Transplantatorischen Zufallsrepublik Opportunien RTF (République Transplantatoire Fortuite) und ein viel zu langes Aperçu auf die kleine Industriestadt Furz an der Brunze mit vielen ärgerlichen Wiederholungen und peinlichen Vergleichen. Eine inoffizielle und behördlicherseits gewiss nicht autorisierte Geschichtsklitterung und zudem für Nationalisten völlig ungeeignet.
Eine gut und gern zwei bis drei Kilometer dicke Eisschicht bedeckte nahezu unverrückbar während absurd vieler menschheitsgeschichtlich völlig belangloser Jahre das wertlose und unübersichtliche Schwemm-, Schleif-, Bruch-, Stau-, Spül-, Geschiebe- und Trümmergebiet, das sich noch heute zwischen zwei recht unterschiedlichen Gebirgszügen, dem Schori und den Hohen Wampen, befindet. Bevor die ersten steinzeitlichen Jäger und Sammler, vorwiegend halb verhungerte Neandertaler und rachitische Cro-Magnon, vielleicht auch andere, von denen wir heute nichts mehr wissen, auf verschlungenen und überaus beschwerlichen Schleichwegen von Südwesten her völlig ungefragt und unkontrolliert auftauchten, konnte verständlicherweise niemand und nichts auf den riesigen Gletschern und kahlen, baumlosen Hügelkuppen leben. Sie betraten illegal und absolut ungebeten und wohl auch etwas unerwartet, zudem möglicherweise, aus der Sicht des eiszeitlichen Groß- und Kleinwilds zumindest, sogar völlig unerwünscht und wahrscheinlich eher unbeholfen radebrechend die leere, sinnlose Landschaft, die damals noch niemand haben wollte und deshalb nicht beanspruchte. Da sie erst nur mühselig dahin gelangen konnten, wo wir uns heute mehrheitlich missmutig, gelangweilt und meist schlecht gelaunt befinden und in angenehmer Sicherheit wähnen, waren sie wohl tatsächlich die ersten Menschen im eisigen Territorium.
Wenn wir uns heute ausgerechnet in diesem späteren Opportunien aufhalten, in einem nach wie vor eher bedeutungs- und belanglosen Durchgangsgebiet, dürfen wir nicht vergessen, dass hier zunächst nichts war, absolut nichts, nicht einmal eine einsame Tankstelle. Wir wissen indes alle, dass dies heute das klassische, internationale Rückzugsgebiet der Reichen, Überreichen und Superreichen geworden ist und trotzdem ein typisches Durchgangsland für allerhand arme und ärmste, also völlig unerwünschte Menschen auf ihrer verzweifelten Suche nach bezahlter oder auch unbezahlter Arbeit geblieben ist.
Die steinzeitlichen Jäger indes schlugen sich unter vielen unvorstellbaren Entbehrungen einzig deshalb bis hierher durch, um sich des überaus üppigen, prähistorisch-voralpinen Wildreichtums, aber auch der schönen Aussicht, der erheblichen Steuererleichterungen und des äußerst praktischen Bankgeheimnisses zu erfreuen und zu bedienen, das versteht sich von selbst. Sie mochten zwar ungebildet sein, einverstanden, unzivilisiert gar, bitte sehr, meinetwegen auch ungetauft, aber blöd waren sie gewiss nicht. Sie besaßen alle erfreulichen, menschlichen Eigenschaften, die man heute auch der lokalen Menschheit fälschlicherweise immer noch zuschreibt. Aber sie waren eindeutig papierlos und somit eigentlich völlig rechtlos und, wie gesagt, eindeutig illegal im Lande.
Lange Zeit noch blieb das kleinräumige, von zahllosen, stark kupierten Hügelzonen durchsetzte und deshalb unübersichtliche und schlecht zugängliche Land vom Rest der Welt völlig isoliert und somit von allen guten Geistern verlassen, während sich das eiszeitliche Grosswild langsam gen Norden verzog. Ausgedehnte Sümpfe und wilde, unberechenbare Flüsse, steile Gebirge und, wie gesagt, endlose Gletschermassen verhinderten lange Zeit einen vernünftigen Zugang zum Land und somit zum prähistorischen Wild. Endlose Schwemmebenen, weitverzweigte Seenlandschaften, minderwertige Autobahnen und nahezu undurchdringliche Wälder beherrschten dazu das Gebiet mit seinem trotz globaler Erwärmung eindeutig abweisenden, arktischen Klima.
Auch nach dem letzten und vorderhand endgültigen Rückzug der riesigen Kontinentalgletschermassen stellte es, ehrlich gesagt, sowohl geologisch und tektonisch, als auch morphologisch und klimatisch nichts anderes als ein postglaziales Durcheinander und eine verdammte Sauordnung dar. Es war somit für die Welt des gepflegten Homo sapiens vorerst völlig uninteressant und blieb deshalb lange Zeit unattraktiv für die ersten mehr oder weniger manierlichen und durchaus achtbaren Menschen mit eindeutig menschlichem Antlitz und menschlichem Gehabe. Auch für die Welt des gesicherten Handels, der gesitteten Gesellschaftsordnung, der gestandenen Rechtssicherheit, also des blühenden Austausches war das Territorium uninteressant. Es wurde eindeutig gemieden. Die weithin unübersehbare Menschheitskultur und somit die menschenwürdigen Zivilisationsbedingungen blieben ihm deutlich länger als erwünscht völlig unbekannt.
Vor allem der spätere Nahe Osten, der uns heute deshalb immer noch biblisch vorkommt, also die damaligen Leitkulturen, bevorzugten natürlich eindeutig den klimatisch angenehm milden Mittelmeerraum, das üppige Nildelta und das überaus fruchtbare Zweistromland mit seinen ersten wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkten, allenfalls der Kaukasus und die kaspische Senke. Dort fand alles statt, was die Menschheit zu bieten hatte, nur dort, seine erfreulichen Einkaufsmöglichkeiten, seine rosigen Zukunftsaussichten und seine mannigfachen Unterhaltungs- und interessanten Zerstreuungs-Gelegenheiten, die sie, die menschliche Zivilisation also, aus verständlichen Gründen ausgiebig und für ausreichend lange Zeit einem kargen Hungerleben im alpinen Raum vorzog und auch intensiv nutzte.
Erste beachtliche Hochkulturen entstanden im Nu, äußerst wirksame Leitkulturen bildeten sich allmählich heraus und langzeitliche Denkstrukturen fanden dort ihre durchaus bemerkens- und bedenkenswerten Anfänge in Sprache, Bild und Schrift. Ein dergestalt angenehmes Leben zu klimatisch derart vorzüglichen Bedingungen hätten auch wir damals wie heute fast ausnahmslos alle sehnlichst herbeigewünscht, versteht sich, denn wer geht schon freiwillig oder unfreiwillig in eine kalte, abweisende Wildnis hinaus oder in eine eisige, feindliche Einöde hinein? Sie vielleicht? Na, also.
Viele tausend Jahre später, nach etlichen kecken, ja, geradezu frechen neolithischen bis frühkeltischen Vorstößen und gleich anschließenden, vielleicht etwas gar demoralisierenden Rückzügen mit all ihren zivilisatorischen Spuren auf Hügelkuppen und ihren banalen Müllkippen an See- und Flussufern, war besagtes Territorium erst dem unbesiegbaren Römischen Imperium und gleich anschließend satte tausend Jahre lang dem unbesiegbaren Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zugehörig. Doch ausgerechnet dieses etwas wilde und angeblich unbezähmbare Niemandsland blieb eigentlich immer nur eine ausgesprochene Grenz-, Rand- und Restregion inmitten einer überaus üblen Welt voller wahrhaft abstoßender Reichs-Kungeleien und absolut ekelerregender, klerikaler Intrigen. Sie lösten die segensreiche pax romana und damit die erste und einzige Zivilisation ab, die das Gebiet jemals gesehen hatte. Die ganze Region wurde zu einer von der christlichen Zivilisation gerne gemiedenen Restfläche von Wilden für Wilde in einem im Übrigen abstoßenden Gesamteuropa der machtbesessenen Maßlosigkeit, der christlichen Unbarmherzigkeit und der gierigen Unverfrorenheit. Da nützten auch die wenigen weit verstreuten Klöster der irischen Mönche nicht viel. Ganz besonders während und nach all den blutigen Religionskriegen und deren noch blutigeren Folgekriegen, bei denen es eigentlich um nichts Wesentliches ging, wenn man mal von skurrilen Religions-Interpretationen und von unübersehbaren Machtansprüchen von allerhand korrupten Päpsten und überheblichen Kaisern absah, um von der unerhört gewalttätigen Kolonisierung der unübersehbar großen, globalen Restwelt ganz zu schweigen. Doch eigentlich wurde es wieder still um das Land, wie gehabt, denn auch die wenigen gefährlichen Wampenübergänge taugten nichts, die römischen Pässe, nicht einmal für Pilger, weil sie das halbe Jahr lang unbegehbar blieben.
Die vielen kleinen und kleinsten, isolierten und vergessenen, von jeglichem Einbezug ausgenommenen Ländereien wurden indes schon immer von einem richtig üblen Haufen von örtlichen Schlaumeiern und lokalen Schlitzohren in wechselnden Besetzungen gepiesackt. Sie wurden von recht unfeinen Herrschaften mit deutlichem Stallgeruch gnadenlos geschändet, ausgenommen, brutal geknechtet und an die Meistbietenden weiterverkauft. Ganze Armeen wurden in Europa und in Übersee mit den überzähligen Landbuben ausgerüstet, und zwar jahrhundertelang – ein scheinbar nie versiegendes Bombengeschäft, von dessen Gewinn es sich fürstlich leben ließ. Die Hauptbeschäftigung der Patrizier aber waren ihre aufsäßigen Konkurrenten von nah und fern. Sie bekämpften sich gegenseitig unablässig nach allen Regeln der Kunst, manchmal sogar unter dem Deckmantel der Religion. Sie hielten sich inmitten ihrer gestohlenen Schaf-, Ziegen-, Schweine- und Kuhherden tatsächlich für echte Landadlige, wie anderswo auch, zumindest für aufgeschlossene Landjunker oder Krautjunker, gottgegeben und gottgefällig, die unmissverständlich Respekt einforderten und ihren Kaisern und Königen Europas inbrünstig den Arsch leckten und die hohle Hand machten.
Doch machen wir uns nichts vor: Das rurale und marginale Gebiet stellte seit jeher nur einen zivilisatorischen und kulturellen Outback dar, genau zwischen den aktuell dominanten europäischen Kulturen im Norden und im Süden, im Osten und im Westen gelegen, und doch immerzu völlig unberührt von jeglicher Fortschrittlichkeit und zudem niemals von ernst zu nehmender politischer, strategischer oder wirtschaftlicher Bedeutung. Das war, nachträglich gesehen, ihr Glück, das sie niemals verdient hätten.
Doch es sollte nicht immer so bleiben, denn der schlaue Napoleon Bonaparte aus Korsika entdeckte dieses von der Entwicklung und von der europäischen Strategie völlig übersehene, stark vernachlässigte, unbedeutende und seit jeher mehr oder weniger sich selbst überlassene, von niemand Bedeutendem, also Einflussreichem ernsthaft beanspruchte Territorium. Auf seiner ersten prospektiven Europareise durchquerte er die vergessenen Landstriche, leicht fassungslos angesichts der allg. Rückständigkeit, und auch das eigentlich nur ganz zufällig, nämlich während der Planung und Vorbereitung seiner oberitalienischen Feldzüge gegen die Großmacht Österreich und weiterer geostrategischer Ferkeleien im Namen der Französischen Revolution.
Er war, direkt aus Paris kommend, zwar zunächst richtig angewidert von all dem entbehrlichen und hinterwäldlerischen Unsinn, den er hierzulande antraf, doch konnte er immerhin den prallen Staatskassen der diversen reichen Stadtstaaten ein gewisses und unbestrittenes Interesse abgewinnen und entgegenbringen. Das viele fette Gold würde ihm schlankweg seinen teuren und kurz bevorstehenden Feldzug nach Ägypten finanzieren helfen, mutmaßte er bereits im Geheimen, und er rieb sich dazu die Hände, der korsische Schlaumeier.
Um an diese nahezu krisensichere Knete zu gelangen, müsste er allerdings erst das hoffnungslos korrupte und restlos verdorbene lokale Patriziat von seinen überaus einträglichen Sitzen, ergiebigen Pfründen und französisch angehauchten Schlössern gewaltsam entfernen und ersatzlos vertreiben können, mutmaßte er, völlig zu Recht. Kurz, er müsste als Erstes das unübersichtliche Gefüge der vielen kleinen Ländereien, Flecken und Herrschaften völlig auf den Kopf stellen und grundsätzlich neu organisieren, am besten revolutionär neu, auch wenn die Revolution gewiss nicht im Sinne der örtlichen Machthaber lag, stellte er ernüchtert fest. Doch gleichzeitig war ihm als gestandenem Heerführer sofort klar, dass dies, militärisch gesehen, nicht allzu schwierig sein sollte, jedenfalls viel leichter als z.B. ein folgenreicher Feldzug gegen die Engländer oder gar gegen die Österreicher, das stand schon mal fest. Ein militärischer Spaziergang, nahezu. Ein Nebensatz der Geschichte, gewiss. Er würde zudem mit seiner revolutionären Befreiung des opportunistischen Bürgers aus den Ketten der feudalistischen Unterdrückung auf breite und begeisterte Zustimmung in der nahezu flächendeckend verarmten und entrechteten Bevölkerung stoßen – das ewige Trauma einer jeden Herrschenden Klasse, ganz gleich, welcher. Er stellte zudem angenehm überrascht fest, dass sich das unbekannte, weil kartografisch noch kaum erfasste Gebiet genau zwischen Frankreich und dem verhassten Österreich befindet, was natürlich sein persönliches Interesse zusätzlich wecken musste.
In der Tat: Dieser strategisch wichtige und nützliche Umstand machte die uneinheitliche, ungeordnete und unstrukturierte Zone voller absurder Partikularinteressen plötzlich fast über Gebühr bedeutend und berühmt. Napoleon musste es haben, nicht zuletzt als Aufmarschgebiet.
Das in jeder Beziehung deutlich hinter jeder Entwicklung zurückgebliebene Gebiet wurde für den Ersten Konsul und seine militärischen und politischen Bedürfnisse somit unerwartet interessant. Es stellte ein wirres, nahezu unverständlich verschlungenes, überaus kompliziertes und hoffnungslos unverständliches Bündnis-System dar, ein gewachsenes Durcheinander von untereinander seit vielen wirren Jahrhunderten rettungs- und heillos verkrachten Clans, von sog. Patrizierfamilien, die sich eindeutig für mehr hielten als nur lokale Krautjunker und bestenfalls regionale Granden mit absolutistischem Anspruch. Zu diesen hinzu kamen zahllose Wegelagerer, Räuberhorden, Bettlerhorden, nicht sesshafte Heimatlose, Zigeuner, Juden und allerlei hoffnungslos verfeindete Religionsrichtungen, sich ständig bekämpfende Talschaften, äußerst instabile Dorfschaften und untereinander verkrachte Städte, untergeordnete und übergeordnete Bauernschaften, Hintersaßen und Vordersaßen, Landlose, Hinterladern und Vorderlader, Ein- und Aussaßen aus alten und neuen Stammlanden, Zugewandte, Eroberte, Unterworfene, Niedergeschlagene, Ausgeplünderte, Beigelagerte, Fortgejagte, Auf- und Vorgesetzte und Zugewandte aller Art hinzu. Nicht wenige Territorien, die ganz einfach als erobert, besetzt und als in Besitz genommen betrachtet wurden, waren ganz einfach aus vielen frechen, wenn auch nur lokalen und regionalen Diebstählen entstanden, deren rechtliche Lage und politische Faktizität mehr als unsicher und somit sehr zweifelhaft war und blieb.
Doch gerade diese mehr als verworrene, scheinbar recht labile, zudem ständig die Seiten wechselnde, fortwährend die politische, religiöse und sogar die geografische Zusammensetzung ändernde und zudem wirtschaftlich flexible Bündnis- und deutlich undurchsichtige, eindeutig mehr als nur bestechliche, also käufliche Herrschaftsvielfalt stellte für den revolutionären Frechling, kühnen Eroberer und unwillkommenen Befreier aus Paris, wie bereits angedeutet, militärisch überhaupt kein Problem dar, denn er wusste bereits, wie der Hase laufen musste.
Somit war aber diese mehr als schlecht zugängliche Zwischengebirgszone knapp von der halben Größe Savoyens trotz ihrer generellen Unverständlichkeit und prinzipiellen Undurchschaubarkeit erst zum zweiten Mal nach Telgte von Europa entdeckt und politisch zur Kenntnis genommen worden. Sie war somit umgehend und gegen ihren ausdrücklichen Willen aus ihrem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf erwacht und, ohne es zu merken, unvermittelt in die europäische Geschichte eingetreten, bzw. eingetreten worden, bzw. wachgeküsst worden, bzw. unvermutet zum Leben erweckt worden.
Vom Ersten Konsul persönlich wachgeküsst, wenn auch nur auf Grund seiner kühnen Pläne, wusste der verdatterte Landstrich zunächst gar nicht, wie ihm geschah, denn bald einmal wird es für Napoleon nur noch darum gehen, selbigen für seine geplante, militärische Nutzung durch den Bau von anständigen, also solide befestigten Pass- und Durchgangsstraßen besser vorbereiten und anschließend militärisch optimal nutzen zu können. Das gesamte, eigentlich völlig unüberschaubare Rechtswirrwarr und Gesetzeschaos von überaus Ungleichen und vorwiegend Rechtlosen indes, also all das Gemenge der verkaterten Ein- und Ausheimischen, all das Geschiebe der Zugewandten und Anverwandten, all das Geknete der Auf- und Absassen, Zusassen und Einsassen, Aussassen und Umsassen war erst mal völlig überfordert. Die Eingeborenen in ihren niedrigen, schindel- oder strohgedeckten, zudem ungesund rauchdunklen Bauernhäusern oder in ihren voralpin zugigen Steinhäusern, also all die Vordersassen, die Hintersassen, die Zugeborenen, die Angeheirateten, die Unterworfenen, die Untergeordneten, die Umhergetriebenen, also all die lebenslang, ja, generationenlang Ausgestoßenen, Eingebetteten, Umgesiedelten, Ausgewiesenen, Vergessenen, Vogelfreien und somit faktisch Hoffnungslosen waren einfach perplex. Sie konnten vorerst nicht verstehen, noch nachvollziehen, was ihnen mit den französischen Menschenrechten an Wundersamem über Nacht kostenlos und völlig unerwartet zugestoßen, bzw. zugefallen war. Wie auch? Die Bevorzugten umgekehrt, die Bevorteilten, die Beförderten, die Übergeordneten und Erbberechtigten, zusammen mit den alteingesessenen Oberhunden und ihren diversen, reichlich parfümierten Häupter und Oberhäupter auf ihren prächtig gelegenen Herrensitzen und in ihren französisch inspirierten Lustgärten waren auch nicht schlauer. All die Hochwohlgeboren, die offensichtlich Gottgefälligen und somit zweifellos Gottgewollten, sowie deren seit jeher klerikal gebenedeiten Gottgesalbten, will heißen all die Massivbevorteilten, all die „Von und Zu“, also all die Richter in eigener Sache und somit die eindeutig Mehrbesseren rieben sich jetzt, zutiefst erschrocken, ratlos, abgrundtief erschüttert und recht eigentlich ahnungslos verwundert die teure, französische Schminke aus den Augen. Sie würden noch lange nicht glauben können, wie ihnen, den Unschuldigen, soeben völlig unerwartet, absolut unerwünscht und reineweg unangemeldet geschehen war, denn mit Napoleon brach in ihren Augen rechtlich ungebeten und politisch unerwünscht die europäische Moderne über ihre bedürfnislose Geografie herein, mitsamt den leuchtenden Idealen der Französischen Revolution:
Liberté! Egalité! Fraternité!
Wenn das nicht das Ende von allem bedeutete, was dann? Schlimmeres konnte man sich auf der hektischen, ja, nahezu kopflosen Flucht auf Pferderücken oder in teuren Kutschen und in eleganten Karossen Richtung rettendes Österreich nicht ausdenken, weil es für die entsetzten Herrschaften Schlimmeres gar nicht geben konnte. Noch schlimmer konnte ihre unvermittelt verzweifelte Lage in der Düsternis der gesellschaftlichen Entwicklung gar nicht werden, vermutete man sehr besorgt, sehr betroffen, also für einmal ganz persönlich betroffen, selbst betroffen, ja, zuweilen bereits in richtig ausgewachsener Panik. Etwas Schlimmeres als die Revolution des Pöbels, die bislang nur ein fernes, fahles und zudem höchst unglaubwürdiges, französisches Gerücht geblieben war, eines Pöbels zudem, der ihre Kutschen aufhielt und denen Inhalt ausnahm, der jetzt ungefragt in die leeren Schlösser eindrang, oder marodierende Soldaten, die ihre Offiziere auf offener Straße massakrierten, konnte es gar nicht geben, wenn man mal von Pest und Cholera und anderen französischen Seuchen absah. Nicht wahr? Doch selbst Pest und Cholera waren in ihren Augen völlig harmlos, im Vergleich zu einem Contrat social, zu einer Déclaration des droits de l’homme und zu einem Code civil.
Somit definierte und vereinheitlichte der bekannte räuberische Konsul in Paris, der natürlich gleich als erstes die prallen Staatskassen zügig abtransportieren ließ, als Allererster das sprachlose, ja, entsetzte Territorium ohne Namen, und zwar nach revolutionärem Recht, aber auch nach durchaus praktischen Gesichtspunkten. Er erfand es einfach neu. Er setzte sich über alle althergebrachten Partikularinteressen hinweg, über alle altgeliebten Privilegien und über alle altbekannten Abmachungen, indem er sie einfach vom Tisch wischte, und gab der somit neu entstandenen Nation erstmals einen eigenen, einen richtigen, wenn auch vorderhand etwas komischen, weil ausnehmend revolutionären Namen:
République Transplantatoire Fortuite.
Zudem übergab er den perplexen Vertretern der verschiedenen Städte, Talschaften und Landschaften kurz nach deren Eroberung eine moderne, also französische Verfassung, zusammen mit dem einheitlichen, modernen, also französischen Recht, und somit Freiheit und Demokratie nach revolutionärem Vorbild tout court, den Code civil oder Code Napoléon. Hinzu kam flugs eine komplett neu geschriebene Geschichte der neu geschaffenen Nation, die bis weit ins Hochmittelalter zurückreichte, bis ins unheilige Interregnum, angesichts der Tatsache, dass jegliche Geschichte immer und ausschließlich von den Siegern geschrieben wird, und niemals von den Verlierern; das versteht sich von selbst.
Endlich bescherte er dem soeben neu erfundenen Land gegen dessen Willen auch noch die neuerdings gültigen französischen Dezimalmaße, was die Einwohner unverständlicherweise ganz besonders wütend machte. Hinzu kamen endlich moderne Landkarten für militärische Bedürfnisse, sowie einheitliche militärische Begriffe und Bezeichnungen und überhaupt moderne, also französische Vorstellungen von Kultur, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Politik, alles neue Ideen, die man in der Fortuite gewiss nicht kannte. verbunden mit wahrhaft Aufsehen erregenden Projekten und kühnen Konzepten zu nahezu allem und jedem, was fürderhin jemals anstehen mochte.
Es gab in der gottvergessenen Gegend sonst nichts, weil da zunächst einfach gar nichts vorhanden war, nichts Brauchbares jedenfalls. Der Empereur machte aus einer leichten Eroberung, die insgesamt nicht länger als ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen gedauert hatte, kurzum ein neues Land in Europa, wenn auch nur ein kleines und unbedeutendes. Es war nicht größer als eine halbe Handfläche auf der europäischen Landkarte, nicht größer als ein Stecknadelkopf auf dem Globus. Doch es ward somit immerhin erstmals zu einem nahezu fest umrissenen Land mit richtigen Landesgrenzen, wenn auch reichlich künstlichen, also äußerst willkürlichen und vor allem erheblich zufälligen und zuweilen sogar völlig absurden, also mit eigentlich rundweg unverständlichen und somit offensichtlich unbrauchbaren Grenzziehungen.
Kurz, er erfand ganz einfach die RTF, die République Transplantatoire Fortuite, wie wir noch sehen werden, die Transplantatorische Zufallsrepublik, sogar mit einer richtigen, wenn auch sehr unglaubwürdigen Hauptstadt, was es hier zuvor noch nie gegeben hatte.
Das zwar zentral gelegene, doch bis anhin nahezu unbekannte, weil völlig verschnarchte, jetzt aber unvermittelt zu Tode erschrockene Landstädtchen namens Furz an der Brunze wurde über Nacht zur provisorischen Landeshauptstadt der Zufallsrepublik erklärt. Niemand wusste und niemand weiß auch heute noch nicht, was den unberechenbaren Usurpator in Paris geritten hatte, als er solcherlei Absurdes zwischen zwei wichtigen Sitzungen des Konsulats verfügte, denn selbst die verblüfften Einheimischen, also die Citoyens des neu geschaffenen Landes der neuerdings Gleichen und Gleichberechtigten mussten sich jetzt ratlos fragen: „Furz an der Brunze? Was ist das? Wo ist das? Was soll das?“
Das landesweit nahezu unbekannte, weil völlig bedeutungslose Städtchen, an der Brunze gelegen, einem klaren Flüsschen voller fetter Forellen, das immerhin kostenlos, sauerstoffreich und munter von den weiten, grünen Hügeln herab etliche Mühlen, Walzen, Drahtzüge und Sägen antreibend durch die stadtnahen Flecken sprudelte und gleich anschließend in einer grenzenlosen, unbegehbaren Sumpflandschaft verschwand, kannte damals kein Mensch außerhalb von Furz selbst.
„Das muss ein französischer Furz sein!“ stöhnten folglich die daselbst so wundersam Befreiten und fürwahr wunderbar Gleichgestellten, denn niemand hatte bis anhin von Furz an der Brunze gehört, also nicht einmal die perplexen Bewohner dieses soeben neu entstandenen Landes mit dem nahezu unaussprechlichen Namen RTF („Ärteäff“) selbst.
L’Empereur führte indessen subito und natürlich ungefragt seinen Code und seine modernen republikanisch-demokratischen Spielregeln ein und ließ den völlig überraschten Untertanen und von nun an ungewohnt freien und, noch ungewohnter, rechtsgleichen Citoyens des umgehend auserwählten Landes kurzum erklären, sie seien jetzt endgültig aus der mittelalterlichen Sklaverei des Feudalismus befreit worden und hätten die Ketten der Knechtschaft erfolgreich gesprengt. Somit seien sie alle fortan und in alle Zukunft einander gleichgestellt, was von der Aufklärung her logisch und heute modern sei, behauptete er in Paris kühn. Sie seien jetzt rechtlich und somit politisch liberalisiert, egalisiert und fraternisiert, seien ab jetzt bis in alle Zukunft weder Hinter-, noch Vordersassen, weder Zugewanderte, noch Zugewandte, weder Gemeine, noch Beherrschte und deshalb auch nicht Untertanen von irgendwem oder irgendwas. Zudem seien sie ab sofort auch heimatberechtigt, nämlich genau dort, wo sie sich gerade befänden Sie wurden gezählt und erstmals registriert, was in den Dörfern zu wüsten Vertreibungen grössten Ausmaßes führte. Ab sofort stellten sie allesamt und unterschiedslos mit allen demokratischen Rechten ausgestattete Wählbare dar, erklärte er den verblüfften Einheimischen, zumindest die Männer ab 21. Selbige seien kraft der Revolution zu lauter ehrbaren Bürgern ihres eigenen Landes geworden, genau wie in Frankreich, dem Mutterland der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie. Ja, es seien umgehend Liberté, Egalité und Fraternité auch in der Fortuite angekommen, die sich jetzt glücklich wähnen möge, endlich auch zu den auserwählten Nationen der Französischen Revolution zu gehören.
Das war an sich einfach und durchaus verständlich, weil zudem die örtliche, rein erbrechtlich orientierte Nomenklatura, mit der er allenfalls hätte verhandeln müssen, wenn er denn mit ihr überhaupt jemals über irgendwas hätte verhandeln wollen, mehr oder weniger geschlossen und in deutlicher Panik nach dem sicheren Österreich oder gar nach dem noch sichereren England geflüchtet war.
Vive l’Empereur! Vive la République! Vive la Fortuite! Vive la France! Vive la Révolution! Vive Napoléon!
Doch ausgerechnet Napoleon, der Unbesiegbare, verlor bekanntlich nach zwanzig Jahren seinen großen, gesamteuropäischen Krieg. Das zeigt uns wieder einmal eindrücklich, dass man sich politisch niemals vorschnell festlegen sollte, wenn man nicht unverdient und völlig unverschuldet für nachträglich sich als sehr unpassende politische Haltungen und Handlungen erweisende Entscheide haftbar gemacht werden möchte. Der enorm aufgeschreckte, gesamteuropäische Hochadel musste nämlich schleunigst zusehen, dass er seine großen und kleinen Territorien, seine großen und kleinen Ländereien und somit seine göttliche Berufung und himmlische Bedeutung subito wieder ans Trockene kriegen konnte, bevor seine eigenen Untertanen etwas von der Liberté, der Egalité und der Fraternité merken konnten und somit auch haben wollten, versteht sich. Die Französische Revolution war zwar vorläufig gescheitert, einverstanden, doch aus der Ferne leuchteten immer noch hell und klar die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit ihrer genialen republikanischen Verfassung, mit ihrem ganzen, parlamentarischen Demokratiekonzept, mit ihrem Wahlsystem, mit ihrer unerhörten persönlichen Freiheit, mit ihrer unvorstellbaren Religionsfreiheit, mit ihren in den Augen des Adels degoutant unnatürlichen und gewiss nicht gottgewollten Menschenrechten und mit ihrer sträflichen, republikanischen Haltung.
Das stellte eine einzige, antieuropäische Provokation dar, die gegen jede göttliche Gesellschaftsordnung und somit gegen jeden göttlichen Willen und gegen jedes göttliche Wollen und Wirken gerichtet war – das war allen Rechthabern und Besserwissern seit jeher klar. Eine einzige, allerdings gigantische Blasphemie gegen Gott selbst und seine ewige, göttliche Ordnung war das, ein Frevel, der nur die Todesstrafe verdiente. Das revolutionäre Pack musste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, bevor es sich wieder zusammenrotten konnte.
*
Schon begannen für die Sieger die längst absehbaren Probleme mit den unverständlich unverständigen und unangebracht eigenwilligen Leuten aus der ehemaligen République Fortuite. Was sollte jetzt mit der reichlich überflüssigen, eigentlich absolut unwichtigen und zudem auch noch völlig verstörten und wie immer heillos in sich verkrachten RTF überhaupt geschehen? Genau das fragten sich, allerdings eher nebenbei, die verdächtig gelassenen, etwas gar uninspirierten, deutlich zerstreuten und sogar recht angewiderten Deputierten in Wien, einige der wichtigsten Repräsentanten Europas, vor allem englische und russische Diplomaten, Gott allein weiß, warum.
Zwischen zwei ausufernden Trinkgelagen wurde indes allen klar: Die Karte Europas musste nach der unerhörten französischen Anmaßung vollständig neu gezeichnet, die Geschichte wiederum völlig umgeschrieben, die Gewichte gerecht verteilt und deshalb die Ansprüche der Großmächte absolut neu definiert werden. Ordnung musste wieder her!
Immerhin war man im brummenden, brausenden, ja, bacchantischen Wien in ein wahrhaft grandioses Gelächter ausgebrochen, als die untereinander schon seit mehreren Jahrhunderten haltlos zerstrittenen und deutlich unbeholfenen, weil eher ruralen Vertreter der einzelnen winzigen, aber umso überheblicheren Fortuite-Käffer wegen jahrhundertealter Dauerkomplikationen aus gegenseitiger chemischer Unvereinbarkeit und biologischer Unverträglichkeit nur noch separat vorgesprochen und umfangreiche Privilegien für sich selbst und ihre winzigen Provinzchen, bedeutungslosen Landstädtchen und mikroskopischen Dörfer verlangt hatten. Untereinander hatten sie sich selbstverständlich nicht nur nicht einigen können, weil sie sich schon seit vielen Jahrhunderten wegen allerhand lokaler Kalamitäten und regionaler Konflikte, immerzu begleitet von abgrundtiefen, religiösen Unverträglichkeiten, in den Haaren gelegen hatten. Im Hinblick auf eine allfällige Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte hatten sie sich vorgängig nächtelang in ihren wienerischen Herbergen sehr handgreiflich gezankt, wie man aus Spitzelkreisen hörte und natürlich genüsslich kolportierte.
Die Fortuite war den europäischen Siegern des Jahrhunderts in der Tat ein nahezu endloses Gelächter wert: Die Leute auf dem Land vertrugen die Leute in den Städten nicht, und umgekehrt, die Protestanten vertrugen die Katholiken nicht, und ebenfalls umgekehrt, und beide vertrugen die sog. Aussassen, die Zusassen und die Hintersassen nicht. Untertanen in ihren diversen, feinen Abstufungen vertrugen die Patrizierfamilien in ihren diversen, feinen Abstufungen nicht, und umgekehrt, die Reichen vertrugen die Armen nicht, ebenfalls in sämtlichen Abstufungen, und dies natürlich auch umgekehrt, die Sesshaften vertrugen die Obdachlosen und die Zigeuner nicht, die äußerst verschiedenen sozialen Schichten, Kasten und Klassen vertrugen einander auch überhaupt und ganz grundsätzlich nicht, die Handwerker-Zünfte hatten auch ständig Krach untereinander und gleichzeitig mit allen andern, der gesamte Handel lahmte deutlich und hinkte schwerfällig hinter den bescheidenen Möglichkeiten her, die lokalen Zölle waren exorbitant, das ganze Zollwesen lachhaft kompliziert und absolut korrumpiert, die Versorgungssicherheit katastrophal, die mehr als eigenwilligen Bauern, immerhin gut neunzig Prozent der Bevölkerung, vertrugen einander sowieso nicht, und zwar grundsätzlich nicht, vorsätzlich nicht, absichtlich nicht, ausnahmslos nicht, bis in die feinsten Verästelungen nicht, die verschiedenen Handwerksinnungen lagen sich schon seit Jahrhunderten um gewisse oder eventuell tatsächliche oder auch nur angebliche Vorrechte in den Haaren, und das wild wuchernde Finanzwesen war ein einziger, unübersichtlicher, doch trickreicher Dschungel von verschiedenen Währungen mit ständig wechselnden Kursen und Werten. Volatilität, wohin man blickte!
Währungen, Maße, Vorrechte und entsprechende Gesetze gab es ebenso viele wie Teilnehmer an den nie enden wollenden Krächen, die obrigkeitlichen Bewilligungsverfahren gestalteten sich noch intrigenreicher als alle Intrigen zusammen, und die behördlichen Zusagen waren meist rein zufällig, völlig willkürlich und natürlich absolut korrumpiert, und sie entbehrten zudem zusätzlich, vorsätzlich und grundsätzlich jeglicher Rechtsgrundlage.
Die bekloppten Bewohner der einen schattigen, Talhälfte vertrugen diejenigen auf der anderen, sonnigen Seite nicht, und umgekehrt, die einen hassten die Pfaffen, die andern beteten sie an, und alle hassten sie die Vornehmen, die Ausländer, die Halbstarken, die Töfflibuben und die spärlichen Touristen aus Britannien, die selbst auch nicht wussten, warum sie hier sind. Selbst die Vornehmen verabscheuten sich plötzlich gegenseitig nach der ersten Lektüre von Voltaire und ganz besonders von Jean-Jac-ques Rousseau, warfen empört ihre teuren Perücken, Stöckelschuhe und Korsetts weg, wie man das schon vor fünfzig Jahren in Paris begeistert gemacht hatte, gründeten alternative Bewegungen und esoterische Salons. Die vornehmen Damen entließen ihre langjährigen, zuverlässigen Ammen in die definitive Armut und reichten ihren Neugeborenen neuerdings selbst ihre eigenen blassen, blaugeäderten Brüste. Die wenigen Gebildeten des unglücklichen Landes verachteten auf einmal sogar das Papier, auf welchem gültige Verträge, neue Gesetze und zukünftige Verfassungen hätten zu stehen kommen sollen, oder zumindest die Tinte, mit der sie allenfalls in akkurater Schönschrift hätten geschrieben werden müssen; die Leute diesseits eines Baches verabscheuten diejenigen auf der anderen Seite des Baches, die reichen Bauern vertrugen die armen Bauern nicht, noch deren Mühen, Qualen und Sorgen, und umgekehrt ging auch nichts. Geiz und Neid beherrschten das Land flächendeckend. Die Kuhhirten bekämpften die Schafhirten, die Ziegenhirten die Kuhhirten, und alle zusammen hassten sie gleichermaßen intensiv die Schweinehirten, wie auch die Viehhändler und die trickreichen Wander-Metzger, versteht sich, die sowieso. Dieu seul sait pourquoi. Die Bauleute trauten den Bauherren nicht mehr über den Weg, und auch die Kaufleute misstrauten neuerdings einander und hassten sich gegenseitig abgrundtief und bezichtigten sich des Revoluzzertums, so wie sich auch die Säumer und die Schiffer, die Wagner und die Fuhrleute, die Zöllner und die Landjäger verachteten, nämlich genau so, wie die Steinmetze den Bauleuten, die Bauern den Müllern und die Zimmermänner den reichen Schreinereibesitzern misstrauten. Und genau so, wie die Heimweber die Tuchhändler anfeindeten, so verabscheuten die Garnspinner die Heimweber abgrundtief und beide zusammen unisono die Rohstoff-Lieferanten und so weiter und so fort.
Somit gab es eigentlich niemanden weit und breit, der in der ehemaligen RTF für ein friedliches, geordnetes und landesweit geregeltes Zusammenleben nach dem Zusammenbuch Frankreichs auch nur annähernd geeignet gewesen wäre und auch persönlich eingestanden hätte. Niemand, Ehrenwort.
Selbst Eheleute verachteten einander abgrundtief, was schon damals durchaus die Regel darstellte, und nicht etwa die Ausnahme, wenn denn schon alles schieflaufen musste, was jemals schieflaufen konnte, gemäß Murphy’s law, und alle zusammen vertrugen sie in seltener Einhelligkeit die Juden und die Zigeuner nicht, das verstand sich sozusagen von selbst; das gehörte sogar zum guten Ton und war Ehrensache, selbst dann, wenn sie noch gar nie einen gesehen hatten, einen Juden oder einen Zigeuner. Oder gerade deshalb. Denn wenn keiner mehr übrigblieb, dem man sein gesamtes, lange und sorgsam gehegtes Frust- und sein sorgfältig gesammeltes Hasspotenzial entgegenwerfen konnte, durfte man praktischerweise immer noch unwidersprochen den Juden und den Zigeunern die Schuld für alles Missratene und Misslungene geben, kein Problem, darin waren sich alle einig. Oder den Ausländern ganz generell, auch heute noch. Man ist nicht bescheuert; man stürzt sich ja immer und ausschließlich auf die Wehrlosen und trampelt wutentbrannt und gefahrlos auf denen herum, sei es nun aus reiner Hilflosigkeit oder aus wahrem, gelebten Menschenhass. Alles andere wäre viel zu riskant, und genau das zeichnet denn auch den wahren opportunistischen Feigling aus, wie er seit jeher im Buche steht.
„Lieber untergehen, als mit denen zusammen ein Land machen!“ war damals denn auch die einzige gemeinsame, aber deutlich erkennbare Devise der Opportunisten, wie man sie fortan der Einfachheit halber zu bezeichnen pflegte, wie wir noch sehen werden, weil man sie nicht speziell „die Fortuiten“ oder generell „die Republikaner“ nennen mochte, und dabei zeigten sie jeweils plakativ und angemessen angewidert mit Fingern aufeinander, also meist auf ihre unmittelbaren Nachbarn, mit denen sie aus mannigfachen Gründen seit Jahrhunderten derart verkracht waren, dass sie nicht einmal mehr ruhig miteinander verhandeln mochten, ohne gleich wieder in langjährige, ziemlich gewaltbetonte Fehden, in ausnehmend unschöne Feindseligkeiten, in weitere, jahrzehnte- oder gleich jahrhundertelange, ruinöse Prozessverfahren und sogar in persönliche, oft blutige Konfrontationen auszubrechen.
Von einer nationalen Einheitlichkeit, von einer republikanischen gar, war auch nach gut zweiundzwanzig Jahren revolutionärer Rechtsordnung immer noch keine sichtbare Spur vorhanden, kein einziger Hauch von einer Spur, nicht der geringste Hinweis, denn Liberté, Egalité und Fraternité waren in den Augen der allermeisten Opportunisten sowieso nur drei beschissene französische Fremdwörter, die keiner verstand, noch jemals verstehen wollte oder verstehen mochte, genauso wie auch das bis noch vor Kurzem zumindest unter den Söldnern der ersten Reihe übliche „Vive l’Empereur!“
Man verbrannte alle Fahnen und Uniformen, alle französischen Flugblätter, alle Zeitungen, alle Kompendien und aufklärerischen Dictionnaires, die man immer noch in „gewissen“ Studierstuben und „sattsam bekannten“ Bibliotheken auftreiben konnte, also rundweg alle französischen Bücher und Zeitschriften, ja, am besten überhaupt alle französischen Druckerzeugnisse, derer man gefahrlos habhaft werden konnte, und man schmückte hämisch die Halsbänder der scharfen Kettenhunde mit den ehemals behördlich verordneten Broschen in den Farben der der französischen Trikolore.