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Die Englischlehrerin Frau Simonis hat ein Verhältnis mit dem Erzähler in diesem Roman. Es begann, als er noch ihr Schüler war. Weist sie ihn ab, streift er allein durch die Kleinstadt nahe Berlin, in der sie nun arbeitet. So trifft er auf Til, den Nazi, und auf Arben aus dem Kosovo, auf die Schwestern Lore und Mirka und auch auf Anna, die Außenseiterin. Bald drehen sie Pornos im unbewohnten Haus von Tils Großmutter, schließlich stößt Gerhard zu ihnen, denn sie brauchen einen älteren Mann, um ihre Ware besser vermarkten zu können. Und ihre Filmchen verkaufen sich mit wachsendem Erfolg – daher wagen sie sich an immer drastischere Szenen heran… Ralph Hammerthaler beschreibt in "Kurzer Roman über ein Verbrechen" sehr eindringlich, wie Jugendliche in strukturschwachen Regionen ohne Jugendzentren und mangels Zukunftsaussichten immer weiter auf Abwege geraten, obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes wollen.
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Seitenzahl: 150
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Ralph Hammerthaler
Kurzer Roman über ein Verbrechen
Ein Jahr später stand Gerhard vor der Tür. Ich ließ ihn herein und fragte, ob er Tee oder Kaffee wolle, aber er schüttelte nur stumm den Kopf und setzte sich. Er sah schlecht aus, das Gesicht blass und teigig, der Mund schmerzhaft verzogen, eine offene Jeansjacke über demT-Shirt, sein Bauch beträchtlich gewölbt. Sogleich steckte er eine Zigarette an. Noch nie hatte er mich in Berlin besucht, warum also jetzt? Mir schwante nichts Gutes.
Da er immer noch schwieg, erzählte ich ihm von einer Notiz in der Zeitung. Ein Mann, der nicht mehr leben wollte, lief mit seiner Pistole schreiend in der Wohnung herum, bis die Nachbarn läuteten. Die Pistole an die Schläfegedrückt, öffnete er und winkte sie herein.
Gerhard kniff die Augen zusammen, sonst zeigte er keine Reaktion. Er wohnte im Land Brandenburg, in einer Kleinstadt, wo wir uns kennengelernt hatten. Dort hatte er Arbeit und Familie. Wenn einer etwas zu verlieren hatte, dann er. Nach einer Weile sagte er: ich werde zur Polizei gehen.
Ganz so, als hätte ich nichts gehört, langte ich nach einer Tasse und goss Kaffee ein. Ich zog eine Zigarette aus der Schachtel. Dann kam ich wieder auf die Zeitungsmeldung zurück und sagte, dass der Mann auf einen Polizisten schoss, ehe sie ihn überwältigten.
Ein paar Klicks, und du hast das Video, sagte Gerhard. Ist dir das klar? Es gibt Leute, die so was toll finden. Hätte ich nicht für möglich gehalten. Da sind auch andere Videos. Eines hässlicher als das andere.
Vergiss es. Du warst maskiert. Niemand wird dich erkennen.
Gerhard lachte verächtlich.
Durch Zufall war er damals auf uns gestoßen. Schon am nächsten Tag kam er ins Studio, das wir im Keller eines abbruchreifen Hauses eingerichtet hatten, nördlich von Berlin. Bestimmt kein Abenteurer, suchte Gerhard nur ein bisschen Zeitvertreib, noch dazu mit jungen Frauen, er war der Glücklichste von allen. Oft spendierte er ein paar Bier oder Snacks von der Tankstelle. Und er hatte so eine Art, die uns immer zum Lachen brachte, wobei er die miesesten Kalauer nicht scheute. Aber egal, er lockerte die Stimmung auf, mehr brauchten wir nicht. Mit Abstand war Gerhard der Älteste, doppelt so alt wie ich, die übrigen minderjährig, unruhige Teenager.
Nachdem er den dritten Stummel ausgedrückt hatte, stand er auf und wollte gehen. Ich meine es ernst, sagte er, aber er wich meinem Blick aus. Dann zog er die Tür hinter sich zu.
Darauf tat ich lange nichts, nippte am Kaffee, rauchte und dachte nach. Bis gerade hätte ich nicht gedacht, dass Gerhard uns verraten würde. Vielleicht drohte er auch nur damit. Er war ja nicht allein mit dem Geheimnis.
Ein Einzelner würde nicht lange durchhalten. Er würde sich nach jemandem umschauen, dem er sich anvertrauen könnte. Zu schwer lastete das Unausgesprochene auf ihm. Sobald er sich mitteilte, würde ihm leichter, selbst wenn er über kurz oder lang Konsequenzen zu befürchten hätte. Umgekehrt war ein durch Erfahrung geteiltes Geheimnis einigermaßen verlässlich, noch dazu, wenn es um ein kriminelles Geheimnis ging. Alle waren beteiligt, alle wussten davon, und die Angst, es könnte auffliegen, schweißte zusammen. Würde einer den Mund aufmachen, wären alle dran.
Auch uns schweißte die Angst zusammen. Im Übrigen konnte jeder, wenn ihm danach war, den anderen sein Herz ausschütten. Aber kaum je war einem danach. Es vergingen Monate, bevor wir uns wiedersahen, nicht alle, bloß Gerhard, die Jungs und ich. Die Mädchen hatten sich zurückgezogen und mieden den Kontakt. Bei den wenigen Treffen streiften wir das kriminelle Geheimnis höchstens aus Versehen. Insofern machte ich mir keine Sorgen.
Lange dachte ich, eines der beiden Mädchen würde uns hinhängen. Aber sie hielten dicht. Auch Gerhard, redete ich mir ein, wird dichthalten.
Mit sechzehn schlief ich zum ersten Mal mit einer Frau. Alle in der Klasse hatten es längst getan, dachte ich zumindest. Ich galt als Träumer, weg in Gedanken, als bekäme ich nicht das Mindeste mit, aber das täuschte. In jenen Jahren las ich ununterbrochen, gute und schlechte Bücher, alles, alles. Und nicht selten schwang ich dann große Reden darüber. Sie sagten, sie könnten meine Begeisterung nicht von meinem Abscheu unterscheiden, so sehr spielte eins ins andere. Obwohl sie nichts verstanden (oder gerade darum), nannten sie mich Klugscheißer; die Erwachsenen wiederum nannten mich altklug, was auf dasselbe hinauslief. Ich blickte ihnen kalt ins Gesicht.
Von den Mädchen meines Alters zog mich keines an. Sie wirkten wie Abklatsch aus einem Modeheft, Tussis mit billigen Klamotten und zu viel Schminke. Eher hatte ich Mitleid. Selbst das ewige Kichern stimmte mich traurig. Dass ich mich, wenn sie etwas wollten von mir, mit einem Rülpser abkehrte, hatten sie nicht verdient. Ich machte es mir selbst, mehrmals am Tag, und in meinen Fantasien machte ich es mit jeder von ihnen, aber das bedeutete nichts.
In der zehnten Klasse bekamen wir Frau Simonis in Englisch. Elisabeth Simonis, dreißig Jahre, offenes Haar, vollschlank. Sie konnte über alles lachen, über den Stoff, den sie uns beibringen musste, über die Prüfungen, die sie uns schreiben ließ, über uns genauso wie über sich selbst. Sie war total ironisch. Und weil sie so war, wurden wir immer ernster, als legten wir es darauf an, die Schule vor ihrem Spott zu schützen.
Ich hab mich sofort in sie verliebt. Frau Simonis war meine erste Frau. Lange blieb sie die einzige. Aber weil ich wusste, dass sie bei mir nur ein wenig Abwechslung suchte, so wie bei jedem anderen auch, nahm ich mir vor, nicht öfter als nötig an sie zu denken. Nur wenn ich betrunken war, brachte ich es fertig, in Tränen auszubrechen.
Eines Nachmittags, draußen war Sommer, saß ich allein in der Bibliothek und las in einer Biografie über Rommel. Frau Simonis hatte Aufsicht, da die Bibliothekarin nur halbtags arbeitete und deshalb mittags die Schule verließ. Unablässig ging sie in meinem Rücken auf und ab, ich hatte keine Ahnung, warum, aber ich stellte mir vor, sie überprüfte die Signaturen, sie überzeugte sich davon, dass alles seine Ordnung hätte. Dabei deutete nichts darauf hin, dass sie ein Buch herauszog, um es anderswo hineinzustellen. Ich konnte mich nur schwer auf Rommel konzentrieren.
Unversehens blieb sie schräg hinter mir stehen, und dann beugte sie sich langsam herunter, bis sich ihr Haar auf den Tisch senkte. Ich roch den gewaschenen Hals, ich roch das Shampoo, etwas Parfüm war dabei und etwas Schweiß. Mir wurde schwindlig, also machte ich die Augen zu.
Sie sagte: wer die Sonne verschmäht, hat nichts anderes verdient. Und dazu lächelte sie mich an.
Das war alles. Dann ertönte der Gong, und ich stand auf, um das Rommel-Buch wieder ins Regal zu stellen. Sie aber verharrte in der gebückten Haltung mit den Ellbogen auf dem Tisch; der Rock spannte sich um ihren Hintern. Ohne ein Wort sah ich zu, dass ich wegkam.
In den Ferien fuhr ich mit der S-Bahn zum Strandbad. Ich suchte mir ein schattiges Plätzchen, um ein Buch über den Zweiten Weltkrieg zu lesen. Nur einmal ging ich ins Wasser, schwamm eine Zeit lang und stieg wieder hinaus.
Am Abend, als die Krähen einfielen und im Sand pickten, stand sie plötzlich vor mir, Rock und Bikini-Oberteil, eine Badetasche in der Hand.
Gleich werden sie zusperren, sagte sie und ließ sich im Sand nieder. Mädchenhaft saß sie da und lächelte schüchtern.
Ich klappte das Buch zu und legte es weg. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Als sie ihre Haltung änderte, stellte ich fest, dass das Bikini-Höschen nicht zum Oberteil passte. Ich errötete.
Sie sagte: wenn du den Krieg verstanden hast, hm? Was dann?
Ich sagte nichts.
Du kannst mit mir in die Stadt fahren.
Erst im Auto löste sich meine Zunge, und da sie nicht aufhörte zu sticheln, wurde ich frech und fuhr ihr über den Mund. Einmal schlug sie mir auf den Schenkel, ohne die Hand gleich wieder wegzunehmen. Die Fenster waren heruntergekurbelt, sie sagte Rrrrommel! und drückte den Fuß aufs Gas. Auf der Überholspur steckte ich zwei Zigaretten in den Mund, zündete sie an und gab ihr eine davon. Was den Krieg anging, war ich ihr überlegen.
Bei ihr zu Hause nahm sie eine Dusche und führte mich nachher ins Schlafzimmer. Das erste Mal war schnell passiert, weil ich mich nicht kontrollieren konnte; das zweite Mal lief besser. Nach dem dritten Mal fühlte ich mich so gut, dass ich sie verwegen angrinste.
Geh jetzt bitte, sagte sie, es ist spät.
Den ganzen Abend siezte ich sie, und es sollte noch Wochen so weitergehen, bevor ich aufs Du umschwenkte.
Obwohl ich sie in der Elften nicht mehr in Englisch hatte, wurde sie mit der Zeit nervös. Je länger wir zusammen waren, desto weniger ließ sie sich gehen.
Wir müssen vorsichtig sein, ermahnte sie mich.
Wovon ich lange nichts erfuhr, war, dass sie ihre Versetzung beantragt hatte. Im darauffolgenden Schuljahr ging sie nach Brandenburg. Zunächst kam ich mir verschaukelt vor. Aber dann war alles halb so wild. Wenn sie mich sehen wollte, rief sie an, und ich fuhr los. Aber ich wusste, dass sie mich nicht liebte. Und dafür hasste ich sie.
Durch Frau Simonis kam ich in jene Kleinstadt, in der das Verhängnis seinen Lauf nahm. Verhängnis, großes Wort, doch mir fällt kein kleineres ein. Sie war es auch, die mir von Anna erzählte, einer ihrer Schülerinnen. Wäre Anna nicht gewesen, nie hätten wir uns so weit vorgewagt.
Annas Eltern waren arbeitslos. Meistens saßen sie nebeneinander auf dem Sofa und sahen fern, wenigstens der Vater, während die Mutter in einer Zeitschrift blätterte.
Anna behauptete, dass sich mit der Zeit ihre Konturen auf den Polstern abzeichneten, ganz so, als hätten sie jedes Mal dieselbe Stellung eingenommen. Als wären sie jedes Mal wieder in die Mulden gesunken. Aber das hielt ich für übertrieben.
Beide rauchten viel, Aldi-Zigaretten, wobei sie Tee dazu tranken, den ganzen Tag Tee. Alkohol gab es nur am Wochenende, dann aber ausgiebig, sodass sich Anna und ihre ein Jahr ältere Schwester in ihre Zimmer zurückzogen. Wenn sie gerufen wurden, stellten sie sich taub. Später brüllte der Vater, und die Mutter schluchzte eher, als dass sie weinte. Polternd schlug ein Stuhl auf. Anna steckte Kopfhörer in die Ohren.
Das Schlimmste zu Hause war aber ihre Schwester. Eines Tages wird die für alles büßen, sagte Anna.
Die Schwester sah genauso aus wie sie, nur in Brünett. Eifersüchtig wachte die darüber, dass die Jüngere nicht bevorzugt wurde. Sie tat alles, um sich mit den Eltern gut zu stellen und nutzte jede Gelegenheit, Anna anzuschwärzen. Da Anna sich die Vorwürfe nicht gefallen ließ, stritten die Schwestern häufig. Spucken war noch das Wenigste. Sie schlugen aufeinander ein, zogen sich an den Haaren, und hatten sie sich beim Raufen verhakt, kratzten und bissen sie, bis sie nicht mehr konnten.
Kaum je griffen die Eltern ein. Der Vater sagte: gut, dass es blutet. Hass muss ausbluten.
Ich wartete vor der Schule, dass Anna herauskam. Erstaunlich, wie die jungen Dinger aussahen. Ich erkannte sie sofort, weil Frau Simonis sie mir von fern gezeigt hatte. Mein charmantestes Lächeln im Gesicht, ging ich auf sie zu und fragte, ob ich sie in die Eisdiele einladen dürfte.
Bist du Streetworker?
Später hielt sie mir das vor. Dass ich wie ein Spanner vor der Schule gestanden und sie unverschämt angesprochen hätte, obendrein vor den Augen ihrer Mitschülerinnen, die sie deswegen aufzogen.
Sie war drauf und dran, mich abblitzen zu lassen. Bloß weil sie mich mit Frau Simonis, ihrer Englischlehrerin, gesehen hatte, besann sie sich eines Besseren. Zugegeben, sie war auch neugierig.
Ihre Familie musste strikt haushalten. Für Extras war kein Geld vorhanden. Penibel verglichen sie Preise in den Supermärkten. Nicht selten wärmte die Mutter Gerichte auf, die es tags zuvor schon gegeben hatte. Das ewige Knausern nervte Anna und machte sie wütend. Dafür kein Geld und dafür auch nicht. Außer der Jeans, die sie trug, hatte sie nur eine zweite, schlecht sitzende Hose. Ein Kleid, ein paar Röcke. Die Röcke hatte sie geklaut, nicht weil sie ohne Röcke nicht leben könnte, sondern weil es sie hin und wieder überkam.
Der Drang zu klauen, sagte Anna, ist dann unwiderstehlich. Ich hab auch Ohrringe geklaut, für meine Schwester zum Geburtstag. Obwohl ich ihr eigentlich nichts schenken wollte.
Wiederholt kam sie darauf zurück, wie dieser Drang sie ergriff, jäh und fordernd. An vier Tagen konnte sie entspannt durch die Einkaufspassage schlendern, sie konnte die Auslagen in den Schaufenstern betrachten und gelassen weiterziehen. Am fünften Tag aber war es, als riefen die Waren nach ihr, sie wurde aufgeregt und fing an zu schwitzen, und ehe sie nicht ein oder zwei Stücke eingesteckt hatte, beruhigte sie sich nicht.
An dem Tag, als ich mit ihr in die Eisdiele ging, gab es unsere Gruppe schon. Das Studio war eingerichtet, und wir waren ein paarmal zusammengekommen, um Videos zu drehen. Irgendetwas gefiel uns jedoch noch nicht, sodass wir darauf verzichteten, sie online zu stellen. Zwei Frauen, vier Männer, wenngleich ich selbst überwiegend mit der Kamera hantierte. Rasch wurde mir klar, dass uns eine dritte Frau fehlte.
Durch das, was Frau Simonis über Anna erzählte, war ich auf den Gedanken verfallen, dass sie die dritte Frau sein könnte.
Denn als Anna zu einer jungen Frau wurde, verlor sie ihre Freundinnen. Zwei oder drei engere hatte sie gehabt, doch mit einem Mal stellte sie fest, dass sie allein war. Nicht selten bekam sie mit, dass die anderen hinter ihrem Rücken tuschelten. Und wenn sie auf sie zuging, schnitten sie eine Grimasse und drehten sich weg. Gleichzeitig fingen die Jungen an, sie mit obszönen Ausdrücken zu beleidigen. Selbst wenn sie ihren Blicken auswich, ließen sie nicht locker. Es war, als sähen sie sich durch ihre Schönheit provoziert. Bedrückt von einem Gefühl der Einsamkeit, musste sich Anna jeden Morgen überwinden, in die Schule zu gehen. Oder sie schützte Übelkeit und Erbrechen vor und blieb zu Hause.
Beim Treffen in der Eisdiele erzählte ich ihr noch nichts von unserer Gruppe und meinen Plänen. Erst als ich sie ein zweites Mal traf, deutete ich vorsichtig an, worum es ging. Überraschend willigte sie ein, beim nächsten Termin dabei zu sein.
Immer suchen sie ein Opfer, sagte Anna, und leider ist ihre Wahl auf mich gefallen. Sie wollen mich fertigmachen, lach nicht, sie wollen, dass ich krepiere, dass ich aufhöre zu atmen.
Sie zeigte mir ein Foto, das sie einander per E-Mail zuspielten und, versehen mit hämischen Kommentaren, auf Facebook posteten. Niemand wusste mehr so genau, wer es geknipst hatte. Es war ein Porträt von Anna auf dem Schulfest Ende der neunten Klasse. Sie lächelte, eine Hand im Nacken, in die Kamera. Jenes Foto aber, das herumging, war eine Fotomontage. Irgendjemand hatte ihren Oberkörper nackt gemacht, mit großen Brüsten, die ihr Lächeln verrucht aussehen ließen. Kühl betrachtet war die Montage gelungen, sodass Zweifel an der Echtheit der Aufnahme nicht aufkamen. Das war Anna. Dazu also gab sie sich her. Seitdem hielten sie alle für eine Schlampe.
Einmal, als sie im Begriff war, die Toilette zu verlassen, bugsierten drei Typen sie gleich wieder hinein. Sie stießen sie in eine der Kabinen, folgten ihr und schlossen ab. Anna saß auf dem Klodeckel und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Die Typen fingerten ihre Schwänze aus dem Hosenschlitz und begannen zu wichsen. Anna weinte leise. Doch als sie sich aufrichtete und jeden der Typen bei seinem Namen rief, ließen sie von ihr ab. Einer nach dem anderen floh aus der Kabine, worauf Anna die Tür zuschlug. Sie sank auf den Klodeckel und heulte.
Kurz danach setzte sie das Gerücht in die Welt, dass sie schwanger sei.
Ohne Verzug wandten sich ihr viele wieder zu, besonders die Mädchen. Jeden Tag wieder fragten sie Anna, wie es ihr gehe, was sie empfinde. Machte sich das Baby schon bemerkbar? Ein paar von ihnen konnten sich nur schwer beherrschen, ihr die Hand auf den Bauch zu legen. Behutsam versuchten sie, in Erfahrung zu bringen, wer der Vater sei. Aber Anna tat, als hätte sie die Frage überhört, und strahlte übers ganze Gesicht, sodass niemand ihr Glück bezweifelte. Gleichzeitig aber gab es welche, zumal unter den Jungen, die durch die Schwangerschaft bewiesen sahen, dass Anna es mit jedem trieb. Logisch, nun wüsste die Schlampe nicht einmal, wer ihr das Kind gemacht hätte. Insofern war sie auf dem Schulhof weiter den übelsten Verleumdungen ausgesetzt. Das Wort Schlampe war noch das Geringste, was sie zu hören bekam.
Im Briefkasten zu Hause steckten zwei Drohbriefe, anscheinend von Hand eingeworfen, denn sie hatten keine Marken. Der erste Brief enthielt eine Skizze, eine flüchtig gekritzelte Schwangere, die an einem Galgen baumelte; der zweite war eine Art Liebeserklärung, die damit endete, dass wahre Liebe töten könnte: also, nimm dich in Acht!
Von Zeit zu Zeit kam eine Sozialarbeiterin in die Schule, die für mehrere Einrichtungen in Brandenburg zuständig war. Ihr gegenüber verhedderte sich Anna in ihren Geschichten. Als sie endlich verstummte, sagte die Sozialarbeiterin: du bist nicht schwanger. Warum lügst du?
Betreten zog Anna ihre Schultern zusammen und blickte zu Boden. Sie musste versprechen, sich vor der Klasse zu entschuldigen.
Diese Klasse hatte ihr so lange zugesetzt, dass sie die meisten verachtete. Sie verachtete das alberne Penis-Spiel der Mädchen, über das sie sich totlachten. Sobald ihnen im Unterricht langweilig wurde, flüsterte eine das Wort Penis, und es dauerte nicht lange, bis eine zweite das Wort etwas lauter wiederholte, eine dritte achtete darauf, dass Penis gut zu verstehen war, eine vierte und fünfte führten das Spiel mit erhobener Stimme fort, bis eine sechste Penis! durchs Klassenzimmer plärrte. Ebenso verachtete sie das abgeklärte Verhalten der Jungen, die so taten, als hätten sie schon alles erlebt. Im Unterricht bastelten sie einen Joint für den Pausenhof, und wenn der Gong ertönte, sahen sie zu, dass sie nach draußen gelangten. Die Ecke, wo sie kifften, war allen Schülern bekannt. Von der Aufsicht aber wurden sie nie erwischt. Jedes Mal, wenn ein Lehrer das Grüppchen ansteuerte, ließen sie den Joint verschwinden und stritten alles ab.
Tagelang überlegte Anna, wie sie ihrem auf Freitag angesetzten Auftritt entgehen könnte. Sie fürchtete, vor Scham im Boden zu versinken und dadurch vollends ihr Gesicht zu verlieren. Gleichzeitig gestand sie ein, dass sie Unsinn verzapft hatte.