KüstenNetz - Gaby Kaden - E-Book

KüstenNetz E-Book

Gaby Kaden

4,0

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Schnelle Schritte, keuchender Atem. Sekunden später fällt vor den Augen von Thies und Tine ein Mann von der Brücke und baumelt an einem Strick. Es stellt sich heraus, Selbstmord scheidet aus. Wer hat den Mann erhängt? Was hat dieser Fall mit rätselhaften Morden aus dem letzten Jahr zu tun? Sind die drei Ermittler von der Küste – Tomke, Hajo und Carsten – dem richtigen Täter auf der Spur? Aber nicht nur diese Fragen stellen sich. Wer bedroht Tomke auf solch subtile Weise? Immer mehr hat sie das Gefühl, im Netz einer Spinne zu sitzen. Sie bekommt gefährliche Geschenke, entgeht nur knapp einem Brandanschlag und es geht weiter – die Angst bleibt. Die Kommissarin erkennt: Ihr Verfolger kommt immer näher, wann schlägt er endgültig zu? Ach ja … noch etwas … wie kommt das Messer in Oma Jettchens Brust?

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Seitenzahl: 417

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Du entkommst mir nicht!

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2019 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8376-7

Gaby KadenKüstenNetz

Gaby Kaden ist gebürtige Hessin, hat einen Sohn und ist inzwischen stolze Großmutter. 2011 zog es sie mit ihrem Mann an die Nordseeküste, nach Carolinensiel. „Veränderungen sind wichtig“, sagt sie, „bringen mich weiter!“ In der alten Heimat war sie vielseitig tätig, folgte außerdem ihrer Berufung, der spirituellen Arbeit. Sie schrieb Kurzgeschichten und Meditationen und veröffentlichte 2010 ihr erstes Buch „Schluss mit Angst und Panik“. Mit ihren Küstenkrimis „Die Tote im Siel“, „Küstenhaie“, „Küstennächte“, „Küstenrot“, „Küstengötter“ und KüstenSpur hat sie schnell auf sich aufmerksam gemacht, sammelt wahre, dem Volk vom Munde abgeschaute Geschichten, die mit Erfundenem, Humor und „Lokalkolorit“ verschmelzen und hat außerdem zwei Kinderbücher geschrieben. Ihr natürlicher, unbefangener Schreibstil kommt bei den Leserinnen und Lesern gut an. Gaby Kaden ist in ihrer neuen Heimat ehrenamtlich tätig, unterstützt regelmäßig regionale Einrichtungen und bietet außerdem Lesungen, Krimi-Dinner und mehr an.Mehr über Gaby Kaden unter: www.gaby-kaden.de

Ostfriesland!Sonne, Wind und Wellen,Sturm, der „Blanke Hans“.Meeresbrise, weites Land. Danke Ostfriesland!

Vorwort

Ja, ist denn schon wieder …?

Liebe Krimifreunde, liebe Krimifreundinnen!

Tatsächlich, ein Jahr ist vorüber und ihr haltet meinen 7. Fall um Tomke und Co. sowie Oma und Tant’ Fienchen „KÜSTENNETZ“ in den Händen. Geschrieben für euch – wie immer mit Liebe, Herz, Spannung und vor allem Lokalkolorit.

Seit vielen Jahren schenkt ihr mir nun die Treue, ganz herzlichen Dank dafür.

Und mein Dank setzt sich fort – auch in „KÜSTENNETZ“ durfte ich wieder einige Protagonisten mit wirklichem Namen erwähnen:

Ulrike vom Puppen-Café, die dem Täter diesmal gefährlich nah kommt, Inga Mennen vom Anzeiger für Harlingerland.

Ralf Eumann begibt sich in Gefahr, ob er darin umkommt?

Christian aus dem Hafenblick findet Erwähnung, ebenso Ziad von der Pizzeria Palermo in Wittmund.

Weitere Menschen aus Carolinensiel, von der Insel Spiekeroog oder woher auch immer. Ich danke euch dafür.

Danke auch diesmal wieder an: Kerstin für konstruktive und hilfreiche Kritik, an Irina für die „kriminalfachliche“ Beratung.

An das wunderbare Team des CW Niemeyer Verlages, so auch Carsten Riethmüller für das geniale Cover.

Danke an all die vielen Teilnehmer/innen meiner Lesungen – es ist mir immer wieder eine Freude.

Danke an die Buchhandlungen und Geschäfte, in denen meine Bücher angeboten werden.

Danke an Werner, meinen Mann, für die tatkräftige Unterstützung, an meine ganze Familie, danke für „Leah-­Sophie“, die Bereicherung unseres Lebens.

Natürlich ist in diesem Buch wieder alles meiner Fantasie entsprungen und nichts zur Nachahmung empfohlen, obwohl so manchmal …

Das eine oder andere bitte ich wie immer mit einem Augenzwinkern zu verstehen und nicht für bare Münze zu nehmen.

Und an die „Spinnenphobiker“: „Keine Angst, es sieht schlimmer aus, als es ist!“

Und nun? Weitere tolle Projekte mit dem CW Niemeyer Verlag stehen an. Besonders freue ich mich auf die Zusammenarbeit mit meiner Freundin Sabine Stenzel …. lasst euch überraschen!

Tiefschwarze Nacht

Der Himmel hing tiefschwarz über der Nordsee, über dem sanften Flüsschen, das zur Küste führte, und über dem kleinen Küstenort. Zwar war der Museumshafen samt der Plattbodenschiffe wie immer heimelig beleuchtet, aber je weiter sie den Ort entlang der Promenade verließen, umso dunkler wurde die Nacht. Beängstigend dunkel. Thies und Tina wagten den Weg trotzdem. Das junge Paar hielt sich bei den Händen, krallte die Finger ineinander, mehr und mehr, je weiter sie liefen. Bei Vollmond den Strand nicht zu besuchen, war keine Option. Dort hatten sie sich im letzten Sommer kennengelernt und versprochen, bei jedem Vollmond wiederzukommen.

Die Lampen entlang der Promenade schienen auf Sparflamme geschaltet, gaben kaum Licht. Kein einziger Stern war zu sehen, wie vom nachtschwarzen Himmel verschluckt. Nur der große goldene Vollmond lugte ab und an durch das Schwarz.

Es herrschte eine sonderbare, fast beängstigende Atmosphäre auf dem Weg. Kündigte diese Stimmung an, was ihnen gleich widerfahren würde? War sie ein Vorzeichen? Thies und Tina ahnten davon nichts – und das war auch gut so.

Toter Mann

Kurze, flinke Schritte; heftiges, keuchendes Atmen, mehr war nicht zu hören. Die Kapuzen ihrer Shirts tief ins Gesicht gezogen, arbeiteten sie schnell und fast geräuschlos. Jeder Handgriff saß, alles schien perfekt aufeinander abgestimmt. Die Verständigung der beiden wortlosen Gestalten fand nur über die Augen statt. Ein Blick, ein Augenaufschlag, höchstens mal ein kurzes Kopfnicken, kein Wort. Manchmal angestrengtes Stöhnen, aber kein Wort.

Dann war es geschafft. Ein letzter Handgriff noch im gelben Licht des Vollmondes, schon zog sich die Schlinge um den Hals des Mannes, und er fiel stumm über das Brückengeländer. Bruchteile von Sekunden später wurde der Fall mit einem kurzen, knackenden Geräusch gestoppt. Ein Geräusch, welches entstand, wenn das menschliche Genick brach? Oder kam es vom abrupten Stopp des Seiles? Das gleichzeitige „Ratsch“ wurde ganz sicher vom Seil verursacht, an dem der Mann nun baumelte. Es war ein bizarrer Anblick, durch den Fußgängertunnel hindurch den Körper hängen zu sehen, im Hintergrund für kurze Zeit der grelle Lichtschein des Vollmondes, davor der Erhängte.

Dann wurde die Stille der Nacht von einem lang gezogenen Schrei unterbrochen, nicht enden wollend, laut und entsetzt.

Von dem Mann am Seil stammte er nicht, der konnte nicht mehr schreien, hing leblos am Strick. Danach waren auf der Brücke wieder gedämpfte Schritte zu hören. Kein Wort! Nur Schritte!

Kurz darauf wurde mehrmals versucht, einen Wagen zu starten, doch es gelang nicht. Eine Wagentür schlug leise zu, wieder Schritte, eine zweite Tür klappte und nochmals Schritte, die sich dann in der Dunkelheit verloren.

Romantik Interrupts

Thies und Tine waren auf dem Weg zum Strand, wollten bei Vollmond einen romantischen Spaziergang zur Küste unternehmen, um auf dem Rückweg im Hafen auf ein Bier einzukehren. So, wie sie es sich dort im vergangenen Sommer, ihrem ersten Kennenlernen in einer Vollmondnacht, versprochen hatten. Das war der Plan, doch es sollte ganz anders kommen. Jetzt endlich zeigte er sich, dieser romantische Vollmond, wenn auch nur flüchtig. Als sie vorhin den Ort verlassen hatten, war der Mond noch unter einer schwarzen Decke versteckt.

Kurz bevor die beiden den dunklen Fußgängertunnel neben dem kleinen Flüsschen Harle betraten, glaubte Thies auf der Brücke über sich ein Geräusch gehört zu haben, was an sich nichts Besonderes gewesen wäre. Er dachte gar nicht daran, nachzuschauen. Fußgänger wie Autofahrer passierten immer mal wieder diese Stelle. Doch dann, sie hatten noch nicht einmal die Mitte des Tunnels erreicht, war von oben ein kurzes Stöhnen zu vernehmen. Auch Tine hörte es, griff fest nach der Hand ihres Freundes. Es war stockfinster an diesem Ort, nur da, wo der Tunnel endete, erhellte der Lichtschein des goldenen Vollmondes die Gegend und schluckte die dustere Straßenbeleuchtung. Tine hielt mit ihrer Hand noch immer eisern die ihres Freundes umklammert. Diese Passage durch den schmalen Fußgängertunnel fand sie bei Nacht schon immer unheimlich, doch jetzt bei Vollmond … Gut, dass Thies an ihrer Seite war. Gespannt lauschten er und Tine, doch nun war es wieder still um sie herum. Dann aber geschah etwas, was sich vor ein paar Minuten auf ihrem Weg bereits angekündigt hatte; Unglaubliches, das den beiden tief durch Mark und Bein fuhr. Am Ende des Tunnels, genau vor ihren Augen, fiel etwas von oben. Vor ihnen baumelte plötzlich ein Mensch. Das Geräusch, welches dabei entstanden war, hörte sich an, als sei ein Ast gebrochen. Doch es war anders, ganz anders. Entsetzt stellten sie fest, hier schwang ein Körper im Mondlicht hin und her. Direkt vor ihren Augen.

Tines Aufschrei war bis weit hinaus an die Küste zu hören – und, wie Thies vermutete –, auch in die andere Richtung, nämlich zurück in den Museumshafen. Die Röhre des Tunnels verstärkte den Schrei, ließ ihn noch unheimlicher daherkommen. Tines Stimme überschlug sich: „Thiiies! Neeeiiin! Was …?“, schlug sie die Hände vors Gesicht, um dann wieder gellend zu schreien.

Obwohl auch Thies fast zu Tode erschrocken war, trotz des Entsetzens, das den jungen Mann erfasst hatte, versuchte er seine Freundin zu besänftigen. Er zog sie zu sich heran und schüttelte sie. „Hör auf, Tine, hör auf, sei still!“

Aber Tine konnte sich nicht beruhigen, sie zitterte am ganzen Körper. Thies gab ihr eine schallende Ohrfeige. „Es ist gut, es ist gut, hör auf“, brüllte er sie an. Doch der junge Mann wusste, nichts ist gut. Hier, vor ihren Augen, war gerade etwas Schreckliches passiert, und es würde nie wieder gut sein. Und noch etwas wusste er: Der Abend war gelaufen!

Tine war einfach nicht zur Ruhe zu bringen, mit weit aufgerissenen Augen riss sie sich los und lief schreiend davon. Thies wusste nicht, sollte er ihr nach – schließlich war es mitten in der Nacht, und Tine in Panik – oder sich um das, was direkt vor ihnen passiert war, kümmern? Die Frage erübrigte sich schnell, denn die junge Frau war in der dunklen Nacht verschwunden. Die wenigen Lampen entlang der Harle waren zu duster, um zu sehen, wohin. Auch der Vollmond half da nicht. Das, was vor ihm von der Brücke der Friedrichsschleuse am Ende des Fußgängertunnels hing, konnte er jedoch im Licht des Mondes sehr gut erkennen. Zweifelsfrei! An einem Seil hing ein Mensch. Schwang hin und her, bis er sich endlich nicht mehr bewegte. Nun traute Thies sich vorsichtig näher heran. Ob Mann oder Frau, konnte er nicht erkennen, er musste sich noch ein paar Schritte näher an den Körper heranwagen.

Vorsichtig zog er sein Smartphone hervor und schaltete die Taschenlampe ein. Der helle Lichtschein ließ ihn erkennen, dass die Gestalt vor ihm ein Mann war. Ein toter Mann. Der angestrahlte Körper versetzte dem jungen Mann den nächsten Schock. Im grellen Licht der Lampe zeigte sich ihm ein fahles Gesicht mit weit aufgerissenen, toten Augen. Der Kopf hing etwas nach links geneigt, um den Hals sah er einen Strick, der sich weiter nach oben fortsetzte. Thies ging vorsichtig um den Mann herum und leuchtete am Strick entlang nach oben. Das Ende war am Brückengeländer über ihm befestigt. Dann zuckte Thies erneut zusammen. Auf der Straße versuchte jemand, einen Motor zu starten. Dumpfes Motorengeräusch war zu hören, das auch gleich wieder erstarb. Ein Diesel, vermutete er. Leise machte Thies ein paar Schritte in den Tunnel zurück. Wer war da oben? Wieder wurde versucht, das Fahrzeug zu starten. Mehrmals jaulte der Motor auf und verstummte ein weiteres Mal. Sollte über ihm etwa derjenige sein, der diesen Mann hier …? Wer sonst?

Thies zog sich weiter in den dunklen Tunnel zurück, schaltete die Taschenlampe aus und wählte die 110.

Mit dem Rücken gegen die Tunnelwand gelehnt, wartete er, was nun geschehen würde. Kam Tine zurück? Sollte er sie doch suchen? Aber wo? Kam die Polizei, bevor die Täter ihn hier unten ausfindig machen würden? Hatte man ihn etwa schon entdeckt? Thies lauschte in die Nacht. Schritte waren nun zu vernehmen. Schritte, die leiser wurden und verschwanden. Thies atmete auf.

Langweilige Recherche

Tomke und ihre Ermittlerkollegen erlebten gerade schwierige Monate. Da sie in ihrem Einzugsgebiet in und um Wittmund, des Weiteren in einem großen Teil der ostfriesischen Küste wie auch den dazugehörigen Inseln, für so gut wie alles zuständig waren, landeten bei ihnen auch quasi alle Straftaten, die von den uniformierten Kollegen und den Sachabteilungen nicht alleine bearbeitet werden konnten. Für Tomke waren es stets profane Geschichten wie zum Beispiel Einbrüche, die sie unendlich langweilten. Bis jedoch über Silvester in ihr Haus in Harlesiel eingebrochen worden war. Ihr Heiligtum, das Erbe ihres Großvaters, das Haus, das sie noch immer renovierten, um dann irgendwann einmal dort zu leben. Direkt vorne an der Küste. Und nun das. Die Ermittlerin konnte jetzt nachempfinden, wie es anderen Betroffenen ging, die sich dadurch in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr wohlfühlten. Das alte Kapitänshaus war zwar noch nicht fertig, dementsprechend auch noch nicht eingerichtet, zu stehlen gab es dort also nichts. Aber in einem der beiden Klappbetten, die sie und Hajo dort aufgestellt hatten, um nach anstrengenden Renovierungsstunden nicht mehr zurück nach Wittmund zu müssen, hatte doch wahrhaftig jemand geschlafen. Alleine der Gedanke daran ließ sie erschaudern und verursachte ihr ein Ekelgefühl. Auch, so stellten sie fest, den alten Herd in der Küche hatte der Einbrecher noch obendrein eingeheizt. All das musste in der Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel geschehen sein, als sie intensiv mit zwei Morden beschäftigt gewesen waren und keine Zeit für das Häuschen in Harlesiel hatten. Im Übrigen war es in dieser Zeit auch schietig kalt gewesen.

Diese Unverfrorenheit des Eindringlings ließ selbst Tomke verstummen. Außerdem hing an diesem alten Küchenherd eine ganz besondere Erinnerung. Dort hatten sie ihren toten Großvater damals gefunden, und das zu einer Zeit, als sie noch gar nicht wusste, dass der alte Hermi Holzschuh ihr wirklicher Großvater war. Tot im Schaukelstuhl vor dem bollernden Herd. „Opa Holzschuh!“, seufzte sie. Aber das war eine andere Geschichte.

„Sicher ein betrunkener Tourist, der auf dem Rückweg vom Silvesterfeuerwerk im Museumshafen den Weg nicht mehr gefunden hat“, versuchte Oma Jettchen ihre Enkelin damals abzulenken. „Ich putze euch da mal durch, beziehe die Betten neu und all’ gut!“, hatte sie noch gemeint.

Aber Tomke nahm es nicht so leicht.

„Ach ja?“, fauchte sie. „Und weil er so gefroren hat, der arme Betrunkene, hat er den Ofen angemacht! Sich vielleicht sogar in den Schaukelstuhl von Opa Holzschuh gelegt? So ein Quatsch.“

Tomke war kaum zu beruhigen gewesen. Andererseits war da Hajo, der ihr immer wieder klarzumachen versuchte, dass es zu viel der Mühe sei, nach dem Einbrecher zu suchen. „Schließlich ist nicht wirklich etwas passiert, Tomke!“, beschwichtigte er damals seine Lebensgefährtin und Kollegin.

Als dann weitere Einbrüche gemeldet wurden, diesmal in mehreren, nicht belegten Ferienwohnungen in Carolinensiel und auch Harlesiel, meinte Oma nur: „Kiek!“

Es dauerte eine ganze Weile, bis Tomke und Hajo mit den Renovierungsarbeiten fortfahren und das Ganze zur Seite schieben konnten.

Bis auf diesen eigenen Fall versuchte Tomke alles, was nicht direkt in die Mordkommission gehörte, an ihre beiden Kollegen abzuschieben. Hajo Mertens und Carsten Schmied waren dementsprechend begeistert. Aber es half nichts. Tomke war die Chefin. Sie meinte, sie müsse sich vorrangig um die Dinge kümmern, die in den letzten Monaten passiert und noch immer nicht aufgeklärt worden waren.

Am meisten beschäftigte sie der Fall Stolle aus dem Herbst des vergangenen Jahres.

Henry Stolle war gebürtiger Ostfriese, der aber schon seit Jahrzehnten in den USA lebte. Er hatte nach ihrer Auffassung zwei Menschen getötet, war in die Wittmunder Peldemühle eingebrochen und, wie sie glaubte, auch in das Haus daneben. Warum, war nicht nachzuvollziehen. Später hatte er auf dem Flugplatz in Harlesiel ein Kleinflugzeug gestohlen, mit dem er über der Nordsee nahe Spiekeroog abgestürzt war. Das Flugzeug hatten sie im Watt gefunden, auch Gegenstände, die dem Mann gehörten, aber von Stolle war nichts zu entdecken gewesen.

Gerdes, ihr Chef, hatte die Ermittlungen um den alten Fall zwar schon vor einiger Zeit für abgeschlossen erklärt, aber Tomke wollte es nicht wahrhaben.

Sie wussten am Ende fast alles. Wer der Mann war, auch warum er hier so unbarmherzig gemordet hatte. Wussten, dass er das Flugzeug gestohlen und damit östlich der Insel Spiekeroog ins Meer gestürzt war. Tomke war sich sicher, dass er selbst seine Schwester getötet hatte. Aber warum, das war nicht zu klären – bisher. Und wo Henry Stolle nach dem Absturz abgeblieben war, konnten sie ebenfalls nicht recherchieren.

„Die Nordsee hat ihn sich geholt!“, behauptete Gerdes vehement. „Akzeptieren Sie doch endlich, dass der Mann tot ist, Tomke!“, hatte er sie bei ihrem letzten Telefongespräch angefahren. Ein wenig verstand sie ihn ja. Der Fall Stolle war Gerdes’ letzter Fall, so glaubten sie zumindest, bevor er sich demnächst in den Ruhestand verabschieden wollte, und der sollte nun mal nicht unaufgeklärt in den Akten landen.

Aber konnte sie darauf Rücksicht nehmen? Nein, nicht Tomke!

Seit Ende Oktober waren sie nun zugange, und Tomke recherchierte immer wieder in der alten Sache, ließ sich von Gerdes nicht abhalten. Inzwischen war es Ende März. So vieles, was sie bis zu dem Flugzeugabsturz noch nicht wussten, hatte sich geklärt. Nur nicht, ob Stolle wirklich bei dem Absturz ums Leben gekommen war. Tomke musste sichergehen. Den Vorgang einfach zur Seite zu legen, kam für sie nicht infrage. Unaufgeklärte Fälle akzeptierte die Ermittlerin nicht.

Informationen ihres alten Kollegen Claude, der schon seit Jahren in den Staaten lebte und dort bei einer ihr nicht bekannten, sehr geheimen amerikanischen Behörde beschäftigt war, hatten so manches in ihr ausgelöst.

„Es würde mich nicht wundern, wenn die Katze auch diesmal wieder auf den Füßen gelandet ist“, hatte Claude sie gewarnt. Und bei einem weiteren Gespräch, kurz darauf, gemeint: „Wenn Pussy den Absturz überlebt hat, kommt er davon, glaube mir. Pass auf dich auf! Ein Typ seiner Sorte kapituliert nicht und wird sich an jedem rächen, der sich ihm in den Weg stellt. Diese Armee-G.I.s sind darauf programmiert, die können nicht anders. Für mich ist Stolle eine wandelnde Zeitbombe.“

Tomke allerdings tat die Warnung in ihrer unnachahmlichen Art ab.

„Quatsch, wenn der davongekommen ist, dann bleibt er doch nicht hier, das wäre dumm!“, hatte sie Claudes Mahnung zur Seite geschoben und zu ihren Kollegen gemeint: „Wenn er überlebt hat, ist er schon wieder in Amerika und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Dort ist er sicher, dort hat er Schutz von seiner Behörde.“

Das war ihre nach außen getragene Meinung. Ganz tief in ihrem Inneren jedoch spürte sie doch immer wieder einen Restzweifel. Das Kribbeln, das sie während der Ermittlungen regelmäßig gefühlt hatte, ließ die Kommissarin auch jetzt nicht los. Ferner wussten sie inzwischen, dass Stolle ein sehr infames Spiel, ja fast ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen getrieben hatte.

Und auch Carsten und Hajo ließ der Fall keine Ruhe, wenn auch anders als bei Tomke. Sie nahmen Claudes Hinweise ernst, glaubten, dass Tomke in Gefahr war falls der Mann noch lebte. Diese ließ das aber nicht gelten.

Der Kleinkram, wie sie es nannten, der inzwischen auf ihren Tischen lagerte, brachte zwar Ablenkung, aber ganz konnten auch die beiden diesen Fall nicht vergessen.

Tomke war frustriert, denn da gab es auch noch die zwei männlichen Leichen, die sie und ihre beiden Kollegen an einem Adventswochenende im schwimmenden Weihnachtsbaum in der Harle gefunden hatten. Eigentlich nicht wirklich dort oben, denn als sie den ersten Toten damals gefunden hatten, war er gerade aus dem riesigen schwimmenden Weihnachtsbaum in die Harle geklatscht. Die Ermittlungen hierzu gestalteten sich ebenso schwierig wie der Fall Stolle, und sie waren auch in dieser Angelegenheit keinen Millimeter weitergekommen. Eigenartig, ohne relevante Hinweise für die Ermittler, und Tomke fragte sich manchmal, ob Stolle etwas damit zu tun haben konnte.

Das war natürlich Quatsch. Stolle war, wie Tomke vermutete, über alle Berge.

Nachdem sie den Mann aus dem Baum identifiziert hatten, konnten sie feststellen, dass er niemals mit Stolle oder seinem Umfeld in Verbindung stand. Auch nicht mit Carolinensiel oder, wie dieser Henry Stolle, der Wittmunder Peldemühle, leider. Vielleicht hätte das die Sache etwas vereinfacht. Wimmer, wie der Tote hieß, kam aus dem „Alten Land“ und hatte viele Feinde. Es gab etliche Menschen, die er mit Spekulationsgeschäften um ihr Erspartes gebracht hatte, aber einen Bezug zu seinem Fundort in Carolinensiel gab es nicht. Die einzige Besonderheit bestand darin, dass dem Mann ein Finger abgetrennt worden war, aber selbst das half ihnen nicht weiter. Selbst wo man ihn getötet hatte, konnten die Ermittler bisher nicht herausfinden. Es war wie verhext. Gab es ihn etwa wirklich, den perfekten Mord? Zwar hatten Kriminaltechnik und Rechtsmedizin weibliche DNA sichern können, aber sie hegten große Zweifel, ob eine Frau diesen Mann getötet, ihm einen Finger abgetrennt und ihn dann oben in der riesigen Tanne befestigt haben könnte. Viel wahrscheinlicher waren alte Anhaftungen, die mit dem Mord in keinem Zusammenhang standen. Tomke raufte sich die Haare. Sie kannten den Namen des Toten, hatten sein Umfeld durchleuchtet, aber nichts rein gar nichts, war da zum Vorschein gekommen, was sie weitergebracht hätte.

Und dann geschah das Unglaubliche. Als Anfang des neuen Jahres der schwimmende Weihnachtsbaum abgebaut wurde, fand man doch tatsächlich eine weitere männliche Leiche zwischen den Ästen. Sicher festgestellt wurde damals nur, dass der Mann nachträglich dort aufgehängt worden war, denn die Spurensicherung hatte im Baum und zwischen den Ästen zuvor jeden Millimeter abgesucht.

Dass diese beiden Fälle miteinander zu tun haben könnten, war sehr wahrscheinlich, aber bis heute nicht bewiesen. Einzig wussten die Ermittler, dass die beiden Männer aus der gleichen Branche kamen und beide in Spekulationsgeschäfte verwickelt waren. Tomke war davon überzeugt, dass sich da jemand gerächt hatte, den die Männer um sein Erspartes gebracht hatten. Beweisen konnten sie jedoch nichts. Sie suchten zwar nach Unter­lagen, suchten nach Geschädigten, aber alles an Papieren in den jeweiligen Büros der beiden war verschwunden, die Aktenschränke leer. Entweder die Täter hatten dort Spuren vernichtet, oder aber es gab noch eine dritte Person, die Beweismittel von Betrügereien und schmutzigen Geschäften entsorgt hatte.

Es war zum Haareraufen.

Kopfschüttelnd ließ die Ermittlerin die Geschichte immer wieder Revue passieren. Offene Fälle machten sie rasend. Sie schob die Akten zur Seite. Okay, die Baumleichen waren Carstens Sache, damit befasste er sich. Sie wollte ihm da nicht in die Quere kommen. Ihre Gedanken schweiften wieder zu Henry Stolle.

Hajo erledigte den Papierkram einer Massenschlägerei im Nachbarort, kümmerte sich um diverse Einbrüche, um einen blutigen Familienstreit und darum, dass der Mann, der in der Kreisstadt in den letzten Wochen immer wieder Gegenstände aus dem Fenster seiner Wohnung auf die Straße geworfen hatte, endlich seine Anklage bekam. Er nahm damit seinen Kollegen das Tagesgeschäft ab. Solange es gegenwärtig keinen neuen Fall gab, konnten sie Altes aufarbeiten.

Als das Telefon klingelte, hob Tomke als Einzige den Kopf, ihre Kollegen waren in ihre Arbeit vertieft.

Sie schaute hinüber zu Carsten und Hajo. Keiner rührte sich. Mit einem genervten Stöhnen nahm sie das Gespräch an. Es war Harry, der heute am Empfang saß und auch die Telefonzentrale bediente.

„Was gibt’s?“, wollte sie wissen.

„Hier wird gerade ein Paket für dich abgegeben. Soll ich das annehmen?“

„Kostet es was?“, war Tomkes launische Antwort.

„Nein, das nicht, aber … Na, so was, jetzt ist er weg.“

„Wer?“

„Der Bote! Hatte es ganz schön eilig.“

„Na dann, wenn’s nichts kostet, her damit. Von wem ist es denn?“

„Steht nix drauf, und ich musste noch nicht mal unterschreiben.“

„Bring’s rauf, oder nein. Ich komme. Muss mich mal bewegen.“

Tomke beendete das Gespräch und stand auf.

„Ich bin grad mal …!“, sie brach ab. Carsten und Hajo reagierten nicht, also verließ sie das Büro.

Carsten forschte weiter intensiv nach dem Hintergrund des Mordes an den Männern aus dem Weihnachtsbaum. Er hatte schon den ersten Fall zu seinem Fall erklärt, schließlich war er es, der den Sturz des Toten aus dem schwimmenden Weihnachtsbaum in die Harle beobachtet hatte. Ach, was war das damals für ein Aufsehen gewesen, als Tant’ Fienchen einen Finger im Prüllker (Ostfriesisches Hefegebäck mit Rosinen) fand und gleichzeitig die Leiche im Wasser aufschlug. Marie, Carstens Tochter, bestand bis heute darauf, schon vorher gewusst zu haben, dass da mit dem Baum etwas nicht stimmte. Dann kam Anfang des neuen Jahres der zweite Tote dazu und machte die ganze Geschichte noch skurriler.

Carsten konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie war es ja auch lustig gewesen. Klar, für die beiden Toten nicht, rief er sich schnell zur Räson.

Als Tomke schimpfend zurück in das Büro kam, fragte Hajo:

„Wo warst du?“

„Mich verarschen lassen.“

„Hä?“ Nun blickte auch Carsten auf.

„Unten wurde ein leeres Paket für mich abgegeben. Das heißt, es war nur mit zerknülltem Papier gefüllt.“

„Absender?“, wollte Carsten wissen.

Tomke schüttelte den Kopf.

„Nun, einer hat sich doch gefreut, nämlich Harry vom Empfang, der sammelt bekanntermaßen im Magazin leere Kartons, wofür auch immer.“

Die Ermittlerin klappte mit einem Seufzer ihren Laptop zu, massierte sich mit der linken Hand den Nacken und rief: „Also, ich weiß ja nicht, was ihr beiden noch vorhabt, aber ich würde jetzt gerne Feierabend machen. Es ist zwar gerade erst nach 15 Uhr, aber Freitag, und ich will heim. Unsere Überstundenkonten freuen sich, wenn sie etwas abgebaut werden. Was meint ihr?“ Und Richtung Hajo rief sie: „Schatz, was gibt es denn heute noch zu essen?“

„Luft und Liebe, und sag nicht immer Schatz zu mir!“, ging Hajo auf das bekannte Wortspiel ein.

„Okay! Dusche, Massage, Sex! In dieser Reihenfolge?“

„Und dann die Pizza danach?“, grinste Hajo. „Aber ich brauche noch eine Stunde“, er zeigte auf einen Aktenberg vor sich. „Danach bin ich zu allen Schandtaten bereit.“

Carsten, der sich mit gespieltem Entsetzen die Ohren zugehalten hatte, stand nun lachend auf.

„Okay, ihr dürft noch ein wenig am Schreibtisch schwitzen, aber ich bin dann mal weg. Nicht, dass ihr hier im Büro schon übereinander herfallt. Will ja nicht im Wege stehen, und zuschauen schon gar nicht.“

„Blödmann!“, kam es nun von Tomke.

„Das ist doch eigentlich das Lieblingsschimpfwort für deinen Schatz, Tomke. Womit hab’ ich das verdient?“

„Verschwinde, Blödmann! Feiere wenigstens du endlich deine Überstunden ab.“ Tomke hob belustigt einen Locher an und tat, als wolle sie werfen, meinte dann aber: „Grüß Michaela und deine Rabauken.“

„Mach ich und denkt daran, ich bin morgen nicht da. Marie und ich fahren nachher noch nach Oldenburg. Heute Abend ist dort ihr Lesewettbewerb und sie will unbedingt, dass wir anschließend in einem Hotel übernachten. Vater-Tochter-Wochenende, das hat sie sich ausdrücklich gewünscht, wenn sie diese Ausscheidung in Oldenburg erreicht.“

„Viel Erfolg für Marie und viel Spaß euch beiden.“ Tomke winkte ihm zu.

Carsten warf ihr eine Kusshand, seinem Kollegen ein Nicken zu und verließ pfeifend das Büro.

Für den Feierabend war es tatsächlich noch zu früh, so beugten sich die beiden Kommissare nochmals über ihre Akten. Tomke war das mehr als lästig, brummte ständig etwas vor sich hin. Irgendwann wurde es Hajo zu viel.

„Jetzt ist es aber gut, Chefin. Wenn du nicht zu Einsätzen auf die Straße kannst, bist du unausstehlich. Dann machen wir jetzt Schluss, ich kann es nicht mehr hören.“

Tomke hatte schnell ihre Tasche gepackt und sich die Steppjacke übergeworfen.

An der Zentrale wurde sie vom diensthabenden Kollegen Harry aufgehalten. „Danke für den Karton, der hat genau die richtige Größe.“

„Wofür?“, wollte Tomke wissen.

„Geschenke für die Enkelkinder, die in ganz Deutschland verteilt sind!“, stöhnte er.

„Wirklich Pizza aus dem Froster?“, maulte Tomke auf dem Weg zum Auto. Hajo zog die Schultern hoch. „Hast du eine andere Idee?“

„Ja, denn gegen ,Italienisch‘ hab ich nix, aber lass uns doch ins Palermo zu Ziad gehen.“

„Wie du meinst, Schatz. Keine Frosterpizza, keine Pizza to go, sondern gemütlich essen gehen, jow, das gefällt mir auch besser.“

Vor dem Haus pfiff ihnen ein strenger Wind entgegen. Es war bitterlich kalt. Tomke zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, trotzdem spürte sie den eisigen Wind durch und durch. Ein Frühjahrssturm war im Anmarsch, manchmal ließ er den Mond durch die Wolkendecke blinzeln. Außerdem umfing sie auch wieder das fröstelnde Gefühl, das hin und wieder ihren Nacken hochkroch und erst ganz oben auf der Schädeldecke endete. Kurz hielt sie inne und schaute sich um, dann lief sie hinter Hajo her zum Wagen.

Die beiden Ermittler kannten sich aus in der gemütlichen Pizzeria. Wenn möglich, bekamen sie immer den gleichen Tisch. Sie änderten ihren ursprünglichen Plan, bestellten sich doch keine Pizza, sondern zwei leckere Nudelgerichte und gemeinsam einen großen italienischen Salat. Der Wirt hatte sie mit einem Marsala begrüßt, kredenzte ihnen zwischendurch noch einen zweiten, und der schwere Rotwein, den sie sich ausgesucht hatten, tat das Seine. Eine Flasche Mineralwasser stand auch auf dem Tisch. Sie waren inzwischen total entspannt, die Arbeit in weite Ferne gerückt. Endlich! Der Wirt kam immer wieder zu den beiden an den Tisch, machte seine Witze, unterhielt sich mit ihnen. Tomke und Hajo waren dort gern gesehene Gäste.

Es war ein ausgelassener Abend. Zwischendurch hatte sich noch eine alte Schulfreundin Tomkes kurz zu ihnen gesellt und Hajo stellte fest, dass es schon nach einundzwanzig Uhr war, als sie um die Rechnung baten.

Ziad, der Wirt, kam mit einem Tablett in der Hand und breitem Grinsen im Gesicht an den Tisch und reichte sie ihnen. Zwei weitere Gläser mit Marsala hatte er auch dabei. Nun lächelte er geheimnisvoll. „Noch ein Likör!“ Tomke stöhnte leise auf. Danach würden sie wohl das Auto stehen lassen müssen. „Was ist los, Ziad? Was gibt es zu grinsen?“, wollte Hajo wissen. Der Gefragte deutete auf eine Serviette, unter der etwas versteckt schien.

„Ich soll euch liebe Grüße von einem guten Freund ausrichten“, flüsterte Ziad noch geheimnisvoller. „Er wollte euch Turteltäubchen nicht stören und hat ein Geschenk hinterlassen.“

„Ein Freund?“ Hajo schaute durch den Raum.

„Nein, ist schon wieder weg, der gute Mann.“

„Hat er seinen Namen gesagt?“, Tomke konnte sich nicht vorstellen, wer gemeint war.

„Nein, hat er nicht!“, erklärte Ziad weiter, „aber er hat etwas für euch dagelassen und gesagt, dann wüsstet ihr schon und würdet euch sicher ärgern, ihn nicht persönlich getroffen zu haben. Aber leider müsse er weg.“

Grinsend zog er die Serviette vom Tablett und zeigte auf das, was darunter verborgen war.

Tomke und Hajo schauten sich verwundert an. Es handelte sich um ein kleines Stoffsäckchen, in dem wohl etwas steckte. Tomke hatte keine Ahnung, was das war, und vor allem, von wem? Stirnrunzelnd öffnete sie das Geschenk, kippte den Inhalt auf das Tablett und sah Hajo entsetzt an. Was sollte das? Doch dann reagierte die Ermittlerin blitzschnell. Sie griff nach dem glänzenden Gegenstand auf dem Tablett, warf ihn mit einem Lachen hoch und fing ihn wieder auf.

„Klar, das war sicher Bernd, ein alter Kollege. Warum ist er denn nicht an unseren Tisch gekommen? Na, dem werde ich etwas erzählen!“

Hajo verstand. Er zahlte schnell die Rechnung und beide verließen das Restaurant. Den Likör tranken sie nicht mehr. Ihnen war der Appetit vergangen.

Vor dem Haus lehnte sich Tomke an die Hauswand und atmete schwer. Vorsichtig öffnete sie ihre Hand und zeigte Hajo die Patrone.

„Bernd? Dein Kollege aus der Zeit in NRW? Nein!“, murmelte Hajo kopfschüttelnd.

„Nein!“, meinte auch Tomke. „Das war er! Stolle!“, flüsterte sie bestürzt. „Er ist noch da. Claude hat recht, er will sich rächen.“ Entsetzt schaute sie sich um. Die Straße war menschenleer, niemand zu sehen, aber das bekannte Gefühl, das Tomke ab und an beschlich, wieder da. Gänsehaut pur!

Hajo nahm sie in den Arm, drückte ihren Kopf gegen seine Brust, versuchte sie zu beruhigen. „Stolle? Wie kommst du darauf. Das ist sehr weit hergeholt.“

„Hajo, wer sonst?“

„Kann sein, muss aber nicht. Dieses Geschenk kann uns jeder gemacht haben. Selbst irgendein Kollege, der uns …“

„Quatsch, das glaubst du doch wohl nicht.“

„Du meinst wirklich, dieser Stolle …?“

„Wer sonst? Ich sage dir, Stolle lebt! Kennst du jemanden, der …?“

„Nein, du hast ja recht.“ Wieder streichelte er ihr über den Kopf. Doch Tomke ließ es nicht noch einmal geschehen, sie schob seine Hand weg. Gepackt von einer erbärmlichen Wut riss sie sich von Hajo los und schrie durch die menschenleere Fußgängerzone des kleinen Städtchens: „Komm her, du Arsch! Zeige dich! Wen willst du noch umbringen? Mich? Das schaffst du nicht!“

Ihre Stimme prallte von den Häusern ab und kam zurück. Es hörte sich gespenstisch an. Hajo beschwichtigte sie mit den Worten: „Hör auf, lass uns von hier verschwinden, das bringt doch nichts, Schatz!“

Das regte Tomke noch mehr auf. „Verschwinden? Verstecken? Von wegen! Und sag verdammt noch mal nicht Schatz zu mir!“

Hajo musste trotz des Schocks grinsen. Tomke wieder.

Die fühlte sich in diesem Moment wieder stocknüchtern. Dennoch ließen sie ihren Wagen auf dem Parkplatz des Restaurants stehen und liefen das kurze Stück nach Hause. Rotwein und Marsala waren zum Fahren zu viel, das wollten die beiden nicht riskieren. Außerdem war es für Tomke die Möglichkeit, sich abzureagieren.

„Scheiße!“, murmelte Hajo, ausgerechnet heute hätte er sich im Auto sicherer gefühlt. Sie hätten auch einen Streifenwagen bestellen können, um einen gefahrloseren Heimweg zu garantieren, aber das lehnte Tomke kategorisch ab. Sie lief neben Hajo im Sturmschritt durch die Stadt, schimpfte noch eine Weile vor sich hin, um nach ein paar Minuten wieder die alte Tomke zu sein. Ganz konzentriert, professionell, so wie Hajo sie kannte.

„Wir müssen die Kollegen informieren!“, befand Hajo.

„Welche Kollegen, bitte schön? Uns? Wir sind doch schon da!“

Der Sarkasmus, den Tomke an den Tag legte, war nicht zu überhören. Und sie hatte ja recht. Es war ihr Fall, wen außer Carsten sollten sie informieren? Doch der war mit Marie bis morgen in Oldenburg. Die Kollegen der KTU würden an der Patrone und dem Stoffsäckchen bestimmt nichts finden und die Beschreibung des Mannes, die der Wirt ihnen zum Schluss noch gegeben hatte, war so, dass sie zu jedem Mann im Kapuzenshirt passen konnte. Außerdem würden sie die nicht brauchen. Schließlich war es im Grunde klar, wer sie beschenkt hatte. Stolle! Wenn die Drohung mit der Patrone wirklich von Stolle kam, überlegte Tomke, könnte es ja sein, dass die Patrone zu denen passte, die man bei Janke Jansen und Stolles Schwester gefunden hatte. Nun, das würde die KTU sicher herausfinden.

„Lass uns drüber schlafen, Hajo“, unterbrach Tomke ihre Gedanken, „und morgen die Sache angehen. Ach nein, vorher informiere ich schnell noch Inga, damit sie das Bild von Stolle nochmals im Anzeiger einsetzt, sie hat es von der Suche im letzten Jahr sicher noch vorliegen. Zeitlich müsste das noch passen“, hoffte sie mit Blick auf ihre Uhr. „Redaktionsschluss ist erst in einer Stunde.“

Tomke zückte ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Freundin Inga, die Redakteurin der örtlichen Tageszeitung war.

Sie hatte das Gespräch gerade beendet, als sie zu Hause ankamen. Auf dem Heimweg ging der Blick der beiden Ermittler immer wieder zurück, fühlten sie sich doch nicht wohl in ihrer Haut, und Tomke spürte nun nicht mehr dieses Kribbeln im Nacken, sondern eher eine kalte Hand, die nach ihr griff. Leise gestand sie:

„Eigentlich will ich jetzt nur noch ein Bier und dann ins Bett gehen. Schlafen, schlafen, schlafen. Vergessen, wenn das überhaupt möglich ist. Der Appetit auf Sex ist mir vergangen.“

Doch es kam alles ganz anders.

*

Tomke schob die Eingangstür fest ins Schloss und drehte den Schlüssel zweimal um. Auf dem Weg nach oben hauchte sie Hajo einen Kuss auf die Stirn. „Holst du uns zwei Bier aus dem Keller, Liebster? Danach können wir vielleicht besser schlafen“, bat sie. Der machte mit einem Seufzer auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung Keller. Tomke nahm mit schnellen Schritten die letzten Stufen nach oben bis zu ihrer Wohnungstür. Mit dem Schlüssel in der Hand hielt sie jedoch inne. Am Knauf der Wohnungstür baumelte eine Plastiktüte. Einer der Nachbarn hatte ihnen wohl etwas an die Tür gehängt, aber wer und was? Tomke nahm sie verwundert ab, schaute sich um und öffnete sie. Beim Blick hinein entfuhr ihr ein gurgelnder Laut und danach ein erstickter Schrei.

Hajo, der gerade im Keller angekommen war, hörte, kurz bevor er die Kellertür erreichte, Tomkes Schrei und dann ihren Ruf: „Hajo! Hajo, komm schnell!“

Was war denn nun los? Sollte er nicht Bier holen?

Licht am Ende des Tunnels

Wie lange war es jetzt her, dass er den Notruf gewählt hatte? Wieder und wieder schaute Thies auf die Uhr seines Handys. Minuten wurden zu Stunden. Rundherum herrschte nun Stille. Totenstille! War es tatsächlich der Mörder oder nur ein Zufall, dass genau über ihm Motorengeräusche zu hören gewesen waren? Nach ein paar weiteren Versuchen hatte die Person es jedenfalls aufgegeben. Thies hatte alles gehört. Das leise Klacken der Autotür wie auch die leichten Schritte, die sich dann entfernten. War es eine Person oder mehrere? Gesprochen wurde zwar nicht, nur ein paar unverständliche Laute glaubte er gehört zu haben, ein Murmeln, mehr nicht. Keine Worte, keine Stimmen. Dann klappte eine zweite Wagentür dumpf zu.

Das ist kein Pkw!, wusste Thies sofort, das muss ein größerer Wagen sein. Transporter oder so.

Aber nachschauen wollte er nicht. Wie festgewurzelt stand er an die kalte Wand des Tunnels gelehnt. Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Sie stand, oder verging die Zeit wirklich so langsam? Seinem Gefühl nach wartete er nun schon eine Ewigkeit. In Wirklichkeit waren seit seinem Anruf allerdings erst vier Minuten vergangen. Wo Tine wohl war?

Über ihm war es still. Totenstille. Doch dann … Thies lauschte. Konnte er nicht doch Schritte vernehmen und einen Lichtschein sehen? Ganz am Ende des Tunnels? Kam da jemand die Stufen des Deichs herunter? Direkt auf ihn zu? Oder täuschte er sich? Seine Gedanken überschlugen sich, dann wurde es zur Gewissheit. Er hörte eine Stimme. Weinerlich, ja wehleidig und jammernd:

„Bist du da? Hilf mir bitte, ich kann nicht, Thiiies!“ Der junge Mann lauschte in die Nacht. Hatte er seinen Namen gehört? Dann war nur noch unverständliches Gemurmel zu hören – und plötzlich noch eine weitere Stimme.

Tine? Klar, das war Tine! War sie da draußen? Was passierte mit ihr? Vorsichtig machte er ein paar Schritte auf das Tunnelende zu.

„Tine“, rief er leise. „Bist du das?“ Nun war aber nichts mehr zu hören. Thies ging vorsichtig weiter, schob sich an der Leiche vorbei.

Inzwischen hatten sich seine Augen so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er viel mehr sehen konnte.

Angespannt schaute er um die Ecke und erkannte im Licht des Mondes Tine, ganz klar Tine. Sie saß, nein, sie lag fast auf einer der Treppenstufen, den Oberkörper zur Seite geneigt, eine kräftige Gestalt beugte sich über sie.

„Nein!“, schrie er auf, „Tine“, und sprang mit langen Schritten den Deich hinauf. Die Leiche am Strick und alle Angst waren vergessen.

Ein neuer Fall

Hajo kam aufgeregt die Treppe hochgesprungen.

„Was ist denn los?“, wollte er wissen. Noch während Tomke ihm den Fund von der Wohnungstür entgegenstreckte, klingelte ihr Handy.

Schnell schloss sie die Tür auf, schlüpfte hindurch und zog Hajo hinter sich her. Der griff in die Plastiktüte, zog das kleine Säckchen hervor, kippte entsetzt dessen Inhalt in seine Handfläche, kreidebleich und wortlos. Eigentlich hätte er es gar nicht öffnen müssen, nach dem was kurz zuvor in der Pizzeria geschehen war.

Tomke nahm das Gespräch an, die Augen fest auf das gerichtet, was Hajo in der Handfläche hielt. Das übliche „Tomke hier, was gibt’s!“ kam heute deutlich leiser als sonst und mit gebrochener Stimme.

Natürlich hatte sie die Nummer auf dem Display erkannt, räusperte sich und wollte nochmals mit rauer Stimme wissen: „Was ist denn los um diese Zeit?“ Der Kollege fragte erstaunt: „Was ist bei dir los? Hast du etwa schon geschlafen? Wach schnell auf, ihr habt ’ne Leiche in Carolinensiel, nix mit Schlafen! Raus in die kalte Nacht!“ Tomke räusperte sich erneut und fragte dann wie in Trance: „Was, wo, wer?“

„Wie ich schon sagte. Leiche in Carolinensiel, hängt von der Brücke bei der Friedrichsschleuse. Einsatzfahrzeuge habe ich schon losgeschickt. Spusi und Rechtsmedizin benachrichtigt der Kollege gerade, Nummer drei habe ich bisher noch nicht erreicht. Also, raus aus den Federn, rein in die Galoschen.“

„Halt doch einfach die Klappe!“, konnte sich Tomke nicht verkneifen und drückte das Gespräch weg.

Nummer drei, damit meinte er wohl Carsten. Scheiße, heute kam aber auch alles zusammen. Na ja, schlafen konnte sie jetzt sowieso nicht.

Die Ermittlerin steckte ihr Handy weg, drückte den Rücken durch und wandte sich zu Hajo um. Der stand noch immer mit dem Inhalt des Säckchens in der Hand da und betrachtete den Gegenstand.

„Er war hier!“, flüsterte er. „Hier bei uns an der Wohnung. Das darf doch nicht …“

Tomke nahm ihm den Fund ab, steckte ihn zurück in den Stoffsack. Dann zog sie zwei Tüten zur Sicherung von Beweismitteln aus ihrer Jackentasche und packte beide Säckchen, auch das aus der Pizzeria, hinein. „Das hätte ich schon vorhin tun müssen“, wusste sie und legte kurz die Stirn in Falten. Dann schob sie die Tüten in ihre Jackentasche zurück. Tomke wandte sich zu Hajo.

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen nach Carolinensiel, dort hängt ’ne Leiche von der Brücke.“

„Was?“

„Ja, genau!“

„Wo?“

„Beim Fußgängertunnel an der Friedrichsschleuse.“

„Und wie sollen wir dort hinkommen? Wir haben getrunken, und das Auto steht bei der Pizzeria.“

„Der Dienstwagen steht dort, Hajo, unser Auto auf dem Parkplatz vorm Haus, also komm.“

„Aber …“

„Nix aber. Ich rufe keinen Streifenwagen und bis Clinsiel laufen will ich auch nicht. Was ich getrunken habe, ist mir schietegal. Den Weg raus schaffe ich auch mit zwei Glas Rotwein und zwei Marsala. Außerdem bin ich nach diesem Schock total nüchtern. Wir können ja später bei Oma und Tant’ Fienchen nächtigen, damit wir uns den Rückweg sparen. Ich ruf von unterwegs an, und jetzt komm!“

„Und das hier?“ Hajo zeigte auf Tomkes Jackentasche, in der sich die Geschenke befanden. „Die beiden Geschenke? Darum kümmern wir uns morgen.“ Tomke schien wieder ganz die Alte.

Die Ermittlerin hatte beschlossen, die Sache nicht zu sehr an sich heranzulassen. Auch wenn es sie selbst und natürlich auch Hajo betraf, musste die Angelegenheit mit höchster Professionalität angegangen werden. Morgen würden sie gemeinsam mit Carsten beschließen, wie weiter zu verfahren war. Ja, genau so würden sie es machen.

Sie griff sich den Schlüssel ihres privaten Pkw vom Haken, warf sich einen Kaugummi in den Mund und erklärte Carsten: „Ich fahre. Meine Entscheidung, mein Risiko. Los jetzt!“

Die Fahrt hinaus nach Carolinensiel verlief schweigend. Die beiden Ermittler waren tief in ihre Gedanken versunken. Keiner der beiden schien in der Lage, etwas zu sagen. Beim Einsteigen in den Wagen hatte Tomke gebeten, dass Hajo doch bitte bei Oma und Tant’ Fienchen anrufen solle, um sie beide für die Nacht anzumelden. „Wenn wir das nicht tun, schlafen sie schon, bis wir in Clinsiel fertig sind“, hatte sie noch gemeint. Hajo tat wie ihm geheißen.

Oma versprach, das Zimmer vorzubereiten, sie und Fienchen allerdings lägen dann sicher schon im Bett. „Macht nix, wir haben ja einen Schlüssel. Schlaft schön, wir sind auch ganz leise!“, beendete Hajo das Gespräch. Omas Frage: „Habt ihr denn auch etwas gegessen?“, hörte er nicht mehr.

Danach herrschte wieder Funkstille im Wagen, bis sie am Ort des Geschehens ankamen.

Die Gegend um die Friedrichsschleuse war schon hell erleuchtet, der Tatort für die beiden Ermittler schnell zu finden. Tomke fuhr über einen schmalen Fußweg, vorbei an einem weißen Kastenwagen, der auf dem kleinen Parkplatz direkt neben der Brücke parkte, und stellte ihr Fahrzeug beim Bestattungsinstitut Albrecht ab. Wie passend, stellte sie fest.

Ein Stück abseits stand ein Rettungswagen, in dem reges Treiben herrschte. Den Gedanken daran, dass sie vielleicht umsonst gerufen worden waren, schob sie gleich wieder zur Seite. „Leiche hängt an der Brücke!“, hatte der Kollege von der Zentrale gesagt.

„Vielleicht“, überlegte Tomke, „ist ja irgendeine arme Sau Zigaretten holen gegangen, hat sich nicht mehr zurückgetraut und den Strick genommen, weil zu Hause die Olle … Schluss damit, Frau Kommissarin!“, rief sie sich zur Ordnung.

Tomke parkte hinter einem Streifenwagen und öffnete müde die Tür. Im Licht der Innenraumbeleuchtung konnte Hajo erkennen, dass sie nicht so tough und abgebrüht war, wie sie gerne tat. Wie auch, das Ganze nahm inzwischen gefährliche Ausmaße an. Jetzt allerdings mussten sie sich um den neuen Fall kümmern.

„Eine Leiche hängt an der Brücke?“, überlegte auch Hajo. Waren das wirklich Tomkes Worte?

Als sie über die Stufen des Deiches hinunterliefen, hatte man den Toten schon auf den Boden gelegt. Allerdings zeigte der Strick um den Hals des Mannes, dass er wohl tatsächlich aufgehängt worden war. „Irre!“, entfuhr es Hajo, was ihm einen strafenden Blick von Tomke einbrachte.

„Was denn?“, konterte er.

Hajo Manninga, der Chef der Rechtsmedizin, war schon vor Ort, kniete auf dem Boden, tief über die Leiche gebeugt. Die beiden Ermittler schoben sich an der Absperrung, die von den Kollegen aufgebaut worden war, und zwei uniformierten Polizisten vorbei auf den Rechtsmediziner zu. Der untersuchte gerade den Hals des Toten, war dabei, den Strick zu lösen, als sein Blick auf zwei Paar Schuhspitzen fiel.

„Ach, das Liebespaar der Wittmunder Kripo ist auch schon da. Ausgeschlafen?“ Tomke reagierte auf die Anspielung nicht und wollte wissen: „Wie kommt es eigentlich, dass du schon da bist? Und warum habt ihr den Toten schon abgeschnitten, wir hätten uns gerne ein Bild von der Situation gemacht.“ Ohne aufzublicken, antwortete Manninga: „Ich bin eben ein flinkes Kerlchen und habe eine schnelle Truppe. Während ihr noch ein Nümmerchen geschoben habt, war ich schon unterwegs. Bevor wir ihn auf den Boden gelegt haben, wurden natürlich ausreichend Bilder gemacht.“ Er deutete auf einen Fotoapparat.

„Na dann, und übrigens, nur kein Neid!“, hielt Tomke dagegen und fügte leise murmelnd hinzu: „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du langsam zum Arschloch mutierst?“

„Das habe ich gehört!“, kam es von unten.

„Auch gut, dann weißt du es jetzt! So kommt deine Ina nie zurück.“ Tomke wandte sich ab. Solche Sprüche hatten ihr gerade noch gefehlt. Ausgerechnet heute. Manninga wurde immer verschrobener.

„Hättest du nicht deinen Kollegen Rikus schicken können?“, setzte sie nach. „Dann wäre der Abend trotz Leiche, Kälte und anderen Widrigkeiten wesentlich erträglicher!“

Manninga merkte wohl, dass er zu weit gegangen war, und stand stöhnend auf. „Scheiß Knochen!“, grummelte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Is’ aber nicht meine Schuld!“, konnte sich Tomke nicht verkneifen.

„Jetzt gebt endlich Ruhe!“, schaltete sich Hajo ein, und zu Manninga gewandt erklärte er:

„Solche Sprüche kannst du dir gerne verkneifen. Beim nächsten Mal landest du in der Harle, ehe du dich versiehst.“

„Was haben wir?“, wollte Tomke nun wissen und brachte das Thema wieder auf den Fall.

„Leiche, männlich. Tod durch Strangulieren, auf den ersten Blick jedenfalls. Kann auch ein Genickbruch gewesen sein. Habe den Hals noch nicht endgültig untersucht. Auch muss ich ihm tiefer in die Augen schauen, um zu sehen, ob der Mann durch Strangulation gestorben ist. Das weiß ich erst, wenn ich ihn auf dem Tisch habe. Genaueres kann ich euch erst …“

„… nach der Obduktion sagen, ich weiß.“

Manningas Spitze „Was fragst du dann?“ brachte ihm erneut einen bösen Blick von Tomke ein.

„Kannst du etwas zu den Strangulationsmerkmalen sagen?“

„Na ja, Seil um den Hals eben, zugezogen, tot. Oder was meinst du?“

„War es Mord oder Selbstmord? Aus welcher Höhe wurde oder hat sich der Mann erhängt? War er bereits tot, oder ist er durch den Fall ins Seil getötet worden? Ist er gesprungen und, und, und.“

„Was ausscheidet, ist, dass der Mann tot, mit dem Seil um den Hals, von der Brücke gesprungen ist. Das wäre unlogisch. Einen umgekippten Stuhl, wie das in Filmen bei Erhängen dargestellt wird, sehe ich auch nicht. Also, wie gehabt, alles andere, oder das meiste davon, kann ich dir erst …“

„… nach der Obduktion sagen“, beendete Tomke erneut Manningas Satz. „Auch, ob er schon tot war, als er hier aufgehängt wurde?“

„Könnte sein, aber wie gesagt, das klärt sich auf meinem Tisch. Du weißt: Hätte, könnte, wenn und aber gibt es bei mir nicht, warte es ab. In der Regel werden dir, wenn man dich erhängen will, die Hände gefesselt. Auf dem Rücken oder auch vorn. Irgendwelche Verletzungen wie Schläge, die ihn bewusstlos gemacht hätten oder Ähnliches, kann ich auf den ersten Blick auch nicht sehen. All das haben wir hier nicht. Kann heißen, dass der Mann schon tot oder eben betäubt war, was ich im Moment nicht erkennen kann. Noch nicht! Ich schau mal nach weiteren äußeren Merkmalen, Einstichstellen oder so. Falls man ihn durch Medikamente narkotisiert hat, sehe ich das erst später. Zufrieden mit der ersten Auskunft?“

Das Wortgeplänkel zwischen Tomke und Manninga ging noch etwas weiter, Hajo drehte sich genervt ab.

„Ist wohl ein Sensibelchen, unser Hajo Nummer zwo!“, frotzelte Manninga. Er konnte es einfach nicht lassen. Tomke drohte ihm mit erhobenem Finger.

Hajo Mertens ging auf einen uniformierten Kollegen zu. „Wer hat den Mann denn gefunden? Gibt es Zeugen?“, wollte er vom Kollegen wissen. Der deutete wortlos nach oben zum Rettungswagen.

„Ohnmächtig geworden? Kollabiert? Oder was?“ Hajo schaute den Mann fragend an. Der zog die Schultern hoch und meinte: „Nein, der nicht, aber seine Freundin ist wohl verletzt, und ein anderer Typ auch. Die Sanis sind da oben schwer beschäftigt. Hat wohl Zoff gegeben zwischen den dreien. Kollege Dirk ist dabei und passt auf.“

„Na, das schau ich mir mal an.“ Hajo umging die Treppe und versuchte den Deich hochzulaufen, was sich aber als Fehler erwies. Das Gras war nass, mit seinen glatten Ledersohlen rutschte er immer wieder aus, sodass er schlussendlich auf allen vieren und fluchend den Deich nach oben kletterte.

Im und um den Rettungswagen ging es lebhaft zu. Erst als sich Hajo bemerkbar machte, ließ die aufgeregte Stimmung etwas nach.

„Darf ich erfahren, was hier los ist?“, fragte er in die Runde.

Ein Mann mit Platzwunde an der Stirn und beginnendem Veilchen am rechten Auge saß auf der Behandlungsliege und wurde gerade verarztet. Eine junge Frau mit bandagiertem linkem Knöchel kauerte heulend auf dem Trittbrett des Rettungswagens. Direkt daneben regte sich ein junger Mann lautstark auf.

„Hallo!“, wurde Hajo nun auch laut, „was ist hier los?“ Er zeigte seinen Dienstausweis.

Zu dem jungen uniformierten Kollegen Dirk gewandt, meinte er dann: „Kannst du mir etwas sagen?“

Dirk lenkte seinen Blick auf den jungen Mann und berichtete im Stenografiestil:

„Der hat die Leiche gefunden!“ Dann nickte er zu der Frau hin: „Die war dabei, ist aber schreiend weggelaufen und hat sich den Knöchel verletzt.“ Mit Blick auf den Mann mit der Platzwunde erklärte er: „Der wollte ihr helfen und ist dafür von ihm“, er zeigte nun wieder auf den ersten, „verprügelt worden!“

Hajo schaute den uniformierten Kollegen ungläubig an. Was sollte er denn mit diesem Bericht anfangen? Der und der mit ihr und ihm? Trotzdem musste er grinsen. „Okay, wir haben alle mal angefangen, aber nun aufs Neue in ordentlichen Sätzen. Wer hat wen und warum verprügelt.“

So erfuhr der Ermittler dann, dass Thies Rammler – Hajo hatte sich den Ausweis des Mannes zeigen lassen, der hieß tatsächlich so – gemeinsam mit seiner Freundin Tine Snijder die Leiche gefunden hatte. Sie sei schreiend davongelaufen, allerdings in die falsche Richtung. Auf dem Weg zurück habe sie sich dann den Knöchel verletzt, als sie an einer dunklen Stelle des Fußweges stolperte. Der Mann mit der Platzwunde – sein Name war Ralf Eumann – wollte der jungen Frau eigentlich nur helfen, was von ihrem Freund falsch verstanden worden sei.