KüstenSumpf - Gaby Kaden - E-Book

KüstenSumpf E-Book

Gaby Kaden

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Und dann herrschte Ruhe, einfach nur Ruhe! Ein morastiger Tümpel in Ostfriesland, vier vermisste Frauen. Wurden sie etwa dort im „Schwiegermutterloch“ mitten im Wald versenkt? Die Angst geht um … Als dann auch noch Kommissarin Evers‘ Sekretärin tot im Keller des Präsidiums gefunden wird, kommt der Verdacht auf, dass der Anschlag möglicherweise ihr selbst galt. Die Ermittlungen von Tomke Evers und Team laufen auf Hochtouren. Auch privat läuft es bei der Kommissarin nicht rund. Da machen Oma und Tant‘ Fienchen ihr das Leben schwer. Erst haben sie am helllichten Tage zu viel „Schluck“, dann fackelt ihre Küche ab.

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Seitenzahl: 428

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„Ich hasse diese Frau!Ich werde sie vernichten!“

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9763-4

Gaby KadenKüstenSumpf

Vorab – wie immer – Danke!

Danke, an alle meine Leserinnen und Leser, an alle meine Fans, danke, dass ihr mir über viele Jahre und Bücher treu seid.

Danke an:

Werner, meinen Mann und schärfsten Kritiker.

Inka und Joachim Fritz, fürs „Schwäbische“.

Danke, dass ich die DLRG und Hendrik Schultz erwähnen durfte.

Danke Michael Frenz, fürs „Probelesen sowie die Kritik und Ansichten eines Fans“.

Kerstin Kaiser (Pabst), wie immer fürs Probelesen, Korrigieren und konstruktive Kritik!

Und ganz wichtig sind:

Irina Faust, die Frau vom Fach, die mir sagt: „Gaby, das passiert nur im Fernsehen, wir, die echte Polizei, machen das anders!“

Sowie:

Walter Quante, der Mann vom Fach, für „kriminaltechnische Unterstützung“.

Doch einen Satz noch an alle „Leute vom Fach“:

Verzeiht mir bitte, dass ich ab und an doch etwas übernommen habe, das nicht zur tatsächlichen Polizeiarbeit passt.

Küstensumpf ist ein Roman und kein Sachbuch.

Aber – wie heißt es so schön? Ich habe mich bemüht!

Danke immer wieder an das tolle Team vom CW Niemeyer Verlag.

Danke an die Grafikabteilung für das gelungene Cover.

Und nu geiht dat los! Viel Spaß und Spannung wünsche ich!

Prolog

Mordgedanken!

„Hör auf, hör endlich damit auf. Die Sache ist gelaufen und nicht zu ändern. Bei diesem, deinem ganz persönlichen Rachefeldzug mache ich nicht mit. Du gefährdest dadurch alles. Und du kannst es nicht ändern, du kannst nichts ändern. Du bist raus. Am Ende landest du im Knast.“

Er lachte laut auf und setzte höhnisch nach: „Du im Gefängnis – das kannst du nicht wollen. Obwohl, so mancher würde sich freuen, dir dort zu begegnen.“ Leise setzte er nach: „Na ja, dann wärst du unter deinesgleichen.“

Hatte sie den letzten Satz gehört? Wohl nicht, denn sie reagierte nicht darauf, sondern antwortete:

„Ich kann nicht anders, sie hat mir genommen, was mir wichtig war. Meine Position, meine Beziehungen. Alles! Ich habe verloren, und ich will nicht verlieren. Niemals. Ich werde sie vernichten.“ Die letzten Worte sprach sie in einer Stimmlage, die ihn erschaudern ließ. Mit zusammengekniffenen Augen hakte er nach.

„Was dir wichtig war? Nicht uns? Betrifft es mich etwa nicht? Habe ich nicht auch Schaden genommen? Und die Firma?“

Doch sie reagierte mit einer wegwerfenden Handbewegung auf seinen Einwand und fuhr fort:

„Es ist nicht nur das. Es ist, nein, es war mein Leben, ich hatte viel vor, hatte Pläne, und es waren gute Pläne. Ich hatte sie im Griff, habe alles organisiert und gut vorbereitet. Hätte Dinge in unserem Sinne lenken können. Und nun? Ich hasse diese Frau, und ich werde sie vernichten! Vertraue mir. Es wird ganz subtil geschehen, und keiner wird auf mich kommen. Vertraue mir“, wiederholte sie verbissen, „ich weiß, was ich zu tun habe. Ich weiß schon wie, und ich weiß, wer mir dabei helfen wird.“ Ein kaltes, klirrendes Lachen kam aus ihrer Kehle.

„Ich, ich, ich! Kennst du etwas anderes als dein ICH?“

Sie nahm es nicht wahr, sprach einfach weiter:

„Ich weiß, wer mir dabei helfen wird!“, wiederholte sie mit eisiger Stimme und schaute ihn an.

„Ich nicht, auf keinen Fall! Für mich ist die Sache erledigt. Ich schaue nach vorn. Andere Projekte stehen an. Den Verlust habe ich weggesteckt. Das solltest du auch tun. Und noch mal, du gefährdest unser Geschäft mit deinem Hass. Du bist ja nicht bei Sinnen. Privat haben wir schon nicht mehr viel Gemeinsames, das stört mich nicht. Aber wenn du so weitermachst, muss ich mich auch geschäftlich von dir trennen. Also, reiß dich zusammen.“

„Du ziehst den Schwanz ein. Das ist mir klar, du Feigling.“ Es war, als spuckte sie diese Worte aus. „Aber ich weiß, wer nicht feige ist. Und falls du mich erpressen willst, denke daran, das kann ganz böse für dich enden. Auch wenn ich offiziell raus bin, ich habe noch immer meine Verbindungen.“ Ein böses Grinsen wanderte über ihr perfekt gestyltes Gesicht.

Dann schwiegen sie wieder, standen an der großen Fensterfront ihres Büros, den Blick starr über die Stadt gerichtet. Beide hingen tief ihren Gedanken nach. Emden lag zu ihren Füßen, so wunderschön, aber sie bemerkten es nicht.

„Ich kann nicht anders“, wiederholte sie dann leise und voller Hass. Nach einer Weile des Schweigens griff sie nach ihrem Telefon und ging zur Tür.

Er sah ihr nach und überlegte, wen sie zurzeit wohl in ihr Bett holte und sich hörig machte.

„Aus meinem bist du raus, und das ist gut so“, flüsterte er und atmete tief durch. Er war ihr lange genug verfallen gewesen. Nun musste er nur noch überlegen, wie er sie auch aus dem Geschäft rausbekommen könnte.

Mit einem flüchtigen Blick zur Seite kontrollierte sie, ob sie unbeobachtet war, und tippte eine Nummer ein. Als das Freizeichen zu hören war, verließ sie den Raum.

„Na endlich“, sprach sie dann leise in das Gerät. „Wo bist du? Wir müssen reden.“ Eine Weile hörte sie zu, was ihr Gegenüber antwortete, lächelte erfreut, dann unterbrach sie ihn.

„Nein, jetzt nicht. Aber heute Abend sehen wir uns. Ich komme zu dir.“ Wieder lauschte sie und antwortete: „Auch! Aber vor allem haben wir etwas zu besprechen. Ich brauche dich, und nicht nur im Bett. Bis dann.“

Stunden später lag sie in den Armen des sehr viel jüngeren Mannes. Sie hatte den Kopf auf der linken Hand aufgestützt und strich ihm mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand sanft über die Brust.

„Ich habe da eine große Bitte, mein kleiner Held.“

Er hob den Kopf etwas an und raunte: „Alles, was du willst, meine Schöne.“ Es freute ihn, wenn seine Lehrmeisterin in Sachen Sex ihn forderte. Aber ihre Bitte hatte einen anderen Hintergrund.

Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, griff dann zur Seite nach ihrer Handtasche und zog einen kleinen Zettel heraus.

„Hier ist die Adresse, dort wirst du dein Praktikum absolvieren. Ich sorge dafür, dass du genau dort eingesetzt wirst, glaube mir. Ich habe noch immer gute Beziehungen, und die wollen wir doch nutzen.“

„Warum willst du, dass ich genau dort …?“

„Du wirst dort etwas für mich erledigen, das mir sehr wichtig ist. Was, musst du jetzt noch nicht wissen, das erzähle ich dir später, mein kleiner Held“, unterbrach sie ihn. „Später. Und dann wird mein kleiner Held zu meinem ganz großen Helden. Aber jetzt …“

Erneut fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen über die Brust und drängte sich nah an ihn heran. „Wir haben noch eine Stunde, die sollten wir nicht mit Reden vergeuden.“

Eine Weile später lag sie sehr entspannt neben ihm, schaute zur Decke und freute sich über ihren Plan. Ja, es war ein guter, ein raffinierter Plan. Und niemand würde auf sie kommen. Er würde ihre Rache übernehmen, er würde ihren Plan vollenden. Er würde ausführen, was ihr inzwischen unmöglich war.

Sie hatte den jungen Mann, der nun rauchend neben ihr lag, bei einem Vortrag, den sie als Dozentin gehalten hatte, kennengelernt. An seinem Blick bemerkte sie damals sofort, wie es um ihn stand und dass er ein williges Werkzeug in ihren Händen sein würde. Ein junges und formbares Männlein, das sich inzwischen zu einem wirklichen Mann entwickelt hatte. Sie war stolz auf sich.

Ein weiterer Gedanke suchte sich in ihr seinen Weg. Wie lange würde sie sich noch junge Männer ins Bett holen können? Wie lange wäre ihr Körper noch attraktiv genug? Schnell schob sie den Gedanken zur Seite.

Er war ein guter Junge und ihr bisher vollkommen hörig. Noch war er Wachs in ihren Händen. Sie wusste, er würde ihr Werk vollenden und für sie Rache nehmen. Eigentlich ärgerlich, dass sie es nicht selbst tun konnte, aber es war einfach zu gefährlich. Zu viel hing daran. Danach müsste sie allerdings sehen, wie sie ihn loswerden könnte, was eigentlich schade, aber unumgänglich war. Irgendwann, so war sie sich sicher, würde er bestimmt reden. Reden oder sie am Ende erpressen, das durfte nicht geschehen. Allerdings hatte sie ihn, wenn er ihr Werk vollbracht hatte, auch in der Hand. Also, was sollte schon passieren.

Nun, darüber konnte man ja noch mal nachdenken. Sie dachte auch darüber nach, wie sie sich wohl fühlte, wenn ihre Rachepläne endlich in die Tat umgesetzt wären. Endlich, endlich, endlich! Vorher, das wusste sie, hätte sie keine Ruhe. Aber es würde noch eine Weile dauern, bis er genau dort zum Einsatz kam, wo sie es geplant hatte. Die Mühlen der Bürokratie in der Behörde mahlten eben überall langsam. Auch in den Behörden der Justiz.

Doch es ging schneller als gedacht.

Herzklopfen

Alles geschah innerhalb kürzester Zeit:

Michaela stand entsetzt vor dem geöffneten Kühlschrank. Ihr Schrei hallte durch das ganze Haus. In der linken Hand hielt sie eine kleine Plastikdose, in der rechten den dazugehörenden Deckel. Angewidert und mit einem entsetzten Stöhnen ließ sie beides fallen. Ein Schauer lief über ihren Körper, kroch langsam von den Fußzehen über den Rücken, den Nacken bis zu den Haarwurzeln und krallte sich dort fest. Sie hatte das Gefühl, als stünden ihr die Haare zu Berge. Vor ihr auf dem Küchenboden lag nun etwas Glibberig-Blutiges, aus dem zwei weißgraue, dünne Röhren herausschauten. Michaela starrte entsetzt und schockstarr auf den Boden vor sich.

Renate Bohrmann, die eben die Post in den Briefkasten direkt neben Michaelas Küchenfenster werfen wollte, hörte den Schrei und fuhr erschrocken zusammen. Neugierig drückte sie ihre Nase gegen die Scheibe des Küchenfensters und versuchte zu erkennen, was da in der Küche der Familie Schmied wohl passiert sein konnte. Sie sah Michaela inmitten der Küche stehen, doch wirklich zu erkennen war da weiter nichts.

Felix, Michaelas kleiner Sohn, kam aus seinem Zimmer im oberen Stockwerk gelaufen und stapfte die Treppe herunter. Er rief: „Mama? Was passiert? Hast du was taputt demacht?“

Selbst nach nebenan, durch die dünne Wand des Doppelhauses zu Oma Jettchen und Tant’ Fienchen, war Michaelas Schrei gedrungen und ließ die beiden alten Ostfriesinnen entsetzt zusammenfahren.

„Das war Michaela, da ist was passiert. Komm, schnell!“, forderte Jettchen Evers ihre Schwester auf.

Auch Fienchen, die, um Batterien zu sparen, ihr Hörgerät nur selten, aber heute eben doch eingeschaltet hatte, schreckte auf. Die beiden schossen von ihren Stühlen hoch – so schnell wie das zwei über Neunzigjährige eben konnten, aber doch so heftig, dass die Teetassen auf dem Tisch klirrten. Die beiden stürzten los, den Oberkörper voran, schneller, als es ihre morschen Knochen eigentlich zuließen. Fienchen war zuerst an der Haustüre, riss sie auf, griff sich den hölzernen Gehstock vom Garderobenhaken und lief los. Jettchen, ihre Schwester, tat es ihr nach und schubste von hinten.

„Mach schon, los, schnell! Geh weg, zur Seite!“ Sie drängte sich an ihrer Schwester vorbei und lief nun vorneweg.

Es war ein skurriles Bild. Zwei über neunzigjährige Frauen, leicht gebeugt, kurz davor vornüberzukippen, jeweils mit einem Gehstock in der linken Hand, liefen in Trippelschritten durch den Garten, immer an der Wand lang, um das Doppelhaus herum, nach nebenan. Beide nahmen abwechselnd Gehstock und Hauswand zur Hilfe, um sich abzustützen.(Macht das mal nach: Trippelschritte, Gehstock, Hauswand. Trippelschritte, Gehstock … Das ist nicht einfach.)

Jettchen vorneweg, Fienchen hinterher. Und obwohl die ihrer Schwester kaum folgen konnte, hob sie immer wieder den Gehstock, um diese anzutreiben. Forderte: „Nun lauf schon, nun lauf schon!“ Keuchend, aufgeregt und völlig außer Puste, kamen die beiden auf der anderen Seite des Doppelhauses an und prallten fast gegen die Postbotin.

Sie ließen sich kaum Zeit, um zu verpusten.

„Was machst du denn hier?“, fuhr Jettchen die Frau außer Atem an, schob die Postbotin grob zur Seite und drückte ihre Nase ebenfalls an das Küchenfenster. Sie rief:

„Michaela, Michaela! Was ist passiert?“ Auch Fienchen traf nun ein, schob ihre Schwester ein Stück weiter, die nochmals die Postbotin anrempelte. Und so standen drei Frauen vor dem Fenster und drückten sich ihre Nasen platt.

Michaela bekam davon in der Küche nichts mit, sondern stammelte: „Carsten …, Marie …, was um Gottes willen ist das? Caaarsten!“

Doch nach ihm rief sie umsonst. Carsten Schmied, ihr Mann, befand sich auf der Dienststelle im Kommissariat. Sie war mit den Kindern alleine im Haus.

Und nun geschah alles auf einmal.

Drei Frauen standen am Fenster vor dem Haus, schauten gespannt, was passiert sein könnte, was Michaela von innen nun doch sah und erneut zusammenfahren ließ.

„Mein Gott!“, stieß sie aus.

Felix kam in die Küche gerannt, Michaela konnte ihn gerade noch abfangen, sodass er nicht in das blutige Etwas trat. Und Marie, Michaelas Teenie-Tochter, kam seelenruhig angeschlendert und meinte lapidar:

„Dachte ich mir schon, dass du es gefunden hast. Musst aber nicht nach Papa rufen. Oder glaubst du, er deponiert in unserem Kühlschrank das Herz einer seiner Leichen?“

„Herz? Marie …?“ Michaela entfuhr ein weiterer Schrei. Sie schaute ihre Tochter fassungslos an.

Die bückte sich, hob die Plastikdose an und schnickte mit dem Deckel das blutige Etwas zurück in die Dose, verschloss den Deckel und stellte alles zurück in den Kühlschrank. Ihr Gesichtsausdruck schien zu sagen: „Was soll die ganze Aufregung?“

Draußen drückte jemand den Klingelknopf Sturm. Michaela stand noch immer mit weit aufgerissenen Augen vor dem Kühlschrank, schaute Richtung Fenster und wieder auf ihre Tochter. Sprachlos, wie versteinert, nicht in der Lage, auch nur einen Schritt zu machen.

Es dauerte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte. Felix war inzwischen zur Haustüre gelaufen, um sie zu öffnen, sodass Oma und Tant’ Fienchen mit der Postbotin im Schlepptau und in der Erwartung hereinstürzten, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein musste.

„Was …, was ist das, Marie?“, wollte Michaela nun nochmals wissen.

„Ein Herz, Mama, sag ich doch. Das will ich sezieren und genau untersuchen. Es kann nämlich sein, dass ich doch nicht zur Kripo gehe, sondern Chirurgin werde, habe ich mir überlegt. Wobei, Pathologin kann ich mir auch gut vorstellen. Mal sehen.“

Als examinierte Altenpflegerin – inzwischen war sie Pflegedienstleiterin im Pflegeheim Haus Abendrot – war Michaela im Grunde nicht zimperlich. Aber das, was sie in ihrem Kühlschrank entdeckt hatte, war dann doch zu viel.

Oma Jettchen erfasste als Erste die Situation und meinte zu Marie:

„Kind, ich habe dir gleich gesagt, lass das Herz bei uns im Kühlschrank.“

„Ihr wusstet davon?“, stöhnte Michaela entsetzt auf. „Das hätte ich mir ja denken können. Und überhaupt, Marie, woher hast du es?“ Dann schaute sie von ihrer Tochter zu Jettchen und Fienchen und meinte gequält: „Von euch, woher sonst! Auch das hätte ich mir eigentlich denken können.“

„Nicht direkt von uns, wir haben unsere ja noch“, Jettchen zwinkerte spitzbübisch und klopfte sich auf die Brust. Sie fuhr grinsend fort: „Aber der Sohn von meinem alten Freund Alfred, der ist Jäger, er hat es uns besorgt. Das Kind“, sie zeigte auf Marie, „muss doch an einem realen Objekt nachsehen können, wie so ein Herz aussieht.“

Nun meldete sich die Postbotin zu Wort – sie hatte ungefragt am Küchentisch Platz genommen.

„Hast du vielleicht ’nen Schluck für mich, Michaela?“

„Oh jaaa, ich würde auch einen Schluck nehmen“, meinte Jettchen, und Fienchen stimmte nickend zu.

Marie verstand die ganze Aufregung nicht, Felix sowieso nicht, beide begaben sich wieder nach oben in ihre Zimmer.

„Das Herz kommt weg!“, rief Michaela ihrer Tochter nach und holte die Schluckflasche aus dem Kühlschrank. Angewidert schaute sie aus den Augenwinkeln auf die Plastikdose.

„Wir nehmen es nachher mit!“, kam es beruhigend von Jettchen. „Nun aber her mit dem Schluck. Es kann auch etwas mehr sein, auf die Aufregung! Schließlich haben wir in Rekordzeit das Haus umrundet, das war eine olympiareife Leistung. Mein Puls ist noch immer gefühlt auf einhundertachtzig.“ Sie hielt ihren rechten Arm in die Höhe und fügte schelmisch hinzu: „Hatte ich schon lange nicht mehr.“

Es wurde ein feuchtfröhlicher Vormittag, und die vier Frauen mussten später eine Mittagsstunde einlegen. Ob alle Anwohner in Carolinensiel an diesem Tag die ihnen zugedachte Post bekommen haben, ist nicht bekannt.

Zur gleichen Zeit in Harlesiel

Tomke saß auf der Terrasse ihres Hauses draußen in Harlesiel hinterm Deich, kurz vor der Nordseeküste. Die Kommissarin – nein, Kommissarin war sie inzwischen nicht mehr – ließ das vergangene Jahr Revue passieren. So viel war geschehen.

Ihre Krankheit und die damit verbundene Auszeit.

Die – zum Glück nur vorübergehende – Auflösung des Kommissariats in Wittmund, die Aufteilung aller Kollegen der ehemaligen Dienststelle, die persönlichen Angriffe ihrer ehemaligen Chefin Corinna Quakenbeck und deren Drohungen gegen sie. Gab die Frau nun endlich Ruhe, oder musste sie mit weiteren Angriffen rechnen?

Carsten Schmied und Hajo, ihr Mann, waren kurzzeitig nach Wilhelmshaven, die Kollegin Miri Blum nach Bad Zwischenahn versetzt worden. Keiner der drei hatte an dem neuen Arbeitsplatz bleiben wollen. Alle wollten unbedingt zurück nach Wittmund in das angestammte Team.

Außerdem steckte in Tomke noch immer diese fürchterliche Angst, die sie um Hajo gehabt hatte. Zwar hatte sich fast alles davon inzwischen aufgelöst, zum Teil zum Guten gewendet, nur die Angst um Hajo, die blieb und wollte nicht verschwinden. Die Geschehnisse in dem ehemaligen Hotel, in dem fürchterliche Dinge vorgefallen waren und wo Hajo fast ums Leben gekommen war, ließen sie einfach nicht los. Oft träumte sie davon, wie er, manchmal auch sie selbst oder beide gemeinsam in einer Kiste, einem Sarg oder Ähnlichem, gefangen und unter einer ätzenden Substanz begraben lagen.

Es waren fürchterliche Träume, die nur sehr langsam nachließen.

Ihre Auszeit hatte Tomke anfangs dafür genutzt, sich seelisch und körperlich mit ihrer Krankheit abzufinden, was ihr zuerst allerdings sehr schwergefallen war. Multiple Sklerose, so lange hatte diese Krankheit in ihr geschlummert. Die Ärzte vermuteten, dass ein traumatisches Erlebnis die Krankheit zum Ausbruch gebracht hatte. Und Tomke war sich sicher, welches Trauma der Auslöser war. Inzwischen konnte sie mit der Krankheit leben, und sie hoffte sehr, dass sie milde verlief. Die medikamentöse Einstellung sorgte dafür, dass sie kaum Beschwerden hatte. Tomke wusste, dass sie sich nicht unterkriegen lassen wollte. Von nichts, von niemandem und von dieser Krankheit schon gar nicht.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu Corinna Quakenbeck. Ob die Frau wirklich Ruhe gab? Gerichtlich war ihr inzwischen endlich verboten worden, sich Tomke zu nähern, aber ob sie sich daran wohl hielt? Tomke bezweifelte es und befürchtete, dass die Frau sicher noch etwas in der Hinterhand hatte. Als ehemalige Polizeirätin hatte sie sicher noch Beziehungen zu den Obrigkeiten, das war ihr klar.

Ob sie die wohl nutzte?

Ob die ihr noch nutzten? Gab es da Vertraute, die zu ihr hielten? Andere, die ihr vielleicht etwas schuldeten?

Ja, es war eine schreckliche Zeit, die da hinter ihr lag. Corinna Quakenbeck, Nachfolgerin von Polizeirat Christoph Gerdes, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich an ihr zu rächen. Nachdem Tomke deren perfiden Plan, das Gebäude, in dem sich das Polizeipräsidium befand, an die Immobilienfirma ihres Mannes zu verscherbeln, aufgedeckt und verhindert hatte, schwor die ihr bittere Rache. Sie atmete tief durch und schob diese Gedanken zur Seite. Sie wollte nach vorne schauen. Neues stand an.

Morgen sollte sie nun ihren neuen Job antreten. Einen Job, den es so eigentlich gar nicht gab und den sie auch nie wollte, der ihr zudem schon als Nachfolgerin von Polizeirat Gerdes angeboten worden war. Doch jetzt – im Zuge ihrer Krankheit … Sie fragte sich:

„Habe ich mich richtig entschieden? Kann ich das? Will ich das wirklich?“

Andererseits – welche Wahl hatte sie? Im Grunde hätte sie aufgrund des Krankheitsbildes aus dem Dienst ausscheiden müssen. Das aber hatte Tomke strikt abgelehnt. Schließlich war die Krankheit noch nicht wirklich ausgebrochen. Einschränkungen hatte sie keine, fast jedenfalls. Aber darüber sprach sie nicht.

Okay, das, was sie zur Bedingung gemacht hatte, war ihr zugestanden worden. Ihr Team! Ihr altes, vertrautes Team!

Dass am Ende nun doch alle wieder an ihren angestammten Plätzen waren, hatte man Tomke und ihrem Einsatz zu verdanken. Aber das war nicht einfach gewesen. Lediglich ihr Kampfgeist, ihr Gerechtigkeitssinn und die Hilfe von Christoph Gerdes, dem Polizeirat im Ruhestand, hatten sie vorangebracht. Eine geeignete Nachfolge für die entlassene Polizeirätin Corinna Quakenbeck stand zurzeit nicht zur Verfügung, also hatte man Tomke gedrängt, interimsmäßig die Stelle auszufüllen, auch wenn sie die nötige Zusatzausbildung nicht besaß. „Was nicht ist, kann ja noch werden“, hatte ihr Dienstherr verkündet. Tomke allerdings lag es fern, die circa dreijährige Zusatzausbildung zu absolvieren.

Die Kollegen Carsten Schmied, Miri Blum und Hajo waren nach Wittmund zurückversetzt worden. Nur unter dieser Bedingung hatte sie die Stelle der Interims-Polizeirätin übernommen. Und die drei waren mehr als glücklich, wieder im alten Präsidium zu sein. Tomke allerdings haderte mit ihrer neuen Position. Sie war ein Straßenköter, ihr Revier war draußen, nicht im Büro. Innendienst, Schreibtischarbeit, Führungsarbeit, die Presse bedienen und all der Verwaltungskram, waren ihr zuwider. Allerdings auch die einzige Möglichkeit, weiter im Dienst zu bleiben und mit ihrer Truppe arbeiten zu können.

Sesselpupserei hatte sie das bisher immer genannt. Und jetzt? Sie selbst? Tomke sinnierte über die vergangenen Monate.

Es war ein heftiger Kampf gewesen, und sie war bis an ihre Grenzen und darüber hinaus gegangen. Nochmals wanderten ihre Gedanken zu Corinna Quakenbeck. Die Frau hatte einfach keine Ruhe gegeben. Als sie bemerkte, dass sie ihre Pläne nicht umsetzen konnte, war Tomke zu ihrem Opfer geworden. Sie hatte sie auf das Übelste drangsaliert, bedroht und mehrmals sogar auf offener Straße angegriffen. Doch daran wollte sie nun wirklich nicht mehr denken. Das war vorbei – hoffentlich.

Sie saß in dem alten Sessel ihres Großvaters, den sie aus Sentimentalität hatte aufarbeiten lassen, was ihr immer wieder einen wohligen Schauer verursachte. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie fühlte sich wohl, wenn sie in Opa Holzschuhs Sessel saß. Ihrem Großvater, den sie als Großvater erst kurz vor seinem Tod kennengelernt hatte. Sie erinnerte sich, wie es dazu gekommen war, an den Mordfall, der vorausgegangen war, und an Opa Holzschuh, der jedes Jahr in bestimmten Nächten am Strand gesessen und auf die Rückkehr von …, ja, von wem gewartet hatte? Tomke schüttelte den Kopf, es war schon wieder ein paar Jahre her.

Sie holte sich in das Hier und Jetzt zurück, atmete tief ein und drückte ihren Rücken durch.

Nun waren alle zurück an ihren alten Arbeitsplätzen. Auch einige der uniformierten Kollegen und neue Kollegen waren schließlich dazugekommen.

Spurensicherung und KTU hatte die Obrigkeit zusammengelegt, bildeten inzwischen ein gemeinsames Team unter der Leitung von Rikus Stevensen, unten im Keller des Präsidiums. Eine sehr gute Lösung, wie Tomke fand.

Die Rechtsmedizin mit Hajo Manninga war und blieb in Wilhelmshaven, und das war auch gut so, denn dazu gab es in den Katakomben des Präsidiums in Wittmund nicht die Räumlichkeiten.

Morgen würden sie alle in dem frisch renovierten Polizeipräsidium offiziell ihre Arbeit antreten. Und das wollte die neue Polizeirätin mit allen Kollegen feiern. Warme und kalte Getränke, Fingerfood und ein großer Topf mit Gulaschsuppe waren bestellt.

Morgen wollte sie sich auch der drei Akten annehmen, die man ihr von der Dienststelle in Wilhelmshaven zugewiesen hatte. Denn raushalten aus Ermittlungsarbeiten, das kam für Tomke nicht infrage.

Drei Fälle, drei vermisste Frauen, alle ungefähr im gleichen Alter, alle aus der Region, alle aus ihrem Einzugsgebiet, das vorübergehend zu Wilhelmshaven gehört hatte. Sie war schon sehr gespannt darauf.

Mitten in diese Gedanken meldete sich ihr Handy. Wo lag das denn schon wieder? Sie blickte auf ihre Uhr. Teestunde! Klar! Oma und Tant’ Fienchen! Sicher hatten ihre beiden Alten ihre Mittagsstunde beendet und meldeten sich bei ihr. Wie jeden Tag. Mindesten zweimal täglich rief eine der beiden aus Carolinensiel bei ihr an und erkundigte sich besorgt nach ihrem Befinden. Immer wieder hatte sie versucht, ihre beiden Verwandten, die in einem Haus auf dem Deich in der Bahnhofstraße lebten, davon abzubringen. Aber da bestand keine Chance. Na, dann sollten sie halt. Sicher gab es wieder Kuchen, den sie ihr unbedingt anpreisen wollten. Tomke stand stöhnend auf – obwohl, vielleicht könnte sie ja schnell ein Tablett mit Kuchen ins Präsidium bringen. Die Kollegen, die dort in den Büros letzte Hand an die neue Einrichtung legten, würden sich sicher freuen. Sie strich beim Aufstehen, wie sie es immer tat, sanft über die Lehne des alten Sessels. Und wo lag nun das verdammte Handy? In der Küche?

Zurück im alten Revier

Endlich waren die drei Ermittler wieder zurück in ihrem alten Revier.

♫Ich bin wieder hier

in meinem Revier –

war nie wirklich weg

hab mich nur versteckt.

Ich rieche den Dreck

ich atme tief ein –

und dann bin ich mir sicher

wieder zu Hause zu sein.♫

Dieses alte Lied von Westernhagen trällernd, lief Miri Blum, die junge Kommissarin, durch das neue, große Büro, das sie sich mit den Kollegen Carsten Schmied und Hajo Mertens teilte. Die Räume waren inzwischen renoviert, hell gestrichen und neu eingerichtet. Einige alte Möbel aus grauer Vorzeit waren durch neue und moderne Teile ausgetauscht worden.

Hajo und Carsten schauten sich fragend an, denn der Song, den Miri trällerte, stammte aus einer Zeit, zu der ihre junge Kollegin noch nicht geboren war.

„Sag mal Miri, das Lied stammt doch aus vor deiner Zeit …“, begann Carsten.

„Nicht ganz. So jung bin ich nun auch nicht. Aber du hast recht, es ist nicht meine Zeit. Gut finde ich den Song trotzdem, und er passt im Moment so herrlich.“

Carsten winkte lachend ab. „Okay, okay. Hast ja recht. Aber wir haben uns das letzte Jahr weder versteckt, noch riechen wir hier Dreck – zum Glück. Das Revier ist komplett neu renoviert. Vielleicht hatten das vergangene Jahr und die ganze Aktion am Ende doch etwas Gutes.“

„Hätte aber trotzdem darauf verzichten können!“, kam es nun von Hajo, der ein paar leere Umzugskartons zusammenfaltete und zu den restlichen auf seinem Schreibtisch packte. Manja van der Sluis, Tomkes neue Sekretärin, wollte sie wegräumen. Die pendelte mit alten Akten zwischen Büro und Keller. Aber wo blieb Manja nur?

„Und Dreck?“, setzte er nach. „Dreck haben wir entsorgt, vor allem in Form von unserer ehemaligen Chefin!“

Miri begann erneut und mit einem etwas anderen Text, ihre beiden Kollegen fielen lachend mit in den Song ein:

♫ Ich bin wieder hier

in meinem Revier –

war nie wirklich weg

hab mich nicht versteckt

ich riech keinen Dreck … ♫

Ihre gute Laune wurde unterbrochen, als einer der uniformierten Kollegen in das Büro gestürmt kam und entsetzt rief:

„Kommt schnell! Tomke …, Tomke liegt unten im Keller, tot. Sie ist wohl die Treppe hinuntergestürzt. Kommt schnell!“

Die drei Ermittler brauchten einen Moment – dabei schien die Welt für diesen Moment stillzustehen –, um das Gehörte zu begreifen. Dann stürzten sie, Hajo mit einem entsetzen Schrei voran, an dem Uniformierten vorbei Richtung Flur, Treppenhaus und mit großen Schritten, mehrere Stufen auf einmal nehmend, nach unten. „Tomke!“, rief er immer wieder verzweifelt. „Tomke …!“

Gestürzt? Tomke war die Treppe hinuntergestürzt? Ihre Krankheit, die MS. War das der Grund?

Miri rief atemlos, ebenfalls mehrere Stufen auf einmal nehmend: „Aber warum? Tomke ist doch …“

Rufe und Schreie hatten die Kollegen aus den Büros getrieben. Manche standen in den offenen Türen, andere waren Richtung Treppe gelaufen, standen in kleinen Gruppen zusammen und schauten den dreien entsetzt entgegen. Manche stumm, andere flüsterten miteinander. Eisele, der Schwabe aus der Zentrale, meinte: „Tomke? Die Polizeirätin? Des isch doch ned möglich!“

Der Anblick, der sich ihnen bot, war schlimm. Manninga, der Rechtsmediziner des Präsidiums, beugte sich über die am Boden liegende Frau, rief kurz nach oben: „Bleibt alle, wo ihr seid!“

Hajo jedoch wollte die Stufen weiter nach unten, rief immer wieder: „Tomke, Tomke, mein Gott …!“

Zwei uniformierte Kollegen sowie Carsten und Miri, die kurz nach ihm eintrafen, hielten den aufgelösten Mann zurück.

Nicht alle Kollegen kannten das Verhältnis zwischen Tomke und Hajo, nicht alle wussten, dass die beiden verheiratet waren. Einige waren neu im Haus. Versetzt von anderen Dienststellen oder Anwärter, die hier neu ihren Dienst taten beziehungsweise ein Praktikum absolvierten.

Hajo hatte es inzwischen geschafft, sich loszureißen, sprang mit zwei Sätzen die Treppe zum Keller nach unten. Manninga, der sich eben noch über die auf dem Bauch liegende Frau gebeugt hatte, baute sich vor ihm auf und hob die Faust.

„Stopp, keinen Schritt weiter, oder du landest neben ihr.“

Hajo hörte es nicht. Er sackte zusammen und krächzte: „Tomke …, Tomke …, das ist …“

Ein Schwabe in Ostfriesland

Das Handy hatte sich tatsächlich in der Küche befunden.

Der Anruf kam aber nicht von ihren beiden Alten, sondern von der Dienststelle in Wittmund, wie sie nun auf dem Display erkennen konnte. Die Zentrale war schon besetzt, denn auch hier richteten sich die Kollegen neu ein, morgen würde es dann richtig losgehen. „Was wollen die denn schon von mir?“, fragte sich Tomke ärgerlich. Schließlich hatte sie sich, bevor es morgen losging, einen freien Tag genommen.

„Tomke hier, was gibts?“, meldete sie sich in gewohnter Art.

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzes Schweigen, dann räusperte sich jemand und begann vorsichtig: „Also …, i …, Frau Polizeirätin, sind Sie das?“

„Ja, klar. Sorry, es ist einfach eine alte Gewohnheit, mich so kurz und schmerzlos zu melden. Aber, ach was. Ich denke, daran werdet ihr euch gewöhnen. Ich werde mich sicher nicht verbiegen. Also, was gibt’s?“

Dann vernahm sie ein Kauderwelsch von Dialekt und Hochdeutsch, das sie nicht wirklich zuordnen konnte.

„Hier isch der Eisele Herbert, aus der Zentrale, vom Revier, Frau Rätin.“ Die Stimme des Mannes kam kurzatmig und aufgeregt.

„I soll Se informiera, dass es eine Leich geba dat. Ach, herrjele, henn Se mi überhaupt verschdanda? I ben noch neu hier, versetzt aus Tuttlinga im Schwäbischa. Aber i bemüh mi inzwischa scho, a ordentliches Hochdeutsch zu schwätza, zu sprechen moin i natürlich. Ach herrjele, des wird schwer. Hochdeutsch kennet mir Schwoba oifach ned.“

Tomke nahm das Handy vom Ohr und betrachtete es verwundert. Was war das denn?

„Sie…, Herr …, wie ist Ihr Name?“

„Der isch un war Eisele. Eisele, Frau Rätin, Eisele, Herbert. Henn Sie mi ned verschda …“

„Ja, ja, es hat eine Leiche gegeben. Das habe ich verstanden. Wann und wo? Wurden die Kollegen von der Spusi und KTU schon informiert?“

„Na hier, Frau Rätin, hier em Revier!“, antwortete der Mann, und seine Stimme zitterte vor Aufregung.

„Wo? Im Revier? Mein Gott, wo dort?“, hakte Tomke nach.

„Em Kellr, im Keller moin i!“

Tomke konnte es nicht glauben. Sie überlegte kurz, wer vor Ort sein könnte, der ihr das Ganze in verständlichem Hochdeutsch erklären konnte, ließ es dann aber bleiben.

Nun versuchte er, wieder Hochdeutsch zu sprechen, was aber nicht wirklich gelang: „Und die Kollege henn gsaid, dass die Tote …“

Das aber hörte Tomke schon nicht mehr. Sie hatte das Gespräch beendet und tippte Hajos Nummer an. Während sie darauf wartete, dass er sich meldete, fiel ihr ein, dass sie einen Neuzugang aus Schwaben im Revier hatten. Ein Kollege, der mit seiner Frau in den Norden gezogen war. Nun überlegte sie, dass man den Schwaben in der Zentrale nicht belassen könne, sondern ihm unbedingt einen anderen Platz zuteilen müsse. Die Ostfriesen würden ihn sicher nicht verstehen und an eine Erscheinung vom anderen Stern denken. Sie erinnerte sich an den Mann, hatte auch ein Bild vor Augen, aber gesprochen hatte sie bisher noch nicht mit ihm. Auf ihrer To-do-Liste waren dieser und noch weitere Punkte offen. Tomke nahm sich vor, das schnellstens nachzuholen.

Herbert Eisele dachte, als er das Gespräch beendet hatte, darüber nach, wie alles gekommen war. Er in Ostfriesland – nie im Leben hätte er sich das vorstellen können und nun …

Herbert Eisele war mit Hildegard, seiner Frau, vor sechs Wochen aus Schwaben nach Ostfriesland gezogen. Eine Entscheidung, die nicht wirklich von ihm ausgegangen war und die er bereute, ja, seiner Frau auch vorwarf. Sie hatte darauf bestanden, dass er sich in den Norden versetzen ließ. Sie war die treibende Kraft gewesen.

„Was hält uns noch zu Hause?“, hatte sie ihn bedrängt. „Ich muss dorthin! Ich möchte in seiner Nähe sein.“

„Ich aber nicht. Ich nicht, Hildegard. Das tue ich mir nicht an. Was soll diese Quälerei? Außerdem will ich mein altes Leben nicht aufgeben. Mein Revier, unser Haus. Ich will hier nicht weg.“

„Du, du, du, immer du! Und unser Leben? Was haben wir denn noch vom Leben? Was?“ Das war immer ihr Streitthema.

„Wir haben uns, genügt dir das nicht?“, hatte er immer wieder gefragt. Nein, ihr war das nicht genug. Bis er nebenbei geäußert hatte, dass in einer Kleinstadt in Ostfriesland eine Stelle ausgeschrieben war. Im Grunde die Stelle, die er auch in Tuttlingen innehatte. Hildegard hatte keine Ruhe gegeben und er sich tatsächlich beworben. Und dann war alles ganz schnell gegangen. „Wäre ich nur still gewesen“, schimpfte der Mann sich immer wieder. Auch heute noch. Er raufte sich die Haare. „Wie konnte ich nur, jetzt ist alles noch schlimmer. Wäre ich doch nur still gewesen.“

Tomke hörte ungeduldig auf den Klingelton.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Hajo sich meldete. Es knackte in der Leitung, und noch bevor er etwas sagen konnte, fragte sie:

„Was ist los bei euch? Ihr habt eine Leiche im Keller?“

„Mein Gott, Tomke, was bin ich froh, deine Stimme zu hören. Ja, das Revier hat eine Leiche im Keller, sozusagen. Aber im Ernst, wir haben deine Sekretärin tot im Keller gefunden. Ich bin noch fix und fertig. Im ersten Moment dachten wir, dachte ich, dass ….“ Seine Stimme brach.

„Wie bitte? Die Manja van der …?“

„Ja, Manja van der Sluis“, wurde sie nun unterbrochen. „Und sie ist nicht gestürzt!“

Bevor Tomke antworten konnte, fuhr er fort:

„Und noch etwas, Tomke, sie sieht aus wie …“

„Was ist passiert?“, unterbrach sie ihren Mann.

„Das wissen wir natürlich noch nicht, nur, dass es wohl kein Unfall war. Unser Leichenfledderer ist zufällig im Haus und meinte: So liegt nur jemand am unteren Ende einer Treppe, der von oben einen schweren Stoß bekommen hat. Aber noch mal, Tomke, sie sieht aus wie ….“

„Ich komme!“, unterbrach sie ihn erneut. Hajo stöhnte und meinte resigniert:

„Ich ergebe mich, Frau Rätin!“

Tomkes „Blödmann“ hörte Hajo nicht mehr, sie hatte das Gespräch schon beendet.

Der Schock saß tief. Manja tot? Sie konnte es nicht fassen.

Hajo, Carsten und Miri waren seit zwei Wochen dabei, ihr Büro einzurichten, Schreibtische zu stellen und Computer anzuschließen. Etliche Akten, die noch in Papierform im Archiv lagen, versuchten sie, gemeinsam mit Tomkes neuer Sekretärin digital zu erfassen. Und nun war die tot. Auch Tomke hatte sich tagelang vorbereitend daran beteiligt und Manja sofort als kompetente Mitarbeiterin kennen und schätzen gelernt. Heute hatte sie sich selbst einen Tag Auszeit genehmigt, bevor es eben morgen im neuen Job losgehen sollte. Aber das konnte sie nun vergessen, sie musste ins Präsidium. Jetzt.

Sie war so froh darüber gewesen, diese Manja als ihre persönliche Sekretärin zu haben. Zwischen den beiden war sofort eine Vertrautheit eingetreten, die Tomke als glückliche Fügung betrachtet hatte, denn ihr war klar, dass sie an ihrer Seite jemanden brauchte, dem sie voll vertrauen konnte und dem sie die eine oder andere administrative Arbeit übertragen konnte. Büroarbeit war einfach nicht ihr Ding. Sie und Manja hatten in den wenigen Tagen der Zusammenarbeit viel getan, aber auch viel gelacht. Manja hatte so etwas Erfrischendes.

Vor einiger Zeit geschieden, und nach einer unruhigen Zeit, die nun hoffentlich hinter ihr lag, wollte sie in Ostfriesland neu durchstarten, wie sie allen erzählte. Gestern, am Abend, als sie sich in den Feierabend verabschiedete, hatte Manja gemeint, dass sie nun zum Frisör ginge.

„Ich habe meine langen Zotteln satt. Ich glaube, ich lass sie mir abschneiden. Neues Leben, neue Frisur. Kurz und blond ist doch viel frischer. Deine Frisur gefällt mir und ist auch um einiges pflegeleichter. Du wirst schon sehen, morgen sitzt eine ganz andere Manja im Büro nebenan.“

Und nun das. Nichts mit durchstarten. Keine neue Manja im Büro nebenan – Manja van der Sluis war tot.

Noch immer völlig entsetzt und „So eine verdammte Scheiße!“ fluchend, ließ sie sich auf den Fahrersitz ihres Wagens fallen. Sie startete, versuchte zu kuppeln und den Gang einzulegen, was allerdings in einem Krachen und Rumpeln endete. Der Dienstwagen, den man ihr zugeteilt hatte, war ein Automatikfahrzeug. Kuppeln und schalten also unnötig. Das hatte sie völlig vergessen.

Murrend schob sie den Hebel auf R und fuhr rückwärts vom Hof.

„Auch so ein Ding, an das ich mich gewöhnen muss!“

Das Ding hatte natürlich auch Vorteile. So betätigte sie einen Knopf am Lenkrad und tippte Omas und Tant’ Fienchens Telefonnummer in Carolinensiel an, denn die hatten sich heute komischerweise noch nicht gemeldet. Nicht, dass sie es vermisste, aber komisch war das schon. Ihr Handy benötigte sie dafür nicht, der Knopf am Lenkrad wählte für sie. Aber weder die eine noch die andere ihrer alten Damen meldete sich. So versuchte es Tomke auf Omas Handy. Nach langem Läuten hatte sie tatsächlich Glück, hörte die verschlafene Stimme ihrer Großmutter.

„Oma, was ist los? Schläfst du? Mittagsstunde ist doch schon längst rum.“

„Jau!“, kam es zurück.

„Bist du krank?“

„Nee!“

„Aber warum …? Gib mir mal Fienchen.“

„Die schläft auch, und jetzt lass …!“

„Was ist mit euch?“

Da aber hatte Oma das Gespräch schon mit einem Grunzen beendet.

Tomke überlegte, ob sie kurz bei ihren Verwandten vorbeifahren sollte, entschied sich dann aber, nebenan bei der Nachbarin Michaela anzurufen.

Michaela, die Ehefrau ihres Kollegen Carsten Schmied, arbeitete als Heimleiterin in einem Pflegeheim und hatte zurzeit Urlaub, wie sie von Carsten wusste. Marie, ihre Tochter, zurzeit freie Tage wegen eines Wasserschadens in der Schule. Das hatte Carsten ihr erzählt.

Auch hier klingelte es ungewöhnlich lange, dann meldete sich Michaelas Tochter. Tomke hatte Schwierigkeiten, die Stimmen von Marie und ihrer Mutter auseinanderzuhalten. Zu ähnlich waren die beiden inzwischen. Nach einem kurzen Moment des Überlegens fragte sie:

„Hi, Marie, ist deine Mama zu sprechen?“

„Nö!“

„Wann …?“, setzte Tomke zur nächsten Frage an.

„Die schläft!“, kam ihr das Mädchen zuvor.

„Die auch? Oma und Fienchen schlafen ebenfalls. Was ist los bei euch? Sind die drei krank?“

„Nö, krank nicht, aber duun(betrunken)!“

„Duun? Wieso denn das am helllichten Tag?“

„Mama hat mein totes Herz im Kühlschrank nicht verkraftet, und da haben die drei zusammen mit der Postbotin zwei Schluckflaschen geleert. Mama ist im Bett, die Postbotin liegt in der Stube auf der Couch, und Oma und Tant’ Fienchen habe ich rübergebracht und in ihre Betten verfrachtet. Das war eine Arbeit, kann ich dir sagen. Auf dem Weg nach drüben haben sie schmutzige Witze erzählt.“ Sie lachte laut auf und meinte weiter: „Ich habe sie mir alle gemerkt.“

Tomke brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verstehen. Duun? Am helllichten Tag? Was war denn da nun wieder los? Totes Herz?

„Ach herrje, muss ich kommen? Brauchen meine beiden Alten Hilfe? Und was meinst du mit dem Herz? Im Kühlschrank? Bei euch? Ich wusste gar nicht, dass ihr Innereien esst.“

„Nö! Ich hab ihnen einen Kotzeimer neben das Bett gestellt, das geht schon. Und Mama auch. Felix …“, lachte sie nun, „sitzt neben Mamas Bett und wartet drauf, dass etwas rauskommt!“ Die Frage nach dem Herzen ignorierte sie.

„Rauskommt?“ Tomke wusste wieder nicht, was Marie meinte.

„Na bei Mama, vorne. Ob sie kotzt.“

„Ach Marie, bitte!“

„Doch im Ernst. Seit ich ihm gesagt habe, dass man sich den Finger in den Hals stecken muss, damit das besser geht, versucht er es bei ihr. Aber sie macht den Mund nicht auf. Ich lass ihn, dann nervt er mich nicht. Ich muss jetzt auch Schluss machen und das Herz weiter untersuchen. Hab es schon in Streifen geschnitten und schaue es mir unter meinem Mikroskop an.“

„Marie!“, stöhnte Tomke erneut und wollte dann wissen. „Ist dein Papa noch im Büro?“

„Wahrscheinlich, hier isser jedenfalls nicht. Ich muss jetzt wirklich weitermachen. Tschüss, Tomke! Und mach dir keinen Kopf um Oma und Tant’ Fienchen, die schlafen wie die Murmeltiere.“

Dann war die Leitung unterbrochen, das Mädchen hatte das Gespräche beendet.

Tomke war kurz unschlüssig, ob sie nicht doch schnell zum Haus auf dem Deich fahren sollte, um nach den beiden Alten zu schauen, ließ es dann aber bleiben. Marie hatte ja recht. Wenn sie schliefen, konnte auch nichts passieren. So gab sie Gas und fuhr die B461 weiter in Richtung Wittmund.

Schnell waren ihre Gedanken wieder bei der Toten, die man im Keller des Präsidiums gefunden hatte. Unglaublich! Was dort wohl passiert war?

Eine Leiche im Keller

Was sie sah, ließ sie erschaudern. Unterhalb der Treppe lag Manja. Manninga, der Rechtsmediziner, stand, verpackt in einen weißen Overall, neben ihr. Die Spusi hatte schon Tatortmarkierungen aufgestellt. Sie drängten sich aneinander vorbei. Manninga fluchte, dass er Platz für die ersten Beschau seiner Leiche brauche. Im Grunde alles wie immer. Dann sah er Tomke oben stehen.

„So fällt kein normaler Mensch eine Treppe hinunter! Bleib oben, keinen Schritt weiter“, wurde sie von ihm begrüßt. Er stand mit seinem Mitarbeiter, auch der im weißen Schutzanzug, neben der Leiche und achtete darauf, dass ihr keiner zu nahe kam. Und er fuhr fort: „Außerdem sind wir alle froh, und dein Hajo ganz besonders, dass nicht du hier liegst!“

Tomke reagierte auf seinen letzten Satz nicht, sie schlug die Hände vors Gesicht.

„Mein Gott, Manja!“, entfuhr es ihr, und dann, mit zittriger Stimme: „Moin erst mal, Hajo, so viel Zeit muss sein, auch wenn …“

„Ach, entschuldigen Sie, Frau Rätin, wird nicht wieder vorkommen“, kam es spöttisch zurück. Manninga gab seinem Mitarbeiter ein paar kurze Anweisungen, dann kam er die Treppe nach oben und stellte sich neben Tomke. Mit einer Hand zog er sich die Kapuze vom Kopf, mit dem rechten Ellenbogen schob er Tomke ein wenig vom Treppenabsatz zurück.

Die schüttelte ärgerlich den Kopf, solche Sprüche hasste sie.

„Lass das, Hajo! Du weißt, dass ich mich um die Stelle nicht gerissen habe.“

„Sorry, du hast recht. Aber verdient hast du sie, die Rätestelle meine ich. Wenn nicht du, wer dann?“

„Ach, da würden mir schon ein paar andere Kollegen einfallen. Übrigens, vergiss das ‚innen‘ nicht. Auf dem Stuhl sitzt jetzt ’ne Frau.“

„Ich gendere nicht!“, kam es mürrisch zurück.

„Ich auch nicht, wollte es nur mal erwähnt haben. Außerdem hast du das Vorwort ‚Interims’ vergessen. Aber gut jetzt. Was ist hier nur passiert? Kein Unfall, wie Hajo meinte? Sie ist also nicht hinuntergefallen?“

Sie deutete auf die im Kellerflur liegende Manja. Es war ein schlimmer Anblick, wie ihre Sekretärin dort mit verrenkten Gliedern lag. Tomke lief eine Gänsehaut über den Körper.

Manninga zog seine Handschuhe aus, fasste Tomke am Arm und zog sie wieder nach vorne, bis zur obersten Stufe der Treppe.

„Stell dir mal vor, du willst in den Keller. Stehst hier auf der obersten Stufe oder auch der nächsten und stolperst oder was auch immer. Dann fällst du nach vorne, streckst eventuell schützend die Arme aus, überschlägst dich gegebenenfalls oder rollst dich ab. Heißt: Du reagierst! Das wurde in Testverfahren mannigfach erprobt und festgestellt, in welcher Position du unten ankommen würdest. So“, er deutete auf Manja, „jedenfalls nicht.“

„Du meinst also, sie wurde gestoßen? Die Treppe hinuntergestoßen, als sie …“

„Fast. Ich vermute sogar, dass sie von unten kam und man sie dann fest gegen den Brustkorb gestoßen hat, nur so lassen sich die Auffindeposition und die Verletzung am Hinterkopf erklären.“

„Das ist durchaus möglich!“ Carsten Schmied war nun hinter die beiden getreten und umarmte Tomke wortlos. Tomke wunderte sich über diese Geste.

„Manja hat ein paar Archivkisten in den Keller gebracht. Wäre sie damit nach unten gefallen, würden die Sachen ja auch noch dort unten liegen. Also muss sie von unten gekommen sein, und zwar mit leeren Händen.“

„Und dass sie oben angekommen, das Gleichgewicht verloren und rückwärts …“ Tomke schaute fragend von Manninga zu Carsten.

„Möglich, aber in dieser Position unwahrscheinlich. Dann läge sie näher an der untersten Stufe. Noch mal: Sturz heißt fallen und unten liegen bleiben. Stolper, Fall, Rutsch. Das haben wir hier nicht. Wir haben hier eher Fremdeinwirkung. Da war Schmackes dahinter, so wie die Frau da liegt. Eine leichte Rötung vorne an der rechten Seite des Brustkorbs lässt einen Stoß vermuten. Kein großer Fleck, eher so, als hätte man mit den Fingerspitzen oder einem Gegenstand gestoßen. Ich denke, dazu braucht es nicht viel, wenn jemand von unten die Treppe heraufkommt und nicht mit einem Angriff rechnet. Und sie lag halb auf dem Bauch. Auch das spricht gegen einen Sturz. Aber dazu kann ich erst wirklich was sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Wir können das ja mal nachstellen, falls sich jemand zur Verfügung stellt.“ Er schaute sich um, grinste und meinte: „Nicht? Hab’ ich mir gedacht!“ Tomkes entsetztes: „Hajooo!“, überging er.

Tomke betrachtete noch kurz die Situation und beschloss dann:

„Okay, mach mal. Nimm sie mit nach Wilhelmshaven und schau sie dir genau an. Aber bitte mit hoher Priorität!“

„Tomke, das versteht sich von selbst, ich habe es schon mit Hajo und Carsten besprochen. Zuerst aber nehmen Rikus und seine Leute Spuren ab. Sie fangen gerade an, die Tote abzukleben.“

Manninga griff erneut nach ihrem Arm und wandte sich ihr zu. „Ist dir eigentlich nichts aufgefallen?“, wollte er leise wissen.

„Nein“, kam es zögerlich zurück. „Was meinst du denn?“

„Wir alle und ganz besonders dein Mann waren im ersten Moment mehr als geschockt, als wir die Tote dort liegen sahen.“

„Klar, ich war auch geschockt, als ich hörte, dass Manja …“

„Nicht Manja, wir alle dachten, da lägest du!“

„Ich? Wieso?“

„Schau doch mal genauer hin“, schaltete sich nun Carsten ein.

„Ihr meint …? Das ist … Mein Gott, ja, sie hat meine Frisur, aber das hat sie gestern Abend angedeutet.“

„Deine Frisur, deine Haarfarbe, deine sportliche Figur. Wir dachten, Hajo dreht durch, als er sie gesehen hat. Der war fix und fertig. Wir alle für einen Moment.“

Es entstand ein Augenblick der Stille, alle drei sagten kein Wort. Dann forderte Tomke den Rechtsmediziner erneut auf: „Nimm sie mit, schau sie dir genau an, Hajo!“

„Mach ich. Wie immer! Sobald die Spusi mit ihr fertig ist. Und du kümmere dich mal um meinen Namensvetter. Ich glaube nämlich, der kann eine Umarmung brauchen.“

„Genau!“, kam es nun von Carsten, der noch immer hinter ihr stand. „Und dann kümmere dich um deinen Schreibtisch, das Ermittlerteam kümmert sich um den Fall.“

Stöhnend drehte Tomke sich um. Klar, sie war keine Ermittlerin mehr, aber daran musste sie sich erst gewöhnen.

„Ist ja gut, ich gehe. Aber bitte …!“

„Aber natürlich werden wir dir stündlich berichten!“, kam es grinsend von Carsten.

„Minütlich!“, setzte Manninga nach.

Tomke verdrehte die Augen, schubste den Mediziner am Arm und schimpfte:

„Pack ein und verschwinde nach Wilhelmshaven.“ Dann murmelte sie: „Blödmänner!“ und machte sich auf den Weg in ihr Büro.

Carsten rief ihr nach: „Ich komme gleich mal zu dir, da ist noch was …“

„Du weißt ja, wo du mich findest.“

Auf dem Weg in ihr Büro bemerkte Tomke, dass sie ihr Handy im Auto vergessen hatte. Sie lief Richtung Ausgang, öffnete die innere Schleusentür des Eingangsbereiches, trat hinein und winkte dem Mann an der Eingangskontrolle zu. Es war der Kollege Eisele, der Schwabe. Der sah sie nicht sofort, denn er hatte sein Handy am Ohr. Tomke vernahm ein leises: „Was machsch du da? I heb no Dienscht. Was soll des?“ Oder so ähnlich, denn genau verstand sie den Dialekt des Mannes nicht.

Dann bemerkte er Tomke, steckte das Handy weg, rief ihr freundlich: „Moin!“, zu und setzte nach: „Moin, Frau Rätin, i heb geübt, merket Ses? Und Ostfriesisch, des lern i au no.“

Der Schwabe! Tomke musste schmunzeln und antwortete: „Moin, Herr Eisele!“ Sie hatte sich den Namen tatsächlich gemerkt, bezweifelte aber, dass das mit dem Plattdeutschen bei dem Kollegen jemals klappen würde.

An ihrem Wagen angekommen, beugte sie sich hinein, griff in das Ablagefach zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, holte ihr Handy heraus und schloss die Wagentür. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Schatten wahr, drehte sich um. Ganz kurz bemerkte sie, dass eine Person, bekleidet mit Kapuzenshirt und dunkler Hose zwischen den geparkten Wagen hindurch Richtung Straße lief und in der Dämmerung verschwand. Tomke hatte gerade noch: „Hallo Sie, was …?“, begonnen, aber die Person war und blieb verschwunden.

Sie schaute sich um, sonst war niemand zu sehen. Nur Kollege Eisele stand am Fenster, lächelte, als sich ihre Blicke trafen.

Wieder zurück im Haus, wollte sie von ihm wissen, ob er die Person auch gesehen habe, der aber meinte achselzuckend nur: „Noi, noi, i hab nix geseha.“

Auf dem Weg in ihr Büro wurde sie immer wieder von Kollegen aufgehalten, die sie begrüßten und mit denen sie ein paar Worte sprach. Es sei so schön, wieder im alten Revier zu sein, hörte sie allenthalben. Auch, dass man froh sei, sie wohlauf zu sehen.

Im Büro angekommen, hatte sie den Vorfall auf dem Parkplatz schon wieder vergessen. Ihr Büro und der Blick in das durch eine Glasscheibe getrennte Büro von Manja auf der linken Seite nahmen sie gefangen. Die Zwischentür war geöffnet. Das Büro leer. Wie schnell sich alles veränderte.

Nun würde eine andere Kollegin den Platz einnehmen, überlegte Tomke. Oder ein Kollege. Sie nahm sich vor, mit dem Antrag auf Manjas Ersatz noch etwas zu warten. So schnell mochte sie Manja nicht ersetzt wissen.

Ihr Schreibtisch war top aufgeräumt, und das, wo sie ihn doch gestern im chaotischen Zustand verlassen hatte. Manja! Hatte sie das alles heute am Vormittag schon erledigt? Wer sonst? Diverse bunte Zettelchen mit kurzen Bemerkungen klebten am Telefon, an der Schreibtischlampe und auf der Schreibtischunterlage. Sonst war der Tisch leer.

Tomke ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen, las die Kurznotizen, öffnete Schubladen, griff nach den drei Vermisstenakten, die man ihr zugewiesen hatte, warf einen Blick darauf und legte sie zurück. Mit einer kurzen Bewegung der Maus erwachte ihr Computer, und Tomke meldete sich an. Ein paar Mails, mehr oder weniger wichtig, ploppten auf, sie las sie, beantwortete zwei davon, die anderen waren unwichtig. Tomke schaute gedankenverloren durch die Glasscheibe in das Nachbarbüro, konnte es nicht fassen, dass Manja nicht mehr da war. Mit einem Seufzer rollte sie auf dem Bürostuhl durch den Raum. Auch das Büro gegenüber, das von Carsten, Hajo und Miri, war durch eine Glasscheibe getrennt. Auch dieses Büro war leer. Carsten hatte sie ja im Keller getroffen, aber wo waren Hajo und Miri? Sie nahm ihr Handy auf, tippte die Nummer ihres Mannes an und wartete ungeduldig darauf, dass er sich meldete. Nach ein paar Klingeltönen hörte sie:

„In der Wohnung deiner Sekretärin!“

„Bitte?“ Tomke verstand nicht gleich.

„Na, du willst doch sicher wissen, wo wir sind. Miri und ich sind in Esens, in der Wohnung von Manja van der Sluis.“

„Aha! Habt ihr schon irgendwelche Hinweise gefunden? Hast du eine Ahnung, warum das passiert sein könnte?“

„Nein, Tomke. Wir sind gerade erst eingetroffen. Man kann erkennen, dass sie noch am Einziehen war. Hier stehen jede Menge Umzugskisten herum. Ach übrigens, Manjas Handtasche liegt noch in ihrem Büro, ich habe nur den Schlüssel herausgenommen. Schau du doch bitte mal rein. Ist eher Frauensache, denke ich. Miri öffnet gerade unten den Briefkasten, ansonsten müssen wir uns jetzt erst mal umsehen. Das braucht seine Zeit. Sicher schaffen wir das heute nicht alles, und ich denke, die Spusi muss auch hier rein.“

„Warum?“

„An der Eingangstür hat sich jemand zu schaffen gemacht, das ist eindeutig.“

„Kann das nicht auch schon beim Vormieter der Wohnung passiert sein? Manja ist doch erst vor Kurzem dort eingezogen.“

„Nein, ich denke nicht. Die Spuren hier sehen frisch aus.“

„Ich verstehe das nicht. Wer um Gottes willen war hinter ihr her? Sie kannte doch hier niemanden.“

„Bist du dir da sicher? Nur weil sie vor Kurzem erst nach Esens gezogen ist und bei uns die Stelle begonnen hat, heißt das nicht, dass sie hier niemanden kannte. Außerdem kann ihr ja auch jemand gefolgt sein. Wir wissen schließlich nichts über sie. Woher kam sie noch mal?“