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Von wegen Gentleman! denkt Lady Gwendolen, als der hoch gewachsene Gutsbesitzer Joss Northbridge ihr schockierend unverblümt über das tragische Ende ihrer Freundin Jane berichtet. Doch kaum hat sie ihn besser kennengelernt, beschleicht sie ein Verdacht: Verbirgt Joss nur ein empfindsames Herz hinter seiner Raubeinigkeit? Warum unterstützt er sie fortan aufmerksam bei ihren detektivischen Bemühungen, denjenigen zu entlarven, der Jane auf dem Gewissen hat? Oder hegt Joss gar romantische Hoffnungen? Denn überraschend macht er ihr einen Heiratantrag …
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Seitenzahl: 334
IMPRESSUM
Lady Gwendolen – der Liebe auf der Spur? erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2008 by Anne Ashley Originaltitel: „Lady Gwendolen Investigates“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd. London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe MYLADY ROYALBand 46 - 2009 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Dr. Hannelore Wiertz-Louven
Abbildungen: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 04/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9780263201895
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Herrscht mittlerweile in allen englischen Poststationen so viel Betrieb? fragte sich Gwendolen verwundert, während sie leichtfüßig einem abgehetzt wirkenden Stallburschen auswich, der zwei schweißnasse Pferde über den geschäftigen Vorplatz führte.
Sie hatte fünf Jahre im Ausland gelebt. Also ist es vermutlich normal, dass ich mit bestimmten Lebensgewohnheiten in meinem Geburtsland nicht mehr vertraut bin, beschied sie im Stillen. Nicht, dass sie in der Zeit vor ihrer Heirat viel gereist war. Aber bis zu ihrer Eheschließung mit Percival Warrender hatte es ihr ohnehin in so gut wie jeder Hinsicht an Lebenserfahrung gemangelt.
Sie trat einen Schritt zur Seite, um die Passagiere vorbeizulassen, die aus dem Gasthaus kamen und zurück zu ihren Kutschen wollten. Die bitterkalten Windböen, die über den Hof fegten, schienen niemand zu stören. Gwen hatte jedoch schon beim Aussteigen aus ihrer Mietchaise gefroren und ihren pelzgefütterten Umhang fester um sich geschlungen. Nach dem langen Aufenthalt in Ländern mit viel wärmerem Klima war es ihr gänzlich entfallen, wie kalt es in England selbst im März, wenn die Reisesaison wieder begann, noch sein konnte.
An das raue Wetter muss ich mich erst wieder gewöhnen, überlegte sie fröstelnd und zog sich, um den kalten Wind abzuhalten, vorsichtshalber ihre Kapuze über den Kopf. Dass ihr Blickfeld dadurch erheblich eingeschränkt war, störte sie nicht weiter, als sie kurz darauf zielstrebig zum Eingang des Gasthofs eilte.
Sie trat durch die Tür und bemerkte noch eben flüchtig die wohlige Wärme, die ihr entgegenschlug, dann prallte sie unsanft mit etwas zusammen, das sich wie eine hohe Steinmauer anfühlte. Sie geriet ins Straucheln, doch im nächsten Moment schlossen sich starke Finger um ihren linken Ellenbogen und hielten sie fest. Ein unterdrückter, gleichwohl vernehmlicher Fluch erklang, und schließlich erkundigte sich eine tiefe, volltönende Stimme nach ihrem Befinden. Daher war sie, als sie den Kopf hob, auch nicht sonderlich erstaunt, in dem auf eine raue Art attraktiven Männergesicht, das auf sie herabblickte, mehr Ungeduld als Mitgefühl zu erkennen.
Sie trat einen Schritt zurück, um dem Gentleman besser in die Augen sehen zu können. „Verzeihen Sie, Sir! Dieser Zusammenstoß war ganz und gar mein Fehler“, nahm sie großzügig die Schuld auf sich.
Mit einer raschen, beiläufigen Handbewegung zog sie die Kapuze vom Kopf und bemerkte, wie ihr Gegenüber die Lippen zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln verzog, als sein Blick auf ihre rötlich schimmernden kastanienbraunen Locken fiel und einen Moment lang dort haften blieb.
„Ganz recht, Madam“, erwiderte er schroff. Der freundliche Gesichtsausdruck war so plötzlich wieder verschwunden, dass Gwen schon glaubte, ihn sich ein gebildet zu haben. „Ich würde Ihnen raten, in Zukunft etwas besser achtzugeben. Auch um diese Jahreszeit kann sich das Reisen als ein riskantes Unternehmen herausstellen, wenn man nicht stets mit der Dummheit seiner Mitmenschen rechnet.“
„Wie wahr!“, murmelte Gwen, nachdem er seinen Hut – in einer, wie sie fand, höchst herablassenden Art – gezogen hatte und in Richtung Schankraum davonschritt.
An den Umgang mit ungehobelten Menschen wie ihm werde ich mich wohl ebenfalls gewöhnen müssen, überlegte sie, während sie dem Mann hinterhersah, bis er ihren Blicken entschwand.
Bislang waren ihr Erfahrungen mit solch unangenehmen Zeitgenossen erspart geblieben. Kindheit und Jugend hatte sie in einer beschaulichen Landpfarrei verbracht, und in ihrer Ehe hatte sich der rücksichtsvolle und fürsorgliche Gatte stets als ein Schild gegen alle unangenehmen Seiten des Lebens erwiesen. Gleichwohl betrachtete Gwen sich weder als weltfremd noch als wirklichkeitsfern, und sie war alles andere als eine empfindliche Pflanze, die beim ersten Windstoß umknickte. Es bedurfte mehr als der Unfreundlichkeit eines Fremden, um sie einzuschüchtern.
Abgesehen davon bin ich keineswegs völlig allein und schutzlos, fiel ihr ein, während sie langsam weiterging. Ihre engsten Angehörigen lebten zwar nicht mehr, und zudem war sie seit einigen Monaten verwitwet, aber auf die zuneigungsvolle und unerschütterliche Unterstützung ihrer geliebten Gillie konnte sie sich jederzeit verlassen.
Als sie den Schankraum betrat, sah Gwen sich suchend um und hatte die füllige Gestalt ihrer langjährigen Zofe und Gesellschafterin rasch entdeckt. Der missmutig dreinschauende Mann, mit dem Gillie sprach, musste wohl der Wirt sein, und wenn sie die enttäuschte Miene ihrer Zofe richtig deutete, hatte Gillie gerade erfahren, dass im Augenblick kein Privatsalon mehr frei war. Gemessen an der Anzahl der Gäste, die in der Poststation ein und aus gingen, fand Gwen das nicht verwunderlich. Sie machte Gillie ein Zeichen und strebte auf eine Reihe Sitzgelegenheiten in der Nähe der riesigen Feuerstelle zu.
Der Sessel, der dem Kaminfeuer am nächsten stand, war von einem modisch gekleideten Herrn besetzt, und so nahm Gwen notgedrungen mit einem Platz in einiger Entfernung von der Wärmequelle vorlieb. Da die Sessel Rücken an Rücken standen, konnte sie hören, wie der Gentleman leise mit einer der Hauskatzen sprach, die sich – typisch Katze – so nah wie möglich am Feuer zusammengerollt hatte.
„In fünf Minuten kommt mein Kutscher mit dem Landauer vorgefahren!“ Gwen zuckte zusammen. Sie wusste augenblicklich, woher sie die wohlklingende Männerstimme kannte.
„Wirklich nett von dir, Pont, dass du mich mitnimmst“, hörte sie den gut gekleideten Gentleman antworten und rutschte ein wenig tiefer in ihren Sessel, um sich so unsichtbar wie möglich zu machen. „Das Reisen in einer privaten Chaise ist einfach wesentlich komfortabler als mit der Postkutsche.“
„Ach, Merry, nun hör schon auf! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es mir keine Umstände macht“, erwiderte der andere. Aha, dachte Gwen. Er scheint also nicht immer so rüde zu sein. Wenn er will, kann er anscheinend auch große Zuvorkommenheit an den Tag legen.
„Wie du weißt, habe ich meine Geschäfte in Bristol sehr schnell erledigen können“, fuhr der Gentleman, mit dem sie zusammengestoßen war, unterdessen fort. „In den nächsten zwei Wochen muss ich zwar noch einmal für ein paar Tage nach London. Es ist aber egal, ob ich sofort oder später reise. Hauptsache, du hast nichts dagegen, wenn ich einen kurzen Abstecher nach Bath mache.“
„Ach, ganz und gar nicht, mein Lieber“, erwiderte sein Freund. „Kannst du es dir vorstellen – seit dem Tod von Großtante Beatrice habe ich keinen Fuß mehr in diese Stadt gesetzt. Meine Güte, wie lange ist das nun her … zehn Jahre … oder schon elf …?“ Es folgte eine bedeutungsvolle Pause. „Wie geht es den Mädchen im Internat?“, erkundigte er sich dann.
„Lange sind sie ja noch nicht dort“, antwortete sein Gesprächspartner. „Dennoch, nach dem Brief der Schulleiterin zu urteilen, wohl recht gut, wenn man bedenkt …“
Gwen vernahm einen langen, tiefen Seufzer. „Wie auch immer“, hörte sie den schroffen Fremden dann fortfahren, „ich habe keine Ruhe, bis ich meine Mündel gesehen und mit ihnen gesprochen habe.“
„Schrecklich, … wirklich schrecklich, Pont.“ Der gut gekleidete Gentleman schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Die beiden Mädchen haben so sehr an dieser armen Gouvernante gehangen. Und sie hatte wirklich niemanden? Keine Verwandten, sagst du?“
„Nein, soweit ich weiß, nicht“, erwiderte der schroffe Fremde. „Irgendwann erwähnte sie einmal, dass ihre Eltern gestorben seien, als sie noch sehr jung war. Allerdings bin ich ganz sicher, dass sie mit jemandem in London korrespondiert hat – vermutlich mit einer Freundin. Selbstverständlich hätte ich diese Person von dem, was geschehen ist, gerne in Kenntnis gesetzt. Aber unter den persönlichen Unterlagen befanden sich keine Briefe oder Hinweise, die einen Rückschluss auf die Identität jener Bekannten zuließen. Eigentlich sehr seltsam. Ich weiß nämlich genau, dass die junge Frau während der Monate, die sie bei mir angestellt war, eine große Anzahl Briefe sowohl geschrieben als auch erhalten hat.“
In seiner Stimme war deutlich Anteilnahme zu hören. Ganz ohne Mitgefühl kann er also nicht sein, dachte Gwen. Doch im nächsten Augenblick, als er weitersprach, schwand dieser Eindruck wieder. „Seltsamerweise hatte ich gerade begonnen, sie als eines jener eher seltenen Exemplare des weiblichen Geschlechts wahrzunehmen – als eine erfrischend kluge junge Frau. Und plötzlich tut sie etwas so völlig Idiotisches. Unternimmt einen Spaziergang im Marsden Wood – ohne Begleitung! Dabei war ihr bekannt, was sich dort zugetragen hatte. Und dann geht sie auch noch im Januar dorthin! Merry, ich frage dich, was um Himmels willen sucht ein einigermaßen gescheites menschliches Wesen an einem trostlosen, feuchten Winternachmittag im Wald? Und dazu noch mutterseelenallein?“
Während Gwen auf ihre Zofe wartete, verfolgte sie das Gespräch, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ganz klar war ihr nicht, worum es eigentlich ging, aber offensichtlich war der Frau in jenem Wald ein Unglück geschehen. Offensichtlich war auch, dass der Gentleman namens Merry das Verhalten der unglücklichen Frau genauso wenig nachvollziehen konnte wie sein ruppiger Freund.
„Es braucht wohl etwas mehr Verstand, als ich besitze, um zu begreifen, was manche weiblichen Geschöpfe zu ihrem Handeln treibt. Ich kann nur sagen, diese Frau hat sich absolut töricht verhalten, insbesondere da du sie gewarnt hattest, dass es nicht ratsam ist, sich auch nur in der Nähe dieses Waldes aufzuhalten.“ Das unangemessene und unerwartet laute, fröhliche Gelächter, das dieser Erklärung folgte, deutete darauf hin, dass Merry seinen Spitznamen durchaus zu Recht besaß. „Und ein hartgesottener Frauenfeind wie du, Pont, wird die Rätsel eines weiblichen Hirns schon gar nicht lösen.“
Einen Moment herrschte Schweigen, dann erwiderte der schroffe Fremde: „Mein lieber Freund, wieso ausgerechnet du darauf kommst, dass ich Frauen im Allgemeinen verabscheue, kann ich mir wirklich nicht erklären. Im Gegenteil, im Laufe der Zeit fand die eine oder andere durchaus meine Wertschätzung. Aber genau wie du hatte ich nie den Wunsch zu heiraten. Unter den Frauen, die ich bislang kennengelernt habe, gibt es keine, an deren Seite ich ein Leben lang glücklich sein könnte.“
„Das wirst du auch nicht, wenn du weiter so pedantisch nach dem kleinsten Fehler in Aussehen oder Charakter einer Frau suchst“, gab sein Freund zurück.
„Ach, mein lieber Merry, du täuschst dich“, kam umgehend die Antwort. „Ich bin nicht gewillt, Kraft oder Zeit darauf zu vergeuden, nach der perfekten Frau Ausschau zu halten. Ein solches Geschöpf existiert ohnehin nicht. Auch suche ich wahrhaftig nicht nach Fehlern beim anderen Geschlecht. Das ist gar nicht nötig. Bei einer Frau treten die Mängel sowieso innerhalb von Minuten nach dem ersten Kennenlernen zutage.“ Der schroffe Fremde stieß ein spöttisches Lachen aus. „Nehmen wir nur das törichte Geschöpf, mit dem ich vorhin zusammengestoßen bin.“ Er lachte wieder. Offenkundig schien ihm das Thema Spaß zu machen. „Mit diesem Spatzenhirn musste ich nicht erst ein Gespräch anfangen, um zu wissen, wen ich vor mir habe. Läuft mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze in diesem Gedränge herum! Rennt mich über den Haufen und tut dann überheblich! Ja, was soll man denn dazu noch sagen?“
„War sie wenigstens hübsch?“, fragte der fröhliche Merry lachend. „Ach, Pont, ich wette, du hast es nicht einmal gemerkt.“
„Richtig!“, gab sein Freund zu. „Nur das Haar ist mir aufgefallen. Verdammt schöne Farbe! Üppige braune Locken mit kupfernen Reflexen! So etwas habe ich ehrlich gesagt noch nie gesehen. Aber ob der Rotton wirklich ein Geschenk der Natur ist, wage ich zu bezweifeln. Man weiß ja – viele Frauen helfen künstlich nach, nur um aufzufallen.“
„Das ist eine Frechheit!“, rief Gwen unbedacht. Zum Glück schien sie aber keiner der beiden Männer gehört zu haben, denn derjenige, der sich so abfällig geäußert hatte, erklärte im gleichen Augenblick, dass er seine Pferde nicht länger im kalten Wind stehen lassen wolle.
Gwen wartete noch einen Moment, dann erst spähte sie vorsichtig über den Rand der Sessellehne und erhaschte einen kurzen Blick auf die beiden unverschämten Gentlemen, die Seite an Seite den Schankraum durchquerten. Sie war zu aufgebracht und folglich viel zu voreingenommen gegen den größeren, mit dem Namen Pont angeredeten, um seinem geschmeidigen, kraftvoll elegant wirkenden Gang Beachtung zu schenken. Stattdessen schickte sie ihm einen wütenden Blick hinterher und murmelte grimmig: „Widerlicher Flegel!“
Es war nicht die schlechte Meinung, die er vom anderen Geschlecht hatte, die sie ärgerte. Wenn sie wie stets ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie in dem Vierteljahrhundert, das sie inzwischen auf Gottes schöner Erde lebte, selbst schon vielen hirnlosen Frauenzimmern begegnet war. Auch dass er ihr den Zusammenstoß zum Vorwurf machte, wurmte sie nicht sonderlich. Schließlich war es wirklich keine kluge Idee gewesen, den vollen Gasthof mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze zu betreten. Nein, was sie so aufbrachte, war die Unterstellung, dass ihr Haar gefärbt sein müsse. Offensichtlich kannte er nur weibliche Wesen, die sich solch billiger Mittel bedienten, um ihre Ziele zu erreichen, und natürlich gab es diese Sorte Frauen in England wie überall auf der Welt. Aber zumindest – an diesem Punkt ihrer Überlegungen trat ein aufrührerisches Funkeln in Gwens Augen – war bislang keine ihrer Geschlechtsgenossinnen, ob berechnend oder nicht, so dumm gewesen, sich an diesen starrköpfigen Langweiler zu binden!
„Na, Miss Gwennie!“ Gillie konnte es nicht lassen, Gwen so anzureden, wie sie es bereits als ihr Kindermädchen getan hatte. „Einen solch kämpferischen Blick habe ich bei Ihnen ja lange nicht mehr gesehen. So haben Sie immer dreingeschaut, wenn Ihre geliebte Mama – Gott hab sie selig – Ihnen nicht erlaubte, vor dem Ende der Schulstunde mit Miss Jane im Garten zu spielen.“
Bei der Erinnerung an die Mutter, die trotz ihres langen Siechtums stets versucht hatte, ihrem einzigen Kind eine gute Erziehung angedeihen zu lassen, verflüchtigte sich Gwens Unmut. „Nun, Jane war eben viel gescheiter als ich. Deshalb ist aus mir wohl auch keine Gouvernante geworden, die selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen kann.“
„Sie wollten sich nur nicht anstrengen – das hat zumindest Ihre Mama immer gesagt. Wenn etwas Sie interessierte, waren Sie stets die Bessere.“
Mit einer Entschuldigung für ihr langes Ausbleiben setzte sich die Zofe. „Sie sollten wirklich nicht allein ein Gasthaus betreten“, schalt sie in einem Ton, den Gwen schon seit ihrer Kindheit kannte. „Sie hätten in der Kutsche sitzen bleiben sollen. Man weiß nie, was für schreckliche Leute sich an einem Ort wie diesem herumtreiben.“
„Wie wahr! Wie wahr!“, witzelte Gwen und beschloss zugleich, die unglückliche Begegnung mit dem unfreundlichen Gentleman aus ihrem Gedächtnis zu streichen. „Ich nehme an, du hattest keinen Erfolg, einen Privatsalon zu bekommen, oder?“
„Nein, Miss Gwen. Es gibt nur zwei, und die sind beide vermietet. Als Ersatz hat der Wirt angeboten, uns den Lunch in einem der unbenutzten Gästezimmer zu servieren, wenn wir bereit wären, entsprechend dafür zu zahlen.“
„Und das hast du selbstverständlich abgelehnt.“ Gwen musste schmunzeln. Auf ihre liebe alte Martha Gillingham war immer Verlass. Sie verstand es, mit derartig dreisten Kerlen umzugehen. Sie stand fast ein Leben lang in anderer Leute Diensten und hatte nicht viel Bildung genossen, doch sie besaß eine bemerkenswerte Menschenkenntnis und konnte auf den ersten Blick beurteilen, ob jemand versuchte, sie übers Ohr zu hauen.
„Ich habe ihm gesagt, dass meine Herrin ihre Reise nicht allzu lange unterbrechen will und dass es uns genügt, unsere Suppe im Schankraum zu essen.“
„Völlig richtig. Nach Auskunft der Postjungen sollten wir, wenn nichts dazwischenkommt, unser Ziel vor dem Abend erreichen.“
„Und falls die Haushälterin des verstorbenen Herrn Ihren Brief rechtzeitig erhalten hat, sollte auch alles für Ihre Ankunft hergerichtet sein.“ Die Zofe strahlte, ihre drallen Wangen glühten vor Aufregung. „Sie freuen sich doch auf Ihr neues Heim, Miss Gwennie?“
„Noch mehr freue ich mich darauf, Jane endlich wiederzusehen.“ Gwen seufzte tief. „Sicherlich hat sie sich in all den Jahren, in denen wir getrennt waren, sehr verändert … Genau wie ich.“
Marthas Strahlen verschwand. Für einen kurzen Moment verrieten ihre rundlichen Gesichtszüge Besorgnis, dann wandelte sich der Ausdruck in liebevolle Zuneigung. „So sehr nicht, Miss“, erwiderte sie schließlich. „Wie schon als Kind haben Sie immer noch dieses durchtriebene Glitzern in den Augen, wenn Sie sich über irgendetwas amüsieren oder ärgern. Und nach wie vor fürchten Sie sich auch nicht, bei jeder Gelegenheit offen und ehrlich Ihre Meinung zu äußern. Zum Glück sind Sie nicht mehr ganz so starrköpfig wie einst.“
Gwen schwieg. Zum einen war es nutzlos, mit der treuen Zofe zu streiten, und zum anderen hatte Martha durchaus recht. „Dann lass uns hoffen, dass Jane sich nicht ihr eigensinniges Streben nach Unabhängigkeit bewahrt hat. Die Möglichkeit, zurück in den Westen Englands zu ziehen, muss sie als ein Geschenk des Himmels betrachtet haben. Und obendrein ganz in die Nähe von Percivals Anwesen! Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass sie jetzt, da ich meinen ständigen Wohnsitz dort nehme, auch willens ist, bei mir zu wohnen.“ Eine Spur Missmut lag einen Moment lang in Gwens Miene. „Ich habe nicht vergessen, dass sie sich vor sechs Jahren weigerte, mir den Gefallen zu tun.“
Das letzte Stück ihrer langen Reise verlief ohne Zwischenfälle, und so erreichten die beiden Frauen ihr Ziel am späten Nachmittag. Gwen erblickte ihr neues Domizil als Erste.
In den Scheiben der hohen Sprossenfenster spiegelte sich das Licht der fahlgoldenen Wintersonne wie ein freundlicher Willkommensgruß. Nur der verwilderte Garten und die mit Efeu überwucherte Vorderfront des Gebäudes, das in der Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts erbaut worden war, beeinträchtigten den ansonsten so anheimelnden Eindruck ein wenig.
Doch das Äußere des Hauses, in dem sie in Zukunft leben würde, war für Gwen im Augenblick nicht von Belang. Sie war viel mehr auf die Atmosphäre gespannt, die im Innern herrschte. Und die würde, so vermutete sie, von der Wirtschafterin abhängen, die ihr verstorbener Ehemann vor fast zwanzig Jahren eingestellt hatte und die seitdem für den reibungslosen Ablauf des Haushalts sorgte.
Viel wusste Gwen freilich nicht über diese Mrs. Travis – außer dass sie eine Frau mittleren Alters war, dass Sir Percival sie für eine ausgezeichnete Köchin gehalten hatte und dass sie absolut vertrauenswürdig und gewissenhaft sein sollte. Deshalb hatte Gwen auch nicht vor – außer es stellte sich das Gegenteil heraus –, etwas an den gegebenen Zuständen zu ändern. Wichtig war vor allem, dass Gillie versprochen hatte, sich nicht in den Aufgabenbereich der Wirtschafterin einzumischen und sich nur auf ihre Pflichten als Gesellschafterin und Zofe zu beschränken. So hoffte Gwen, dass die Übernahme des Hauses glatt vonstatten gehen würde. Freilich war sie realistisch genug, um zu wissen, dass sich die Dinge oftmals nicht ganz wunschgemäß entwickelten. Zumal sie die Eigenarten ihrer geliebten Gillie nur allzu gut kannte.
Martha Gillingham hatte geholfen, Gwen auf die Welt zu bringen. Sie war nie wie eine Dienstbotin, sondern stets als Mitglied der Familie behandelt worden und folglich auch nicht an allzu viele Einschränkungen gewöhnt. Sie hatte sich nie gefürchtet – ob gefragt oder nicht –, stets zu allem offen ihre Meinung zu äußern. Falls sie also entdecken sollte, dass die Haushaltsführung den hohen Ansprüchen, denen sie selbst als Köchin und Wirtschafterin im Hause des verstorbenen Reverend Playfair und seiner Frau nachgekommen war, nicht entsprach, so würde sie bestimmt keinen Moment zögern, Mrs. Travis davon Mitteilung zu machen.
Zu ihrer Erleichterung stellte Gwen jedoch fest, dass es vorerst zu keiner Konfrontation zwischen den beiden Frauen kommen würde.
„Der armen Mrs. Travis geht’s gar nicht gut“, teilte das Hausmädchen ihnen mit, als es sie einließ. „Schon seit ein paar Tagen fühlt sie sich schlecht. Hat sich nicht geschont, weil sie doch wusste, dass Madam diese Woche kommen. Und nun hat sie’s ganz schlimm auf der Brust.“
„War der Doktor da?“, wollte Gwen wissen.
Das Mädchen schien erstaunt. Wahrscheinlich hatte es noch nie gehört, dass man für einen Dienstboten einen Arzt rief. „Nein, Madam … ich meine, Lady Warrender.“
„Mrs. Warrender genügt“, korrigierte Gwen, die sich nie an die Anrede „Dame“ hatte gewöhnen können – auch wenn sie ihr als Gattin Sir Percivals gebührte, der für seine Verdienste und Heldentaten in der Armee Seiner Majestät zum Ritter geschlagen worden war. „Und wie heißt du?“
„Annie, Madam … Annie Small.“
Gwen musste unwillkürlich schmunzeln. Der Name Small, der so viel wie „klein und schmal“ bedeutete, schien für die dralle, rotwangige Annie irgendwie gar nicht zu passen. „Dann soll man sofort einen Arzt rufen“, befahl sie. „Befindet sich außer dir und Mrs. Travis nicht auch ein Knecht im Haus?“ Gwen glaubte sich zu erinnern, dass Sir Percivals Bevollmächtigter in London etwas Derartiges erwähnt hatte.
Annie verdrehte die Augen gen Himmel. Ein deutliches Zeichen, dass das Mädchen von dem Knecht nicht allzu viel hielt. „Ja, Madam, Manders heißt er. Wird wieder irgendwo draußen sein. Kommt nicht oft ins Haus, der faule Nichtsnutz. Kann Mrs. Travis nicht in die Augen sehen. Über dem Stall hat er sich ein gemütliches Plätzchen eingerichtet. Da lungert er normalerweise herum.“
Obwohl Gwen wusste, dass Voreingenommenheiten für gewöhnlich zu keinem klaren Urteil führten, war sie sich sicher, dass Annies Bericht der Wahrheit recht nahe kam. Der Garten zum Beispiel, der nicht allzu groß war, ließ sich durchaus von einem Mann, der willens war anzupacken, in Ordnung halten. Außerdem – jemandem, der draußen arbeitete, konnte die Ankunft ihrer Kutsche unmöglich entgangen sein. Doch als das Gefährt vor dem Portal gehalten hatte, war niemand herbeigeeilt, um Gillie und dem Kutscher zu helfen, das Gepäck in die Halle zu tragen.
„Dann sollte es nicht schwerfallen, ihn zu finden, Annie. Schick ihn unverzüglich zum Doktor ins Dorf. Zuvor aber bitte ich dich, uns zu Mrs. Travis zu führen.“
Die Haushälterin bewohnte zwei kleine Kammern, die hinter der Küche lagen. Sauber und ordentlich, war Gwens erster Eindruck. Indes war sie äußerst besorgt, als sie die magere, hohlwangige Frau erblickte, die sich nur mit Mühe aufzurichten vermochte.
Mrs. Travis’ Beteuerungen, dass sie sich nach einem Tag Bettruhe schon viel besser fühle und durchaus in der Lage sei, ihrer neuen Herrin ein ordentliches Abendessen zuzubereiten, stießen auf taube Ohren. Angesichts des resoluten Widerspruchs von sowohl Gwen als auch Martha blieb der geschwächten Kranken nichts anderes übrig, als in ihrem warmen Bett zu bleiben, obwohl es sie sichtlich bekümmerte, ihre Pflichten nicht erfüllen zu können.
„Niemand glaubt, dass Sie sich die Krankheit vorsätzlich zugezogen haben, Mrs. Travis“, beruhigte Gwen sie, nachdem sie sich die tränenreiche Entschuldigung angehört hatte. „Bis Sie wieder ganz gesund sind, kann Martha für mich sorgen.“
Mrs. Travis schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Allmählich begannen sich die Sorgenfalten um die glanzlosen Augen zu glätten, als sie begriff, dass ihre Position als Haushälterin keineswegs gefährdet war. Die Ankündigung, dass man ihr sogar einen Arzt schicken wollte, schien ihr einen Moment lang völlig die Sprache zu rauben. Erst als Gwen das Hausmädchen Annie erwähnte, fand Mrs. Travis ihre Stimme wieder.
„Annie ist nur vorübergehend angestellt, Madam“, erklärte sie. „Als Mr. Claypole mir vor ein paar Wochen Ihre Rückkehr nach England mitteilte, erlaubte er mir, ein paar zusätzliche Leute anzuheuern, damit ich das Haus für Ihre Ankunft vorbereiten kann. Mr. Claypole kam regelmäßig einmal im Jahr, um sich zu vergewissern, dass während der Abwesenheit unseres alten Herrn, Gott hab ihn selig, alles in Ordnung war. Daher wusste er, dass hier außer mir nur Manders nach dem Rechten sah. Mr. Claypole hat seine Pflichten immer sehr ernst genommen. Wir erhielten unseren Lohn stets auf den Tag pünktlich jedes Vierteljahr. Und er hat darauf bestanden, dass ich ihm sofort schreibe, wenn ich mir um irgendetwas Sorgen mache – und sei die Angelegenheit noch so nichtig.“
Auch Gwen war von der Gewissenhaftigkeit des Londoner Geschäftsträgers ihres verstorbenen Mannes beeindruckt gewesen. Deshalb hatte sie bei ihrem Besuch in seiner Kanzlei kurz nach ihrer Ankunft in England keinerlei Bedenken gehabt, seine Dienste weiterhin in Anspruch zu nehmen. Sie konnte sicher sein, dass sich ihre finanziellen Angelegenheiten bei Mr. Claypole in verlässlichen Händen befanden. Und das war wichtig, denn sie stand nicht mittellos in der Welt – Sir Percival hatte dafür gesorgt, dass sie ein äußerst komfortables Leben führen konnte. Ihr wäre es zwar nicht in den Sinn gekommen, ihr Geld für unsinnige Luxusgüter zu verschwenden, aber sie wollte das Haus ihres verstorbenen Mannes in ein Heim umgestalten, in dem sie sich wohl und glücklich fühlen konnte.
Bereits am frühen Abend, nach dem Besuch des Arztes und einem schnellen ersten Rundgang durch das Haus, machte Gwen sich an ihre neue Aufgabe. Sie hatte beschlossen, das Zimmer, das die schönste Aussicht auf den leider so vernachlässigten Garten bot, zu ihrem Schlafgemach zu machen. Und während sie ihre neuen Kleider, die sie in London gekauft hatte, auspackte, warf sie einen nachdenklichen Blick auf das junge Hausmädchen, das ihr zur Hand ging. Annie schien eine ebenso fröhliche wie dankbare Seele zu sein, und sie war glücklich, dass sie ihre Stelle wegen Mrs. Travis’ Krankheit nun länger als geplant haben würde.
„Du bist nur vorübergehend engagiert?“, fragte Gwen das Mädchen.
„Ja, Madam.“ Annie nickte eifrig. „Mrs. Travis hatte gehört, dass ich zurück bin, um mich um Mama und die Kleinen zu kümmern. Sie hat fragen lassen, ob ich vielleicht für ein oder zwei Wochen hier im Herrenhaus aushelfen will. Ich hab Ja gesagt, wegen dem Geld, obwohl meine Mama so krank war. Aber jetzt geht’s ihr besser, und da werd ich mir wieder eine feste Stelle suchen.“
Gwen stellte ein paar weitere Fragen und erfuhr, dass die vorherige Herrin des Mädchens nach Bath gezogen war. Annie hatte die ältere Dame, bei der sie seit ihrer frühen Jugend beschäftigt gewesen war, sehr gemocht. Doch weil die Bindung zu ihrer eigenen Familie sehr eng war, hatte sie sich nicht entschließen können, ihrer Herrin nach Bath zu folgen. Für eine Übergangszeit war sie deshalb ins Elternhaus zurückgekehrt und hatte sich um die jüngeren Geschwister gekümmert, während sich ihre Mutter von einer schweren Grippe erholte.
„Todkrank war sie, Madam. Ich wunder mich jetzt noch mächtig, dass sie uns nicht weggestorben ist, bei dem harten Leben, das sie hatte“, erklärte Annie so sachlich, dass Gwen sich das Lachen verkneifen musste.
Nicht, dass es ihr an Mitleid fehlte. Als Tochter eines Pfarrers wusste sie, wie viele Menschen in weniger glücklichen Verhältnissen lebten als sie selbst. Mrs. Small war nur eins von zahllosen traurigen Beispielen. Erschöpft von sieben Geburten, schwerer Arbeit und kargem Essen, fristete Annies Mutter ein Leben wie die meisten ihrer Leidensgenossinnen aus der unterprivilegierten Schicht. Es war schon ein Wunder, dass die arme Frau überhaupt ein mittleres Alter erreicht hatte – was ihrem Ehemann nicht vergönnt gewesen war. Er hatte, wie sie von Annie erfuhr, in den Diensten des Earls of Cranborne gestanden und war vor fünf Jahren bei einem Unfall mit einem durchgehenden Pferd ums Leben gekommen.
„Fühlte sich der Earl verantwortlich für den Tod deines Vaters? Durfte deine Mutter deshalb in dem Cottage bleiben?“
„Eher nicht, Madam.“ Annie zuckte die Schultern. „Ich nehm an, in dem Cottage darf sie deshalb wohnen, weil unser Jem bei Seiner Lordschaft im Stall arbeitet. Und unsere Betsy ist auch bei ihm angestellt. Sie ist Zimmermädchen im Herrenhaus und schläft auch da. Im Cottage ist halt wenig Platz mit Mama, den Kleinen und Jem.“ Annie senkte verlegen den Blick. „Ich hatte es besser … eine Kammer ganz für mich allein. Deshalb brauch ich auch schnell wieder ’ne neue Stellung.“
„In Cranborne Hall kannst du keine Arbeit bekommen? Dann wärst du in der Nähe deiner Familie.“
„Nee, da tut sich nichts.“ Abermals zuckte Annie mit den Schultern. „Selbst wenn, das kommt nicht infrage. Ich will da nicht arbeiten.“
„Wieso denn?“, fragte Gwen erstaunt. „Ist der Earl kein angenehmer Dienstherr?“
„Doch“, beeilte Annie sich, ihr zu versichern. „Nein, das ist es nicht, Madam. Ich will nicht mein ganzes Leben Zimmermädchen bleiben. Ich will mich verbessern. Wirtschafterin werden oder so was. Im Herrenhaus hab ich dazu keine Chance.“
„Gibt es denn keine anderen großen Herrenhäuser oder reichen Familien hier in der Gegend, die dir Arbeit geben könnten?“ Gwen schämte sich kein bisschen, Annie auszufragen, denn sie hoffte, auf diese Weise etwas über den Dienstherrn ihrer Freundin Jane zu erfahren. Er sollte einer der reichsten Grundbesitzer in Somerset sein. Doch obwohl sie nie etwas Schlechtes über ihn gehört hatte – ihr verstorbener Ehemann war mit dem Gentleman eng befreundet gewesen –, fand Gwen es wünschenswert, sich aus unparteiischer Quelle über ihn zu informieren, bevor sie einen Besuch dort machte.
„Mein Mann erwähnte einmal einen Nachbarn namens Northbridge“, sagte sie leichthin. Noch wollte sie nicht preisgeben, dass ihre Freundin im Haus dieses Herrn als Gouvernante arbeitete. Nicht, weil sie sich für Jane schämte. Nein, das war absolut nicht der Grund. Sie wollte lediglich eine ehrliche Meinung über besagten Gentleman hören.
„Gott behüte, Madam! Dort bekomm ich niemals Arbeit!“, rief Annie entsetzt.
Zunächst war Gwen überrascht, dann jedoch wallte ein ungutes Gefühl in ihr auf, das sie nicht recht einordnen konnte. „Warum denn, Annie? Ist Mr. Northbridge … nicht beliebt?“
„Oh doch, Madam. Nein, das ist es nicht. Die meisten mögen ihn, wenn vielleicht auch nicht alle. Na ja, manchmal kann er ’n bisschen schwierig sein. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, fuhr sie fort: „Sagt eben, was er denkt, der Gentleman. Hat vor niemandem Angst. Aber er ist gerecht. Mein ältester Bruder Ben, der beim Dorfschmied arbeitet, würde sofort zu Northbridge wechseln, wenn es denn eine Anstellung für ihn gäbe. Nur gibt leider niemand freiwillig seinen Posten bei Mr. Northbridge auf. Wer einmal bei ihm arbeitet, bleibt, bis er den Löffel abgibt. ’tschuldigung, Madam, aber genau so ist es!“
Ungläubig starrte Gwen das Mädchen an. „Was soll das heißen, Annie?“
„Nun ja, Madam, wie alle Menschen hat auch Mr. Northbridge seine Fehler. Trotzdem ist jeder glücklich, wenn er in Bridge House angenommen wird und bleiben darf, bis der Allmächtige dann entscheidet, dass es Zeit ist zu gehen. Mr. Northbridge weiß Bescheid, dass Ben gern als Stallmeister bei ihm arbeiten würde. Er hat ihm fest versprochen, dass er die Stelle kriegt, sobald sie frei wird. Aber mein Bruder ist nicht dumm, Madam. Er weiß, dass er noch ’ne ganze Weile für den Schmied arbeiten muss.“
Mit recht gemischten Gefühlen hörte Gwen zu. Einerseits war sie froh, dass ihre Freundin einen Posten bei einem Arbeitgeber gefunden hatte, der so viel Achtung genoss. Andererseits befürchtete sie, dass es vielleicht schwierig werden könnte, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Möglicherweise war es gar nicht so leicht, ihre beste Freundin, die für sie immer wie eine Schwester gewesen war, von dieser soliden Stütze der Gemeinde fortzulocken und dazu zu überreden, zusammen mit ihr in ihrem Haus zu leben.
Jane war mittlerweile eine ganz und gar unabhängige junge Frau. Aufgewachsen als einziges Kind respektabler, wenn auch nicht sehr begüterter Eltern, hatte sie stolz und entschlossen ihren Lebensweg selbst bestimmt. Gwen war klar, dass sie bessere Chancen hätte, sich ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, wenn dieser Mr. Northbridge nicht so ein mustergültiger Arbeitgeber wäre. Aber sie konnte ja sicher recht bald persönlich feststellen, was für ein Mensch er war.
Und bis dahin gibt es genug andere Dinge zu tun, die meine Aufmerksamkeit erfordern, sagte sie sich entschlossen und widmete sich wieder dem Auspacken ihrer Schrankkoffer. Ihr erster Besuch in Bridge House würde noch eine Weile warten müssen. Zunächst wollte sie ihr eigenes Haus in Ordnung bringen.
Erst zwei Wochen später konnte Gwen ernsthaft daran denken, die kurze, zwei Meilen lange Fahrt zu ihrer Freundin Jane Robbins in Bridge House anzutreten. In der Zwischenzeit war sie sehr beschäftigt gewesen. Sie hatte Annie eine feste Anstellung in ihrem Haushalt gegeben. Annies jüngerer Bruder Joe ging Manders dabei zur Hand, den verwilderten Garten in Ordnung zu bringen.
Mrs. Travis fühlte sich von Tag zu Tag besser. Sie freute sich über Annies Hilfe und war voll des Lobes über das Mädchen, weil es selbstständig arbeiten konnte und sich nicht schonte. Manders hingegen zeigte wenig Begeisterung über die Hilfe im Garten und bei den anderen Arbeiten rund um Haus und Hof.
Seine wenig enthusiastische Reaktion kam für Gwen nicht überraschend. Mittlerweile war sie mehr und mehr davon überzeugt, dass Annies schlechte Meinung von dem Hausburschen völlig gerechtfertigt war. Er zeigte sich regelrecht beleidigt, als er erfuhr, dass er Unterstützung bekommen sollte. Gwens Meinung nach war seine offen gezeigte Ablehnung allerdings nicht darin begründet, dass er Angst hatte, man traue ihm die Arbeit nicht zu. Nein, ihn schreckte vielmehr, tagtäglich einen Aufpasser an seiner Seite zu haben, nicht mehr nach Lust und Laune die Füße hochlegen und in Ruhe sein Pfeifchen rauchen zu können. Dennoch sah man Manders immer öfter mit der Schubkarre über die mit Unkraut bewachsenen Wege trotten, und auch der Garten machte an manchen Stellen schon einen recht aufgeräumten Eindruck.
Annies Erscheinen in dem kleinen Salon, den sie sich im hinteren Teil des Hauses als ihren privaten Rückzugsort ausgewählt hatte, riss Gwen aus ihren Überlegungen über Manders und seine Faulheit. Gedankenverloren sah sie eine Weile zu, wie das Mädchen Feuer machte, dann erkundigte sie sich, wie Annie und ihrem Bruder die Arbeit gefiel.
Wenn ihre neue Angestellte erstaunt war über so viel Interesse an ihrem Wohlergehen und dem ihres sehr viel jüngeren Bruders, zeigte sie es nicht. „Mächtig gut, Madam!“ Annies rosiges Gesicht strahlte. „Meine Dachkammer ist hübsch und gemütlich, und ich arbeite sehr gerne unter Mrs. Travis.“
„Und dein Bruder? Gefällt es ihm auch?“
„Es geht so, Mrs. Warrender. Die Arbeit scheut er nicht. Er ist ja noch jung. Aber dass er eine Kammer ganz für sich alleine hat – daran muss er sich wohl erst gewöhnen. Bislang hat er nämlich immer mit Mama und den Kleinen zusammen geschlafen.“
Eine Schlafkammer von sechs Quadratmetern, die als der vollkommene Luxus betrachtet wird! dachte Gwen erschrocken. Doch so waren die Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsschichten. „Ich verstehe, Annie“, sagte sie laut. „Für Joe muss es seltsam sein. Aber ich möchte, dass er noch eine Zeit lang hier übernachtet, damit du ein Auge auf ihn haben kannst.“
Sie blickte in den Garten, wo der Dreizehnjährige mit den dornigen Ranken eines Brombeerstrauchs kämpfte. „Vielleicht will er eines Tages lieber ein Quartier über dem Nebengebäude mit jemand anderem teilen, dann habe ich nichts dagegen. Vor ein paar Tagen habe ich mir die Unterkunft angesehen. Dort oben ist genug Platz für drei Leute. Doch vorerst sollte Joe besser in deiner Nähe bleiben. Er ist schließlich noch ein Kind.“
Gwen wusste, dass sie ihre Worte nicht weiter erläutern musste. Annie war nicht dumm. Sie konnte sich gegen den wortkargen Manders behaupten, ihr kleiner Bruder aber vielleicht nicht. Deshalb war es zunächst einmal besser zu beobachten, wie sich die Zusammenarbeit zwischen dem Hausknecht und seinem Gehilfen entwickelte, auch um möglicherweise zu verhindern, dass der kleine Joe schikaniert wurde.
Gwen dachte an die vielen anderen Ereignisse und Arbeiten, die sie während der vergangenen Woche in ihrem neuen Heim in Atem gehalten hatten. Ihr war nur selten Zeit geblieben, die Hände in den Schoß zu legen. Ihre Nachbarn hatten sich noch nicht bei ihr sehen lassen. Aber in Anbetracht dessen, was Annie und Dr. Bartlet, der Arzt aus dem Dorf, berichteten, war der Mangel an Besuchern nicht weiter verwunderlich. Der größte Teil der Landbevölkerung lag derzeit mit derselben Krankheit darnieder, die auch Mrs. Travis und Annies Mutter ins Bett gezwungen hatte. Dennoch fand es Gwen ein wenig eigenartig, dass sie noch nicht einmal eine kurze Nachricht von Jane erhalten hatte. Zumal sie ihrer Freundin das genaue Datum ihrer Ankunft mitgeteilt hatte.
Schnell fasste Gwen einen Entschluss. Sie bat Annie, ihr Martha Gillingham zu schicken und anschließend Manders zu instruieren, die Kutsche mit dem einzigen Pferd, das Sir Percival jemals besessen hatte, vorfahren zu lassen.
Die Fahrt nach Bridge House dauerte nicht lange. Dennoch war Gwen erleichtert, als sie aus dem klapprigen Einspänner steigen konnte, der nicht viel mehr Komfort bot als ein Bauernfuhrwerk. Sie nahm sich fest vor, ihr Konto bei nächster Gelegenheit mit dem Kauf einer neuen Kutsche zu belasten.
Bridge House, im Stile georgianischer Architektur erbaut, stand in einer großen, gepflegten Gartenanlage und war, wie Jane es in einem ihrer Briefe beschrieben hatte, ein wahrhaft beeindruckendes Gebäude. Eine Residenz eben, wie sie sich nur ein Gentleman mit ausreichenden finanziellen Mitteln leisten konnte. Wenn sich in dem gediegenen Anwesen auch der Charakter des Besitzers widerspiegelte, musste es sich um einen Mann von vornehmer Eleganz und erlesenem Geschmack handeln.
Außer ein paar Fakten, die sie von ihrem Gatten und Jane sowie aus den Ausführungen Annies erfahren hatte, wusste Gwen wenig über den Eigentümer des ausgedehnten Landsitzes. Ihr war lediglich bekannt, dass er mit verschiedenen adeligen Familien verwandt und verschwägert war, dass er ein ansehnliches Stadthaus in London besaß und Junggeselle war.
„Schade, dass er nicht verheiratet ist, Gillie“, erklärte Gwen. „Sonst hätte ich Mrs. Northbridge einen Besuch abstatten können, und dir wäre die anstrengende Fahrt erspart geblieben. Ich bin zwar eine respektable Witwe, doch unbegleitet kann ich keinen alleinstehenden Gentleman besuchen, ohne Anlass für Klatsch zu bieten.“
„Stimmt, Miss Gwen. Mit ein paar Jahren mehr auf dem Buckel und einem Pferdegesicht wäre es vielleicht anders. Aber beides können Sie nicht vorweisen.“
„Dafür bin ich sehr dankbar“, antwortete Gwen schmunzelnd, während sie auf das beeindruckende Portal unter den Kolonnaden zugingen. „Hoffen wir, dass wir Glück haben und Mr. Northbridge außer Haus ist. Dann kann ich nach Jane fragen, ohne Anstoß zu erregen.“
„Warum haben Sie Miss Jane nach Ihrer Ankunft nicht noch einmal geschrieben?“, fragte Martha und griff nach dem Türklopfer.
„Ich möchte Jane nicht bedrängen, bevor ich nicht ganz sicher bin, ob sie bei mir wohnen will. Ich kenne sie nur zu gut. Zumindest wird sie darauf bestehen, ihre Kündigungsfrist einzuhalten, oder aber so lange bei Mr. Northbridge bleiben wollen, bis er eine andere Gouvernante gefunden hat. Außerdem können Briefe leicht in die falschen Hände geraten. Es muss nicht alle Welt von meiner engen Freundschaft mit Jane erfahren … zumindest nicht, ehe ich meinen Vorschlag mit ihr diskutiert habe.“ Gwen sah betrübt zu Boden. „Einmal habe ich es falsch angefangen. Noch einmal will ich diesen Fehler nicht machen.“
Ein Diener öffnete die Tür, und nachdem Gwen sich vorgestellt hatte, bat er sie und ihre Begleiterin ohne Zögern herein. Der Salon, in den er Gwen führte, war elegant, aber gemütlich eingerichtet. „Wenn Sie hier warten wollen, Madam. Ich frage nach, ob der Herr bereit ist, Sie zu empfangen.“
Ihr Mann hatte immer betont, er habe zu diesem speziellen Nachbarn stets besonders gute Beziehungen gepflogen, und so zweifelte Gwen keinen Moment daran, dass Mr. Northbridge sie, falls ihn nicht dringende Angelegenheiten abhielten, empfangen würde.
Darum war sie nicht wenig betroffen, als sie, nachdem der Butler die Salontür hinter sich geschlossen hatte, eine erstaunte Männerstimme sagen hörte: „Großer Gott! Ich wusste ja, dass Warrender, dieser alte Gauner, eine wesentlich jüngere Frau geheiratet hatte. Aber so ein junges Ding, das kaum dem Schulzimmer entwachsen ist? Auf die Idee wäre ich nie gekommen!“
Es war nicht die unschmeichelhafte Bemerkung, sondern vielmehr die allzu bekannte Stimme, die Gwen erstarren ließ. Abrupt drehte sie sich um. Im Türrahmen stand der Hausherr. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht schockiert aufzukeuchen, als ihr Blick auf sein Gesicht fiel.
Sie war zwar erst fünfundzwanzig, doch das Leben hatte sie durchaus gelehrt, niemals selbstgefällig zu sein und nichts für selbstverständlich zu halten. Sie erfreute sich zwar besserer Verhältnisse als die meisten ihrer Mitmenschen, aber sie lebte nicht in einem Kokon. Sie wusste genau, dass das Dasein voller Gefahren war und dem Unvorsichtigen jederzeit Fallen stellen konnte. Nie jedoch hätte sie vermutet, dass die Launen des Schicksals so boshaft und rachsüchtig sein könnten.