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'Lalabo Angola, Lalabo Afrika' - als Maria D. Bossen im Flugzeug sitzt und für immer ihre Heimat Afrika verlässt, strömen die Abschiedworte in der Umbundu-Sprache wie von selbst aus ihr heraus. 'Lebewohl' sagt sie, während sie weiß, dass ihre Seele für immer dort bleiben wird. Dort, wo sie ihre glückliche Kinder- und Jugendzeit verbrachte; dort, wo ihr Zuhause war, nachdem sie aus dem vom Krieg zerrütteten Deutschland zurückkehrte. Das Buch ist die bewegende Autobiographie einer Frau, die als Kind mit ihrer Familie nach Angola auswanderte und dort aufwuchs - damals, als Afrika noch als dunkler, geheimnisumwitterter Kontinent galt. In beeindruckender Weise öffnet sich hier die ferne, exotische Welt mit all ihren Facetten - anrührend, spannend und authentisch.
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Seitenzahl: 509
Maria D. Bossen
Lalabo Afrika
Deutsch-angolanische Familiensaga
Ungekürzte Lizenzausgabe
Sandneurosen Verlag
Birkenweg 4, D 87642 Halblech
Tel. +49 (0) 8368 9290, FAX +49 (0) 8368 9292
e-mail: [email protected]
www.sandneurosen.com
1. Auflage 2013
Copyright: Alle Rechte, auch Auszugsweise, insbesondere das der Übersetzung, des Nachdrucks, die Entnahme von Bildern, Funkbearbeitung sowie Verfilmung, im In- und Ausland nur mit schriftlicher Genehmigung des Lizenzgebers.
Erstmals erschienen unter dem Titel Lalabo Afrika bei der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig 2001. Trotz intensiver Bemühungen konnte die Rechtsnachfolge der Autorin nicht abschließend geklärt werden.
Buchcover: Zembafrau Südwestangola
Text: Maria D. Bossen
Umschlaggestaltung, Satz und Layout: Uwe Scharf, Gabi Christa
Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN: 978-3-939792-03-1 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-939792-07-9 (e-book)
Über die Autorin
Einleitung
Afrika damals
Die Auswanderung
Cavaco
Die Ligaschule
Das Hauseinweihungsfest
Die Suche nach einer Farm
Kreuzer »Karlsruhe«
Tschasi
Paul Lorenz
Vaters Deutschlandreise
In Deutschland
Die Rückkehr
Nachwort
Karte
Maria D. Bossen wurde 1921 in Hohenfeld a. Main geboren. 1923 wanderten ihre Eltern mit ihrer gesamten Familie nach Angola aus, wo sie mitten im afrikanischen Busch ihre Kindheit verlebte.
1939 kehrte die Familie nach dem Tod des Vaters nach Deutschland zurück. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges macht die Rückreise nach Angola unmöglich. Durch die durchlebten Kriegswirren wird die Familie auseinandergerissen.
Maria lernt jedoch den Wehrmachtsoffizier Peter kennen und lieben, heiratet ihn und nimmt waghalsige Abenteuer auf sich, um ihn in Gefangenschaft zu besuchen.
Nachdem er endlich aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wird, geht die junge Familie nach Angola zurück, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Doch revolutionäre Bestrebungen zwingen sie schließlich dazu, Angola für immer zu verlassen.
Als mein Sohn Karl Heinrich (Kaliki) seine Semesterferien bei uns auf der Insel Porto Santo/Madeira verbrachte, wohin es uns nach der Flucht aus Angola zunächst verschlagen hatte, begab es sich eines Abends, dass er beim Betrachten der geretteten Fotos und beim Erzählen, was ich als Kind dort alles erlebt hatte, plötzlich innehielt, mich eindringlich ansah und sagte: »Mama, du musst ein Buch darüber schreiben, wie es dort einmal war und nie wieder sein wird, bevor es in Vergessenheit fällt.« – »Aber mein Junge«, erwiderte ich, »wie soll ich das, mit meinem altmodischen, ja verbuschten Deutsch?« Er aber ließ meine Bedenken nicht gelten. »Fang nur nicht an, tiefzustapeln!« meinte er aufmunternd. Ich spürte, wie viel ihm daran lag, etwas festzuhalten, woran auch sein Herz hing, und versprach, es zu versuchen.
Als Kakilis Ferien zu Ende waren, begann ich zu schreiben. Nachdem der Anfang gemacht war, merkte ich, dass nicht der Verstand meine schreibende Hand führte, sondern das Gefühl.
Die Auswanderung
Damals, als der Wind noch aus einer anderen Richtung wehte und der Zeitgeist ein anderer war, als die Europäer davon überzeugt waren, dass es zu den vornehmsten Aufgaben gehöre, das Wilde zu kultivieren, unterentwickelte und rückständige Länder zu zivilisieren, war auch mein Vater Karl Hannwacker von diesem Geist erfüllt und folgte den Pionieren, die bereits Jahrhunderte vor ihm Afrika erschlossen hatten. Schon als Schuljunge hatte er von dem geheimnisvollen schwarzen Erdteil geträumt, der ihn wie ein Magnet anzog.
Als noch recht junger Mann trat er eines Tages vor seinen Vater und legte ihm seine Auswanderungspläne dar. Großvater aber war entschieden dagegen, schließlich war er sein einziger Sohn und Erbe eines großen Bauernhofes in Hohenfeld bei Kitzingen amMain. Die Enttäuschung über Großvaters Ablehnung war so groß, dass sich mein Vater daraufhin sofort freiwillig zur Wehrmacht meldete und den Ersten Weltkrieg mitmachte.
Kurz vor Kriegsende verstarb Großvater ganz plötzlich. Nun musste Vater den Hof viel früher übernehmen, als ihm recht war. Nach dem Trauerjahr heiratete er meine Mutter. Ein Jahr später wurde mein Bruder Georg geboren, und nach weiteren zwei Jahren ich. Man nannte mich Dorothea, rief aber stets nur Thea.
Afrika aber ließ meinen Vater nicht los. Er bot seine ganze Überredungskunst auf, umMutter für diesen Kontinent zu gewinnen. Sie aber verfügte über endlose Einwände. Ängste vor Löwen und Schlangen standen dabei an erster Stelle. In einer Zeit, als es noch kaum Radio, geschweige denn Fernsehen gab, war Afrika im allgemeinen ein in jeder Hinsicht dunkler, geheimnisumwobener Erdteil, über den unglaubliche Geschichten erzählt wurden. Hinzu kam, dass es nicht darum ging, eine Existenz gründen zu müssen, da diese bereits vorhanden war.
Im Jahre 1923 war es dann endlich soweit: Vaters Jugendtraum wurde wahr. Mutter hatte sich überzeugen lassen, als Vater eines Tages einen Herrn eingeladen hatte, dem er zufällig in Kitzingen begegnet war und der ihr vom Leben in Afrika erzählte. Er hatte in Deutsch-Ostafrika gelebt, war aber ausgewiesen worden, als Deutschland die Kolonien verlor.
Vater fuhr zunächst allein voraus. Sein Ziel war Angola, das damalige Portugiesisch-Westafrika. Die Familie sollte erst nachkommen, wenn er eine Farm gefunden hätte. Zur Familie gehörten: Mutter, die Großmutter väterlicherseits, Georg und ich sowie unsere Cousine Eva, die als Vollwaise von unseren Eltern erzogen wurde. Ihr Vater war gefallen, und die Mutter, Vaters Schwester, starb im Wochenbett. Drei Monate nach Vaters Abfahrt traf ein Telegramm von ihm ein: »Farm gekauft, alles gut, bitte nachkommen.« Zu der Zeit war ich etwas über ein Jahr alt und weiß daher nur aus den Erzählungen meiner Eltern, dass der Anfang, im tiefsten Busch von Chicuma, eine echte Robinsonade gewesen sein muss.
Von jeglicher Zivilisation unberührt, war man allein auf sich selbst gestellt. Es gab keine Straßen, keine Brücken, keine Autos, keinen Strom, keine Ärzte – die Missionare ausgenommen – und kein Geschäft in der Nähe, in dem man schnell mal etwas einkaufen konnte. Alle Unternehmungen wurden zu Tagesreisen, die zu Fuß oder in Hängematten bewältigt wurden. Kam man auf solchen »Reisen« durch die Dörfer der Eingeborenen, ergriffen diese beim Anblick eines Weißen die Flucht. Die meisten im Busch lebenden Schwarzen hatten zu dieser Zeit noch nie einen Europäer gesehen.
Vater kaufte die Farm von einem Buren. Sie bestand aus siebenhundert Hektar Land, sechzig Kopf afrikanischem Vieh mit unglaublich langen Hörnern, einem strohgedeckten Wohnhaus, wie man sie in Nordfriesland sieht, und einigen Stallungen. An einem Berghang gelegen, war sie auch mit Wasser gesegnet. Ein Bach schlängelte sich durch die zur Farm gehörenden Täler, er führte auch in der Trockenzeit Wasser.
Von diesen ersten Jahren auf der Farm in Chicuma sind mir drei Ereignisse gegenwärtig. Das erste war die Geburt meines zweiten Bruders. Er bekam Vaters Namen, den die Schwarzen jedoch nicht aussprechen konnten, da es in ihrer Sprache weder das »K« noch das »R« gibt. So machten sie aus Karl »Jola«, auch wir nannten ihn schließlich so. Jola kam in einer Mission in Caconda zur Welt, zu der Mutter in einer Hängematte getragen worden war. Meine Erinnerung an Jolas Geburt ist deswegen so deutlich, weil ich auf dieser zweitägigen Reise von Chicuma nach Caconda – etwa vierzig Kilometer quer über die Berge dem Eingeborenen-Pfad nach – dabei war. Es war mein erstes großes Kindheitserlebnis. Denn mit meinen knapp fünf Jahren war ich noch nicht über die Farm hinausgekommen und glaubte, danach höre die Welt auf. Meistens auf der Schulter eines Trägers sitzend, die Hände umdessen Kopf gelegt, zwischendurch, wenn Mutter sich mal wieder die Beine vertreten musste, auch in der Hängematte liegend, kam mir die Erde unendlich groß vor. Die Träger sangen ununterbrochen und für meine Ohren wunderschön. Einer sang die Strophe vor, und danach setzte der Chor ein. Bald konnte ich diese Lieder mitsingen, ich habe sie bisauf den heutigen Tag nicht vergessen. Überhaupt ist Afrika erfüllt von einem ganz eigenen Rhythmus.
Chicuma 1927. Karl Hannwacker und Gamati stoßen mit bayrischen Bierkrügen an; daneben Ganivete mit Jola auf dem Schoß; im Vordergund Eva zwischen Georg und Thea
Wir sprachen schon fließend die Umbundu-Sprache der Einheimischen, zumal die Kinder der Arbeiter, die in immer größerer Zahl den Hof füllten, unsere einzigen Spielgefährten waren. Unseren Eltern war das oft nicht recht, wegen der zunehmenden »Verkafferung«, wie man es damals nannte, denn wir hatten schon so Allerlei von unseren Freunden übernommen, ohne uns dessen bewusst zu sein. So spuckten wir z. B. in hohem Bogen aus, wie sie es taten, und schlossen Wetten ab, wer am weitesten mit der Spucke treffen würde. Freilich bekamen wir öfters einen gewaltigen Rüffel von den Eltern, wenn sie solche Dinge bemerkten.
Das zweite Ereignis war nach weiteren drei Jahren die Geburt meiner Schwester Luise. Sie kam unter den gleichen Umständen zur Welt wie Jola, nur war es statt der Mission von Caconda diesmal die von Caluquembe. Luises Geburt verband sich mit einem traurigen Ereignis: Gleich zwei Tage nachdem die Eltern nach Caluquembe aufgebrochen waren, bekam mein nun dreijähriger Bruder Jola eine geschwollene Wange und weinte Tag und Nacht. Großmutter und Eva bemühten sich verzweifelt um ihn, aber alles half nichts, es wurde nur noch schlimmer. Nach einem weiteren Tag war sein kleines Gesicht dermaßen geschwollen, dass die Augen nicht mehr zu sehen waren. Großmutter fing an zu jammern: »Wäre es doch nur geschehen, als die Eltern noch hier waren, dann hätten sie ihn gleich mit zur Mission nehmen können.« Sie konnte es nun nicht mehr aushalten, denn was sie anfangs noch für einen Insektenstich gehalten hatte, sah nun gar nicht mehr harmlos aus. In ihrer Verzweiflung schrieb sie an Vater. Eiligst wurde ein etwa vierzig Zentimeter langer Stock gesucht und am oberen Ende etwas gespalten. In diesen Spalt wurdeder Brief geklemmt. Das untere Ende nahm der »Briefträger« in die Hand und lief damit los. Es sah aus, als trüge er eine kleine weiße Fahne vor sich her. Diese Stockmethode verhinderte, dass die Briefe durch die schweißnassen Hände des Trägers bis zur Unleserlichkeit durchweicht wurden.
In einem Tages- und Nachtmarsch kam Vater kurz nach Mitternacht an und bekam einen großen Schreck, als er Jola sah, dessen Gesicht aus einer einzigen Geschwulst bestand. Von den Augen sah man nur noch zwei enge Schlitze, aus denen ein paar Wimpern lugten, und aus dem linken floss eine wässerige Flüssigkeit. Zum Weinen hatte er keine Kraft mehr, er gab nur noch ein röchelndes Wimmern von sich.
Jola wurde sofort in eine Hängematte gepackt, und unser todmüder Vater sowie die ebenfalls erschöpften Träger marschierten – diesmal ohne Gesang – in die Nacht hinein. Wir sahen ihnen mit tränenfeuchten Augen nach, bis die Petroleum-Sturmlaterne, die in der Hand des Vorläufers hin und her schwankte, hinter dem Hügel verschwunden war.
In Caluquembe angekommen, fuhr der Missionar – fast jeder von ihnen war zugleich ein halber oder ganzer Arzt – mit einem Wattebausch sacht über das nässende Auge. Dabei blieb die Watte an einem Knochensplitter hängen, der am unteren Augenrand die Haut durchdrungen hatte und verkrustet war. Der Pater zog den Splitter heraus, der nach einem von Eiter zerfressenen Zahn aussah. Aus unerklärlichem Grund war der Zahn nicht normal nach unten gewachsen, sondern hatte sich nach oben durchgebohrt. Was hat der kleine Kerl wohl für Schmerzen ausgehalten. Der Pater vermutete, dass noch ein kleiner Splitter nachkäme, ein Teilchen, das an dem Zahnstück fehlte. So war es dann auch. Schon am nächsten Tag war es da, und die Geschwulst ging zusehends zurück.
Acht Tage später kamen sie mit der neuen Erdenbürgerin Luise froh und glücklich zurück. Jola trug nur noch ein kleines Pflaster unter dem linken Auge, und von der unheimlichen Geschwulst war fast nichts mehr zu sehen. Wie schön war diese Rückkehr. Ein großes Glücksgefühl erfüllte uns, wir waren ganz »aus dem Häuschen« und schafften uns Erleichterung durch Luftsprünge und sonstige Faxen. Solch ein abgeschiedenes Farmleben erzeugt ein starkes Familien- und Zusammengehörigkeitsgefühl.
Das dritte Ereignis geschah etwa ein halbes Jahr nach Luises Geburt und war so furchtbar, dass es sich mir einprägte. Ich sehe alles noch so vor mir, als wäre es gestern gewesen.
Es war an einem Nachmittag in der Zeit der Maisernte. Da es damals wie schon erwähnt weder Strom noch Gas gab, wurde auf Holzfeuer gekocht. Die dürren Deckblätter der Maiskolben eigneten sich gut zum Feuer anmachen und wurden für diesen Zweck auf Haufen geschichtet. Ganivete, der Küchenjunge, brachte einen Sack davon zur Küche. Er kam zurück, um mehr zu holen, half aber erst noch mit, die Maiskolben abzuziehen. Wir alle waren dabei, denn es machte uns Spaß, sie abzublättern und dann auf den großen Haufen zu werfen, wo sie gedroschen wurden. Mitten in dieser fröhlichen Arbeit hörten wir Mutter plötzlich entsetzt ausrufen: »Feuer! Die Küche brennt!«
Alle Augen schauten in die gleiche Richtung. Dort züngelten schon die Flammen aus den Fenstern. Ein Knistern und Knacken war in der Luft, versengte Strohhalme tanzten wie ein Bienenschwarm um die Küche, auch das Strohdach war schon erfasst. Jeder hatte begriffen, dass keine Rettung mehr möglich war.
Die Küche stand etwa zehn Meter vom Wohnhaus entfernt. Es wurde damals auf allen Farmen so gehalten, dass die Küchengebäude grundsätzlich außerhalb des Wohnhauses gebaut wurden, wegen des Rauches und vieler anderer Überlegungen.
Wir liefen nun in größter Aufregung vom Dreschplatz. Als ich zu Vater schaute, war in seinem braungebrannten Gesicht ein Ausdruck, den ich noch nie gesehen hatte. Er rief mit einer Stimme, die mir fremd war: »Wasser, holt Wasser vom Fluss, das Feuer greift zum Wohnhaus über.« Hastig übersetzte er den Arbeitern: »Owawa, lubugi gobi owawa.« Alle Eimer und Schüsseln, die zum Maiseinsacken herumstanden, wurden eiligst ergriffen. Jeder, der ein Gefäß hatte, lief den Hügel hinunter zum Bach, aus dem stets das Wasser für den Haushalt geholt wurde. Irgendwie hatten auch wir Kinder Blechdosen, in denen einmal Olivenöl gewesen war, in den Händen und liefen hinterher. Jeder, der sein Gefäß voll hatte, keuchte den Hügel hinauf, so schnell es mit der Wasserlast nur eben ging. Als ich noch nicht halb den Berg oben war, hatte meine Dose schon fast kein Wasser mehr, es war alles rausgeschwappt. Einen Augenblick überlegte ich noch, ob ich umkehren und sie neu füllen sollte, ließ es aber sein und lief den Hügel vollends hinauf. Da sah ich es nun, das grauenvolle Bild. Das Wohnhaus brannte bereits lichterloh. Der Wind hielt an diesem Tag genau darauf zu und trug das Feuer im wahrsten Sinne des Wortes mit Windeseile hinüber. Ich sah Vater ein Taschentuch in den Mund stopfen und ins Haus laufen, das schon von undurchdringlichem Rauch erfüllt war. Er zog Koffer, Betten, Möbel und alles, was er mit seiner Kraft bewältigen konnte, aus dem Haus und ging immer noch einmal hinein. Die Hitze strahlte schon so stark aus, dass ich es nicht mehr aushalten konnte und laut zu schreien begann. Aus irgendeiner Richtung kam Mutter plötzlich auf mich zu. Sie rief, obgleich sie ganz nahe an mich herangekommen war, und sogar ihre Hand für einen kurzen Augenblick auf meinen Kopf legte, so als wüsste sie gar nicht, dass sie das tat: »Geh zu den anderen den Hügel hinauf, Thea.« Auch Mutter hatte jetzt eine andere Stimme, und ihr Gesicht sah gleichfalls verändert aus. Ihre Haare, halb versengt, hingen wirr übers Gesicht, das vor Hitze glühte. Im selben Moment war sie auch schon wieder verschwunden. Ich hörte sie noch mit der gleichen, vor Erregung veränderten Stimme rufen – und in diesem Rufen lag ein Flehen: »Karl, geh nicht mehr ins Haus, Karl bleib hier!« Vor Rauch konnte ich nichts mehr sehen, warf die Blechdose fort und zog einen großen Bogen um das Flammenmeer in Richtung Hügel. Da sah ich sie schon alle, dicht aneinander gedrängt, Eva mit Luise auf dem Arm, Jola klammerte sich an ihrem Rock fest, und Georg kam mir ein paar Schritte entgegen. Alle waren sichtlich erleichtert, als sie mich sahen, denn sie hatten nicht gewusst, wo ich war.
Von hier oben hatte man einen erschreckenden Überblick. Ohnmächtig mussten wir zusehen, wie das Drama dort unten seinen Lauf nahm. Verzweifelt dachte jeder an seine Spielsachen und alles, was ihm lieb war.
Drehte sich zwischendurch der Rauch von der einen zur anderen Seite, konnte man hinter dem Haus Gestalten sehen, die Gegenstände trugen, zogen und schoben. Plötzlich waren Gewehrschüsse zu hören. Erst vereinzelt, dann schneller und lauter. Es machte uns große Angst, wir zitterten am ganzen Leibe, denn wir wussten nicht, dass es Vaters Patronen waren, die im Feuer explodierten. Vater war ein großer Jäger und hatte sich reichlich mit Munition eingedeckt.
Plötzlichkrachte es ganz furchtbar, und wir sahen das Haus von den Flammen ausgehöhlt wie ein Gerippe zusammenfallen. Es fiel hauptsächlich nach vorne, auf die von Vater unter Lebensgefahr geretteten Sachen, die nun erneut dem Feuer Nahrung gaben.
Nach einer Weile gewahrten wir, wie sich ein Menschenhaufen den Weg hinunter in Richtung Fluss bewegte. Hin und wieder waren Mutter und Großmutter zu erkennen, die sich immer wieder zwischen die Arbeiter beugten, die etwas zu tragen schienen. »Sie tragen Vater«, schrien wir alle zugleich. Jetzt hielt es uns nicht mehr auf dem Hügel. So schnell es nur ging, kletterten wir hinunter, machten einen großen Bogen um das Feuer, dessen Hitze trotz der weiten Umgehung noch stark zu spüren war, und stürzten hinunter zum Bach.
Als wir endlich ankamen, war Vater soeben wieder zu sich gekommen. Mutter war dabei, ihn mit einem Taschentuch abzuwaschen. Hätten wir es nicht gewusst, dass er es war, würden wir ihn nicht erkannt haben. Vater, der am Flußrand lag, war schwärzer als die Arbeiter, die um uns herumstanden. Mutter schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und flößte es ihm ein. Daraufhin musste er sich übergeben und erbrach einen schwärzlichen Schaum, was ihn vor einer Rauchvergiftung rettete. Es kam mir vor, als seien die Eltern in dieser Stunde sehr gealtert. Vater musste es sehr schlecht gehen, denn er krümmte sich furchtbar.
Allmählich richtete er sich auf. Von Mutter und Gamati, dem Vorarbeiter, gestützt, ging er langsam den Hügel hinauf. Oben angelangt, sah man dort, wo das Haus gestanden hatte, nur noch einen qualmenden Haufen.
Außer der eisernen Geldkassette und dem, was jeder auf dem Leibe trug, konnte nichts gerettet werden. Dabei hatten die Eltern, bevor sie Deutschland verließen, Unmengen eingekauft. Es sollte ja für viele Jahre reichen. Vater musste sich hinsetzen. Ihm war noch sehr übel. Nach einer Weile rief er Ganivete zu sich und fragte: »Du hast die Maisblätter in die Küche gebracht, du warst also der Letzte, der vor dem Brand dort war?« – »Ja Patrao«, antwortete er. »Brannte das Feuer noch im Herd, als du die Blätter in die Küche brachtest?« – »Ja, und ich habe noch einige Holzscheite draufgelegt, damit es nicht ausgeht.« – »Wohin hast du die Maisblätter getan, die du in die Küche brachtest?« – »Auf den Boden vor dem Herd.« Vater schaute zu Mutter und sagte mit zitternder Stimme: »Da haben wir die Erklärung. Natürlich, ein brennendes Holzscheit muss aus dem Herd genau in den Blätterhaufen gefallen sein.« Damals fand man bei den Eingeborenen ganz selten logisches Denken. Alles, was die Europäer taten, war ihnen fremd und unbegreiflich. Warum z. B. die Weißen nicht auch auf dem Boden kochten, wie sie es taten, sondern sich dazu einen hohen Herd errichteten, aus dem brennende Holzscheite herausfallen konnten.
Es war für Vater die erste schwere Niederlage, die ihn in dem so heiß ersehnten und geliebten Afrika traf. Als es zu dämmern begann, wurden die Arbeiter angewiesen, die Maisblätter in einen alten leerstehenden Schweinestall zu tragen, um damit eine Unterlage zu schaffen. Als es Nacht wurde, schlief die ganze Familie eng aneinander gekuschelt darauf. Diese erste unvergessliche Nacht auf den bei jeder Bewegung raschelnden Maisblättern jagte quälende Gedanken durch mein Kinderhirn, das keine Antwort darauf fand, wie es nun weitergehen sollte. Sieben Jahre war ich damals alt.
An diesem Abend bestand unser Abendbrot aus Maiskörnern, die vom Dreschplatz geholt wurden, ohne Salz, denn das war auch verbrannt. Sie wurden in einem Tontopf gekocht, den Gamati schnell aus seiner Hütte geholt hatte. Wir mussten mit den Händen essen, wie es die Schwarzen taten. Dazu gab es Milch. Die Kühe befanden sich auf der Weide. Der Viehstall stand zu weit vom Wohnhaus entfernt, als dass er vom Feuer hätte erfasst werden können. Auch die Hühner und Hunde lebten.
Gamati war ein Quilenques-Mann, den Vater in Dienst nahm, als er noch in der Quilenques-Gegend nach einer Farm gesucht hatte. Von da ab war Gamati Vaters ständiger Begleiter, zu dem er Vertrauen und eine besondere Beziehung hatte. Gamati war zugleich unser Melker. Fast alle Quilenques-Leute konnten melken und besaßen meistens selber Vieh in ihrer Heimat.
Als Gamati an diesem Abend mit der Milch vom Stall kam, brachte er zugleich eine Petroleum-Stalllaterne mit. Nachdem sie mitten im alten Schweinestall aufgehängt worden war und auf uns niederleuchtete, bemerkte ich die verweinten Augen von Mutter und Großmutter. Wie mag den Eltern damals zumute gewesen sein? Darüber habe ich später noch oft nachdenken müssen. Mit vier Kindern, darunter einem Säugling, Nichte Eva und Großmutter, von einer Stunde zur anderen in eine solche Lage zu kommen, wo es noch keinerlei Brandversicherung oder ähnliches gab.
Im Halbschlaf hörte ich noch Vaters Stimme. Er sprach ruhig aber sehr langsam: »Morgen schreibe ich an die Mission-Caluquembe und bitte um Hilfe – nur das Notwendigste –, ein paar Decken für die Kinder und einige Windeln für Luise …« Er stockte, weil Mutter ihm auf die Schulter tippte und sagte: »Karl, du kannst doch gar nicht schreiben, wo willst du denn Papier und Schreibzeug hernehmen? Es ist doch nichts mehr da, nichts, nichts, nichts.« Ihre letzten Worte waren schon vom Schluchzen erstickt, und nun brach es aus ihr heraus. Sie erlitt einen regelrechten Weinkrampf. Obgleich Vater seinen Arm um ihre Schultern legte und sie zu beruhigen suchte, überkam mich damals große Angst, dass sie keine Luft mehr bekommen und ersticken würde. Mutter, die bisher alles so tapfer ertragen hatte, was das Leben im abgelegenen Busch auch immer für Opfer forderte. Dieses aber war zuviel. Es ging über ihre Kräfte. Allmählich ebbte ihr Weinen ab, und als sie still war, sagte Vater: »Ich gehe dann eben morgen erst zu Kirsteins und bitte sie um Schreibmaterial. Wenn ich quer über die Berge laufe, schaffe ich es in drei Stunden« (Familie Kirstein war unser nächster Nachbar).
Eva war zu der Zeit dreizehn Jahre alt. Sie lag neben mir und barg Luise in ihrer Armbeuge, um sie zu wärmen. Ich drückte mich näher an sie und merkte dabei, dass auch sie noch mit großen Augen ins Leere sah, während Georg und Jola schon fest schliefen. Die Laterne wurde ausgeblasen, und nach einer Weile erlöste der Schlaf auch mich von den vielen Fragen, die gespenstisch und drohend auftauchten und auf die ich keine Antwort fand.
Den nächsten Tag verbrachten wir Kinder damit, mit langen Stöcken in der Asche vomHaus herumzustochern, die an vielen Stellen noch immer rauchte und glühte. Dabei kam so allerlei zum Vorschein, wenn auch schwarz und verbogen: Messer, Gabeln, Löffel, von denen die Holz- und Horngriffe abgebrannt waren, Patronenhülsen, überhaupt alles, was aus Metall war, kam hervor. Die Essbestecke wurden mit Sand blank gerieben, umdie Griffstiele wickelten wir Bast, den wir aus den inneren Fasern einer Baumrinde herstellten, und sobrauchten wir schon nicht mehr mit den Händen zu essen.
Am Nachmittag kam Vater mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken zurück. Zwei Arbeiter von Kirsteins begleiteten ihn, jeder ein großes Paket auf dem Kopf tragend. So hatten wir in der zweiten Nacht schon Decken und sogar Bettlaken auf den Maisblättern. Für Luise wurden Windeln aus einem Laken gerissen, denn eine Schere war noch nicht in der Asche gefunden worden. Im Rucksack befanden sich Brot, Wurst, Käse und alles, was Kirsteins vorrätig hatten und entbehren konnten. Auch Beil und Säge hatte Vater sich ausgeliehen. Damit wurde sogleich begonnen, Bäume auf dem bewaldeten Hügel zu fällen und für ein Holzhaus zurechtzusägen, das im Eiltempo errichtet wurde. Schon nach einer Woche war es fertig. Es bestand nur aus drei Räumen. Nachdem wir mit unseren Maisblättern eingezogen waren – es gab noch keine Betten –, machte sich Vater mit Gamati auf nach Ganda. Ganda war der nächstgrößte Ort, durch den die Benguela-Bahn fuhr. Dort wurden die meisten Einkäufe von allen Farmern der weiteren Umgebung getätigt.
Vater schaffte den Fußmarsch nach Ganda, etwa hundertzwanzig Kilometer, meistens in drei Tagen. Es gab eine bestimmte Steinhöhle, in der sie stets die Nacht verbrachten, während ein Lagerfeuer vor dem Eingang brannte, welches anzuzünden und zu unterhalten Gamati ein Meister war. Die Rückkehr dagegen dauerte eine ganze Woche. Sie musste mit einem der Buren-Ochsen-Wagen zurückgelegt werden, die zu der Zeit sämtliche Getreideernten von den Farmen zur Bahn transportierten. Die Buren schufen sich damals ihre eigenen »Straßen«, indem sie immer in den gleichen Spuren fuhren. Dadurch entstanden die sogenannten »Buren-Pads«. Es waren recht große Wagen, die riesige, mit Eisen beschlagene Holzräder hatten, und am vorderen Ende meistens einen aus Zeltplane errichteten Aufbau, der als Kabine und Sonnenschutz diente und aussah, wie eine Haube.
Die Zahl der Ochsen variierte entsprechend der Last. Einige spannten bis zu vierundzwanzig Tiere an solch einen Wagen, jeweils zwei unter einem Joch an der langen Deichsel. Die Flüsse wurden nach den breitesten und damit seichtesten Stellen abgesucht, was weite Umwege erforderte, und dann ging es mit Gebrüll hinein und durch das Wasser. Der Ochsentreiber lief mit seiner langen Peitsche nebenher, machte Schleifen in die Luft, konnte damit knallen, dass es sich anhörte wie Pistolenschüsse, und trieb die Ochsen damit an, indem er sie laufend bei deren Namen rief: »Wambu, Trecker, Sultan …«
Burenochsen-Wagen – die Transportmittel von damals
Zehn Tage nachdem Vater nach Ganda aufgebrochen war, sahen wir am späten Nachmittag einen solchen Burenwagen, der aus der Ferne wie ein langer Wurm aussah, über den hinteren Hügel kommen und sich, wie es uns schien, im Zeitlupentempo ins Tal hinabbewegen. Nach endloser Zeit kam er auf dem vorderen Hügel, der die Grenze von unserer Farm bildete, zum Vorschein. Jetzt erkannten wir auch schon Vater, der neben dem Wagen herlief. Georg, Jola und ich rannten der Karawane entgegen, und Vater schloss uns erfreut in die Arme.
Das Abladen nahm schier kein Ende und wurde gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit geschafft. Säcke mit Zucker, Mehl, Reis, Ballen Stoffe in allen Farben, große Behälter mit Petroleum, Seifenkisten und alles, was man zum Leben brauchte. Solche Großeinkäufe wurden alle sechs bis acht Monate getätigt. Durch das Brandunglück waren diesmal nur knapp vier Wochen vergangen.
Gleich am nächsten Tag wurden die Arbeiter ausgezahlt. Es stand den Leuten zur Wahl, ob sie Geld oder Stoff wollten. Ganz selten wünschte jemand Geld, mit dem die meisten nichts anzufangen wussten. Zu der Zeit gab es, besonders im Inland, kaum einen Schwarzen, der lesen und schreiben konnte. Sie waren also nicht in der Lage, die Zahlen auf dem Geld zu lesen und schauten gleichgültig auf die Scheine, die sie für ein wertloses Stück Papier hielten.
Sie wollten also auch diesmal Stoff, je bunter, desto besser. Dazu gab es noch Salz, das im Busch über alle Maßen begehrt war, Palmöl und bunte Glas- oder Porzellanperlen, wovon die kleinsten stecknadelkopfgroß waren. Davon fertigten die Frauen kunstvolle Stirnbänder oder Schmuck für ihre Hand- und Fußgelenke an.
Seit Vaters Rückkehr aus Ganda, wo er auch Schulmaterial eingekauft hatte, bekamen wir wieder Hausunterricht bei Großmutter. Oft übernahmen es auch Vater oder Mutter, je nachdem, wer gerade Zeit hatte. Meistens aber war es Großmutter. Wir fanden es immer sehr lustig, wenn sie sich über einen von uns ärgerte. Dann verfiel sie in bayerischen Dialekt: »Gall, du hast witter nex galant?« (Gell, du hast wieder nichts gelernt?) Wir liebten Großmutter sehr, brachten sie aber, so oft wir nur konnten, zum Schimpfen, nur um ihr Bayerisch zu hören.
Nach einigen Monaten sprachen die Eltern immer häufiger davon, dass es besser wäre, die Farm wieder zu verkaufen und zur Küste zu ziehen, in die Nähe einer Stadt, wie z. B. Benguela, denn wir Kinder müssten eine ordentliche Schule besuchen, der Hausunterricht genüge ja nicht, außerdem müsste versucht werden, mit täglichen Einnahmen schnell wieder aufzuholen, was das Feuer vernichtet hatte.
Eines Tages war es soweit. Vater ging mit Gamati nach Ganda. Von dort fuhr er allein mit der Bahn nach Benguela weiter, während Gamati in Ganda auf seine Rückkehr warten sollte. Auf der Suche nach einer Pflanzung lernte Vater in Benguela einen Landsmann namens Sauer kennen, der eine kleine Pflanzung am Fluss Cavaco besaß. Dieser Trockenfluss, der nur in der Regenzeit Wasser führt, zieht seinen kurvenreichen Lauf durch ein großes, aus Schwemmlandboden bestehendes Tal, das nach ihm benannt ist. Das Cavaco-Tal beginnt an den Küstenbergen und endet am Meer. Mit den südlichen Ausläufern grenzt es an die nördliche Seite der Stadt Benguela, die zu der Zeit noch eher ein Dorf war.
Sauer war Junggeselle. Nachdem er erfahren hatte, aus welchem Grund Vater nach Benguela kam, war er sofort bereit, ihm bei der Suche nach einer Pflanzung zu helfen. Die Aussicht, einen Landsmann in die Nachbarschaft zu bekommen, freute ihn sehr.
Der Zufall wollte es, dass ein fünfzehn Hektar großes Stück Land – besser gesagt, fünfzehn Hektar Urwald – gleich neben Sauers Pflanzung zum Verkauf stand, dessen Besitzer Sauer kannte. Er wurde sogleich aufgesucht, und sie besichtigten es zu dritt. Um besser durchzukommen, waren hier und dort einige Schneisen geschlagen worden. Es existierte nur ein einziges Wasserloch, an dem eine ziemlich verrostete und quietschende Baggerpumpe angebracht war, die täglich eine Stunde von einem Esel gezogen wurde, um den Tank zu füllen, welcher zur Tränke der Ziegen diente. Vater bestaunte den guten Boden. Er hatte noch nie eine so hohe Humusschicht gesehen. Natürlich musste Meter für Meter gerodet werden. Aber aus solch jungfräulichem Boden war etwas herauszuholen. Kurz entschlossen kaufte er das Land.
Nach seiner Ankunft erzählte er von Cavaco, Benguela und dem Meer. Gespannt und erregt lauschten wir. Bald würde eine neue Zeit anbrechen, die uns in jeder Hinsicht verheißungsvoll erschien, denn wir Kinder waren inzwischen schon so weit »verbuscht«, dass wir uns versteckten, wenn Besuch kam, den wir nicht kannten. Es war natürlich, bei solchen Entfernungen und Umständen, äußerst selten, Besuch zu bekommen. Wir verkrochen uns dann wie scheue Tiere hinter Türen und sonstigen Deckungen, lugten durch Ritze oder Gardinen nach dem Gast und kamen erst wieder zum Vorschein, nachdem er gegangen war. Nur wenn Kirsteins kamen, liefen wir nicht davon, denn die kannten wir. Wir waren auch öfter auf ihrer Farm. Unsere Welt war die Familie, die Tiere und die Spielgefährten.
Vater war nun viel unterwegs. Er suchte einen Käufer für unsere Farm. Eines Tages kam er mit einem Buren zurück, der sie kaufen wollte. Es war der frühere Besitzer, von dem Vater sie vor sechs Jahren erworben hatte. Er bekam sie jetzt für den halben Preis zurück. Nun wurde ein Bote losgeschickt, um einen Burenwagen für die nächste Woche zu bestellen, der uns nach Ganda zur Bahn bringen sollte. Zu packen gab es nicht viel, es war nach dem Brand nur wenig angeschafft worden.
Schnell war die Woche herum, und der Wagen kam. Gamati, Ganivete und noch acht Feldarbeiter wollten mit uns zur Küste. Nachdem alles verladen worden war, kamen wir an die Reihe und wurden in die »Kabine« verfrachtet, unter die große Zeltplanhaube, wo recht stabile und breite Holzbänke angebracht waren. Vater wollte nicht auf den Wagen. Er ging lieber zu Fuß nebenher, denn er kannte diese Fahrzeuge schon und hatte bereits seine Erfahrung damit gemacht. Ich glaubte nach kurzer Zeit auch zu wissen, warum Vater lieber zu Fuß ging. Der Wagen hatte keine Federn und schlug mit seinen Eisenrädern in jedes Loch, knallte über Stock und Stein, dass es laufend derartig krachte, als würde er auseinanderfliegen. Es wundert mich heute noch, dass nicht jeder, der auf solch einem Wagen gefahren ist, eine Darmverschlingung bekam. Es war einfach grausam. Wenn es die steilen Abhänge hinunter oder hinauf ging – von einer Straße keine Spur –, waren wir vor Angst wie erstarrt und mussten uns laufend übergeben.
Mutter hatte den Wagen längst verlassen und lief neben Vater her, als es die erste Pause zum Ochsenweiden gab. Auch Luise und Jola wurden in einer Hängematte nebenher getragen. Aber Großmutter, Eva, Georg und ich mussten uns weiterhin durchschütteln lassen, da wir nicht so lange zu laufen vermochten. Das Peitschenknallen der Treiber nahm immer gewaltig zu, wenn es einen Berg hinauf oder durch einen Fluss mit großen Steinen ging, wobei die Ochsennamen gebrüllt wurden: »Guri, Tschamba, Voortrekker« – während die Bremsen mit einer Handkurbel auf oder zugedreht wurden.
Auf den »Burenpads« gab es in gewissen Abständen einen Kraal. So nannte man die Einzäunungen, in denen die Ochsen während der Nacht wegen der Raubtiergefahr untergebracht wurden. Ein Kraal bestand aus einem Platz, umden ein ziemlich hoher und breiter Zaun aus abgeschlagenen Dornbüschen gelegt wurde, mit verschließbarem Eingang aus demselben Material. Wir waren also an solch einem Kraal angekommen. Obgleich es noch früher Nachmittag war und die Karawane bis zumEinbruch der Dunkelheit noch leicht den nächsten erreicht hätte, wies Vater den Buren an, ausspannen zu lassen, umhier zu übernachten. Er blickte dabei immer wieder forschend auf uns, und was er sah, schien ihn nicht zum Weiterfahren zu ermuntern. Wenn ich mir Großmutter, Eva und Georg anschaute, kam es mir so vor, als ob ihre Gesichter grünlich schimmerten. Unser Leid war so groß, dass das anfängliche Gekicher bei der Abfahrt – wo es noch nach Abenteuer roch – bald verstummte und nur ein dumpfes, qualvolles Stöhnen noch zu hören war, wenn der Wagen wieder einen großen Stein oder ein tiefes Loch erwischt hatte.
Die Ochsen wurden ausgespannt und zum weiden getrieben. Die Leute begannen, Holz für das nächtliche Lagerfeuer zusammenzutragen, um sich eine Mahlzeit zu kochen. Wir packten ebenfalls den Esskorb aus. Als das frühe Abendbrot beendet war, gingen wir sofort zumSchlafen in die »Kabine«. Wie die Heringe aneinandergelegt, passten wir tatsächlich alle hinein. Ich wurde augenblicklich vom Schlaf überwältigt. Am Morgen war ich sehr erstaunt und bekam nachträglich noch heftige Angst, als ich hörte, dass Löwen in der Nacht angegriffen hätten und die Leute große Feuerhaufen um den Kraal und den Burenwagen anzünden mussten. Vater und der Bure hatten mit entsicherten Gewehren Wache gehalten, bis sich die Raubtiere verzogen hatten. Gamati war besonders mutig gewesen, er hatte mit brennenden Holzscheiten nach den Löwen geworfen.
Die folgenden »Reisetage« verliefen ähnlich wie der erste. Entweder hatten wir uns bereits akklimatisiert oder eine von uns entwickelte Methode half, diese Reise lebend zu überstehen. Denn wir hatten uns ausgedacht, dass sich abwechselnd einer von uns auf die vordere Bank der Kabine setzen sollte, von wo aus er den Weg übersehen konnte. Sobald ein Stein oder ein Loch in Aussicht war, rief der Späher: »Obacht!« worauf jeder die Luft anhielt, seine Bauchmuskeln auf das Äußerste anspannte und die Stöße wie ein Fakir über sich ergehen ließ.
Endlich, mit drei Tagen Verspätung, erreichten wir Ganda. Der Bure wurde für den Transport ausgezahlt und unser Gepäck in den Zug verladen, der aus zwei Personen- und einer Menge Güterwagen bestand. Aber auch die Bahnreise war alles andere als ein Vergnügen. Auf jedem kleinen Bahnhof rangierte der Zug oft stundenlang hin und her, stieß jedes Mal mit Gewalt und unheimlichem Krachen an einen Waggon, der ab- oder angehängt werden sollte, so dass wir bei solchen Zusammenstößen ständig von den hölzernen Sitzbänken herunterflogen. Damals gab es noch keinerlei Bequemlichkeiten, keinen Luxus. Wir kamen zwar heil, aber keineswegs munter in Benguela an.
Die Stadt lag am Meer. Wir Kleinen sahen zum ersten Mal den Atlantischen Ozean. Ich war davon überwältigt, und es machte mich ganz konfus, dass man nicht sehen konnte, was sich hinter dem Meer befand. Die mitgekommenen Arbeiter standen ebenfalls staunend davor. Auch sie kamen zum ersten Mal an die Küste und sagten immer nur: »Haga, haga, Galunga.« (Je, oh je, das Meer.) Galunga bedeutet gleichzeitig auch: Tiefe, Weite, Größe oder Ferne.
Vater mietete zunächst ein kleines Häuschen am nördlichen Stadtrand von Benguela. Von da ging er jeden Morgen zur Pflanzung, wo die Arbeiter kampierten. Es sollte als erstes in aller Eile ein provisorisches »Baupikhaus« errichtet werden, damit wir schnell einziehen konnten. Bis dahin hatten Georg und ich die Aufgabe, täglich das Mittagessen für Vater zur Pflanzung zu bringen. Die ersten drei Tage schickte Vater Gamati, der uns abholen und zur Pflanzung führen sollte. Das war immerhin eine gute Stunde Fußmarsch durch den dichten Urwald, der von Eingeborenen- oder Ziegenwegen kreuz und quer durchfurcht war.
Es war sehr schwer, sich in diesem Busch zu orientieren. Die schmalen Pfade ähnelten sich sehr, und einige erwiesen sich plötzlich als Sackgassen. Es gab jedoch einen großen Tamarindo-Baum kurz vor unserer Farm. Tamarindo ist eine Wildfrucht, deren Fruchtschoten aussehen wie Riesenbohnen, die im reifen Zustand vom Baum fallen. In den Schoten befinden sich Körner, großen Bohnen ähnlich, die in ein süßsaures, wohlschmeckendes Fruchtfleisch gebettet sind. Wir mochten sie sehr gern und sammelten stets alle auf. Waren nicht genug heruntergefallen, schlug Gamati noch welche mit einen langen Stock herunter. Außerdem war dieser Baum auch unser »Leuchtturm«. Er war schon auf dem halben Weg zur Pflanzung sichtbar. Wir liefen also immer den Pfaden nach, die darauf zusteuerten. Zu der Zeit gab es massenhaft Schlangen im Cavaco-Tal. Wildkatzen, Rieseneidechsen und allerlei Getier, das ständig neben, vor, oder hinter uns raschelnd im Gebüsch verschwand. Es warja noch fast unberührtes Land, das im Urzustand dahinträumte.
Gamati hatte gute Augen und ging nie ohne Pfeil und Bogen und sein Gantiaviti (kleines Beil), das ihm im Gürtel steckte. Besonders gefährlich waren die kurzen aber dicken Puffotterschlangen, die nicht – wie alle anderen – vor uns flüchteten. Dazu waren sie viel zu schwerfällig und träge. Diese Schlangenart liebte es, zur Mittagszeit aus ihren Schlupfwinkeln zu kommen, um sich zu sonnen. Hatte man das Pech, auf eine solche Schlange zu treten, war man meistens verloren. Ihre Giftzähne haben Widerhaken, so dass sie ihr Opfer nicht wieder loslassen kann. Es muss dann das Teil, in das sie gebissen hat, herausgeschnitten werden. Wir waren von Kind auf daran gewöhnt, den Fuß nur dorthin zu setzen, wo man übersehen konnte, was darunter und daneben war.
Gamati tötete gleich am ersten Tag zwei Puffotterschlangen. Es war ein aufregendes Erlebnis, als er – stets vor uns gehend – den Korb mit Vaters Essen auf dem Kopf tragend, plötzlich stehenblieb und mit der Hand nach hinten ein Zeichen machte, das uns stillstehen hieß. Langsam nahm er den Korb vomKopf, ohne den Blick von der Stelle zu wenden, wo er die Schlange sah, setzte den Pfeil in den Bogen, zog an und schoss. Er besaß eine unglaubliche Treffsicherheit. Erst jetzt sahen wir die Schlange wild um sich peitschen. Gamati hatte sie genau in den Nacken getroffen. Da sie vor einem großen Baumstamm lag, ging der Pfeil durch den Hals in den Stamm, so dass sie daran festgepflockt war. Die Schlange zeigte sich in ihrer Todesnot nun doch als schnell und wendig, wie man es bei dieser Sorte kaum für möglich gehalten hätte. Sie wand sich hin und her, es krachte das Schilfrohr, an dem sie festsaß, und fiel gleich darauf mit dem zersplitterten Pfeil in den Sand. Der mutige Gamati warf nun sein Gantiaviti und hieb ihr mit einem Wurf den Kopf vom Rumpf. Wir waren kaum hundert Meter weiter, da lag die nächste. Diesmal warf Gamati gleich das Beil. Er verspürte wohl keine Lust, wieder einen Pfeil zu opfern.
Bei der Ankunft fanden wir Vater unter einem Akazienbaum sitzend, es schien, als habe er auf uns gewartet. Die Arbeiter saßen etwas abseits unter dem nächsten Baum um ihren Maisbreitopf, aus dem sie, einer nach dem anderen, mit den Fingern einen Klumpen holten, denselben in die Bohnen- oder Fischtunke tauchten, die mit Piri-Piri dermaßen pikant gewürzt wurde, dass esjedem normalen Menschen Mund und Hals verbrannt hätte.
Wir berichteten Vater, noch immer recht aufgeregt, von den beiden Schlangen, die Gamati unterwegs getötet hatte. Vater wurde nachdenklich. Er konnte Gamati schlecht entbehren beim neuen Aufbau, er war seine rechte Hand, und es gingen immerhin gute zwei Stunden verloren, um uns abzuholen. Zu den anderen Leuten hatte er aber nicht das gleiche Vertrauen. So beschloss er, trotz der Eile mit dem Hausbau, alles ruhen zu lassen und gleich nach der Mittagspause mit allen Leuten den Pfad an seinen engen und unübersichtlichen Stellen vomGestrüpp zu säubern, über das wir stellenweise hinüberklettern mussten.
Es sprach sich schnell herum, dass am Cavaco eine Pflanzung aufgebaut wurde. Nach wenigen Tagen schon erschienen Leute, die nach Arbeit fragten. Vater stellte noch einige ein, so dass es nun fünfundzwanzig waren.
Wir blieben den Nachmittag auf der Pflanzung. Kurz vor Feierabend kam unser neuer Nachbar herüber. Georg und ich sahen ihn zumersten Mal. Er begrüßte Vater und wandte sich dann an uns. »Meine Kinder, Georg und Thea«, sagte Vater mit einer vorstellenden Handbewegung. Wir gingen auf ihn zu und begrüßten ihn, wie es sich gehörte, denn irgendwann mussten wir unsere Chicuma-Schüchternheit ja überwinden. Sauer begrüßte erst mich, dann Georg. Er schaute aber gleich wieder zu mir, so als habe das, waser sah, erst jetzt sein Bewusstsein erreicht, und brach in schallendes Gelächter aus. Er deutete auf mich und sagte in schwäbischem Dialekt: »Dem Mädle hat ein Kautabak kauender Teufel durchs Sieb ins Gesicht gespuckt«, weil ich voller Sommersprossen war. Wie ein Peitschenhieb trafen mich diese Worte. Wenn ich auch damals von der Eitelkeit noch nichts wusste, so haben sie doch einen schmerzhaften Stachel hinterlassen, den ich lange nicht los wurde. Als Vater mein unglückliches Gesicht bemerkte, legte er lachend seine Hand auf meinen Kopf und tröstete: »Was Herr Sauer sagt, ist nur so eine Ausdrucksform, er mag Kinder gern.«
Das stimmte auch, denn wir haben später noch viel Schönes, ja Einmaliges mit Sauer erlebt. Sein Kopf war vollkommen kahl geschoren, und man konnte auch einige Zahnlücken sehen. Die schadhaften Stellen in den übrigen Zähnen hatte er mit einfachem grauen Zement selbst ausgefüllt. Dennoch klagte er laufend über Zahnschmerzen, vertraute aber keinem Zahnarzt. Tatsächlich waren diese damals eher Maurer als Zahntechniker. Sauer war ein netter Kerl. An diesem Tag verspürte ich jedoch einen heftigen Widerwillen gegen ihn und schielte immer wieder heimlich zu ihm hin, obwohl er schon gar keine Notiz mehr von mir nahm, sondern eifrig mit Vater den Aufbau der Pflanzung besprach.
Als wir an diesem Abend zu Hause ankamen, ging ich gleich zum Spiegel und betrachtete zum ersten Mal aufmerksam meine Sommersprossen. Da waren sie, und zwar recht viele und dicke. Es sah wirklich so aus, wie Sauer es ausgedrückt hatte. Die nächsten beiden Tage, an denen Gamati uns noch abholte, verliefen ohne Aufregung. Schlangen begegneten uns nicht mehr, wir fanden nur ihre Spuren auf dem Pfad. Es ging sich jetzt freilich viel besser auf dem gesäuberten Weg, und die Gefahr, sich zu verlaufen, war damit gebannt.
Das Holzhaus nahm unterdessen schon Formen an. Es bestand wieder nur aus drei Räumen und war nur für den Übergang gedacht, derweil ein Steinhaus erbaut werden sollte. Um das vorhandene Wasserloch ließ Vater einige Beete anlegen, die er eigenhändig mit der Wasserwaage und dem Rechen einebnete. Darin gingen bereits der erste Salat und so allerlei Gemüse auf, das bei dem Treibhausklima oft nicht länger als zwei bis drei Tage zum Auflaufen brauchte. Vater war in der Tat ein großer Organisator. War der Anfang in Chicuma schon robinsonartig, dieser hier am Cavaco war es noch viel mehr, und ihn habe ich miterlebt, freilich aus der Sicht einer Achtjährigen.
Meter für Meter wurde der Urwald gerodet. Um die großen Bäume herum wurden tiefe Löcher ausgehoben, um die enormen Wurzelstöcke freizulegen und sie ganz tief unten abzusägen. Tat man es nicht in solcher Tiefe, schlugen sie schon nach kurzer Zeit wieder neu aus. Um diese Riesenwurzeln – die meisten wogen einige Tonnen – wurden dicke Sisalstricke angebracht, und dann ging es mit allen Leuten daran, sie aus dem Loch zu ziehen, indem einige oben an den Stricken zogen und die anderen im Loch mit »sunga-malenga, sunga-malenga« (hau ruck, hau ruck) nachschoben. Jedes Mal, wenn eine solche Wurzel herausgeholt worden war, verteilte Vater Zigaretten unter die Leute und ließ eine Pause einlegen.
Vater war sehr beliebt bei den Arbeitern, auch wenn er so manches Mal aus der Fassung geraten konnte, wenn Dinge nicht so ausgeführt wurden, wie er es anordnete. Er kam einem inneren Ruf folgend nach Afrika, und behandelte die zu der Zeit nach europäischen Maßstäben unwissenden Schwarzen wie ein Missionar, immer bestrebt, ihnen das logische Denken beizubringen. Er musste so manche Enttäuschung hinnehmen, die ihren Ursprung in der so unterschiedlichen Mentalität von Europäern und Afrikanern hatte. Denn oft, wenn ein Arbeiter endlich soweit angelernt war, dass er begriffen hatte, gerade und saubere Beete nach europäischem Muster anzulegen, dann verschwand er plötzlich über Nacht. Ohne Grund und ohne Kündigung. Sie kamen und gingen, wie es ihnen gerade in den Sinn kam, und konnten es nicht verstehen, wenn man ein solches Verhalten verurteilte. Die europäischen Maßstäbe galten für sie nicht und waren ihnen unbegreiflich. Sie gehorchten nur der Stimme ihres Herzens, und wenn es »Mutima jange muategama« (In meinem Herzen ist es dunkel) war, dann gingen sie, wohin die Herzenssehnsucht sie zog.
Bei aller Geduld, die Vater für die Eingeborenen aufbrachte, gab es doch etwas, womit er nicht fertig wurde. Er entwickelte mit der Zeit geradezu eine Allergie dagegen. Da die Schwarzen keinen Stress kannten, waren sie im Allgemeinen sehrviel langsamer, sowohl in der Arbeit als auch im Denken. Richtete man eine Frage an einem Einheimischen – und es konnte die Einfachste sein, wie z. B. »Hast du schon gegessen?« die er spontan mit »Ja« oder »Nein« beantworten könnte, tat er es nicht, sondern fragte statt dessen erst zurück: »Ame?« (Ich?), auch wenn niemand, außer dem Gefragten anwesend war. Anfangs bemühte Vater sich noch zu erklären, dass er doch nicht »Ame« zu fragen brauchte, wenn kein anderer zugegen sei, der gemeint sein könne. Mit der Zeit verlor er die Geduld, sobald er bei gleicher Situation die Gegenfrage »Ame?« hörte, und fuhr den Gefragten an: »Wo siehst du denn einen anderen, dem meine Frage gelten könnte?« Aber ändern konnte Vater dennoch nichts, und so ging er dann dazu über, dass er grundsätzlich mehrere rief, sobald er eine Frage an einen zu richten hatte, womit die Gegenfrage »Ame?« zumindest zum Schein gerechtfertigt war.
Was Vater damals nicht wusste, erklärte ihm Sauer eines Tages: Sie fragen »Ame?«, um Zeit für ihre Antwort zu gewinnen. Und ist es eine schwierige Frage, dann wiederholen sie solange »Ame?«, bis sie die Antwort gefunden haben. Auf diese Weise wurden immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen. Von da ab verlor sich Vaters Empfindlichkeit.
Das Roden ging sehr langsam voran. Zu der Zeit gab es weder Traktoren noch irgendwelche Geräte, die die Arbeit hätten erleichtern können. Es wurde alles mit Hacken, Beilen und Sägen bewerkstelligt. Sobald ein halbes Dutzend Baumwurzeln aus den Löchern waren, wurden sie zu dem inzwischen schon großen Haufen gerollt. Danach begann sogleich das Zuschaufeln und Einebnen des gerodeten Landstücks, das aussah, als wäre es mit Bombentrichtern übersät. Da am Cavaco die Kulturen künstlich bewässert wurden, begann man anschließend sofort, die Beet- und Wasserleitungen zu legen und danach zu säen und zu pflanzen.
Der letzte Tag, an dem Gamati uns noch abholte, war ein Sonnabend. Am darauffolgenden Sonntag machte sich die ganze Familie zum Ausflug fertig. Die kleine Luise kam in den Rucksack auf Vaters Rücken, und so zogen wir im Gänsemarsch durch den Busch zur Pflanzung »Cavaco«. Mutter und Großmutter staunten nach der Ankunft sehr über das schon Geschaffte und jubelten, als sie das aufgelaufene Gemüse entdeckten. »Höchstens noch eine Woche, dann können wir hier einziehen«, sagte Vater. Auf dem Holzhaus, das neben dem großen Akazienbaum errichtet war, unter dessen Schatten heute gepicknickt wurde, fehlte nur noch das Dach. Nach dem Essen machten sich die Eltern daran, das Gemüse aus den Saatbeeten zu pikieren. Interessiert schaute ich dabei zu. Nach einer Weile bat ich Vater, mir auch ein Beet zu geben, in das ich »mein« Gemüse pflanzen wollte. Mutter war der Meinung, dass ich es noch nicht könne und nur die Pflanzen zerdrücken würde. Sie wies mir dann aber doch ein Beet zu und reichte mir eine Handvoll Blumenkohlpflanzen.
Zu der Zeit entwickelte ich meine erste Beziehung zur Erde und zu Pflanzen. Ein großes Glücksgefühl erfüllte mich, als sie eingepflanzt und angegossen waren. Sie standen in schnurgeraden Reihen und in den gleichen Abständen wie die der Eltern. Ich schaute mit großer Freude auf sie und war stolz, als nach einigen Tagen des Anwurzelns ein Wachsen und Gedeihen zu sehen war, und »mein« Beet genauso gut stand, wie die der Eltern.
An dem folgenden Montag gingen Georg und ich zum ersten Mal allein zur Pflanzung. Vater riet uns, auf dem Weg stets laut zu singen oder mit einem Stock an den Esscontainer zu klopfen, damit die Schlangen und alles andere Getier sich verziehen konnten. Dieser Rat wurde getreulich befolgt. Die wenigen deutschen Lieder, die wir kannten, wie »Hänschen klein« und dergleichen, waren bald gesungen, und so fingen wir mit den Stammesliedern an. Zwischendurch wurde an den Container geklopft, und so gelangten wir schließlich an »unseren« Tamarindobaum, der wie eine Hütte gewachsen war. Seine äußeren Zweige hingen fast bis auf den Boden, wenn man darunter stand, sah er wie das Dach eines Riesenschirmes aus. Georg stellte den Container auf den Boden, und wir suchten alle Fruchtschoten die heruntergefallen waren. Ich hatte schon eine Menge im Rock meines Kleides, den ich wie eine Schürze hochstülpte, als Georg plötzlich einen entsetzten Schrei ausstieß und mir, schon imLaufen, zurief: »Komm vor unter dem Baum, lauf was du kannst, Thea, lauf, lauf!« Ich ließ den Rock los, die aufgesammelten Früchte flogen in alle Richtungen, und lief zu Georg, ohne mich überhaupt umzusehen. Georg kam mir mit schneeweißem und angstverzerrtem Gesicht ein paar Schritte entgegen, ergriff meine Hand und zog mich eiligst mit sich fort. Ich wusste noch immer nicht, was er gesehen hatte, war nur von seiner Angst angesteckt und sagte im Laufen: »Vaters Essen ist unter dem Baum geblieben, wir müssen umkehren und es holen.« Georg blieb daraufhin stehen. Der Abstand zum Baum war schon groß. Vollkommen außer Atem stieß er hervor: »Ein Mensch – ein Toter – er hängt indem Baum – er hat sich erhängt!«” Nun ebenfalls von einem Schaudern geschüttelt, schaute ich zum Baum zurück. Die Vorstellung, dass wir seelenruhig unter einem Toten – wir hatten noch nie einen gesehen – Früchte gesammelt hatten, bis Georg zufällig hinaufsah, ließ mich erzittern. Wir wagten natürlich nicht, Vaters Essenzu holen. Es war nun auch nicht mehr weit bis zur Pflanzung.
Als wir bei Vater auftauchten, musste er an der Art, wie wir ankamen, gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte. Er kam gleich auf uns zu. Georg berichtete, noch immer außer Atem, was er gesehen hatte. »Dein Essen steht noch dort«, fügte er hinzu. Vater rief sogleich Gamati und fragte, ob er von diesem Fall etwas gehört hätte. Gamati berichtete, er sei mit einigen Freunden in der Nacht vom Sonntag auf Montag in das Einheimischendorf gegangen, welches auf einem der, das Cavaco-Tal umsäumenden Hügel lag und daher »Camunda« (Hügel) hieß. Dort wurde jeden Sonntag Maisbier verkauft, das sogenannte »Otschimbombo«. Dabei wurden sie Zeugen einer schaurigen Geschichte: Ein Mann des Dorfes hatte seine Frau mit einem Nebenbuhler erwischt. Da er schon ziemlich viel Otschimbombo getrunken hatte, sperrte er die Treulose, für die er drei Ochsen bezahlte, als er sie von ihrem Vater erworben hatte, in seine Grashütte und steckte dieselbe in Brand. Nachdem Hütte und Weib verbrannt waren, war er in die Nacht hinausgelaufen, indem er fortwährend in lauten Selbstgesprächen gesagt hatte, er werde sich nun auch umbringen. Vermutlich, so meinte Gamati, handele es sich bei dem Erhängten um diesen Mann.
Gamatis Vermutung erwies sich als richtig. Der Mann musste also schon gehangen haben, als Vater am frühen Morgen zur Pflanzung gegangen war. Wer aber nicht unter dem Baum stand und hinaufsah, konnte von außen nichts sehen. Vater ging mit Gamati zum Baum. Wir wollten, durch seine Gegenwart ermutigt, hinterher, was er jedoch nicht erlaubte. Nach einer Weile kamen sie zurück, und Vater schickte einen Arbeiter ins Dorf Camunda, mit dem Auftrag, den Toten zu holen.
Am Abend auf dem Nachhauseweg war der Tote bereits weggeschafft. Wir gingen aber trotzdem ganz nahe an Vater heran und umklammerten seine Hände, als wir unter dem Baum durchgingen. Er erklärte uns, dass ein Toter doch nichts mehr tun könne und wir in ein paar Tagen dieses Erlebnis vergessen haben würden. Am nächsten Tag waren wir jedoch sehr froh, als wir uns dem Baum näherten und Vater uns darunter erwartete. Ja, wir hatten den besten Vater der Welt und auch die liebevollste Mutter. Wie sehr ein so abgeschiedenes Farmleben, wie wir es in Chicuma und nun hier auf Cavaco führten, eine Familie verbindet, sollten wir erst viele Jahre später spüren.
Die Woche verlief ohne Zwischenfälle, und schon der kommende Sonnabend war unser Umzugstag. Gamati bekam den Auftrag, am Sonnabendmorgen mit allen Leuten zu uns zu kommen, wo Mutter schon früh mit dem Packen fertig war. Trotz der Last, die jeder Arbeiter auf dem Kopf trug, ging es mit Gesang in einer langen Reihe zur Pflanzung.
Die drei gleichen Räume im Holzhaus wurden aufgeteilt: im Mittel- und Eingangszimmer schliefen Georg und Jola, im rechten die Eltern mit Luise, im linken Großmutter, Eva und ich. Gekocht und gegessen wurde zunächst unter dem Akazienbaum und gebadet in einer kleinen, mit Stroh umbundenen Hütte, die etwas abseits stand und zugleich unsere Toilette war. Die Dusche bestand aus einem Eimer, der, nachdem er mit Wasser gefüllt worden war, durch einen Strick, ähnlich einer Seilbahn, hochgezogen wurde. War der Eimer oben, musste man an einem zweiten Strick ziehen, der wiederum einen Mechanismus betätigte und das unter dem Eimer angebrachte Sieb öffnete, so dass das Wasser auf uns niederbrauste. Man musste erst einige Erfahrungen mit dieser Anlage sammeln, denn die ersten Male stand fast jeder noch voller Seifenschaum da, als das Wasser bereits restlos ausgelaufen war. So bescheiden, ja primitiv, war der Anfang auf Cavaco.
Für uns Kinder begann nun die große Zeit der Entdeckungen. Wir machten waghalsige Streifzüge durch den Urwald der Pflanzung und stießen hocherfreut auf drei Tamarindobäume. Damit konnten wir nun gut auf jenen »Todesbaum« – so nannten wir den »Leuchtturm« – verzichten, an dem sich der Mann erhängt hatte und von dem wir seither nie mehr eine Frucht gegessen hatten.
Als Vater uns aber mit so vielen Tamarindos zurückkommen sah, sprach er ein ernstes Wort mit uns: »Nie wieder möchte ich erleben, dass ihr allein im Busch herumstreift. Ihr wisst doch von der Schlangen- und Skorpiongefahr oder nicht?« Fortan gingen wir nur noch an Sonntagen mit Vater oder Gamati die Früchte holen. Eswäre uns nicht im Traum eingefallen, ein Verbot von Vater außer Acht zu lassen.
Der Urwald wurde mehr und mehr gelichtet, und damit erweiterte sich unser Bewegungsfeld. Ich aber verbrachte die meiste Zeit im Gemüsegarten und kannte dort jede Pflanze in- und auswendig.
Vater war unterdessen damit beschäftigt, aus Brettern Formen herzustellen, in denen aus geknetetem Lehm Ziegelsteine für das zukünftige Haus geformt wurden. In langen Reihen lagen sie zum Trocknen aus und wurden dann zu einem großen, einer Pyramide ähnlichen Ofen aufgeschichtet. Durch diesen Ziegelofen führte in der Mitte ein mannshoher Tunnel, worin dann Tag und Nacht ein gewaltiges Feuer unterhalten wurde, bis sich auch die zuoberst liegenden Ziegel rot färbten und damit an Haltbarkeit und Qualität mit anderen konkurrieren konnten.
Nach etwa einem Monat unbeschwerten Herumstrolchens begann für Georg und mich nun der Ernst des Lebens: Wir mussten in die »Escola Liga«, die einzige, die es damals in Benguela gab. Jola und Luise waren noch zu jung, und Eva zu alt. Sie wurde weiter von Großmutter unterrichtet.
Mutter stattete unsmit Kleidung aus. Es gab ja nun alles in Benguela zu kaufen, vom schönsten Chinakrepp bis zur japanischen Seide.
Der Schulanfang war qualvoll. Erstens konnten wir die portugiesische Sprache noch nicht und saßen wie zwei Taube, an denen die Worte der Lehrerin abprallten, und zweitens wurden wir getrennt. Georg kam auf die Jungenseite und ich auf die der Mädchen, was zur Folge hatte, dass mich das niederdrückende Gefühl der totalen Verlassenheit überkam.
Die einsamen Jahre in Chicuma hatten bei mir eine extreme Schüchternheit hinterlassen, und sie sollte noch für viele Jahre ein schwerer Hemmschuh sein. Dazu gesellte sich das deprimierende Bewusstsein meiner Sommersprossen. Nach Sauers Bemerkung darüber kam ich mir damit wie ein Kuriosum vor, und in Ermangelung von Vergleichen glaubte ich, die einzige auf der ganzen Welt zu sein, die damit gezeichnet war.
In Angola gab es keine Rassentrennung. Achtzig Prozent der Schüler waren Farbige. Man setzte mich neben ein dickes schwarzes Mädchen, das vomersten Augenblick eine Abneigung gegen mich zu haben schien, denn es rückte demonstrativ so weit wie möglich von mir weg. Nach kurzer Zeit bemerkte ich einen unangenehmen Geruch, der von ihr ausströmte, was nun auch mich veranlasste, bis auf die äußerste Kante der Sitzbank zu rutschen. Wir kamen uns vor wie zwei weiße Hühner, die in einen Hof gesetzt wurden, in dem es nur schwarzes und braunes Geflügel gab. Genau wie diese ihre Hälse nach den Fremden recken würden, so taten es am ersten Tag auch die Schüler der Ligaschule. Hin und wieder sah ich hilfesuchend zu Georg hinüber, der damit beschäftigt war, den Klassenraum aufs Genaueste zu studieren.
Laurita, so hieß die Dicke auf meiner Bank, hatte außerdem etwas an sich, das mich ziemlich aufregte: Sie kratzte sich laufend auf dem Kopf und amganzen Körper. Nach einigen Tagen juckte es auch mich, besonders auf dem Kopf. Mutter schaute schon öfter argwöhnisch zu mir, als sie mein ständiges Kratzen bemerkte. Am Sonntagmorgen, an dem stets allgemeines Haarewaschen üblich war, untersuchte Mutter meinen Kopf und rief entsetzt nach Vater: »Karl, die Thea hat Läuse in der Schule bekommen.« Mir fuhr ein gewaltiger Schreck indie Glieder, denn Mutters Stimme war unheilschwanger, und ich sah mich schon auf dem Schoß einer schwarzen Frau liegen, die mir die Läuse fing und knackte, wie ich es ständig bei den Einheimischen beobachtete. Vater eilte herbei und vergewisserte sich, wonach auch in seinem Gesicht nichts Fröhliches mehr zu finden war. Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war, kam ich mir doch irgendwie schuldig vor, weil die Eltern meinetwegen so empört waren.
Ohne ein Wort zu verlieren holte Mutter die Haarschneidemaschine, mit der sie immer Vater und meinen Brüdern die Haare schnitt, denn Frisöre gab es auf den abgelegenen Farmen ja nicht, und setzte sie bei mir an. Nach kurzer Zeit lagen meine dicken, blonden Zöpfe auf dem Boden. Mutter hatte mich vollkommen kahl geschoren.
Eiligst wurden die Zöpfe und sämtliche Haare zusammengefegt und sofort verbrannt. Danach brach ein gründliches Reinemachen an. Alles Bettzeug sowie meine Kleidung wurden gekocht. Georg wurde ebenfalls untersucht, aber er hatte keine. Als ich nach dieser Prozedur in den Spiegel schaute, stieß ich einen grässlichen, lauten Schrei aus – ich erkannte mich nicht mehr wieder. Ein kugelrunder, nackter Kopf sah mir entgegen, dessen Gesicht, wie mir nunschien, nur noch aus Sommersprossen bestand. Oh, wie war ich zerschmettert. Die Tränen liefen in dicken Strömen, und ich versteckte mich viele Stunden hinter einem Busch in der Nähe des Gemüsegartens.
Es wurde zum Mittagessen gerufen. Dazu verspürte ich nicht die geringste Lust. Grenzenloses Selbstmitleid war über mich gekommen, dem ich mich völlig hingab. Aber irgendwann kam ich dann doch wieder hinter dem Busch hervor und ging zu meinem Blumenkohlbeet. Dort sah ich, dass es dringend bewässert werden musste und machte mich eiligst mit der Gießkanne daran, die Pflanzen zu tränken. Bei dieser Betätigung vergaß ich den geschorenen Kopf und dachte erst wieder daran, als plötzlich Vater, den ich gar nicht kommen sah, neben mir stand. Mit bedauerndem Lächeln schloss er mich in die Arme und sagte: »Armes Theamädchen, sei nicht traurig, deine Haare wachsen schnell wieder nach, und du wirst genauso schöne Zöpfe bekommen wie vorher, aber ohne Läuse. Komm, wir wollen essen gehen.« Er nahm mich bei der Hand, und ich trottete neben ihm her und machte eine wohltuende Feststellung: Vater liebte mich auch ohne Haare, was mich sehr wunderte, denn ich mochte mich nun absolut nicht mehr leiden.
Die Familie war schon unter dem Akazienbaum versammelt und wartete nur noch auf uns. Erst als wir angekommen waren, merkte ich, dass ein Gast anwesend war. Ach, du lieber Himmel. Da saß Sauer. Er war ausg