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Wer will schon werden wie die eigene Mutter... Na, Anna jedenfalls nicht. Auch heute noch sind der 41-jährigen Lehrerin die Auftritte der rebellischen Mittsechzigerin peinlich. Und jetzt will Mama Irene auch noch ihr schönes altes Haus renovieren, um es zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen, wo das Leben tobt. Annas Töchter finden das "total okay". Sie hatten schon immer ein besseres Verhältnis zu ihrer exzentrischen Großmutter als zu Anna. Der Einzige, dem Anna ihr Herz ausschütten kann, ist der polnische Handwerker Tomasz. Sie ahnt jedoch nicht, dass nicht nur sie seine starke Schulter -– und anderes – zu schätzen weiß.…
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Seitenzahl: 424
Wer will schon werden wie die eigene Mutter...
Na, Anna jedenfalls nicht. Auch heute noch sind der 41-jährigen Lehrerin die Auftritte der rebellischen Mittsechzigerin peinlich. Und jetzt will Mama Irene auch noch ihr schönes altes Haus renovieren, um es zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen, wo das Leben tobt. Annas Töchter finden das "total okay". Sie hatten schon immer ein besseres Verhältnis zu ihrer exzentrischen Großmutter als zu Anna. Der Einzige, dem Anna ihr Herz ausschütten kann, ist der polnische Handwerker Tomasz. Sie ahnt jedoch nicht, dass nicht nur sie seine starke Schulter -– und anderes – zu schätzen weiß.…
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Copyright © 2008 by Susanne Fülscher im List Taschenbuch der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-675-5
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Zwei Tage. Er war zwei Tage zu früh.
Jetzt stand er auf der vorletzten Treppenstufe, und Anna hielt ihn im ersten Moment für einen Paketboten. Er mochte Mitte 30 sein, vielleicht schon 40 – graumeliertes Haar, lichtblaue Augen, die Brauen kräftig, wie mit Tusche gezeichnet, – und strahlte eine Offenheit aus, die sie irritierte. Ebenso der Anzug im Stil der 60er Jahre. Paketboten trugen keine Anzüge. Sie bevorzugten bequeme Kleidung, hatten Pakete dabei und ein Empfangsbestätigungsgerät, nicht jedoch übergroße Sporttaschen aus Leinen und mit Ledergriffen. Außerdem war es gerade mal neun Uhr durch, viel zu zeitig für die Post, und er sagte nun mit osteuropäischem Akzent: »Guten Tag.«
»Guten Tag und auf Wiedersehen«, erwiderte Anna, aber der Mann schwang die Tasche über seine Schulter, hüpfte die letzte Stufe nach oben und schob seinen Fuß in den Türspalt.
»Was wollen Sie?« Anna gab sich alle Mühe, bestimmt zu klingen, keine Angst zu zeigen. In letzter Zeit war immer wieder in der näheren Umgebung eingebrochen worden. Zehlendorf. Bessere Wohngegend. Kleinkriminelle trugen gerne mal hier und dort einen Fernseher, Familienschmuck oder Bargeld hinaus.
»Ich ... Jestem Rzemieślnikiem.« Der Mann, der offenbar wohl doch kein Paketbote war, ließ den Fuß an Ort und Stelle, machte eine gleichsam entschuldigende Geste und strich sich über das unrasierte Kinn. Bloß einen Pulsschlag später landete die Leinentasche mit einem Plumps auf dem Treppenabsatz.
»Falls Sie mir einen Tischstaubsauger oder ähnlichen Unsinn verkaufen wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse!« Um sich zu beruhigen, atmete Anna tief ein und ließ die Luft in einem Schwall wieder heraus. »Also wenn Sie jetzt bitte gehen würden.«
Die blassblauen Augen des Mannes, die so gar nicht zu den massiven Brauen passen wollten, verengten sich. »Dzień dobry.« Er hielt ihr seine Hand hin. »Tomasz Gnot.«
Automatisch streckte Anna nun auch ihre Hand aus, um sie im nächsten Moment sogleich wieder zurückzuziehen. »Sie sind Herr Gnot?«
»Tak. Tomasz.« Er knibbelte ein wenig Putz von der Hauswand, sodass feiner Staub hinabrieselte, dann knipste er ein Lächeln an und radebrechte: »Das ... das ist richtig viel Arbeit. Meine Bus fährt zweimal in Woche. Meine Bus fährt sehr lange.«
Anna schickte in Gedanken ein Stoßgebet gen Himmel und verfluchte ihre Mutter, die Tomasz Gnot in einer Nacht- und Nebelaktion über einen entfernten Bekannten engagiert hatte. Ohne sie zu fragen. Ohne überhaupt jemanden zu fragen. Als wäre sie Alleinherrscherin in diesem Mikrokosmos, der aus ihrer Tochter, ihren beiden Enkelinnen Nina und Lydia, einer Handvoll enger Freunde und einer stattlichen Anzahl abgelegter Liebhaber bestand.
Wo steckte sie überhaupt schon wieder? Statt den polnischen Schwarzarbeiter in Empfang zu nehmen, der bereits jetzt Unruhe und Chaos stiftete, trieb sie sich in der Stadt herum. Vermutlich war sie beim Shopping in der Friedrichstraße, kaufte Aquarellfarben, um ihre gerade in Frankreich erworben Maltechniken anzuwenden, oder aber sie flirtete in den Galeries Lafayette bei einer Bouillabaisse die jungen Köche an. Was nur allzu typisch für sie wäre. Früher hatte sie in billigen Sexfilmchen mitgespielt, heute gab es den entsprechenden Nachschlag: sixty plus im Reich der Sinne.
»Mach dich locker, Liebchen«, pflegte ihre Mutter zu bemerken, wenn Anna sich mal wieder echauffierte. »Genieß das Leben! Ist es nicht herrlich? Wie eine prall gefüllte Wundertüte!«
Und jetzt plante sie auch noch das Haus zu verkaufen.
Raus aus Zehlendorf, rein ins Leben. Das band sie jedem stolz auf die Nase und meinte damit einen Umzug in den Ostteil der Stadt. Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain. Mit ihren 63 Jahren wollte Irene es noch mal wissen und in der jungen Szene mitmischen. Anna konnte das nicht nachvollziehen. Sie liebte die Ruhe, das vielleicht etwas einförmige Leben und ärgerte sich maßlos darüber, dass ihre Mutter nicht mal ansatzweise bedachte, wie viel ihr das eierschalenfarbene, leicht marode Haus bedeutete. Es war mehr als bloß Wohnraum. Es war Kindheit, Jugend, erste Ehe, die Geburt der Zwillinge, Scheidung, lachen, lieben und weinen. Anna konnte sich die Argumente, die für Irenes Plan sprachen, noch so oft runterbeten – jedes Mal lief bei ihr ein- und derselbe Film im Zeitraffer ab: Der Familienbesitz wurde aufgerüscht und verkauft; bereits in der nächsten Einstellung sah sie sich einsam und verlassen auf der Straße sitzen, ihr Hab und Gut weg, alles, was ihr jemals etwas bedeutet hatte, verloren, das Leben leer und sinnlos, Sarg kaufen, Eiche rustikal.
Ihre Mutter fand das lachhaft. »Niemand von uns braucht sich in einen Sarg zu legen, nur weil wir 155 Quadratmeter Wohnfläche plus 329 Quadratmeter Garten verscherbeln. Was für ein Unfug!«
Da mochte sie Recht haben, nur musste andererseits die ganze Familie parieren, bloß weil ihre fesche Sixty-Plus-Mutter Flausen im Kopf hatte? Doch ihre Mutter schien das gar nicht weiter zu interessieren, ebenso wenig wie die Tatsache, dass es Anna ein Gräuel war, den Fremden mit den Betonaugenbrauen hereinzubitten, um womöglich den Vormittag mit ihm auf dem Sofa zu verbringen. Dienstags hatte sie unterrichtsfrei, es war der einzige Tag in der Woche, der ihr gehörte.
Gerade als sie den Mann endlich erlöste und mit harscher Geste ins Haus winkte, fiel Anna ein, dass der Frühstückstisch noch nicht abgeräumt war. Aber warum machte ihr das überhaupt etwas aus? Tomasz Gnot war ihr einerlei. Und was er über ihre Unordnung denken würde ebenso. Es war ihr auch egal, dass ihr ihr Leben vielleicht bald egal sein würde. Nur dass sie nicht wusste, wie lange sie den Kerl am Hals haben würde – eine Woche, zwei, vielleicht einen ganzen Monat? – brachte ihr inneres Gleichgewicht ins Wanken. Planung war alles im Leben – selbst wenn es sich um den eigenen Untergang handelte.
Lydia kam die Treppe herabgepoltert – wie üblich in Turnschuhen, mit denen sie bisweilen Dreck ins Haus trug. Es hatte deswegen schon öfter Streit gegeben, aber Lydia zog sie nur unter Androhung von Gewalt aus. Und im Bett, das natürlich schon.
»Mummy, ich ...« Sie verstummte, als sie Tomasz Gnot erblickte und begann sich am Hals zu kratzen, bis sich eine Inselgruppe roter Flecken bildete.
»Liebes, das ist unser Handwerker.« Anna hasste sich für ihren flötenden Tonfall. Verlogen. Falsch. »Du erinnerst dich. Deine Großmutter ...«
»Ja, weiß ich.« Lydia hob ihre Hand, warf dem Polen ein scheues »Hi« zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder nach oben. Anna vermutete, dass sie sich ein zweites Mal im Badezimmer aufhübschen wollte, bevor sie wie so oft ohne auch nur einen Happen im Magen zu Working Class, einer Filmproduktionsfirma in Niederschöneweide, fuhr. Irene hatte ihrer Enkelin dort dank ihrer hervorragenden Ex-Bettkontakte einen Praktikumsplatz verschaffen können. Sechs Monate lang Drehbücher kopieren, Verträge ausdrucken, Einladungen zu Bergfesten verschicken, selbstverständlich ohne Aussicht auf mehr. Doch die Zeiten waren hart, ohne Praktikum lief gar nichts. Mit allerdings ebenso wenig.
»Lydi, bitte blockier nicht wieder ewig das Bad!«, rief Anna ihrer Tochter nach. Eigentlich war es ihr egal, wie lange Lydia sich schminkte und ihren akkuraten, blonden Bob immer wieder mit Spangen, Reifen oder Haarhändern umfrisierte – nur heute hätte sie ihre Tochter gern an ihrer Seite gehabt. Als Konversationshilfe und um mit Tomasz Gnot nicht allein sein zu müssen. Das helle Blau seiner Augen war ungewöhnlich und verstörend; obendrein hatte der Mann für ihren Geschmack einen viel zu starren Blick. Wie ein Raubvogel, der bloß darauf lauerte, sich auf seine Beute zu stürzen.
»Möchten Sie Kaffee? Haben Sie Hunger?« Anna deutete auf die letzte Tür im Flur. »Dort ist die Toilette, falls Sie mal –«
»Viel Dank. Nie muszę.« Tomasz Gnot machte eine vage Geste. »Komm, jetzt wir trinken Kawę ... Kaffee.«
»Einen Moment noch.« Vermutlich lächelte sie jetzt wieder so eisig. Mark, ihr Ex und der Vater der Zwillinge, hatte ihr in der gerade mal zwei Jahre dauernden Beziehung häufig ihr eingefrorenes, kühles Dauerlächeln vorgeworfen. Aber sie lächelte nun mal so, wie sie lächelte und scherte sich keinen Deut darum, was irgendein Mann auf dieser Welt davon hielt.
Auch wenn es unhöflich war, ließ Anna den Handwerker im Flur stehen und unternahm einen Abstecher in die Küche. Wo zum Teufel hatte sie nur ihr Handy deponiert? Weder lag es auf dem Nussbaum-Küchentisch, der von ihrem Urgroßvater stammte, noch auf dem Gewürzregal, noch auf dem Elektroherd, und während Anna verzweifelt jeden Winkel absuchte, kam ihr in den Sinn, dass sie ihr Handy womöglich beim Bettenmachen in einem der Zimmer der Mädchen vergessen hatte. Ja, sie war so dumm und schüttelte die Betten ihrer längst erwachsenen Töchter auf, was in vorhersehbarer Regelmäßigkeit zu Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter führte. So etwas wäre ihr früher nie in den Sinn gekommen, ereiferte sich Irene dann, Anna habe ihr Bett bereits mit sechs Jahren selbst gemacht, und ob sie ihre Töchter vielleicht zu Primadonnen mit zwei linken Händen erziehen wolle? Natürlich wollte Anna das nicht, sie war auch keine Glucke, die ihren Mädchen jede noch so kleine Arbeit abnahm, sie konnte nur keine Unordnung ertragen. Nie. Nirgends. Umso schlimmer, dass ab sofort ein fremder Mann, von dessen schlechten Angewohnheiten sie sich zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Vorstellungen machen konnte, bei ihnen leben, womöglich hausen würde. Wie oft würde er duschen? Wie waren seine Tischmanieren? Und wie würde er sein Nachtlager nach dem Aufstehen hinterlassen?
Vom Flur ertönte schiefes Pfeifen. Tomasz Gnot pfiff O sole mio. Das fehlte ihr gerade noch. Um den Mann zum Verstummen zu bringen, kehrte sie resoluten Schrittes in den Flur zurück.
»Kawa«, sagte Tomasz Gnot und ließ die letzte Silbe mit einem kleinen Fragezeichen ausklingen.
»Ja, ich koche ja gleich Kaffee!«, herrschte Anna den Gast an, ohne sich sicher zu sein, ob er seine vorsichtige Frage überhaupt als Aufforderung gemeint hatte. Vielleicht hatte er bloß höflich anbieten wollen, schon mal den Kaffee aufzusetzen. Oder es war ihm langweilig, einfach so auf dem Flur herumzustehen und Maulaffen feilzuhalten.
Lydia kam aus dem Bad, für ihre Verhältnisse viel zu schnell fertig, aber womöglich wollte sie nur weg von dem fremden Mann. Manchmal war sie schon ein bisschen furchtsam; ein Wunder, dass sie nach zwei Jahren Uni über ihren Schatten gesprungen war und den Praktikumsplatz angetreten hatte.
»Ah! Trampki!«, hörte Anna den Handwerker ausrufen, als sie gerade in Ninas Zimmer abtauchte, wo sie zum Glück das Handy endlich auf ihrem mintgrünen Nachtschränkchen fand.
»Nein, das sind Chucks«, tönte es vom Flur.
»Trampki!«
»Nein, Chucks!«
»Aha. Chucks. Ich denken Trampki. In Polen sind auch Trampki.«
»Also gut, dann eben Trampki. Schönen Tag noch.«
Die Worte waren wie hei einem Tennismatch hin und her geflogen, jetzt klappte die Haustür zu, und Anna beeilte sich, die Namensliste in ihrem Handy runterzuscrollen. Bei »I« wie Irene blieb sie hängen. Ihre Mutter würde etwas von ihr zu hören kriegen.
»Wo zum Teufel steckst du?«, schimpfte Anna in den Apparat, kaum dass sich Irene gemeldet hatte.
»Was ist denn los? Und schrei mir bitte nicht ins Ohr.«
»Dein Handwerker ist hier«, dämpfte Anna augenblicklich ihre Stimme. »Er sollte doch erst übermorgen kommen! Und weißt du was? Jetzt steht er im Flur herum, und ich habe keinen Schimmer, was ich mit ihm anstellen soll. Eigentlich will ich auch gar nichts mit ihm anstellen, ich will ihn nämlich nicht mal hier haben, weil ich das Haus gar nicht ... ach, verflucht ...!« Anna ging für einen Moment die Puste aus, doch das war nicht weiter schlimm, weil sich ihre Mutter am anderen Ende der Leitung gerade beschweren musste:
»99 Euro? Hören Sie, das ist aber viel zu viel für den Lappen!«
»Mutter?!«
»Ja, Liebes?«
»Hörst du mir überhaupt zu? Der Pole –«
»Habe alles mitgekriegt. Du kochst dem jungen Mann jetzt einen Kaffee – polnische Art natürlich –, vielleicht schmierst du ihm ein paar Schnittchen, Kekse sind auch noch da, dann setzt ihr Zwei euch aufs Sofa, plaudert ein wenig, und in zwei, spätestens drei Stunden bin ich schon wieder zurück.«
»Zwei, drei Stunden? Weißt du, was ich in zwei, drei Stunden alles machen könnte? Das Haus durchwischen, einen Kuchen backen, von mir aus die Gardinen waschen und die Wäsche von einem ganzen Monat wegbügeln, aber ich kann und will mich nicht so lange mit deinem Handwerker abgeben! Ich hatte andere Pläne! Heute, an meinem freien Tag!«
Ihre Mutter lachte nur herablassend. Wie so oft. Ihre ganze Kindheit über hatte ihre Mutter auf diese Weise gelacht und nicht einmal gemerkt, wie weh sie ihrer Tochter damit tat. Allein aus diesem Grund hatte sich Anna bei den Zwillingen stets zusammengerissen und sie nie ihre Überlegenheit spüren lassen.
»Anna, Liebes, tu mir den Gefallen, ja?«
»Du kommst jetzt sofort nach Hause, Mutter!« Sie hätte gerne eine Drohung ausgesprochen, irgendetwas, das richtig zog, doch ihr fiel nichts Treffendes ein.
»Das wird leider nicht gehen, ich habe noch einen Termin.«
In Annas Kopf breitete sich ein Vakuum aus. Gleichzeitig fiel ihr Blick auf einen türkisfarbenen String, der auf geradezu unverschämte Weise aus Ninas Wäscheschublade hervorlugte. Anna konnte sich nicht erinnern, das Teil schon einmal in der Buntwäsche gehabt zu haben. So etwas trug ihre Tochter? Einen String für besondere Stunden? Den billigen Geschmack mochte Nina weiß der Himmel woher haben, aber ganz bestimmt nicht von ihr.
Plötzlich stand Tomasz Gnot im Zimmer. Wie vorhin an der Haustür massierte er sein stoppeliges Kinn und scannte unterdessen blitzschnell den Raum. Hoffentlich fiel ihm nicht der String ins Auge.
»Ich muss Schluss machen«, zischte Anna ins Handy. »Und beeil dich, ja?« Sie klickte das Gespräch weg.
Gnot sagte: »Ich gucke. Wie viel ist das zum Arbeiten.«
Warten wir besser, bis meine Mutter nach Hause kommt, hätte Anna am liebsten vorgeschlagen, aber es wäre ihr albern vorgekommen. Was sollte Tomasz Gnot auch von ihr denken? Dass sie mit Anfang 40 immer noch unter der Fuchtel ihrer Mutter stand? Ein denkbar ungünstiger Start. Sicher würde er auf einen Schlag sämtlichen Respekt vor ihr verlieren.
»Wollten Sie nicht Kaffee trinken? Und haben Sie vielleicht auch Hunger?«
Tomasz Gnot nickte und lief hölzern aus dem Zimmer. Männer, die sich nicht bewegen können, sind schlechte Liebhaber, schoss es Anna durch den Kopf, doch sie schalt sich sogleich wieder für diesen absurden Gedanken. Es war völlig unerheblich, wie sich Tomasz Gnot auf sexuellem Gebiet anstellte, er sollte bloß das Haus renovieren und dann schnellstmöglich wieder aus ihrem Leben verschwinden.
Sie folgte dem Polen in die Küche, wo er bereits vor seiner überquellenden Leinentasche kniete und darin herumwühlte. Kaffee polnische Art – das konnte er abschminken. Zum einen wusste Anna nicht, wie man den überhaupt kochte, zum anderen gab es in diesem Haus eine Espressomaschine, die hervorragend funktionierte. Also würde Herr Gnot mit der italienischen Variante Vorlieb nehmen müssen.
»Espresso? Cappuccino?«, fragte sie, als er mit einem Alupäckchen größeren Umfangs bewaffnet wieder hochkam. Er musterte die Espressomaschine wie ein außerterrestrisches Flugobjekt, bloß ein paar Sekunden lang, dann schmetterte er mit einem opernreifen Bariton: »Latte macchiato!«
»Latte macchiato? Trinken Sie so was denn auch in Ihrer Heimat?« Fast hätte sie noch etwas von amerikanischer Unsitte hinterher gemurmelt, die leider Gottes bei jedem Bäcker um die Ecke Einzug gehalten hätte und dass bei ihr allenfalls Espresso oder Cappuccino auf den Tisch kämen. Sie ekelte sich vor den milchgefüllten Riesengläsern, vielleicht weil es sie an das zwangsverordnete Milchtrinken in ihrer Kindheit erinnerte. Milchbart, saurer Geschmack im Mund, weißliche Haut, die in Fetzen an der Unterlippe kleben blieb. Ihre Mutter war eine stets liberale Person gewesen, mehr als das (oder wie nannte man das, wenn sich die Mutter im Nebenraum mit ihren Liebhabern vergnügte?), doch dem täglichen Becher warmer Milch hatte sich Anna nie entziehen können.
»Zu Hause ... Wodka.« Tomasz Gnot lachte leise. Er bat um einen Teller, großesTeller, und öffnete das Alupäckchen mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er schon etliche Jahre in dieser Küche zu Hause.
Anna ging vor dem alten Besenschrank, in dem sie ausrangierte Haushaltsgegenstände aufbewahrte, in die Hocke. Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie dem Mann nicht einfach einen normalen Essteller hinstellte – vielleicht weil sie nicht wollte, dass er ein ganz normaler Gast in ihren vier Wänden war. Hinter einer gelblich verfärbten Saftpresse fand sie einen Vorspeisenteller mit Fischmotiven, den sie mit Axel, ihrer zweiten große Liebe, in einem Portugalurlaub gekauft hatte. Tinnef, hatte er damals gemeint und sie mit ihrem Hang zu unnützem Krempel aufgezogen, ihr dann jedoch den Spaß gelassen.
Annas Herz pochte vor diebischer Schadenfreude, als sie einen toten Silberfisch wegpustete und Tomasz Gnot den Teller vorsetzte. Ja, er hatte den Silbertisch verdient. Jemand, der sie so überfiel, wie Herr Gnot es getan hatte, hatte eine ganze Armee von Silberfischen verdient. Mindestens.
»Dziękuję.« Der Handwerker bemerkte nichts, wie sollte er auch, und wickelte bedächtig seinen Proviant aus. Hart gekochte Eier, Koteletts, belegte Brötchen, Apfeltaschen, Würste – das alles kam neben bunt verpackten Schokobonbons und selbst gebackenen Plätzchen zum Vorschein.
»Bitte probier mal«, sagte Tomasz und griff selbst nach einem bereits abgepulten Ei, das jetzt mit zwei Bissen in seinem Mund verschwand. »Das ist alles von meine Mutti.«
Alles von meine Mutti war schön und gut, jedoch nicht das, wonach es Anna im Moment gelüstete. Ihr war nach einem hochprozentigen Wodka, aber den hatte Mutti leider nicht eingepackt. Dann eben Espresso, fast ein adäquater Ersatz. Der Pole wollte ihr zwar offensichtlich nichts Böses, doch er verstörte sie. Allein die Tatsache, dass er atmete und kaute, war so strapaziös, dass sie sich am liebsten in Luft, in Wodka, egal in was aufgelöst hätte.
Die Espressomaschine kreischte auf, jammerte ein wenig vor sich hin, dann tröpfelte der Espresso dickflüssig in die Tassen. Anna atmete tief durch. Vielleicht dramatisierte sie wirklich alles. Vielleicht würden die Renovierungsarbeiten schneller vorangehen, als sie im Moment glaubte, und sie sich eines Tages tatsächlich mit einer neuen Wohnung anfreunden können. Wie gehabt in Zehlendorf, das ganz bestimmt. Zwei Zimmer, schicke Einbauküche, Bad mit Fenster, und womöglich würde sie sich dann auch endlich ein neues Sofa in ihrer Traumfarbe Weiß anschaffen. Ein neues Domizil hätte auch den entscheidenden Vorteil, dass sie und Lydia wieder für sich allein wären, und weder Wirbelwind Nina noch ihre Mutter nach Belieben hei ihr unterschlüpfen könnten. Die letzten Monate hatten Anna an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht. Irene war aus Frankreich zurückgekehrt, ebenso Nina, die im Rahmen ihres Studiums zwei Semester an der Università degli Studi Roma Tre studiert hatte. Von jetzt auf gleich mit ihrer Mutter und den Zwillingen unter einem Dach – das wollte erstmal verdaut werden. Anna liebte Nina, sie liebte sie ebenso wie Lydia, und auch mit ihrer Mutter arrangierte sie sich in der Regel, nur musste sie nicht zwangsläufig mit den beiden Dickköpfen Tag und Nacht verbringen.
Bei Lydia lagen die Dinge anders. Lydia, der fünfzehn Minuten jüngere Zwilling, war sanftmütig, fast brav, eben immer noch ihr kleines, zartes Mädchen, das nie länger als ein paar Tage von zu Hause fort gewesen war. Mit Lydia lebte es sich – abgesehen von dem Turnschuhdreck und ihrem manchmal etwas anstrengenden Biospleen –, harmonisch, ja friedlich, und insgeheim wünschte sich Anna, dass ihre kleine Zweier-WG bis in alle Ewigkeit Bestand haben würde.
Kaum hatte Anna die Dampfdüse aufgedreht, spürte sie einen Windzug im Nacken. »Du hast nicht gutes Humor«, sagte Tomasz Gnot dicht an ihrem Ohr.
Anna fuhr so heftig herum, dass sie sich am zischend hervorspritzenden Wasser verbrühte und ihr das Milchkännchen entglitt. Der Handwerker griff geistesgegenwärtig danach und drehte gleichzeitig in Windeseile die Düse zu. Wenn Anna nicht alles täuschte, lächelte er dabei selbstgefällig. Ja, du bist ein ganz fabelhafter Held, dachte sie, und verfrachtete Gnot kurzerhand in die Schublade Dummkopf, wo schon der Großteil seiner Geschlechtsgenossen weilte. Anna schämte sich nicht für ihre Vorurteile, im Gegenteil, sie hegte und pflegte sie wie andere Leute ihre Zimmerpflanzen. Die meisten Männer waren Ausschussware. Und wenn sie es am Anfang einer Liebesbeziehung noch nicht waren, holten sie das Versäumte nach spätestens zwei, drei Jahren nach.
»Du bist nicht froh«, stellte Tomasz fest. Sein Tonfall bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen Überheblichkeit und Mitgefühl und Anna nahm sich in diesem Moment vor, den Mann bis zum bitteren Ende zu siezen. »Du hast Angst«, fuhr er nun lächelnd fort und zeigte dabei seine sehr großen, sehr weißen Zähne. Alles an ihm schien das Adverb sehr verdient zu haben. Er war sehr hoch gewachsen, sehr zuvorkommend, hatte sehr blaue Augen, sehr breite Augenbrauen, sehr viel Proviant dabei und eben diese Zähne. Seine reduzierten, ungelenken Gesten bildeten einen seltsamen Gegensatz dazu.
»Also bitte«, sagte Anna und schlug damit einen härteren Ton an. »Sie setzen sich jetzt und essen.« Sie hatte nicht im Mindesten vor, mit dem Fremden philosophische Gespräche über ihre Gemütszustände führen. Wie absurd auch.
Der Mann tat, wie ihm befohlen und begann mit sehr großem Appetit zu essen. Anna sah aus dem Augenwinkel, wie sein Mund auf- und zuklappte, wie der Kiefer im Rhythmus einer Baggerschaufel hoch- und runterfuhr und ein zweites Ei in seinem Mund verschwand, darauf folgte eine Apfeltasche, und noch bevor sie den milchigen Kaffee servieren konnte, hatte er auch schon eines der Brötchen in Angriff genommen. Sattgelbe Butter quoll beim Abbeißen hervor, er kaute und malmte, dann nahm er das Kaffeeglas entgegen und trank in gierigen Schlucken. Anna wünschte sich immer mehr einen Wodka herbei, denn schon vom bloßen Zusehen wurde ihr übel. Wen zum Teufel hatte ihre Mutter da engagiert? Einen schier unersättlichen Mann, der im Handumdrehen von ihrer Küche Besitz ergriffen hatte, schlimmer, sich wie eine Zecke in einer warmen Hautfalte angedockt hatte, um sich nun genüsslich mit Blut vollzusaugen.
»Dobra Kawa. Das ist sehr gute Kaffee«, lobte er.
»Sie sehr gute Hunger«, fiel Anna automatisch in seine Sprache. Sie hatte nicht gemein sein und ihn aufs Korn nehmen wollen, es war ihr einfach so herausgerutscht.
»Tak! Ich bin immer Hunger!« Es klang zweideutig, und vielleicht war es auch so gemeint. »Du bist nicht Hunger?«
Anna schüttelte den Kopf, woraufhin sie ein Lächeln erntete, das mitleidig sein mochte, bedauernd, irgendetwas in der Art.
»Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?«, wechselte Anna rasch das Thema. Eine Lüge, natürlich. Tomasz Gnots Deutsch war eine Katastrophe, und sie fragte sich, wie sie um Himmels Willen kompliziertere Sachverhalte als Kaffee und Hunger mit ihm verhandeln sollte. Aber was zerbrach sie sich darüber eigentlich den Kopf? Ihre Mutter hatte den Handwerker gewollt, also sollte sie sich bitte sehr auch mit ihm herumplagen.
»Ich bin ein Jahr in Bochum«, antwortete er und jonglierte das Kaffeeglas von einer Hand in die andere.
Ein Jahr? Der Mann hatte 365 Tage in Bochum verbracht und sprach dermaßen ungrammatisch und mit reduziertem Wortschatz?
Anna stürzte den Espresso ohne Zucker hinunter, was ein halbwegs fairer Wodkaersatz war, dabei fiel ihr Blick auf Gnots Hände. Sie waren sehr gepflegt, viel zu gepflegt für einen Handwerker. Als hätte er sie frisch eingecremt und die zartrosafarbenen Nägeln seiner auffallend langen, schmalen Finger eben noch im Bus in Form gefeilt. Irgendwas schien hier mächtig faul zu sein. Es wurde Zeit, dass ihre Mutter endlich nach Hause kam, um ihr diesen sehr-Mann, diese polnische Mogelpackung, abzunehmen. Vielleicht war er gar kein Handwerker, sondern doch ein Gauner, der sie nur ausrauben oder über den Tisch ziehen wollte.
»Sehr gut Michaszki.« Der Mann bot ihr von den Süßigkeiten an, die in blau-grün-silbriges Glanzpapier eingewickelt waren.
Obwohl Anna nur selten Süßes aß – sie war noch nie wild darauf gewesen –, griff sie nach dem Naschwerk und schnupperte an der Folie. Der nussige Schokoladengeruch, der ihr in die Nase stieg, erinnerte sie an ferne Kindertage. Mit einem Schlag war alles wieder da: die knapp bemessenen Stunden in der Badeanstalt im Sommer mit ihrer Freundin Katrin, Zähneklappern, Chlor auf der Haut. Ihre Mutter war in den Sommerferien meistens als Schauspielerin durch die Provinz getingelt und hatte Anna zur Entschädigung stundenweise ins Schwimmbad verfrachtet.
»Was haben Sie in Bochum gemacht?«, erkundigte sich Anna nun, wickelte die Schokolade aus und führte sie mit spitzen Fingern zum Mund. Sie schmeckte ein wenig wie Snickers und doch ganz anders.
»Ich gebaut eine Haus«, erwiderte Gnot. »Ich arbeiten im Garten. Ich fruhar lerne Musik. Ich fruhar frohsichtige Kinder.«
»Bitte, was?«
Die Augen des Polen blitzten für den Bruchteil einer Sekunde auf. Nach mehreren Erklärungsversuchen in gebrochenem Deutsch verstand Anna, dass Klavierstunden und Kochen seine Lieblingstätigkeiten gewesen waren. Das Rätsel der fruhar frohsichtigen Kinder löste sie allerdings nicht.
Kochen traf sich gut. Anna hasste es, sich an den Herd zu stellen, und wenn sich ihre Mutter nicht erbarmte oder Lydia etwas aus dem Bioladen mitbrachte (was auf Dauer das Haushaltsbudget zu sprengen drohte), gab es zumeist nur Brote mit Schinken und Käse, bisweilen ein paar eingelegte Artischocken vom Italiener dazu.
Es läutete.
Ihre Mutter? Unmöglich. Sie hätte den Weg von Mitte nach Zehlendorf in der Kürze der Zeit nicht schaffen können, obendrein pflegte sie nicht an ihrer eigenen Haustür zu klingen. Na, machte ja auch nichts. Jede Unterbrechung war willkommen. Anna warf Gnot einen entschuldigenden Blick zu und ging öffnen.
Diesmal stand tatsächlich ein Paketbote auf der vorletzten Treppenstufe. Wie Gnot hatte er graumeliertes Haar, allerdings trug er echte Paketbotenkleidung, ein ausgeleiertes gelbes Polohemd zur Jeans, und er hatte ein echtes Paket dabei, das er jetzt wie eine Trophäe hochhielt.
»Irene Sass?«
»Ja, da sind Sie hier richtig.«
Der Paketbote zückte sein elektronisches Empfangsbestätigungsgerät für die Unterschrift und erklärte, wobei er sie mit einem Schwall Knoblauchdunst einnebelte: »Da würde ich aber gern beim Auspacken helfen!«
»Wieso?«, fragte Anna arglos.
Der Mann reichte ihr den Stift, damit sie ihre Unterschrift leisten konnte und kam dabei näher, als der Anstand es erlaubte.
»Tschuldigung, aber ich kenne solche Pakete.« Beim Wort solche rollte er mit den Augen. »Und ich freue mich immer, dass sich selbst in dieser feinen Gegend Frauen solche Sachen bestellen ... um sich dann die Sterne vom Himmel zu holen.«
Anna war sprachlos. Sie schaffte es gerade noch zu unterschreiben, der Mann nahm den Stift und trat breit grinsend einen Schritt zurück. Dann ging alles ganz schnell. Er geriet ins Stolpern, konnte sich nicht mehr auffangen, geschweige denn am Geländer festhalten, trudelte die Treppe hinunter, und sein Kopf schlug mit einem Rumms gegen den Blumenkübel mit den Sommermargeriten.
Ein paar Sekunden lang war es ganz still. In weiter Ferne donnerte ein Laster vorbei; erst einen Atemzug später stieß Anna einen Schrei aus.
*
»Nur zu! Verschreiben Sie mir ruhig Pillen!«, fauchte Irene und reckte kurz ihr Hinterteil, das heute in einer modischen Röhrenjeans steckte, in die Höhe. »Wenn Sie mich auf direktem Weg ins Grab befördern wollen, bitte sehr!« Sie brauchte ein Weilchen, um ihren Motor wieder runterzufahren. Dazu blinzelte sie durch die runtergelassenen Jalousien nach draußen und versuchte die Bäume am Straßenrand zu erkennen. Linden? Akazien? Birken? »Also gut, ich schlage Ihnen einen Deal vor«, fuhr sie dann mit gepresster Stimme fort und lehnte sich so weit über den mit Papieren übersäten Tisch, dass die Gesichtszüge der jungen Kardiologin vor ihren Augen verschwammen. Eine neue Lesebrille musste her, keine Frage, sie war bei all den Querelen mit ihrer Tochter bloß noch nicht dazu gekommen. »Ich suche umgehend meinen Homöopathen auf, und wenn der dann ebenfalls der Meinung ist ...«
»Das können Sie gerne tun, Frau Sass. Nur über eins müssen Sie sich im Klaren sein: Ihr Herz wird es Ihnen nicht danken.« Die Ärztin lächelte so verhalten wie eine Käthe-Kruse-Puppe. »Und Sie womöglich früher im Stich lassen, als es Ihnen lieb ist.«
Irene betrachtete ihre Hände. Sie hatte sie extra am Morgen manikürt, in der Hoffnung, beim Mittagessen im Nobelitaliener am Gendarmenmarkt, wo sie hin und wieder ein bescheidenes Salätchen (manchmal auch Gnocchi) zu Mittag aß, die Aufmerksamkeit des Kellners zu erwecken. Eigentlich stand sie nicht auf ältere ... nun ja: gleichaltrige Männer, aber Luigi war ein ganz fantastisches Exemplar. Die Haare schlohweiß und dicht, die Augen dunkel wie Bitterschokolade, athletischer Körperbau, kurz: Testosteron pur.
Nun saß sie hier mit ihren Altersflecken auf den Handrücken, der Stuhl ächzte bei jeder Bewegung und nach der niederschmetternden Diagnose fühlte sie sich tatsächlich alt.
»Frau Sass?«
»Ja?« Irene blickte auf und sah in das faltenfreie Gesicht der Frau, die noch so viel im Leben vor sich hatte. Karriere, Liebhaber, Familie, ach und Altersarmut, das natürlich auch. Mit Genugtuung rief sich Irene in Erinnerung, dass ihr wenigstens das erspart bleiben würde. Ihre Rente war ganz passabel, sie hatte Rücklagen aus ihrer Zeit als Schauspielerin und das Elternhaus. Überdies verdiente sie sich hin und wieder als Synchronsprecherin ein kleines Zubrot.
»Keine Angst. Sobald Sie medikamentös eingestellt sind, können Sie ganz normal weiterleben. Reisen unternehmen, Sport treiben, ich sehe da eigentlich keine Einschränkungen.«
Mit Pillendöschen durchs Leben zu gehen war eine Einschränkung. Zumindest hieß es, dass sie nicht mehr jung, gesund und unabhängig war. Unabhängig von Ärzten, Apothekern, gepanschter Chemie.
Die Kardiologin erhob sich, wohl um zu klar zu machen, dass auch noch andere Patienten auf sie warteten. »Kopf hoch.« Ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie um eine OP herumkommen. Betrachten Sie es doch mal von dieser Seite.«
Ja, sie war undankbar. Bockig wie ein kleines Mädchen, das hatte sich in all den Jahren nicht geändert. Doch jetzt reichte Irene der Kardiologin die Hand und versprach darüber nachzudenken. Vielleicht sollte sie sich den Homöopathen wirklich schenken, überlegte sie, als sie wie von Marionettenfäden gezogen durchs Wartezimmer schritt, die Sprechstundenhilfe ignorierte und die Praxistür hinter sich zufallen ließ. Kurz darauf trat sie aus dem Haus auf die Bismarckstraße, hörte die Autos vorbeirauschen, und ihr wurde plötzlich klar, dass das Mittagssüppchen beim Italiener sowie Luigi und sein Testosteron für heute gestorben waren.
Sie sah auf ihre Armbanduhr – Lydias ausrangierte Kinderuhr mit einer Micky-Maus auf dem Zifferblatt: Zehn Uhr durch. Ihre Tochter saß jetzt mit dem polnischen Handwerker in der Küche oder im Wohnzimmer und wartete darauf, dass sie endlich nach Hause kommen würde. Anna hatte am Telefon hysterisch geklungen, was wirklich nicht zu begreifen war. Himmel! Sie spendierte ihrer altjüngferlichen Tochter – ja, das musste doch mal deutlich gesagt werden – einen schmucken Kerl, aber diese tat, als hätte die Mutter den Teufel höchstpersönlich ins Haus geholt. Dabei hatte sich Irene wirklich Mühe gegeben, nicht irgendjemanden aufzutreiben, sondern sich zeitraubend in ihrem Bekanntenkreis durchgefragt, bis sie nach einer wahren Odyssee auf Tomasz Gnot gestoßen war. Tomasz sah auf dem Foto fabelhaft, ja richtig schnuckelig aus, abgesehen von den dominanten Augenbrauen vielleicht, die seinem Gesicht einen leicht herrischen Zug verliehen. Aber vor allem – und das hatte letztlich den Ausschlag gegeben – eilte Tomasz der Ruf voraus, nicht nur ein guter Handwerker zu sein, sondern auch dem Wein zuzusprechen und äußerst gesellig zu sein. Volltreffer! Denn nichts langweilte Irene mehr als Menschen, die nach dem Abendessen die Tagesschau einschalteten, danach ein Häppchen Tatort sahen, ein Häppchen Schmonzette, und schon wenig später mit bleischweren Lidern in die Kissen sanken.
Tomasz kam aus Südostpolen, woher genau, wusste sie nicht, und was er in seiner Heimat trieb, schon gar nicht. Bloß, dass er auch als Tangolehrer gearbeitet hatte und mehrere Sprachen fließend sprach. Deutsch gehörte sicherlich mit dazu. Weitere Eckdaten seiner Person lagen indes im Dunkeln. Verheiratet, geschieden, schwul – alles war möglich.
Die Neugier auf den jungen Mann trieb Irene zur Eile an; nicht das Gejammer ihrer Tochter, das ganz sicher nicht. Anna lamentierte gerne mal. Lamentieren schien für sie die Würze des Lebens zu sein. Oh ja, kein Wunder! Weil sie auch sonst nichts im Leben hatte. Keine Leidenschaften, nicht mal ein bisschen Neugier, geschweige denn Ahenteuerlust. Alles musste in geregelten Bahnen verlaufen, und wenn das Essen aus Versehen anbrannte, irgendwo eine Staubfluse herumlag oder eine Rechnung zu spät beglichen wurde, ging die Welt gleich unter.
»Irene!« Die Stimme klang nah und fern zugleich, doch als sie sich umdrehte, war niemand zu entdecken. Zumindest niemand, den sie kannte oder hatte ihre Sehkraft schon wieder nachgelassen? Früher hatte sie scharf wie ein Luchs gesehen, mit 40 war es dann stetig bergab gegangen, und zu der üblichen Altersweitsichtigkeit hatte sich zu allem Überfluss auch noch eine leichte Myopie eingestellt, die sie jedoch hartnäckig ignorierte, indem sie einfach keine Fernsichtbrille trug. Nie. Nicht mal abends auf dem Sofa beim Fernsehgucken. Lieber blinzelte sie so lange angestrengt in die Ferne, bis sie Kopfweh bekam.
Ein bärtiger Mann, der ganz sicher auch schon die 60 überschritten hatte, steuerte in einer scharfen Linkskurve auf sie zu. Doch so sehr Irene auch ihr Gedächtnis durchforstete, sie konnte das Gesicht partout nicht einordnen.
»Ich dachte mir doch gleich, diesen beschwingten Gang kennst du irgendwoher! Na, so ein Zufall! Du hier!« Der Fremde fiel ihr ungeniert um den Hals. Roch nach Pommes, Zigarillos und ungelüfteter Matratze, und als Irene ihren Kopf bloß ein paar Zentimeter nach links drehte, sah sie geradewegs in sein haariges Ohr. Wer auch immer dieser Mann sein mochte, dessen Stimme ihr nun doch vage, äußerst vage, bekannt vorkam, wieder einmal wurde ihr bewusst, dass Männer ihres Alters einfach nicht ihre Liga waren.
»Irene! Wie schön! Nach so vielen Jahren!«, umgarnte sie der Mann mit einem Netz aus Worten.
Irene fühlte sich indes bloß schwummerig. So als wären sämtliche Kanäle ihres Hirns überlastet, wenn nicht gar verstopft. Erst als die Begriffe Ibiza und bildhauern fielen, stieg eine vernebelte Erinnerung in ihr auf: Frühsommer auf Ibiza. Irgendwann in den frühen 70er Jahren. Sie hatte mit Bleistift Porträts gezeichnet, daneben psychedelische Gedichte geschrieben und sich als ganz famose Dichterin gefühlt. Eines Tages war sie mit ihrer inzwischen verstorbenen Freundin Anita auf eine Gruppe Hippies gestoßen. Zottelige, bildhauernde Hippies, um genau zu sein, und jetzt kam ihr auch der Geruch, den der Mann verströmte, bekannt vor. Er musste einer von ihnen gewesen sein, nur konnte sie sich beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern. Um sich keine Blöße zu geben, lächelte sie angespannt: »Oh ja ... wie schön. Geht es dir gut?«
»Bestens! Lebe in Wilmersdorf. Seit nunmehr 25 Jahren.
Mit meiner Frau. Und Tochter.« Er zog ruckartig die Schultern hoch und ließ sie auch dort. »Wer hätte das gedacht, was? Dass ich mal so bürgerlich enden würde!«
Jetzt erinnerte sich Irene auch an seine seltsame Stakkato-Sprache. Bloß wie zum Teufel hieß der Mann? Herbert? Oder Heinz? Irgendetwas mit H, soviel stand fest.
»Und du, Irene? Wie geht es dir? Siehst blendend aus. Das mal am Rande. Gar nicht gealtert.«
Irene dankte höflich (das Kompliment konnte sie beim besten Willen nicht zurückgeben), erzählte von ihrem Malereistudium in Frankreich (in Wahrheit hatte es sich lediglich um Malkurse gehandelt) und ihrer Arbeit als Schauspielerin und Synchronsprecherin. Ihre Krankheitsgeschichte ließ sie aus. Sollten sich andere Leute ihres Alters mit ihren Wehwehchen gegenseitig auf den Wecker fallen.
Der Mann, der nun vielleicht Herbert oder Heinz hieß oder einen ganz anderen H-Namen trug, klatschte wie ein Kind in die Hände. »Na, fabelhaft! Sollten Kaffee trinken gehen. Wie sieht’s bei dir aus?« Er tätschelte ihre Hüfte wie die Flanke einer Stute.
»Geht leider nicht.« Beim flüchtigen Blick auf seine viel zu langen, scharfkantig gewachsenen Nägel überrollte Irene eine Welle der Übelkeit. »Meine Tochter wartet. Wir haben die Handwerker im Haus.«
»Oh, wie schade. Hätte unter Umständen einen Auftrag für dich.« Der Mann lächelte Beifall heischend: »Stell dir vor! Die Laien-Theatergruppe meiner Frau hat eine ältere Dame zu besetzen. Hm? Wäre das nichts für dich?«
Doch da Irene weder Laie noch ältere Dame war und es im Übrigen ungehörig fand, dass ein Mannsbild, das nach ungelüfteter Matratze roch, sie in diese Kategorie steckte, fertigte sie ihn knapp ab, indem sie momentane Überlastung vorschob.
»Vielleicht überlegst du es dir noch anders«, sagte H. »Ruf mich an. Würde mich freuen.«
Er notierte seine Telefonnummer auf einer alten Fahrkarte, ersparte es sich jedoch, seinen Namen dazuzuschreiben. Was auch egal war. Denn kaum hatte sich Irene per Handschlag von ihm verabschiedet und war in den düsteren, mit Graffiti beschmierten U-Bahn-Schacht abgetaucht, zerriss sie die Fahrkarte und ließ die Schnipsel in den nächsten Mülleimer regnen.
*
Anna saß in sich zusammengesunken auf dem Sofa. Tomasz Gnot hatte es sich direkt neben ihr bequem gemacht, und es störte sie nicht mal, dass seine Hand auf der äußersten Spitze ihres Knies ruhte. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe und es hätte durchaus gemütlich sein können, wenn nicht wenige Minuten zuvor der Paketbote an ihrer Haustür verunglückt wäre. Schädelhirntrauma. Irgendwas in der Art hatte die Sanitäterin beim Abtransport gemurmelt. Die gerechte Strafe für seine Anzüglichkeit? Dafür, dass er ihre Mutter als Käuferin von Sexspielzeug geoutet hatte? Erst der String ihrer Tochter und jetzt das. Schlimmer hätte es kaum kommen können.
Das Geräusch eines im Schloss herumstochernden Schlüssels riss Anna aus ihrer Starre. Das musste ihre im-Reich-der-Sinne-Mutter sein – endlich.
»Mutter?«, rief Anna und schoss so abrupt hoch, dass ihr einen Moment lang schwarz vor Augen wurde.
»Ja, ich bin’s!«, trällerte es aus dem Flur. »Habt ihr euch gut amüsiert?«
Das war wieder mal typisch. Anna hatte einen Höllenvormittag erlebt, und ihre Mutter sprach von Amüsement. Wer sich hier amüsiert hatte (und sich bald noch viel mehr amüsieren würde), lag ja wohl klar auf der Hand. Sie eilte auf den Flur, wo ihre Mutter gerade ganz gemächlich ihren grauenhaften Blazer mit der Ethno-Stickerei am Ärmel auszog, auf einen Bügel hängte und ein paar einsame Schuppen herunterschnippte. »Herzchen, wieso guckst du so grantig? Was ist denn los?«
»Du fragst mich allen Ernstes, was los ist?«
»Sag bloß, der junge Mann benimmt sich nicht anständig.«
»Mama, mir reicht’s!« Dass Anna ihre Mutter mit Mama anredete, kam nur alle Jubeljahre vor. Es war eine klare Provokation: Sieh her, so jung bist du nun auch nicht mehr! Sie schnappte sich ihren beigen Kurzmantel, wobei sie Lydias Jeansjacke mit von der Garderobe riss. »Ich sitze hier seit Stunden mit diesem ... diesem ...«
Just in dieser Sekunde tauchte Tomasz Gnots graumelierter Kopf im Flur auf, und ein Lächeln ließ das Gesicht ihrer Mutter erstrahlen wie Kerzen einen Weihnachtsbaum.
»Dzień dobry!«, flötete sie.
Doch bevor es noch zu einer herzerwärmenden Begrüßungsszene mit Umarmungen, Küssen, Komplimenten kommen konnte, überreichte Anna ihrer Mutter das Paket, erwähnte dabei den Unfall des Paketboten in einem Nebensatz und wandte sich zur Tür. Und jetzt muss ich dringend mal an die Luft.«
»Der Paketbote? Verunglückt? Himmel noch mal! Wie konnte das passieren?«
»Er dachte, ich wäre du und wollte mir beim Auspacken deines Paketes behilflich sein. Hm? Macht’s klick?«
Irene hob ihre linke Augenbraue, erstaunt, ungläubig, vielleicht sogar eine Spur amüsiert, dann breitete sie ihre Arme aus und flog auf den Handwerker zu. Anna stöhnte erstickt auf. Nichts wie raus hier.
Den Schirm, großer Gott, sie hatte ihren Schirm vergessen! Doch weil sie keine Lust hatte, noch einmal umzukehren, zurrte sie den Kurzmantel vorne fest zusammen, umschlang ihren Körper mit beiden Armen und hüpfte über ein paar Pfützen zu ihrem alterschwachen Golf. Die Tür klemmte wie immer, aber dann saß sie endlich im Trockenen.
Statt den Wagen sofort zu starten, trommelte Anna eine Weile aufs Lenkrad und überlegte, was zu tun war. Sie konnte nicht ewig vor der Situation Tomasz Gnot fliehen, das war ihr klar, nur fehlte ihr zurzeit noch die Alternative. Und weil ihr so schnell auch keine einfallen würde, beschloss sie fürs Erste, Nina anzurufen. Vielleicht hatte ihre Tochter ja Zeit, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen; bestenfalls war sie zum Lernen in der Bibliothek, also bloß sieben bis zehn Autominuten von ihr entfernt. Gnot und den Paketboten würde sie vorerst mit keinem Wort erwähnen, dafür aber den türkisfarbenen String. So ein Wäschestück – das war ja wohl unterstes Niveau.
»Nina, Schatz, ich bin’s, deine Mutter.« Sie spürte, wie ihre Stimme nervös vibrierte. »Hast du viel zu tun? Oder meinst du, wir könnten uns irgendwo auf einen Kaffee treffen?«
»Jetzt gleich?«
»Ja. Aber wenn es dir nicht passt ...«
»Doch, ich bin nur gerade in Mitte. Spandauer Straße. Kommst du her?« Nina klang müde und Tausende von Kilometern entfernt.
»Bin schon unterwegs. Wo treffen wir uns?«
Irgendetwas klimperte und klirrte, in der nächsten Sekunde ertönte ein Rauschen und Ninas abgehackte Stimme: »Unibuchhandlung. Lass – dir – ruhig – Zeit.«
»Gut. Also bis gleich.«
Anna sah auf dem Stadtplan nach, dann fuhr sie los, und mit jedem Kilometer, den sie sich von ihrer Mutter und Gnot entfernte, wurde ihr leichter ums Herz. Vielleicht hatte ihre Phantasie ihr auch bloß einen Streich gespielt und wenn sie später zurückkäme, würde Lydia, wie üblich gespaltene Haarspitzen abknibbelnd, auf dem Sofa sitzen, während sich ihre Mutter auf dem Flokati vorm Fernseher in einer akrobatischen Yoga-Verrenkung erging. Kein Gnot, keine fremden Gerüche im Haus, kein nichts.
Je näher Anna dem Stadtzentrum kam, desto mehr ließ der Regen nach, irgendwann perlte er nur noch weich auf die Windschutzscheibe und hörte schließlich ganz auf. An einer roten Ampel lehnte sie sich weit vor, legte den Kopf schief und schaute prüfend in den Himmel. Neue Regenwolken ballten sich zusammen und trieben schwerfällig ostwärts. Schon seit Wochen regnete es, mal heftig pladdernd, mal fein stäubend, und es sah auch nicht danach aus, als ob sich irgendetwas an der Großwetterlage ändern würde. Anna beugte sich wohl ein paar Sekunden zu lang über das Lenkrad, denn bereits im nächsten Moment hupte es hinter ihr wie wild. Nun fahr schon los, du blöde Kuh!, schien das nervtötende Gelärme sagen, und Anna drückte das Gaspedal durch. Das war auch Berlin. Berlin Mitte. Neben all dem wir sind jung, hip und happy lag eine Aggressivität in der Luft, die sie aus ihrem gediegenen Zehlendorf nicht kannte. Dort, wo sich zugegebenermaßen Fuchs und Hase gute Nacht sagten, ging man höflich, wenngleich distanziert miteinander um.
Als sie in die Spandauer Straße einbog, sah sie ihre Tochter schon von weitem dastehen: weite Armeehosen, olivgrünes T-Shirt, die Füße auswärts gedreht und an einem Eis schleckend. Anna hupte nur ganz kurz, schoss an ihr vorbei und hielt in zweiter Reihe.
Ein Lächeln huschte über Ninas Gesicht, als sie gemächlich lostrabte. Wie nachlässig sie wieder gekleidet war – und das sollte jetzt der italienische Chic sein? Kaum vorstellbar, dass sie unter dem Monstrum von Hose einen neonfarbenen String trug, aber vielleicht war gerade das ja die Mischung, die den Jungs von heute gefiel. Dazu das knappe T-Shirt, das den Blick auf eine kleine Speckrolle unterhalb des Nabels freigab.
»Schatz, ich krieg hier nirgends einen Parkplatz. Steig ein, und wir fahren woanders hin.«
Nina schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre halblangen blonden Haare – dünn wie ihre eigenen – hin- und herflogen, drehte sich um und deutete auf die Unibuchhandlung in ihrem Rücken. Sagen konnte sie nichts, weil sie den Mund voller Vanilleeis hatte.
»Ich dachte, du hast deine Einkäufe längst erledigt«, bemerkte Anna.
»Gingnichhabnichnugkohle.«
»Verstehe.« Sie konnte es sich nicht verkneifen, ein leises, schnalzendes Geräusch des Missfallens von sich zu geben. »Wie viel brauchst du?«
»15 Euro wären schon gut. 20 noch besser.« Jetzt, da es um Wesentliches ging, konnte ihre Tochter auf einmal wieder klar und deutlich artikulieren.
»Aber ich habe dir doch gerade letztes Wochenende Geld für Bücher gegeben.«
»Ja, das war für das Pirandello-Lehrbuch – du weißt schon, das, das meine Professorin geschrieben hat. Aber mir fehlt noch Primärliteratur. Amore senza amori und L’Umorismo.«
Anna seufzte vernehmlich und klappte das Handschuhfach auf, in dem sich immer ein paar Notgroschen befanden. Es ging um die Ausbildung ihrer Tochter; da sollte sie mal nicht so knauserig sein.
Nina schnappte ihrer Mutter die Münzen weg, erbettelte sich weitere 10 Euro, dann sprang sie wie ein Wiesel die Stufen zur Buchhandlung hoch und kam schon wenige Minuten später, eine Plastiktüte schwenkend, wieder zurück.
»Mama, du bist ein Schatz! Dafür lade ich dich jetzt zum Kaffee ein.« Sie riss die Beifahrertür auf und ließ sich mit einer solchen Wucht in den Sitz plumpsen, dass der Wagen erbebte. Nina war nicht dick, aber in letzter Zeit schon ein bisschen mollig geworden. Zumindest wog sie um einiges mehr als ihre Zwillingsschwester. Schuld war Italien: Cornetti zum Frühstück, Pizza zum Mittagessen, zwischendurch dolci oder Chips, Spaghetti zum Abendessen, wieder dolci und jede Menge Cola – so in etwa hatte Nina ihre Ernährungsgewohnheiten in Rom beschrieben. Ihre Rundungen schienen sie gar nicht weiter zu stören. Anna nahm ihr das jedoch nicht ab. Mädchen ihres Alters wollten schlank und begehrenswert sein. Alle. Ausnahmslos.
Eine ganze Weile kurvten sie hin und her, doch sämtliche Parkplätze in der Umgebung waren belegt – eigentlich eine Schnapsidee, mit dem Auto nach Mitte zu fahren. Erst in der Nähe der Leipziger Straße fand Anna eine winzige Parklücke. Sie stand zwar immer noch halb auf der Straße, aber das Wichtigste war, dass sie endlich aussteigen und den wohlverdienten Kaffee trinken gehen konnten.
Doch Nina schoss quer. In dieses Café wollte sie nicht, weil die Ladenkette zwar den Anschein erweckte, politisch korrekt zu sein, in Wahrheit jedoch Kinder und andere arme Menschen ausbeutete, in jenem Laden stank es angeblich nach Katzenpisse und im dritten hätte sie der Kellner mal dumm angemacht.
Schließlich riss Anna der Geduldsfaden: »Erst jagst du mich durch die halbe Stadt, und jetzt, wo wir endlich einen Parkplatz ergattert haben ...« Vor lauter Verärgerung blieben ihr die Wörter im Hals stecken.
»Mama!« Nina zupfte an ihrem Mantel und lächelte ihr zuckersüßes Grübchenlächeln, nut dem die Zwillinge es immer wieder schafften, sie zum Schmelzen zu bringen. Dabei wusste sie nicht mal, von wem sie die Grübchen überhaupt hatten. Von ihr auf keinen Fall. Und von dem werten Herrn Erzeuger, der sich – das vermutete sie jedenfalls – als Drummer in den Staaten herumtrieb, schon mal gar nicht.
»Ist doch kein Drama«, gurrte Nina. »Sollen wir lieber nach Hause fahren? Ich wollte zwar noch mit Emily lernen, kann ich aber auch vertagen.«
»Kommt gar nicht in Frage.«
Anna nahm Tochter beim Schlafittchen und zog sie kurz entschlossen über die Straße zu dem Selbstbedienungs-Café, das Kinder und andere arme Menschen ausbeutete. Im Grunde war ihre eigene Familie ja kein bisschen besser. Der Lohn, den Gnot bei ihnen bekommen würde, fiel ebenfalls in die Kategorie Ausbeutung. Wobei sich der Handwerker offenbar gut bezahlt glaubte, zumindest waren vorab keine Klagen gekommen, und ihre Mutter hatte selbst als eingefleischte Wählerin der Linkspartei auch kein Problem damit, einen Schwarzarbeiter aus Polen zu beschäftigen. Taten ja alle.
Der verlockende Duft von Kaffee und frischem Gebäck stieg Anna in die Nase, als sie das Café betraten, und ihre Verstimmung löste sich augenblicklich in Luft auf. Das Klappern des Geschirrs, das Zischen der Aufschäumdüsen, das leise wogende Gemurmel der Gäste – all das hatte etwas Tröstliches, das es überflüssig machte, sich weiter über ihre Tochter aufzuregen. Jetzt freute sie sich darüber, den weiten Weg in die Stadt auf sich genommen zu haben. Viel zu selten ging sie mit ihren Töchtern einfach mal so ins Café. Eher schon mit ihrer Mutter, aber dann musste es gleich immer das Adlon oder Hotel de Rome sein, wo Irene ihre Starauftritte zelebrierte. Große Garderobe, auf französisch hingeworfene Satzbrocken, Lippenstift von Chanel. Wann hatte ihre Mutter eigentlich die Wandlung von der alternativ-flippigen Kommunenbraut zur Diva vollzogen? Anna wusste es nicht zu sagen. Es musste ein schleichender Prozess gewesen sein oder aber ihr Gedächtnis verwischte die Ereignisse wie ihr Schwamm täglich in der Schule die Buchstaben auf der Tafel.
Nina trippelte von einem Fuß auf den anderen, unruhig wanderte ihr Blick über die Tafel mit den Kaffeespezialitäten.
»Was möchtest du, Liebes?«
»Ich hab doch gesagt, ich lade dich ein.«
»Unsinn. Du hast doch kein Geld.«
»Okay!« In Windeseile hatte sie ihr Portemonnaie wieder weggesteckt und Anna konnte es sich nicht verkneifen, sie daran zu erinnern, dass sie sich einen Job suchen wollte. Zwar hatte ihre Tochter noch für einige Prüfungen zu lernen und würde zu diesem Zweck extra nach Rom fliegen müssen, dennoch war die vorlesungsfreie Zeit nicht zuletzt zum Geldverdienen da.
»Mach ich ja. Deswegen will ich übrigens auch zu Emily. Sie kennt doch Gott und die Welt.«
»Fein. Also?«
Nina zeigte sich politisch korrekt und verlangte bloß nach einem Glas Leitungswasser. Auch gut. Wenn es ihr Gewissen beruhigte. Anna brauchte jetzt eine gute Dosis Koffein, um den katastrophalen Vormittag abzuschütteln.
»Vielleicht einen Muffin zum Leitungswasser?« Es war nur als kleine Provokation gemeint, aber Nina räumte ohne mit der Wimper zu zucken ein: »Ja, das wäre nicht übel. Und hör bitte auf so zu grinsen.« Sie wandte sich um und marschierte zu einer freien Sesselgruppe am Fenster.
Anna wollte kein Unmensch sein und bestellte Nina doch einen Kaffee mit. Sie hatte sehr wohl registriert, wie sehnsüchtig ihre Tochter auf die Becher mit den Schaumhauben geschielt hatte, die im Sekundentakt auf den Tresen geschoben wurden. Wie nicht anders zu erwarten, kam auch kein Protest, als Anna ihr kurz darauf den Kaffee samt Gebäckstück hinstellte. Ein genuscheltes Danke, schon schnappte sich Nina den Blaubeermuffin, biss hinein und ächzte wie unter einer zentnerschweren Last: »Mama, ich halt’s nicht aus. Ich muss raus!«
»Also bitte! Jetzt lass uns wenigstens in Ruhe den Kaffee trinken.«
»Das meine ich doch nicht!« Ein Schatten huschte über Ninas Gesicht und ihr Kinn begann zu beben. »Ich muss raus aus unserer ... aus unserer Weiberbude.«
Anna starrte in ihre Tasse. Ein doppelter Espresso ganz ohne Crema. Und das für drei Euro zwanzig.
»Ja, gut. Aber wo willst du hinziehen?«
»Keine Ahnung. Irgendeine WG wird sich schon auftreiben lassen.«
»Sicher. Fragt sich nur, wovon du das bezahlst.«
Sofort legte Nina ihren typischen Bettelblick auf: Augenlider auf halb acht, dazu ein weich-schmelzendes Grübchenlächeln. »Vielleicht kannst du mir ja erst mal ein bisschen unter die Arme greifen? Ich mein, solange, bis ich einen Job habe.«
»Nina, ich dachte, das hätten wir geklärt.«
»Ja?«
Ein junger Mann mit Pilzkopffrisur sah zu ihnen rüber. Natürlich nur zu Nina, die prompt eine laszive Pose einnahm: Den Kopf zur Seite geneigt, die Beine übereinander geschlagen, ließ sie den Ballerina-Schuh in der Luft kreisen. Was hatte das Mädchen bloß für einen Geschmack? Die zierlichen Schuhe passten so wenig zu den Hosen wie der Handwerker in ihr schönes altes Zehlendorfer Haus.
»Wir haben einen Deal, mein Fräulein! Dass du zumindest so lange bei uns wohnen bleibst, bis die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Oder glaubst du etwa, ich bin Krösus?«
»Aber das kann ja ewig dauern! Noch sind die Handwerker nicht mal da!«
»Der Handwerker. Und er ist da.«
Nina riss überrascht die Augen auf. »Echt? Seit wann denn?«
»Seit ...« Anna sah auf ihre Armbanduhr. »Seit knapp fünf Stunden. Falls du gleich fragst, wieso – deine Großmutter hat da anscheinend was durcheinander gebracht.«
Das nahm Nina eher desinteressiert zur Kenntnis und erkundigte sich: »Wie ist er denn so?«
»Okay. Ja, ganz okay.«
»Wie okay?«
»Na, eben okay!«