Leben mit den Göttern - Neil MacGregor - E-Book

Leben mit den Göttern E-Book

Neil MacGregor

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Beschreibung

Ein 40.000 Jahre alter Löwenmann aus Elfenbein, eine goldene Gibla aus dem 16. Jahrhundert, ein Kreuz aus Lampedusa – mit unnachahmlicher Meisterschaft bringt Neil MacGregor all diese faszinierenden Objekte zum Sprechen. Sein neues Buch nimmt uns mit auf eine unvergessliche Reise durch die Welt der Götter und Religionen. Von der frühen Verehrung von Feuer, Wasser und Sonne über Feste am Ganges und Pilgerfahrten im Orient bis zu den blutigen Kämpfen, die bis auf den heutigen Tag in ihrem Namen ausgetragen werden, erzählt es, wie der Glaube an die Götter das Leben der Menschen geprägt hat. Keine einzige menschliche Gesellschaft ist ohne Vorstellungen davon, woher sie kommt, welchen Platz sie in der Welt einnimmt und auf welche besondere Weise und durch die Einhaltung welcher Regeln sie mit dem Ewigen verbunden ist. Von der Arktis bis nach Japan, von Indien bis Peru, von Afrika bis Schottland folgt dieses opulent bebilderte Buch den Spuren der Götter im Leben der Gesellschaften und der Einzelnen. Gerade indem es die zahllosen Geschichten und Mythen, die es überall auf der Welt gibt, nebeneinander stellt und miteinander vergleicht, macht es uns überraschend klar, wieviel Gemeinsames in den ganz unterschiedlichen Erzählungen, Ritualen, Opfern, Sehnsüchten und Ängsten steckt, die unser Leben mit den Göttern seit Jahrtausenden hervorgebracht hat.

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Sonnenaufgang am Harishchandra Ghat in Varanasi am Ganges: Badende wenden ihr Gesicht der aufgehenden Sonne zu.

 

 

Neil MacGregor

 

 

 

Lebenmit den         Göttern

 

 

Aus dem Englischenvon Andreas Wirthensohnund Annabel Zettel

 

 

 

 

 

 

 

 

Zum Buch

Ein 40.000 Jahre alter Löwenmann aus Elfenbein, eine goldene Qibla aus dem 16. Jahrhundert, ein Kreuz aus Lampedusa – mit unnachahmlicher Eleganz bringt Neil MacGregor all diese Objekte zum Sprechen. Sein neues Buch nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der Götter und Religionen. Von der Arktis bis Indien, von Mexiko bis Japan, vom antiken Rom bis zum Afrika der Gegenwart erzählt es, wie religiöse Überzeugungen das Leben von Gemeinschaften, das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat und unser Bild von uns selbst prägen. Denn mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Göttern leben wollen, entscheiden wir auch, wie wir miteinander leben.

„Macht süchtig.“

Tilmann Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, zur „Geschichte der Welt in 100 Objekten“

Über den Autor

Neil MacGregor war von 1987 bis 2002 Direktor der National Gallery in London und von 2003 bis 2015 Direktor des British Museums. Von 2015 bis 2018 war er Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin. 2015 wurde er mit der Goethe-Medaille und dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. Seine Bücher „Geschichte der Welt in 100 Objekten“, „Shakespeares ruhelose Welt“ und „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ sind in Deutschland bei C.H.Beck erschienen.

 

 

 

Für Paul Kobrak,Begleiter durch Erde und Luft, Feuer und Wasser

Inhalt

Einleitung

Glauben und Zugehörigkeit

Teil I

Unser Platz im Gefüge

Kapitel 1

Die Anfänge des Glaubens

Kapitel 2

Feuer und Staat

Kapitel 3

Wasser des Lebens, Wasser des Todes

Kapitel 4

Die Wiederkehr des Lichts

Kapitel 5

Ernte und Ehrerweis

Teil II

Gemeinsam glauben

Kapitel 6

Leben mit den Toten

Kapitel 7

Die Geburt und der Körper

Kapitel 8

Ein Platz innerhalb der Tradition

Kapitel 9

Lasset uns beten

Kapitel 10

Die Macht des Gesangs

Teil III

Theater des Glaubens

Kapitel 11

Das Haus Gottes

Kapitel 12

Geschenke für die Götter

Kapitel 13

Heiliges Töten

Kapitel 14

Pilgern

Kapitel 15

Festzeit

Teil IV

Die Macht der Bilder

Kapitel 16

Die Beschützerinnen

Kapitel 17

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner spirituellen Reproduzierbarkeit

Kapitel 18

Sinnzuwachs

Kapitel 19

Ändere dein Leben

Kapitel 20

Ablehnung des Bildes, Verehrung des Wortes

Teil V

Ein Gott, viele Götter

Kapitel 21

Die Segnungen vieler Götter

Kapitel 22

Die Macht des einen Gottes

Kapitel 23

Ortsgeister

Kapitel 24

Wenn Gott mit uns ist

Kapitel 25

Tolerieren, nicht tolerieren

Teil VI

Irdische Mächte, himmlische Mächte

Kapitel 26

Das Mandat des Himmels

Kapitel 27

Dein Reich komme

Kapitel 28

Die Schraube fester anziehen

Kapitel 29

«Es gibt keinen Gott!»

Kapitel 30

Miteinander leben

Anhang

Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen

Weiterführende Literatur

Danksagung

Personenregister

Ortsregister

Sachregister

«Die erste Bedingung menschlicher Güte ist etwas, das man lieben,die zweite etwas, das man verehren kann.»

George Eliot

«Religion ist der Versuch, in den Ereignissen einen Sinn zu finden,nicht eine Theorie zur Erklärung des Universums.»

John Gray

«Religiöse Überzeugungen sind keine universalen Wahrheiten,sondern Gemeinschaftswahrheiten. Sie beschreiben weniger Fakten,sondern leiten Leben an. Sie bringen zum Ausdruck,was es bedeutet, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehörenund ihren Werten verpflichtet zu sein.»

Don Cupitt

 

Einleitung

Glauben und Zugehörigkeit

Leben mit den Göttern beschäftigt sich mit einer der zentralen Tatsachen menschlichen Daseins: dass jede bekannte Gesellschaft über eine Reihe von Überzeugungen und Annahmen verfügt – einen Glauben, eine Ideologie, eine Religion –, die weit über das Leben des Einzelnen hinausreichen und einen wesentlichen Teil einer gemeinsamen Identität darstellen. Solche Glaubensüberzeugungen verfügen über eine ganz besondere Macht, Völker zu definieren – und zu spalten –, und sie sind in vielen Teilen der Welt heute eine treibende Kraft in der Politik. Manchmal sind sie säkularer Natur, am offensichtlichsten im Falle des Nationalismus, aber die gesamte Geschichte hindurch waren sie zumeist im weitesten Sinne religiös. Dieses Buch ist ausdrücklich keine Geschichte der Religion, es ist aber auch keine Streitschrift für den Glauben und noch weniger eine Verteidigung irgendeines bestimmten Glaubenssystems. Es befragt quer durch die Geschichte und rund um den Globus Gegenstände, Orte und menschliche Tätigkeiten, um zu verstehen, was gemeinsame religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben einer Gemeinschaft oder einer Nation bedeuten können, wie sie das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat prägen und wie sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wer wir sind. Denn mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Göttern leben wollen, entscheiden wir auch, wie wir miteinander leben.

Der Glaube ist wieder da

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sonnte sich die westliche Welt jahrzehntelang in einem historisch beispiellosen Wohlstand. Die Vereinigten Staaten boten den meisten ihrer Bürger – und den Einwanderern – einen scheinbar endlos steigenden Lebensstandard. 1957 ließ der britische Premierminister Harold Macmillan die Öffentlichkeit wissen, den Briten sei es «noch nie so gut gegangen». Sie waren ebenfalls dieser Meinung, und so gewann er unangefochten die nächste Wahl. Überall in Westeuropa und Nordamerika war Wirtschaftswachstum die Norm: Frieden hatte im Großen und Ganzen zu Wohlstand geführt.

In der übrigen Welt waren die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in einem erbitterten Konflikt gefangen, der mitunter militärisch, aber immer ideologisch war und in dem sie darum wetteiferten, neue Rekruten für das jeweils von ihnen bevorzugte System eines marxistischen Staatskommunismus bzw. eines liberalen demokratischen Kapitalismus zu gewinnen. Da es sich bei beidem im Grunde um ökonomische Projekte handelte, ging es in der Auseinandersetzung zunehmend und wenig überraschend nicht um die ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, sondern darum, welches System seiner Gesellschaft den größeren materiellen Nutzen verschaffte.

Ein bemerkenswertes Beispiel für diese Zusammenziehung – oder besser: Gleichsetzung – von Idealen und ihren materiellen Resultaten findet sich auf der amerikanischen Dollarnote oder genauer: auf zwei Dollarnoten. Obwohl ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung christlich war, waren die Vereinigten Staaten explizit auf der in der Verfassung verankerten Basis gegründet worden, wonach die neue Nation keine feste «Staatsreligion» haben sollte. Doch 1956 beschloss der Kongress in der Absicht, sich noch deutlicher von der atheistischen Sowjetunion zu unterscheiden, den seit langem vertrauten Wahlspruch «In God We Trust» öffentlich deutlich stärker zum Einsatz zu bringen. In einer Geste, die voller unfreiwilliger Symbolkraft steckte, wurde entschieden, dass diese Worte nicht nur auf öffentlichen Gebäuden oder auf der Flagge auftauchen sollten, sondern auch auf der nationalen Währung. Seither wird diese Losung auf Dollarnoten gedruckt, und auf der Zehn-Dollar-Note schwebt sie sogar schützend über dem amerikanischen Finanzministerium. Die ironische Wendung vom «allmächtigen Dollar» war seit dem 19. Jahrhundert in Umlauf und warnte vor der Vermengung von Gott und Mammon. Nun jedoch wurde eine der amerikanischen Grundüberzeugungen auf der meistverehrten Manifestation amerikanischen Erfolgs zum Ausdruck gebracht – seinem Geld.

Die Zehn-Dollar-Note, die das US-Schatzministerium zeigt, vor und nach 1956

Oberflächlich betrachtet könnte es den Anschein haben, als bestätige der neue Wortlaut auf den Dollarnoten die Vormachtstellung Gottes im politischen System der USA, also eine amerikanische Variante für das 20. Jahrhundert der Buchstaben DG – Dei Gratia, «von Gottes Gnaden» –, die das Porträt des Souveräns auf der britischen Währung begleiten, oder der Koranverse auf den Münzen vieler islamischer Staaten. Tatsächlich verhielt es sich genau umgekehrt.

Diese bemerkenswerte Vermengung des Finanziellen und des Spirituellen war alles andere als ein Schritt in Richtung Theokratie in Washington, sondern symptomatisch für eine umfassendere Veränderung im Verhältnis zwischen Moral und Ökonomie. Auf beiden Seiten des Atlantiks war die Rolle der organisierten Religion im öffentlichen und privaten Bereich gleichermaßen rückläufig. Die Gesellschaft wurde zunehmend säkularer – in Europa etwas schneller –, und immer weniger Menschen besuchten traditionelle Gottesdienste. Die «Revolutionäre» von 1968 argumentierten in Kategorien ökonomischer Ungerechtigkeit, in denen von Gott so gut wie keine Rede war, und schon gar nicht setzten sie ihr Vertrauen in ihn. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre herrschte fast überall klarer Konsens. Der Kampf der Ideologien war vorüber: Der Kapitalismus hatte gewonnen, der Kommunismus war gescheitert, die Religion war auf dem Rückzug, und wenn es einen Glauben gab – ein Gefüge von Annahmen, die so gut wie jeder teilte –, so war es nunmehr der Glauben an das materielle Wohlergehen. Nicht ohne Grund prägte Bill Clinton im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1992 die berühmten Worte: «It’s the economy, stupid.» («Es ist die Wirtschaft, Dummkopf.») Kaum jemand wollte dem widersprechen; und wie Macmillan vor ihm wurde Clinton zum Oberhaupt seines Landes gewählt.

25 Jahre später steht die organisierte Religion zur Überraschung oder Befremdung des wohlhabenden Westens überall auf der Welt erneut mitten auf der politischen Bühne. In einem Ausmaß, wie man es in Europa seit dem 17. Jahrhundert selten erlebt hat, bestimmt der Glauben nun große Teile der weltweiten öffentlichen Debatte. Die konkurrierenden Materialismen des Kalten Krieges wurden ersetzt. Der gesamte Nahe und Mittlere Osten ist in mörderischen Konflikten gefangen, die nicht in ökonomischen, sondern in religiösen Kategorien artikuliert und ausgetragen werden. Die Politik in Pakistan und Israel, die beide als explizit säkulare Staaten gegründet wurden, ist zunehmend konfessioneller Natur. In Indonesien und Nigeria, Myanmar und Ägypten werden Bevölkerungsgruppen attackiert und Individuen getötet unter dem Vorwand, ihre Glaubenspraxis mache sie zu Fremden im eigenen Land. Indien, in dessen Verfassung die Äquidistanz des Staates gegenüber allen Religionen festgelegt ist, wird von Aufrufen der Regierung erschüttert, eine explizit hinduistische Identität zu verfechten, was gravierende Folgen für Inder hat, die Muslime oder Christen sind (→ Kapitel 25). In vielen Ländern, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, wird die Einwanderungspolitik – und insbesondere der Vorbehalt gegenüber Zuwanderern – häufig in die Sprache der Religion gekleidet. Selbst im weitgehend agnostischen Europa drängt der bayerische Ministerpräsident darauf, in staatlichen Behörden als Ausdruck einer angeblichen katholisch-bayerischen Identität Kreuze aufzuhängen, und die französische Regierung verbietet das Tragen der Vollverschleierung (Burka) in der Öffentlichkeit (→ Kapitel 28). In der Schweiz wurde eine Volksabstimmung abgehalten, mit der der Bau von Minaretten verboten werden sollte (→ Kapitel 9), während in Dresden regelmäßig Tausende von Menschen auf die Straße gehen, um gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlands zu protestieren. Der bevölkerungsreichste Staat auf Erden, China, behauptet, seine nationalen Interessen, ja sogar die Integrität des Staates würden durch den im Exil weilenden geistigen Führer der tibetischen Buddhisten, den Dalai Lama, gefährdet, einen Mann, dessen einzige Macht der Glauben ist, den er verkörpert.

Die Probleme der Glaubensausübung im öffentlichen Raum. Französische Muslime beten, von der Polizei überwacht, auf einer Straße in Clichy am Stadtrand von Paris, um gegen die Schließung einer ungenehmigten Gebetsstätte zu protestieren, März 2017.

Die Islamische Revolution im Iran 1979, die die säkulare Welt zutiefst schockierte und die damals dem Gang der Geschichte zuwiderzulaufen schien, wirkt heute wie der Vorbote einer Zeitenwende. Nach Jahrzehnten demütigender Einmischung vonseiten der Briten und der Amerikaner entdeckten iranische Politiker in der Religion eine Möglichkeit, die Identität des Landes zu definieren und zu behaupten. Seither haben viele andere den gleichen Weg eingeschlagen. Auf eine Weise, wie man sich das vor sechzig Jahren kaum hätte vorstellen können, wurde die selbstvergewissernde Politik des Wohlstands in vielen Teilen der Welt durch die Rhetorik und – oftmals gewaltsame – Politik der Identität abgelöst, die mit Hilfe des Glaubens artikuliert wird. Eine der Kernthesen von Leben mit den Göttern lautet, dass uns das nicht überraschen sollte, denn in Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine Rückkehr zum vorherrschenden Muster menschlicher Gesellschaften.

In Geschichten leben

«Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.» Joan Didions berühmter Satz steht am Beginn einer Essaysammlung, die sie über ihre Erfahrungen im säkularen Amerika der 1970er Jahre geschrieben hat. Es handelt sich nicht um eine Reflexion über Religion, aber dieser Satz benennt ziemlich genau das dringliche Bedürfnis, das wir alle haben, nach Geschichten, die unsere Erinnerungen und Hoffnungen ordnen und unserem individuellen und kollektiven Leben Form und Sinn verleihen.

Wir beginnen dort, wo sich die ältesten erhaltenen Belege finden, in den Höhlen Europas am Ende der Eiszeit. In Kapitel 1 werden wir sehen, dass eine Gesellschaft mit einem Glauben an etwas jenseits ihrer selbst, mit einer Erzählung, die über das Unmittelbare und über das Ich hinausgeht, besser dafür gerüstet zu sein scheint, mit den Bedrohungen der eigenen Existenz fertig zu werden, zu überleben und zu gedeihen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptete der französische Soziologe Émile Durkheim, ohne solche übergreifenden Geschichten, ohne eine «Vorstellung, die eine Gesellschaft von sich selbst konstruiert», könne es im Grunde gar keine Gesellschaft geben. Diese Geschichten, die Ideale, die sie zum Ausdruck bringen, und die Zeremonien, in denen sie inszeniert werden, bildeten für Durkheim die wesentlichen Elemente jeglichen Systems gemeinschaftlichen Glaubens. Und in einem gewissen Sinne sind die Geschichten die Gesellschaft. Wenn wir sie, aus welchem Grund auch immer, verlieren oder vergessen, existieren wir als Kollektiv in einem ganz realen Sinne nicht mehr.

Glaubenssysteme enthalten fast immer eine Erzählung davon, wie die physische Welt geschaffen wurde, wie die Menschen in sie kamen und wie sie und alle anderen Lebewesen diese Welt bewohnen sollten. Doch die Geschichten und die damit verbundenen Rituale gehen üblicherweise weit darüber hinaus. Sie erklären den Angehörigen der Gruppe, wie sie sich gegenüber anderen verhalten sollten, und sie beschäftigen sich auch mit der Zukunft – also den Aspekten der Gesellschaft, die Bestand haben werden, während die aufeinanderfolgenden Generationen vergehen und verschwinden. Sie umfassen die Lebenden, die Toten und die noch nicht Geborenen und fügen sie in eine fortdauernde Geschichte der Zugehörigkeit ein.

Die einflussreichsten und nachhaltigsten Geschichten von Gesellschaften sind das Werk von Generationen. Sie werden wiederholt, angepasst und weitergegeben, sie fließen ins Alltagsleben ein, werden ritualisiert und derart verinnerlicht, dass wir uns oft kaum bewusst sind, dass wir noch immer von den Erzählungen ferner Ahnen umgeben sind. Sie verschaffen uns unseren spezifischen Ort in einem Gefüge, das sich zwar wahrnehmen, aber nicht vollständig begreifen lässt – und sie tun das, ohne dass wir wirklich davon wissen. Diesen Prozess können wir jeden Tag erleben, wenn wir – und andere – die vertrauteste Sequenz wiederholen, nämlich die Wochentage.

In der Zeit leben

Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Die Vorstellung, den Zyklus des Mondes in vier Sieben-Tage-Wochen zu unterteilen, dürft e ihren Ursprung im antiken Babylon haben. In ihrer vertrauten modernen Form leitet sie sich vermutlich von einem jüdischen Vorbild ab, in dem die Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Genesis erzählt wird, nachklingt, wo Gott, nachdem er in sechs Tagen die Welt erschaffen hatte, am siebten Tag ruhte – und der Menschheit und den Tieren befahl, es genauso zu halten. In der Folge verbindet uns jede Woche mit dem Beginn der Zeit als solcher, wenn ihre Tage den Gang unserer Arbeit und unserer Freizeit bestimmen, den wiederkehrenden Rhythmus unseres Daseins. Aber sie leisten noch mehr, und was genau das ist, hängt von unserer Sprache und unseren Überzeugungen ab. Die Namen, die wir den Wochentagen im Englischen (und im Deutschen) geben, sind eine ererbte Meditation über die Zyklen der Zeit, wenn wir das Muster der Sonne, des Mondes und der Planeten, die über uns ihre Bahnen ziehen, beobachten; und die Geschichte, die sie erzählen, ist allein denen, die Englisch (bzw. Deutsch) sprechen, vorbehalten, denn niemand anderes Woche gleicht der unseren.

Sonntag/Sunday, Montag/Monday – es beginnt mit der Sonne und dem Mond, die wir im Grunde jeden Tag sehen und deren getrennte Bewegungen die Monate und die Jahre markieren. Danach kommen in den meisten Ländern Westeuropas die Tage der problemlos sichtbaren Planeten. Am deutlichsten zeigt sich das in den romanischen Sprachen: Mars – martedì/mardi; Merkur – mercoledì/mercredi; Jupiter – giovedì/jeudi; Venus – venerdì/vendredi. Die Abfolge mag moderne Astronomen überraschen, aber es ist die Abfolge, an die sich die Römer hielten und die sie uns hinterließen. In England wurden irgendwann im 7. Jahrhundert die Planeten, die mit den exotischen Göttern Roms verbunden waren, umbenannt und durch die entsprechenden nördlichen Götter ersetzt, und deren Namen – Tyr (altengl. Tiw, althdt. Tiu), Wotan, Thor und Frigg – machten im Englischen und Deutschen daraus Tuesday/Dienstag, Wednesday/Wodensdag (althdt.; der Mittwoch kam im 10. Jahrhundert auf und ist einem Rückgriff auf die christlich-jüdische Zählung zu verdanken), Thursday/Donnerstag und Friday/Freitag. Am Saturday jedoch gesellt sich diesen einheimischen nordischen Göttern Saturn bei, der einzige römische Emigrant, der hartnäckig seinen lateinischen Namen behielt und unsere Woche, wie auch unsere Sprache, zu einem spezifisch germanisch-lateinischen Hybrid macht.

Mond-Tag bis Sonn-Tag. Die römischen Götter der englischen Wochentage auf einem italienischen Gemmen-Armband aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Indem jede Woche die verschiedenen Zyklen von Sonne, Mond und den fünf Planeten umfasst, impliziert sie nicht nur eine lange Zeitspanne von vielen Jahren, sondern auch die Gesellschaft vieler Götter und die ungeheure Weite des Raums als solchem. In den Namen unserer Tage ist das gesamte Sonnensystem enthalten, das Raum-Zeit-Kontinuum, wie man es in der antiken Welt des Mittelmeers kannte und nach Nordeuropa weitergab. Der Verlauf der Woche ist im Englischen und im Deutschen eine kurzgefasste kosmologische Geschichte, in der wir jeden Tag mit den Göttern unserer Vorfahren und unserer Eroberer leben, wodurch wir eine alte, aber stabile Zeitstruktur bewohnen.

Diese ungeheuer große Spannweite der Woche wird auf an genehme Weise sichtbar – und auf überraschende Weise tragbar – in einem wunderbaren Schmuckarmreif aus Italien, auf dem die Sonne und der Mond die Planeten in ihrer Abfolge flankieren, alle in Reliefform und in der charakteristischen römischen Art gehalten. Doch obwohl der Armreif in Italien gefertigt wurde, ergibt er nur im Englischen einen Sinn – denn das englische Wochenende unterscheidet sich grundlegend von dem in Südeuropa. Im Italienischen (sowie im Französischen und den anderen romanischen Sprachen, aber zumindest im Falle des Samstags auch im Deutschen) folgt nach dem Freitag kein Tag des Saturn. Stattdessen wechselt die Woche in eine andere Glaubenswelt, und der fünfte der heidnischen Götter weicht dem Sabbat des einzigen Gottes der Juden – sabato, samedi, Samstag. Und nach dem jüdischen Sabbat folgt nicht der Tag der Sonne, sondern domenica bzw. dimanche: der Tag des dominus, des Herrn. Im lateinischen Europa handelt das Wochenende nicht vom Bewegungsmuster am Himmel, sondern davon, wie wir auf Erden beten sollten. So geben die Tage der Woche der Zeit ein Gepräge, indem sie die Alltagsroutine unseres individuellen Lebens in ein Modell kosmischer Harmonie und gesellschaftlicher Ordnung einfügen.

Die Siebentagewoche ist heute ein globales Phänomen, aber die unterschiedlichen Namen der einzelnen Tage erzählen überall eine Reihe lokaler Geschichten, die von den jeweiligen Sitten und der jeweiligen Sprache abhängen. Ein Großteil Europas, das durch die römisch-katholische Kirche geprägt wurde, behielt die heidnischen Planetengötter der Römer bei, obwohl sie schon seit langem ersetzt waren, und die romanischen Sprachen fügten ihnen die heiligen Tage der Juden und Christen hinzu. Doch in Osteuropa und dem Nahen Osten lehnte die griechisch-orthodoxe Kirche diese entwurzelten heidnischen Götter – und ihre Planeten – vollständig ab. Stattdessen entschied man sich, die radikal andere Tradition der Juden beizubehalten, ein Modell, das später auch von den Muslimen übernommen wurde. Für sie alle hat die Woche einen klaren Mittelpunkt – den einen und einzigen Gott sowie den Tag, der in erster Linie seiner Verehrung vorbehalten ist – Freitag, Samstag oder Sonntag, je nachdem ob man Muslim, Jude oder Christ ist. Die Tage dazwischen haben keine heidnischen oder kosmischen Anklänge, sondern folgen einer schlichten Aufzählung – der Tag danach oder der zweite Tag, der dritte Tag usw. So erzählt der Verlauf der Woche im Hebräischen, Russischen oder Arabischen – um nicht noch weiter auszugreifen – eine Geschichte, die sich von der unseren deutlich unterscheidet: ein Narrativ der aktiven Glaubenspraxis und des rigorosen Monotheismus, des einen, einzigen Gottes, um den allein herum die Struktur unseres Lebens angeordnet ist – ein Gott, der ganz bewusst die Zeit nicht mit den Göttern der Heiden teilt (→ Kapitel 22).

Mit der Benennung der Wochentage bezeichnet man im Großteil der Welt bewusst oder unbewusst die Glaubensgeschichte der jeweils eigenen Gemeinschaft. Aus diesem Grund kamen die antireligiösen französischen Revolutionäre, die unbedingt einen Kalender entwickeln wollten, den, wie das metrische System, die ganze Welt nutzen konnte, zu dem Schluss, dies lasse sich einzig und allein dadurch erreichen, dass man die Woche als solche abschaffte (→ Kapitel 29) und zu einem Dezimalsystem von Tagen überging. Das war logisch und sollte ihrer Ansicht nach universell sein. Doch auch hier kehrten nach einer Handvoll Jahre die alten Götter zurück.

Die Benennung der Wochentage mag eine komplizierte Sache sein, aber noch stärker und erbitterter unterscheiden sich Kulturen, wenn es darum geht, die Jahre zu zählen. Wo fangen wir mit der Zählung an? Wann nahm die Zeit – oder genauer: wann nahm unsere Geschichte – ihren Anfang? Für die Juden bedeutete das die Erschaffung der Welt durch Jahwe, für die Römer war es die Gründung ihrer Stadt – und in jedem dieser Fälle demonstrierte das auf vollkommene Weise die Vorstellung vom eigenen Platz in der Weltgeschichte. Für andere hingegen war es der Moment, als die Welt ein zweites Mal begann und alle Dinge neu geschaffen wurden. Für Christen ist das die Geburt Jesu; für Muslime ist das die Zeit, als der Prophet von Mekka nach Medina zog und die Gemeinschaft der Gläubigen Gestalt annahm. Das chinesische Kaiserreich zählte die Jahre mit jeder neuen Regentschaft wieder neu. Für die französischen Revolutionäre machten die Errichtung der Republik und der neuen Staatsinstitutionen das Jahr 1792 zum Jahr 1. Im Mexiko der Azteken kannte die Abfolge weder Anfang noch Ende, sondern vollzog sich in komplizierten, sich endlos wiederholenden Zyklen von 52 Jahren. Kurz: Es gibt keine universelle Geschichte. In der Zählung der Jahre wird, wie bei der Benennung der Tage, die Vorstellung deutlich, welche die jeweilige Gesellschaft von sich selbst und ihrem eigenen, besonderen Ort in der Zeit hat.

Die Machtexpansion Europas und Amerikas in den vergangenen beiden Jahrhunderten hat dazu geführt (oder dazu gezwungen), dass ein Großteil der Welt die historische Zeit so unterteilt, wie sie das tun, nämlich in die Jahre «vor Christus» und die Jahre «nach Christus» bzw. Anno Domini, «im Jahre des Herrn». Trotz ihrer ganz unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen haben sich viele darauf verständigt, die gleiche Zählung zu verwenden, weigern sich aber verständlicherweise, die Abkürzungen BC und AD (bzw. v. Chr. und n. Chr.) zu verwenden, die ein ausschließlich christliches Narrativ bekräftigen (oder zumindest anerkennen). Sie bevorzugen stattdessen den neutralen Begriff einer Common Era bzw. Zeitrechnung, der seit dem späten 19. Jahrhundert immer beliebter wird und die christliche Chronologie beibehält, indem er Ereignisse vom angeblichen Zeitpunkt der Geburt Jesu aus datiert, sie aber als «vor unserer Zeitrechnung» (v. u. Z.) oder «unserer Zeitrechnung» (u. Z.) etikettiert (im Englischen als BCE und CE).

Die Idee der Common Era, der üblichen/gängigen Zeitrechnung, ist ein genialer und weitgehend erfolgreicher Versuch, einen Erzählrahmen zu finden, der unabhängig von Sprache, Kultur oder Religion die gesamte Menschheit umfassen kann. Doch solche Beispiele sind selten. Vielleicht ist es in diesem Falle nur möglich, weil zwei (oder, im Falle Irans, drei) Kalender problemlos nebeneinander existieren können, von denen jeder für unterschiedliche Zwecke genutzt wird (→ Kapitel 29), woraus eine ökumenische, ja sogar bilinguale Sicht der Zeit erwächst. Die meisten Konflikte zwischen unseren lokalen und den globalen Narrativen ließen und lassen sich freilich nicht so einfach lösen.

Die Grenzen der Sprache

Das vertraute Beispiel der Wochentage und des Kalenders berührt viele der Themen, die wir später im Buch in erhabeneren Kontexten erörtern werden. Sie zeigen in wunderbarer Klarheit, wie erstaunlich langlebig einmal etablierte Glaubensmuster sind und in welchem Maße Glaubensrituale in vielen – vielleicht sogar den meisten – Gesellschaften die Rhythmen des Lebens strukturieren.

In Leben mit den Göttern werden wir uns nicht mit dem Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit oder privater Spiritualität befassen, mit dem, was Individuen glauben, oder mit der abstrakten theologischen Wahrheit religiöser Vorstellungen, die allein die Gläubigen kennen können. Stattdessen richten wir unseren Blick darauf, was ganze Gesellschaften glauben und tun. Sich der Religion als Praxis und weniger als Lehre zu nähern mag so manchem seltsam erscheinen, der mit der Vorstellung groß wurde, Glaube beruhe auf von Gott inspirierten Texten, die angeblich absolute Wahrheiten enthalten und aus denen sich religiöse Autorität letztlich herleitet. Wenn es ein Bild gibt, das die Sichtweise organisierter Religion im Abendland auf den Punkt bringt, dann wäre das mit Sicherheit Moses auf dem Berg Sinai, der unmittelbar von Gott die Zehn Gebote empfängt – ein allmächtiger, alles beherrschender Gott reicht einen Text herab, der unveränderlich in Stein gemeißelt ist und auf eindeutige, unumstößliche Weise vorschreibt, wie wir diesen Gott verehren und was wir selbst tun (bzw. zumeist nicht tun) sollten.

Die Gebote des Lebens und des Glaubens werden Moses von Gott ausgehändigt. Französische Buchmalerei, frühes 15. Jahrhundert.

Bei dieser Vorstellung handelt es sich natürlich um ein verkürztes Zerrbild, wie jeder Jude, Christ oder Muslim sogleich anmerken würde. Moses auf dem Berg Sinai ist für alle drei Glaubenstraditionen lediglich Teil einer viel größeren Geschichte, die Jahrtausende des Kontakts mit Gott, viele andere göttlich inspirierte Texte, viele andersgeartete gesellschaftliche Praktiken und sich fortwährend weiterentwickelnde Interpretationen der hebräischen Schriften, der Evangelien und des Korans umfasst (→ Kapitel 20). Gleichwohl bilden wörtliche, fundamentalistische Lesarten dieser Texte noch immer einen wichtigen Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gruppen von Muslimen, Christen und Juden.

Tatsächlich sind die abrahamitischen Religionen ungewöhnlich, und zwar nicht nur in ihrem Glauben an einen einzigen Gott. Ein Großteil der Welt verfügte im Verlauf der Geschichte zumeist nicht über Texte, die eine so einzigartige Stellung für sich beanspruchten – wenn es überhaupt Texte gab. Noch weniger kennen irgendeine Vorstellung einer zentralen Autorität, die wie der Vatikan ein Lehrgebäude definieren könnte, an das die Anhänger glauben müssen. Natürlich verfügen Hinduisten und Buddhisten über viele Texte, aber keinem davon kommt eine selbstverständliche Vorrangstellung zu, und insofern unterscheiden sich der Sinn, den man ihnen zuschreibt, und die mit ihnen verbundenen Praktiken von Ort zu Ort enorm. Die Griechen und die Römer, die in so vielen anderen Dingen durchaus rigoros waren, verfügten über gar nichts, was wir als Glaubensbekenntnis betrachten würden: Ihre Vorstellung von Religion bezeichnete im Grunde etwas, das die Bürger taten. Eine Betrachtung von Glaubenssystemen, die sich allein auf Lehren und Texte konzentrieren würde, wäre eine auf traurige Weise sehr beschränkte Übung.

Jedenfalls ist oft schwer zu sagen, welchen spezifischen Glaubensüberzeugungen Menschen, wenn man sie dazu drängen würde, zustimmen würden. Wir können jedoch ihre Handlungen beobachten, die großen und kleinen Zeremonien, in denen ihr Glaube zum Ausdruck kommt und die, regelmäßig wiederholt, ein Leben und eine Gemeinschaft prägen. Deshalb konzentriert sich dieses Buch auf solche wichtigen Zeremonien, auf die Dinge, die Menschen dabei verwenden, und auf die Orte, an denen sie abgehalten werden. Ich habe Schauplätze ausgewählt, an denen sich eine große Zahl von Menschen zum Opfern, zu Wallfahrten oder zu rituellen Feierlichkeiten versammelt, und den geographischen Bogen dabei so weit wie möglich gespannt. Die Gegenstände stammen fast alle aus der Sammlung des British Museum, aber das bedeutet nicht wirklich eine Einschränkung, denn sie umfasst die ganze Welt und reicht von den frühesten menschlichen Gesellschaften bis zum heutigen Tag, und sie versetzt uns in die Lage, uns zu einer weltweiten Reise durch die materiellen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen des Glaubens aufzumachen.

Der große Vorzug dieses Ansatzes besteht darin, dass Gegenstände und Orte uns in die Lage versetzen, die großen Weltreligionen und deutlich kleinere Glaubenssysteme, die in eine bestimmte Landschaft eingebettet sind, gleichberechtigt zu behandeln (→ Kapitel 23). Gleiches gilt für Praktiken, die von einem König oder dem Klerus streng kontrolliert werden, und solche wie das Weihnachtsfest oder den Kult um Unsere Liebe Frau von Guadalupe (→ Kapitel 15 und 16), bei denen die Laien eine ungeschriebene zentrale Rolle spielen; ebenso für Religionen, die schon vor langer Zeit verschwunden sind, und für solche, die noch immer prächtig gedeihen. Wir können dadurch auch Glaubens- und Verhaltensformen in den Blick nehmen, die üblicherweise nicht als religiös gelten, wie etwa staatlich verordneten Atheismus oder den Kult des nationalen Führers.

Es gibt aber auch noch einen anderen Vorteil. In einer Welt, in der es mehrere tausend verschiedene Sprachen gibt, verschafft uns das Schweigen der Objekte Zugang zu einem Terrain, das sich anders nur schwer betreten lässt. Unser Armreif mit den Wochentagen, der englischsprachig ist und sich nicht ins Italienische (geschweige denn ins Arabische) übersetzen lässt, ohne dass ein Großteil seiner Bedeutung verloren geht, zeigt auf eindrucksvolle Weise, welch grundlegende Verbindungen zwischen Sprache und Glauben bestehen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass sie gemeinsam am wirkungsvollsten die Identität irgendeiner Gemeinschaft erzeugen können. Die Worte, in denen wir über Glauben oder Religion sprechen können, sind ihrerseits unvermeidlich geprägt durch – und in den meisten Fällen begrenzt auf – unsere eigenen Verhaltensweisen und Denkformen. Aus offensichtlichen historischen Gründen tun sich europäische Sprachen leicht mit der Vorstellung des einen Gottes der abrahamitischen Tradition oder der klassischen Götter Griechenlands und Roms. Aber jenseits davon, etwa in Mesopotamien, Indien oder Japan, tun sich Europäer schwer mit unvertrauten, irritierend fließenden Vorstellungen vom Göttlichen. Wenn wir Worte zu finden versuchen, die das Verständnis von Landschaft, welches das Leben der Menschen in Vanuatu oder der australischen Ureinwohner bestimmt, angemessen zum Ausdruck bringen, wird rasch deutlich, dass wir schlicht nicht über das Vokabular für Vorstellungen verfügen, die für das Leben dieser Gemeinschaften zentral sind, mit denen wir es jedoch nie zu tun hatten. Ausdrücke wie «beseelte Wesen» und «beseelte Landschaft» klingen für Europäer spröde und abstrakt und sind weit entfernt von der Unmittelbarkeit der Alltagserfahrung. «Geister», wie wir sie bestenfalls nennen können, klingt reichlich gespreizt und läuft Gefahr, Vorstellungen von sich bewegenden Tischen und anderen spiritistischen Praktiken heraufzubeschwören. Wenn wir uns in unserer eigenen Sprache in die Gedankenwelten von anderen hineinwagen, können wir nur eines tun, nämlich unsere Unzulänglichkeit anerkennen: Wir sprechen über Dinge, für die uns die Wörter fehlen.

Dieser Zugang über Objekte, Orte und Handlungen ist naturgemäß und zwangsläufig fragmentarisch. Aus ihm ergibt sich in keinster Weise eine narrative Geschichte des Glaubens. Aber er bietet, so hoffe ich, einen oftmals erfrischend direkten Zugang zu einigen der vielen verschiedenen Möglichkeiten, die Gesellschaften gefunden haben, um sich ihren Ort in der Welt vorzustellen und ihn zu bewohnen.

Wer ist «Wir»?

Eine andere zentrale These von Leben mit den Göttern lautet, dass sich Religion vielfach mit den gleichen entscheidenden Fragen beschäftigt wie die Politik. Wie organisiert sich eine Gesellschaft, um zu überleben? Welche Opfer kann eine Gesellschaft angemessenerweise vom Einzelnen im Dienste eines höheren Guts erwarten? Vor allem aber: Wer gehört zu der Gemeinschaft, die wir «Wir» nennen? Die Narrative des Glaubens können einzigartig wirkmächtige Symbole der Solidarität schaffen. Im Feuer der Parsen (→ Kapitel 2) oder in den Statuen der Göttin Durga (→ Kapitel 17) ist jeder Teil der Gesellschaft – reich und arm, schwach und stark, lebendig und tot – repräsentiert und geehrt. Nur wenige politische Entitäten haben emotional dermaßen überzeugende Metaphern für eine Gesellschaft gefunden, in die jeder eingebunden ist.

Glaubensüberzeugungen wurden natürlich über die Jahrtausende auch von Herrschern und Priestern dazu missbraucht, Teile der Gesellschaft auszuschließen – Glauben stand damit im Dienste politischer Unterdrückung. Das fürchterlichste Beispiel ist die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten. Wir werfen hier einen Blick auf die weniger bekannte Verfolgung von Christen in Japan und der Hugenotten in Frankreich im 17. Jahrhundert. In beiden Fällen wollte ein mächtiger Zentralstaat diejenigen, die nicht als «Wir» galten, über den Glauben definieren und eliminieren (→ Kapitel 28). Doch die gleichen Glaubensstrukturen können auch Zuflucht und Stärke der Unterdrückten sein. Die Geschichte der Juden (→ Kapitel 27) nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und den Feldzügen Hadrians oder das Überleben der versklavten Afroamerikaner als Gemeinschaft (→ Kapitel 10) lässt sich nur mit Blick auf eine Reihe von Glaubensüberzeugungen erklären, die am Leben halten, wenn andere Unterstützungen weggefallen sind. Unter solchen Umständen bietet Religion ein «Sinngebäude», in dem die Menschen Schutz und Hoffnung finden können. Und wenn die, die an der Macht sind, nicht für dieses Sinngefüge sorgen, dann werden die, die keine Macht haben, oftmals Mittel und Wege finden, es für sich selbst zu schaffen, wie die mexikanischen Arbeiter, die in den Vereinigten Staaten für bessere Bedingungen kämpfen (→ Kapitel 16). In jedem dieser Fälle, in der Politik wie in der Religion, definieren Menschen ihre Identität.

Die Denker der europäischen Aufklärung, zu denen auch die Väter der amerikanischen Verfassung gehören, hofften, wenn sie die organisierte Religion von der Regierung der Gesellschaft trennen könnten, würden sie das Gespenst der Glaubenskriege für immer verbannen. In diesem Bestreben waren sie im Großen und Ganzen erfolgreich. Doch vielleicht bekämpften sie eher das Symptom als die Ursache: das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit und nach einer Geschichte, die diese Zugehörigkeit trägt und in der jedem eine Rolle zukommt. Die gemeinsamen Glaubensnarrative, die einen und inspirieren, teilen und ausschließen, wurden rasch ersetzt durch die nicht weniger stärkenden und nicht weniger zerstörerischen Mythen des Nationalismus. Es hat den Anschein, als habe Durkheim recht gehabt, und das, was wir verehren, ist oft nur eine imaginäre Idealform von Gesellschaft. Haben wir eine entsprechende Vorstellung davon, was unsere Gesellschaft heute sein sollte? In den letzten Jahren, da Nationalstaaten durch die wirtschaftliche Globalisierung geschwächt wurden oder, in Teilen des Nahen Ostens und in Afrika, völlig zusammengebrochen sind, ist Religion zu einem immer wichtigeren Identitätsmerkmal geworden. Glaubensnarrative und das Zugehörigkeitsgefühl, das sie verschaffen können, sind heute attraktiver, einflussreicher und gefährlicher als noch vor einer Generation.

Die Philosophen der Aufklärung glaubten, sie hätten herausgefunden, wie sich verschiedene Glaubensgemeinschaften friedlich in eine politische Struktur einfügen lassen: durch eine Mischung aus Toleranz und Säkularismus. Die Römer hatten ein bemerkenswertes Maß an interreligiöser Harmonie erreicht durch das elegante Verfahren, die Götter der Völker, die sie eroberten, ins römische Pantheon einzuladen (→ Kapitel 21). Die meisten nahmen diese Einladung dankbar an und heraus kam ein neues, erweitertes Gefühl imperialer Identität. Doch eine so entspannte und durchlässige Haltung gegenüber dem Glauben beruhte auf öffentlichen Ritualen der Verehrung, nicht auf einer festen Glaubensdoktrin, und den textbasierten Monotheismen mit ihrem einen eifersüchtigen Gott steht dieser Weg nicht wirklich offen.

Die weltweite Übernahme der Common-Era- Zeitrechnung ist ein relativ triviales Beispiel für eine Übereinkunft – die allgemein anerkannt, aber nicht wirklich diskutiert wird –, mit deren Hilfe man eine universelle Gemeinsamkeit schafft, ohne individuelle Identitäten zu leugnen. Ist die Menschheit heute in der Lage, ein pluralistisches globales Narrativ zu finden, ein Gefüge von Annahmen und Bestrebungen, das jeden in unserer hypervernetzten und immer fragileren Welt miteinbezieht und von jedem übernommen werden kann? Das ist eine Frage von Leben und Tod für die enorm steigende Zahl von Migranten in vielen Teilen der Welt (Kapitel 30). Wer ist «Wir»? – das ist die große politische Frage unserer Zeit, und dabei geht es im Kern um das, was wir glauben.

 

 

 

TEIL I

UNSER PLATZ IM GEFÜGE

Die ersten fünf Kapitel befassen sich mit Geschichten aus vier Kontinenten, wie sie von Gemeinschaften erzählt werden, um damit ihr jeweiliges Verständnis des Kosmos und die eigene Stellung darin zu artikulieren. Es sind Geschichten von Tieren und Pflanzen, von Feuer, Wasser, Licht und den Jahreszeiten. Sie liefern Erklärungen dafür, wie Menschen die Welt erfahren und welche Rolle sämtliche lebenden Dinge im Gefüge der Natur spielen. Gesellschaften leben in und mit diesen kosmologischen Narrativen, Tag für Tag und Jahr für Jahr, und führen so einen unablässigen Dialog zwischen einer bestimmten Gemeinschaft und der großen Ordnung der Dinge. Die mit diesen Geschichten verbundenen Rituale bekräftigen dieses Weltverständnis und stärken, indem sie das tun, nachhaltig die Identität der Gemeinschaft.

Der Löwenmensch von Ulm, vor 40.000 Jahren hergestellt aus Mammut-Elfenbein, ist die älteste Darstellung von etwas jenseits menschlicher Erfahrung.

 

Kapitel 1

Die Anfänge des Glaubens

Am 25. August 1939 waren zwei Männer tief im Inneren der Stadel-Höhle im Kalksteinmassiv des Hohlenstein, unweit von Ulm gelegen, mit Grabungsarbeiten beschäftigt. Dieses Gebiet nördlich der Donau war bekannt dafür, dass es bemerkenswertes Material aus der Eiszeit barg, und man hoffte, diese Höhle würde einige neue Funde erbringen. Es war der letzte Tag der Ausgrabungen: Wie jeder wusste, stand der Kriegsausbruch unmittelbar bevor. Beide Männer – der Anatom Robert Wetzel und der Geologe Otto Völzing – hatten einen Einberufungsbescheid zur Wehrmacht erhalten.

Als Wetzel und Völzing schon dabei waren, ihre Werkzeuge einzupacken, machten sie eine Entdeckung. In 40 Metern Tiefe, in einer weiteren, kleineren Höhle, fanden sie viele winzige Bruchstücke von Mammut-Elfenbein, die so aussahen, als seien sie von Menschenhand bearbeitet worden. Sie hatten jedoch keine Zeit, die Fragmente näher in Augenschein zu nehmen oder herauszufinden, worum es sich handelte oder was sie möglicherweise zu bedeuten hatten. Die Splitter wurden zusammen mit anderem Grabungsmaterial verstaut und eingelagert, und die beiden Männer machten sich auf in den Krieg.

1941 deutete Wetzel in einer örtlichen Wissenschaftszeitschrift an, er und Völzing hätten einen «sensationellen» Fund gemacht, doch dreißig Jahre lang wusste niemand wirklich, was sie da entdeckt hatten. Die Grabungsfunde lagerten in Kisten zunächst an der Universität Tübingen, anschließend in einem Luftschutzbunker in Ulm, ehe sie schließlich im dortigen Stadtmuseum landeten. 1969 wurde dessen Kurator Joachim Hahn endlich damit beauftragt, das Material der Höhlengrabungen von vor dreißig Jahren zu sortieren und publik zu machen.

Binnen weniger Tage geschah etwas Bemerkenswertes. Hahn und zwei Kollegen stellten fest, dass sich die rund 200 Bruchstücke aus Mammut-Elfenbein zusammensetzen ließen und eine rund 30 Zentimeter große, stehende Figur ergaben. Mehr noch: Es handelte sich um eine menschliche Figur – allerdings nicht ganz. Im noch unvollständigen Zustand glaubte man zunächst, es handle sich teilweise um einen Bären. Doch als man weitere Splitter hinzufügte, die ein paar Jahre später gefunden wurden, wurde endlich das vollständige Muster deutlich. Es handelte sich tatsächlich um einen menschlichen Körper, allerdings mit dem Kopf eines Löwen. Die Figur wurde rasch als «Löwenmensch» bekannt.

Die Beine gespreizt, die Arme leicht angewinkelt, steht er aufrecht, vielleicht auf Zehenspitzen und beugt sich leicht nach vorne: eine machohafte, in gewisser Weise aggressive Haltung. Die sorgfältig geformten Waden sind eindeutig die eines Menschen, und der Nabel sitzt genau dort, wo er beim Modell eines Menschen sitzen sollte. Der Oberkörper ist schmächtig, katzenartiger, doch auf ihm sitzen starke Schultern und ein außergewöhnlicher Kopf.

Jill Cook ist die Expertin für Vor- und Frühgeschichte am British Museum:

Es handelt sich um den Kopf eines Höhlenlöwen, wie er im Europa der Eiszeit weit verbreitet war, und er ist größer als der heutige afrikanische Löwe. Der Kopf blickt uns eindringlich und direkt an. Der Mund wirkt fast so, als würde er lächeln. Die Ohren sind gespitzt, und innen kann man die kleine Öffnung für den Gehörgang erkennen. Schaut man sich die Rückseite genauer an, so findet man hinter dem Ohr kleine Falten, die sich dort bilden, wo die Muskeln kontrahieren, wenn man intensiv lauscht. Wir haben es also nicht mit einem menschlichen Wesen zu tun, das eine Maske trägt. Es handelt sich um eine Kreatur, aber um eine, die es gar nicht geben kann. Und diese Kreatur ist aufmerksam, sie lauscht, sie beobachtet.

Die Radiokohlenstoffdatierung lässt darauf schließen, dass der Löwenmensch rund 40.000 Jahre alt ist, was bedeutet, dass er gegen Ende der letzten Eiszeit hergestellt wurde. Diese Datierung wird untermauert durch Informationen, die anderes, in der gleichen Region gefundenes Material liefert. Wenn das tatsächlich stimmt, und es ist durchaus wahrscheinlich, dann kommt dieser kleinen Skulptur eine einzigartige Stellung in der Menschheitsgeschichte zu. Denn es handelt sich nicht nur um eine herausragende Darstellung zweier genau beobachteter Spezies, sondern vielmehr um den mit Abstand ältesten bislang gefundenen Beleg dafür, dass der menschliche Geist einer Sache physische Form gab, die er nie gesehen haben kann. Hier finden wir zum ersten Mal eine Kombination, die nur in der Fantasie existieren konnte, eine Abstraktion, die physisch greifbar gemacht wurde. Die Natur wurde re-imaginiert und umgestaltet, die Grenze zwischen Mensch und Tier aufgelöst. Der Löwenmensch steht für einen kognitiven Sprung in eine Welt jenseits der Natur und jenseits menschlicher Erfahrung.

Der Kopf des Löwenmenschen, der lauscht und beobachtet.

Die prekäre und gefährliche Welt derjenigen, die den Löwenmenschen fertigten, war eine Welt mit sehr niedrigen Temperaturen – in Europa lagen sie um rund 12 °C unter den heutigen – und langen, kalten Wintern. Wenn die Menschen das Kindesalter überlebten, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung vermutlich kaum mehr als dreißig Jahre. In den kurzen Sommern gab es Pflanzen und Tiere zu essen, doch im Grunde konnten diese Menschen nur überleben, wenn sie jagten, und dabei benutzten sie eine Vielzahl steinerner Werkzeuge, um ihre Beute zu töten, zu häuten und zu zerlegen. Sie brauchten Tiere wegen des Fetts und des Fleisches, die sie auf ihren Feuerstellen kochen konnten, und wegen der Felle und Häute, die ihnen Kleidung verschafften. Im Vergleich zu diesen Tieren waren die Menschen mit Zähnen und Klauen eher mäßig ausgestattet, sie waren kleiner als Bären oder Mammuts, sie konnten nicht so schnell laufen wie Wölfe, und dem größten ihrer Jäger, dem Löwen, hatten sie eigentlich gar nichts entgegenzusetzen. Insofern dürfte es kaum Zufall sein, dass unsere Skulptur den Zahn des größten Tieres, das die Menschen kannten, mit dem Kopf des wildesten Tieres kombinierte – und dazu den Körper des einzigen Lebewesens, das in der Lage war, sich die Welt, die all diese Kreaturen bewohnten, im Kopf vorzustellen.

Je genauer man sich den Löwenmenschen ansieht, desto deutlicher wird, dass er alles andere als das Ergebnis von ein oder zwei Stunden willkürlichen Herumschnitzens ist. Haltung und Stellung der Figur zeugen von enormem Wissen über das Elfenbein als Material – insbesondere die Stoßzähne eines jungen Mammuts, aus denen die Figur gefertigt wurde. Vor allem aber lässt die Präzision der Details auf hoch entwickelte technische Fertigkeiten, auf die Beherrschung vieler verschiedener Werkzeuge und auf einen enormen Zeitaufwand schließen. Jill Cook erklärt:

Man erkennt, wie die Krümmung des Stoßzahns auf seiner ganzen Länge klug genutzt wurde, um den Eindruck zu vermitteln, die Figur beuge sich aufmerksam nach vorne. Der Skulpteur wusste auch, wie er die Höhlung in der Mitte eines Stoßzahns nutzen konnte, um die breite, männliche Spreizung der Beine zu erreichen, und wie er mit Hilfe der engen, netzartigen Maserung des Elfenbeins die akribischen Details des Kopfes gestaltete. Der Löwenmensch kann nur von einem erfahrenen Schnitzerhergestellt worden sein, der bereits viele Stücke hergestellt hatte und der das Material in- und auswendig kannte. Es handelt sich um eine durch und durch originelle, technisch sehr anspruchsvolle, künstlerisch brillante Arbeit, die ein Gefühl von Kraft und Spiritualität vermittelt – für mich ein Meisterwerk.

Die Figur wurde mit einer Vielzahl unterschiedlicher Steinwerkzeuge hergestellt und dürfte sehr viel intensive, anspruchsvolle Arbeit erfordert haben. So bedurfte es vermutlich vieler Stunden wiederholten Tuns und hoher Konzentration, um mittels einer kleinen Steinsäge die Arme vom Körper abzuheben. Aus Experimenten mit ähnlichen Werkzeugen können wir errechnen, dass die Herstellung der Figur wohl mindestens 400 Arbeitsstunden erfordert hat. Und wie Jill Cook sagt, zeigt sich aufgrund des hohen Niveaus der dabei zum Tragen kommenden Fertigkeit, dass es sich nicht um die erste Arbeit des Schnitzers gehandelt haben kann.

Der Löwenmensch: Hier sieht man sehr schön die Krümmung des Mammutstoßzahns, aus dem er gefertigt wurde.

Diese letzte Beobachtung wirft eine entscheidende Frage auf. Es handelte sich um eine kleine Gemeinschaft, die wahrscheinlich nur ein paar Dutzend Menschen umfasste, sicherlich aber aus nicht mehr als ein paar hundert Personen bestand. Vornehmliche Sorge dieser Menschen muss es gewesen sein, etwas zu essen zu bekommen, Kleidung herzustellen, das Feuer am Brennen zu halten, die Kinder vor wilden Tieren zu schützen und so weiter. Doch sie erlaubten es jemandem mit großer Begabung, eine Menge Zeit fern solcher Aufgaben zu verbringen und stattdessen die Fertigkeiten zu erwerben und einzuüben, derer es bedurfte, um den Löwenmenschen herzustellen. Warum sollte eine Gemeinschaft so viel in die Herstellung eines Gegenstands investieren, der für ihr physisches Überleben keinerlei Rolle spielte? Jill Cook erklärt das folgendermaßen:

Das Ganze hat wahrscheinlich mehr mit dem psychologischen Überleben der Gemeinschaft zu tun, es ist etwas, das das Gruppengefühl der Menschen stärkt. Wir wissen nicht, ob der Löwenmensch eine Gottheit, eine spirituelle Erfahrung, ein Wesen aus einer Schöpfungsgeschichte oder eine Art Avatar war, mit dessen Hilfe man mit den Naturgewalten verhandelte. Doch dieses Objekt ergibt nur einen Sinn, wenn es Teil einer Geschichte ist, also Teil dessen, was wir heute als Mythos bezeichnen könnten. Es muss eine Erzählung oder ein Ritual gegeben haben, die diese Statue begleiteten und die ihr Auftauchen und ihre Bedeutung erklären würden. Was das für eine Geschichte war, darüber können wir natürlich nur Vermutungen anstellen. Sie handelte offenkundig von Menschen und Tieren – aber womöglich auch von etwas jenseits von uns, jenseits der Natur, das irgendwie eine Gemeinschaft stärken und sie in die Lage versetzen kann, Gefahren und Schwierigkeiten zu überwinden.

Wir wissen, dass die Menschen in dieser Region damals auch Musik machten und Musik hörten. So wurden beispielsweise eine Reihe von Flöten gefunden, die zum Teil aus (bereits hohlen) Vogelknochen hergestellt wurden, während andere deutlich komplexer waren und aus Elfenbein geschnitzt wurden, was wiederum eine enorme Investition von Arbeit und Zeit erfordern würde. Überdies hat man eine kleine Figur gefunden, die eindeutig tanzt. All diese Gegenstände handeln vongemeinsamer sozialer Aktivität, aber sie sollen uns auch in eine andere Sphäre ver setzen, und dieses Ziel verbindet sie möglicherweise mit dem Löwenmenschen.

Eine Vogelknochenflöte, die in der Gegend um Ulm gefunden wurde und aus der gleichen Zeit wie der Löwenmensch stammt.

Vor kurzem hat man zwei wichtige Details im Hinblick auf den physischen Zustand der Statue entdeckt. Dr. Kurt Wehrberger, der im Ulmer Museum heute für den Löwenmenschen zuständig ist, berichtet, eine Untersuchung mit dem Digitalmikroskop habe gezeigt, dass dem Maul – und nur dem Maul – eine organische Substanz zugeführt wurde, bei der es sich möglicherweise um Blut handelt. Das lässt auf irgendein zeremonielles Ritual schließen, bei dem das Maul des Löwen eine Rolle spielte.

Möglicherweise noch bedeutsamer ist, dass die Unregelmäßigkeiten, die man eigentlich auf der Oberfläche eines Mammutstoßzahns feststellen müsste, nicht vorhanden sind; sie haben sich infolge langanhaltender Benutzung abgeschliffen. Dr. Wehrberger glaubt, dass der Löwenmensch über viele Jahre, womöglich sogar über mehrere Generationen hinweg von zahlreichen Menschen in der Hand gehalten wurde. Diese Figur, die von einem Einzelnen hergestellt wurde, gehörte über einen langen Zeitraum der gesamten Gruppe. Jill Cook malt sich die damalige Szenerie aus:

Wir können uns bildlich vorstellen, wie die Menschen um das Feuer sitzen, das sie wärmt und die wilden Tiere abhält, wie sie dem Klang einer Flöte lauschen, den Zauber betrachten, den die Flammen erzeugen, die Statue in der Hand halten, sich Geschichten über dieses zusammengesetzte Geschöpf erzählen, als wäre es ein Avatar, der sie mit unsichtbaren Geistern, seien sie wohlgesonnen oder gefährlich, in Verbindung bringen könnte. Geschichten von der sichtbaren Welt, aber auch von Welten, die sie transzendieren und zu denen ihnen der Löwenmensch als verwandeltes fantastisches Wesen Zugang verschaffen könnte – nicht als individuelle Erfahrung, sondern als etwas, an dem alle teilhaben können.

Die Leute in der Höhle, die den Löwenmenschen in der Hand hielten, waren Menschen, die große Ähnlichkeit mit uns hatten. Sie gehörten der gleichen Spezies an wie wir – Homo sapiens – und hatten im Wesentlichen die gleichen Gehirne wie wir. Sie – wir – waren in Afrika entstanden, und vor etwa 60.000 Jahren scheinen sie sich rasant bis nach Asien, Europa, Australien und schließlich sogar Amerika ausgebreitet zu haben. Frühere Hominiden hatten seit über einer Million Jahren Werkzeuge verwendet und Tiere gejagt, doch diese Menschen waren in einer entscheidenden Hinsicht anders.

Clive Gamble, Professor für Archäologie an der University of Southampton, ist Experte für die Frühzeit des Menschen:

Der entscheidende Punkt ist die Vorstellungskraft. Das, was uns wirklich heraushebt, ist die Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert, ist unsere Fähigkeit, über das Hier und Jetzt hinauszugehen. Was wir sehr gut können, ist, in die Zukunft vorauszudenken, über unser individuelles Leben hinaus, aber auch in die Vergangenheit zurückzublicken. Das versetzt uns in die Lage, zu langen Reisen aufzubrechen – das Tempo, mit dem Homo sapiens die Erde erobert, ist erstaunlich. Wir können Mythen und Legenden konstruieren. Wir können andere Welten bewohnen und große imaginäre Sprünge vollziehen, indem wir Dinge zusammenbringen, die in der Natur nicht vorkommen, wie das etwa beim Löwenmenschen der Fall ist. Das ist ein wirklich neuer und dynamischer Aufbruch.

Für Clive Gamble sind derartige imaginäre Sprünge notwendig, um eine Vorstellung unserer Stellung im Kosmos und unserer Beziehung zu anderen Lebewesen zu begründen. Sie versetzen uns in die Lage, uns vorzustellen, dass andere Menschen weiter existieren, wenn wir nicht mehr da sind, wir können einen Glauben an ein Leben nach dem Tod entwickeln und Symbole, Zeremonien und Rituale schaffen:

Diese Überzeugungen – wie immer wir sie auch nennen – waren nicht etwas Besonderes und Separates, sondern integraler Bestandteil des sozialen Lebens, sie durchdrangen sämtliche Tätigkeiten. Und sie blieben nicht einfach auf die eigene unmittelbare Gruppe beschränkt. Ich glaube, in diesem Stadium waren Glaubenssystememöglicherweise genauso wichtig wie die Verfügbarkeit von genügend Leuten, um das eigene Territorium zu verteidigen, oder sogar die Sicherstellung der Nahrungsversorgung: Denn gemeinsame Überzeugungen ermöglichten es den Menschen, sich über größere gesellschaft liche Universen als die lokale Gruppe hinweg miteinander zu verbinden. Sie konnten mit anderen ein ganz bestimmtes Verständnis der Welt ebenso teilen wie die Symbole oder Rituale, um diese Weltsicht zu artikulieren. Und das konnte ihnen eine Art Verwandtschaft – eine Form von Gemeinschaft – über ein viel größeres Gebiet hinweg verschaffen, als das je zuvor möglich war.

Der «kleine Löwenmensch», der ebenfalls in der Umgebung von Ulm gefunden wurde und 31.000 bis 33.000 Jahre alt ist.

Diese letztgenannte These – dass die Menschen über ein großes Gebiet hinweg Glaubenssysteme und Praktiken gemeinsam hatten und über beträchtliche Entfernungen zusammengebracht wurden – wird erhärtet durch die Entdeckung mindestens einer weiteren Statue eines Löwenmenschen in dieser Region. In den letzten Jahren wurde die Höhle, wo man den Löwenmenschen fand, von Professor Claus-Joachim Kind von der Universität Tübingen erneut erforscht. Sie ist sehr geräumig, in etwa rechteckig, rund 40 Meter tief und 10 Meter breit und ähnelt in gewisser Weise einem frostigen Gemeindesaal. Es dürfte dort drinnen immer sehr kalt gewesen sein, denn sie ist nach Norden ausgerichtet. Professor Kind ist der Überzeugung, diese Höhle, die die Sonne nie zu Gesicht bekommt, sei kein Ort gewesen, an dem Menschen lebten. In der Nähe des Eingangs befindet sich eine Feuerstelle, die eindeutig häufig verwendet wurde, an der sich aber überraschend wenige Überreste von Steinwerkzeugen, Knochen usw. finden, also den gängigen Überresten menschlicher Wohnstätten – weit weniger jedenfalls als in den meisten Höhlen dieser Gegend. Es scheint sich also um einen Ort zu handeln, an dem die Menschen nicht dauerhaft lebten, sondern sich nur gelegentlich versammelten. Professor Kind glaubt, die Haupthöhle sei von Gruppen genutzt worden, die für relativ kurze Zeiträume von weit her kamen, wahrscheinlich um an Zeremonien teilzunehmen.

Die Stadel-Höhle im Hohlenstein, in der Robert Wetzel und Otto Völzing 1939 die Bruchstücke des Löwenmenschen entdeckten.

In der kleineren Höhle ganz hinten, wo die Elfenbeinsplitter entdeckt wurden, haben die jüngsten Grabungen überhaupt nichts zu Tage gefördert, das mit dem Alltagsleben in Verbindung steht, dafür wurden ganz andere Gegenstände gefunden: die Zähne von Eisfüchsen, Wölfen und Hirschen, die mit Löchern versehen sind, so dass man sie an einer Schnur aufreihen und zusammen mit kleinen Anhängern aus Elfenbein tragen konnte, sowie ein Versteck mit behauenen Rentiergeweihen. Ähnlich wie der Löwenmensch haben diese Objekte keinen praktischen Zweck, aber man kann sich leicht vorstellen, dass sie bei Ritualen zum Einsatz kamen. Claus-Joachim Kind ist der Überzeugung, dass diese innere Höhle ein spezieller Bereich war, wo Aktivitäten stattgefunden haben, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Löwenmenschen standen, und wo die Ritualgegenstände verwahrt wurden. Er glaubt, man könne dafür fast das Wort «Heiligtum» verwenden; er selbst spricht von einer heiligen Stätte.

Wir werden nie mit Sicherheit wissen, was der Löwenmensch für diese Menschen am Rande des Überlebens bedeutete, die so viele Stunden dafür opferten, ihn zu erschaffen. Aber wir wissen, dass sie über Verstand verfügten und zu komplexen Dingen in der Lage waren, weshalb es nicht unmöglich ist, sich vorzustellen, was sie taten und dachten. Wie alles, was mit der Vorgeschichte zu tun hat, muss vieles spekulativ bleiben und modifiziert werden, sobald neue Belege auftauchen. Die bislang einleuchtendste Hypothese lautet, dass die Menschen mit dem Löwenmenschen ein großes Kunstwerk produzierten, dass sie eine Erzählung schufen, welche die natürliche und die übernatürliche Welt miteinander verband, und dass sie dieses Narrativ in einer größeren Gemeinschaft zeremoniell inszenierten. Das ist etwas, was alle menschlichen Gesellschaften taten: nach Mustern zu suchen und dann Geschichten und Rituale darüber zu kreieren, die uns – uns allen – unsere Stellung im Kosmos zuweisen. Man könnte sagen: Wenn eine Gruppe sich darüber verständigt, wie sich die einzelnen Teile dieses großen Puzzles zusammenfügen, haben wir eine Gemeinschaft; Homo sapiens ist auch Homo religiosus, der nicht nur nach der eigenen, sondern nach unser aller Stellung im Kosmos sucht und bei dem Glauben eng mit Zugehörigkeit verbunden ist.

Obwohl der Löwenmensch offenbar ganz hinten in der Stadel-Höhle aufbewahrt wurde, gibt es nur einen Ort, an dem man sich seine Geschichte erzählt haben kann. Es handelt sich um den Ort der Visionen, den Ort, an dem schon immer Geschichten erzählt wurden: rings um das flackernde, magische, wärmende und gefährliche Feuer. Es ist Thema des nächsten Kapitels.

Shiva tanzt den kosmischen Tanz der Zerstörung und Erneuerung. Geschenk der indischen Regierung an das CERN, das auf dem Forschungsgelände in der Nähe von Genf steht.

 

Kapitel 2

Feuer und Staat

Auf dem Gelände des CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire), der Europäischen Organisation für Kernforschung, in der Nähe von Genf tanzt der Hindugott Shiva im Flammenkreis. Viele Besucher dieser Stätte rationaler wissenschaftlicher Forschung sind ein wenig irritiert, dass sie ausgerechnet hier von der Statue eines Gottes begrüßt werden. Doch nichts könnte diesem Ort angemessener sein als dieser Gott, und das nicht nur deshalb, weil Indien bei vielen Projekten seit langem mit dem CERN zusammenarbeitet: In der hinduistischen Tradition werden wir durch Shivas Feuer geschaffen und am Leben gehalten, doch es zerstört uns auch. Wie die Atomenergie entzieht sich auch das Feuer letztlich dem Verständnis oder der Kontrolle der Menschen.

Selbstverständlich erkennt nicht nur die Hindu-Tradition im gefährlichen Flackern des Feuers das Göttliche. In der klassischen Mythologie musste Prometheus es den Göttern höchstpersönlich stehlen, damit die Menschen es für ihre Zwecke nutzen konnten. Für die Juden begegnete Moses Gott in den Flammen des brennenden Dornbuschs, und bei den Christen kam der Heilige Geist in Feuerzungen auf die Apostel herab. Sichtbar, doch nicht greifbar, kraftvoll, aber immateriell – das Feuer ist für viele Gesellschaften offensichtlichstes, eigentliches Sinnbild des Göttlichen.

Es ist aber auch zutiefst menschlich. Man hat sogar behauptet, das Feuer habe menschliche Gesellschaft überhaupt erst möglich gemacht. Sobald unsere Vorfahren vor rund einer Million Jahren gelernt hatten, wie man damit umgeht, verschafft e es ihnen nicht nur Wärme und Sicherheit und hielt gefährliche Tiere fern, sondern es war auch der Ort, an dem man kochte und um den herum man aß. Gekochtes Essen sorgte dafür, dass die Menschen mehr Kalorien und Eiweiß zu sich nehmen konnten und dass ihr Gehirn dadurch über Zehntausende von Jahren größer wurde. Und wenn die Gemeinschaft rings um das Feuer saß, erzählte man sich Geschichten. Das Feuer als Mittelpunkt, als Fokus der Gesellschaft: diese Vorstellung ist eigentlich wenig überraschend, denn focus ist das lateinische Wort für Herd, und jedes Mal wenn wir das Wort benutzen, huldigen wir unbewusst der unvergleichlichen Sammlungskraft des Feuers. Die Gemeinschaft, die sich vorstellt, um ein Feuer versammelt zu sein, kann eine Familie, ein Dorf oder auch eine Nation sein. Für zwei der bedeutendsten Großreiche in der Geschichte – Rom und Persien – wurde das Feuer auf radikal unterschiedliche Weise zum göttlichen Symbol für die essenzielle Einheit des Staates.

Die Göttin Vesta (sitzend mit Kopfbedeckung) und vier ihrer Jungfrauen (römisch, 1. Jahrhundert u. Z.).

Die beiden Imperien, die im 3. Jahrhundert u. Z. um die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten kämpften, stehen sich heute im Münzkabinett des British Museum gegenüber: Aus Persien findet sich dort ein goldenes Bildnis, in etwa so groß wie ein Fünf-Cent-Stück, auf dem ein zoroastrischer Feueraltar mit zwei männlichen Bediensteten zu sehen ist. Aus Rom stammt eine dunkle Bronzemünze mit einer Ansicht des Tempels der Vesta, darin eine Gruppe der berühmten Vestalinnen, der Jungfrauen der Vesta.

Vesta war für die Römer die jungfräuliche Göttin des Feuers, Beschützerin des Friedens von Heim und Herd. Sie war eine durch und durch häusliche Göttin. Anders als bei Venus oder Juno gibt es über sie keine Geschichten von amourösen oder militärischen Abenteuern: Sie blieb ganz einfach zu Hause, am heimischen Herd, und hütete den Haushalt. In einer Hinsicht jedoch war sie die wichtigste Göttin Roms. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie im Verlauf der römischen Geschichte nur einen einzigen Tempel im Herzen des Forums, und anders als üblich gab es dort keine Statue der hier verehrten Gottheit: Vesta war nur in der ewigen Flamme des Herds zu finden. Doch dieser Herd, ihr Tempel, war der Herd der ganzen Stadt und des gesamten Imperiums, und beider Glück und Überleben hingen letztlich von Vestas Flamme ab. Das häusliche Feuer der Vesta war das zentrale Symbol des römischen Staates. Ihre Flamme musste unablässig brennen und bedurfte deshalb ständiger und besonderer Aufmerksamkeit.

Der Rundtempel der Vesta auf dem Forum Romanum – der «Herd des Imperiums».

Das lässt sich ganz deutlich auf unserer Münze erkennen, die um das Jahr 200 geprägt wurde. Auf der einen Seite findet sich ein Rundtempel mit den Worten Vesta Mater – Mutter Vesta. Die jungfräuliche Göttin – ein Paradoxon, das sich in vielen Gesellschaften findet – ist auch der Inbegriff der Mutterfigur. Wie üblich gibt es kein Bild der Göttin, aber zu beiden Seiten des brodelnden Kessels stehen je drei Frauen. Das, so erklärt Mary Beard, Professorin für Altertumswissenschaften an der Universität Cambridge, sind die Jungfrauen der Vesta:

Sie waren die Priesterinnen der Vesta, und sie hatten eine ganz zentrale Aufgabe: die heilige Flamme der Stadt zu hüten. In der Mitte des Forum Romanum, im Tempel der Vesta, befand sich der Herd, den wir auf dieser Münze sehen. Er sollte unablässig brennen, und die Aufgabe der Vestalinnen als Priesterinnen der Gottheit Vesta bestand schlicht und einfach darin, dieses Feuer am Brennen zu halten.

Ein spirituell und politisch so hoch bedeutsames Feuer konnte nur von den vollkommen unberührten jungen Mädchen betreut werden, die eigens für diesen Zweck ausgesucht wurden – es waren in der Regel insgesamt sechs – und während ihrer gesamten Dienstzeit Jungfrauen bleiben mussten. Noch einmal Mary Beard:

Wenn das Feuer doch einmal ausging, war das ein Zeichen, dass das bestehende Verhältnis zwischen den Römern und ihren Göttern gestört war. Und wenn es zu dieser Art von Störung kam, musste man etwas tun, um sie zu beheben. Der Verdacht fiel dabei gerne auf eine dieser Priesterinnen – nämlich in Gestalt des Zweifels darüber, ob sie noch Jungfrau war.

Schwarze römische Bronzemünze (um 200 u. Z.), mit dem Tempel der Vesta mit sechs Vestalinnen (oben) und einem Brustbild der in ein Tuch gehüllten Kaiserin Julia Domna (unten).

Die Strafe für eine Vestalin, die eines solchen Fehltritts für schuldig befunden wurde, war ein beklemmender Tod – sie wurde bei lebendigem Leibe begraben. Diese Bestrafung fand, wie wir wissen, gelegentlich Anwendung. Warum also sollte irgendjemand eine derartige Aufgabe versehen wollen? Wie Mary Beard erläutert, war einer der Gründe der Status, der damit verbunden war:

Wie bei fast allen römischen Priesterämtern handelte es sich um eine elitäre Aufgabe. Das Ungewöhnliche daran war, dass es sich um einen Eliteberuf für Frauen handelte, welcher der Vestalin und ihrer Familie einen Platz im Herzen der römischen Religion sicherte – und damit im Herzen der politischen Welt Roms, denn dieser Tempel und dieser Herd lagen genau im Zentrum des öffentlichen Raums in Rom. Diese Frauen hatten viele Privilegien – sie bekamen die besten Plätze im Theater usw. –, weil sie zwar ein Feuer hüteten, aber eben nicht einfach nur ein Lagerfeuer bewachten. Sie kümmerten sich um etwas, das für Rom als solches stand.