Lebenserfahrungen - Rinus Ritter - E-Book

Lebenserfahrungen E-Book

Rinus Ritter

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Beschreibung

Erfahrungen leuchten dem Menschen, wie die Sterne, erst am Abend. Es hat ein Leben mit allen Höhen und Tiefen gebraucht, um diese Erfahrungen zu verfassen. Erfahrungen, in denen es um das größte Glück geht, das man erleben kann: die Liebe. Aber auch um großes Leid, das das Schicksal dann bereithält, wenn man es nicht erwartet. Leben und Sterben - zwischen diesen beiden Polen hat ein Leben stattgefunden, das es zu meistern gegolten hat, das man je nach Standpunkt als schicksalhaft schrecklich oder als himmlisch schön empfinden kann. Das Schöne dieser Erfahrungen sei zur Nachahmung empfohlen, das Schreckliche nur zum Hinnehmen.

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für Anna

kein Weg führt nur in eine Richtung

um einen Menschen zu lieben, muss man ihn nicht voll und ganz verstehen; es genügt, ihn voll und ganz anzunehmen

Inhaltsverzeichnis

Zwei Vorworte: Zu diesem Buch

Teil I: Reifung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Adoleszenz

Teil II: Aufbruch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Antworten des Schicksals

Teil III: Leben und Sterben

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zwei Vorworte

Zu diesem Buch

Es existieren unvorstellbar viele Erfahrungen, die Menschen in ihrem Leben gesammelt haben oder haben sammeln müssen, von denen nie etwas bekannt geworden ist. Manche haben ihre Erfahrungen weitergeben können, ihren Kindern oder Enkelkindern. Andere haben den Mut gefunden, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Beim Niederschreiben erlebt man oft, dass das, was aus der Feder fließt, nicht nur der Erinnerung dient, sondern auch der Bewältigung und dem Schließen eines Friedens. Denn das Schicksal weist uns manchmal merkwürdig gewundene Wege, Wege, die wir oft nicht verstehen. Mit dieser Niederschrift möchte ich jene Erfahrungen festhalten, die Anna und ich haben sammeln müssen, um ihre Bedeutung für unser Leben zu beschreiben und um sie nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Vor über sechzig Jahren sind Anna und ich einander begegnet, haben uns ineinander verliebt und eine Familie gegründet. Wie wir zusammengefunden haben, wie es unserer Familie ergangen ist und welche Rolle das Schicksal dabei gespielt hat, davon möchte ich berichten. Die Erinnerungen an jene Erlebnisse und Erfahrungen, die unser Leben geprägt haben, sind in drei Teile gegliedert. In einem ersten Teil ‚Reifung‘ beschreibe ich meine Jugenderfahrungen. Darin räume ich jener Rolle, die Mädchen bei meinem Erwachsenwerden gespielt haben, einen besonderen Raum ein. Im zweiten Teil ‚Aufbruch‘ versuche ich, mit Hilfe später gefundener Aufzeichnungen das Erwachsenwerden jenes wunderbaren Menschen festzuhalten, mit dem ich fast mein ganzes Leben habe teilen können. Im dritten Teil ‚Leben und Sterben‘ erzähle ich von den beiden Polen Glück und Trauer, zwischen denen meine Familie ihren Weg in eine ungewisse Zukunft gesucht und vielleicht auch gefunden hat.

Jetzt im Alter von dreiundachtzig Jahren, einem Alter, in dem ich das Gefühl habe, wie andere Gleichaltrige auch mein Leben hinter mir zu haben, blicke ich auf ein Schicksal zurück, das es im ersten Lebensabschnitt gut mit mir gemeint hat. In einem Lebensabschnitt, in dem meine Gefühlswelt sich in einer Weise entwickeln konnte, die mich befähigt hat, die ‚richtige‘ Partnerin zu finden und mit ihr zusammen eine lebenslange glückliche Reise antreten zu können. Eine Reise, auf der das Schicksal es jedoch schon zu Beginn des zweiten Lebensabschnitts keineswegs gut mit uns gemeint hat. Mein Blick zurück wird jedoch kein anklagender Blick oder ein Rückblick im Zorn sein, im Zorn auf die vielen unverschuldet über meine Familie und auch über mich hereingebrochenen Unglücke. Es werden auch keine Fragen aufgeworfen wie ‚was wäre, wenn ...‘, wenn das Schicksal es gnädiger mit uns gemeint hätte. Dann hätte aus diesem Buch ein Roman werden können. Mein Rückblick wird der Blick auf ein Leben sein, wie es eben vorkommen kann ...

Neben Erinnerungen an ein mit unerwarteten Schicksalsschlägen angefülltes Leben enthält dieses Buch auch sehr persönliche Erinnerungen an Annas und meine Gefühlswelt als Jugendliche, als Studenten, als zweiundfünfzig Jahre lang äußerst glücklich verheiratete Menschen, als gemeinsam alt gewordene Eltern und Großeltern. Anna ist die Liebe meines Lebens gewesen; ich habe nie einen liebenswerteren Menschen kennen gelernt.

Was wir in unserer Jugend nicht gewusst haben: welche Bedeutung die Sexualität des Menschen für das Entwickeln einer Beziehung und für deren Scheitern hat. Es ist einfach nicht darüber geredet worden, selbst nicht in Beziehungen, die Jahrzehnte überdauert haben. Dennoch ist schon vor über sechzig Jahren Sexualität für uns etwas gewesen, was uns natürlich abenteuerlich, aber auch selbstverständlich erschienen ist und ein Leben lang angehalten hat. Deshalb möchte ich in einem zweiten Vorwort diese Erinnerungen jener Art entgegenhalten,

wie heute über Sexualität geredet wird.

Gerade habe ich Gelegenheit gehabt, einem Informationsteil und der nachfolgenden Diskussionsrunde zum Thema Sexualität in jedem Lebensalter und der Frage nach dem sogenannten ‚perfekten Sex‘ zuhören zu können. Die Runde hat aus bekannten Personen bestanden, die gerade an diesen Themen forschen: einer Sexualtherapeutin, einer Soziologin und einem Mediziner. Die Leitung dieser Runde hat in den Händen eines sachkundigen Moderators gelegen. Es ist um das Sexualverhalten in der heutigen Zeit und um die Frage gegangen, worin die Ursachen erkennbarer Probleme zwischen Sexualpartnern bestehen könnten; ob sie eher genetisch und durch das biologische Altern bedingt oder ob sie eher in den starken Veränderungen unserer Lebensumwelt zu suchen sind. Die Soziologin forscht zu den gesellschaftlichen Folgen der sexuellen Umwälzungen, die vor über fünfzig Jahren eingesetzt haben sowie der danach massiv wachsenden Bedeutung des Internets und der sogenannten sozialen Medien, die einen noch weitgehend unbekannten Einfluss auf das Sexualverhalten der Menschen haben. Der Mediziner fragt unter Nutzung der Resultate moderner Gehirnforschung, welchen Einfluss Hormone, Ernährung, Gesundheit und Alter auf die Ausprägung der Libido haben. Die Sexualtherapeutin steuert Fallbeispiele aus ihrer Praxis bei, die beleuchten, welcher Art die Probleme sind, von denen Klienten berichten, die bereit sind, über ihre Wünsche und die Ursachen ihres Beziehungsfrusts zu sprechen. Ein weiterer aktueller Anlass dieser Diskussionsrunde sind die bis jetzt zu beobachtenden Folgen der Corona-Lockdowns auf das individuelle Sexualverhalten.

Diese Veranstaltung hat bei mir in mehrfacher Hinsicht zwiespältige Gefühle hinterlassen. Erfreulich ist, wie offen und selbstverständlich über Sexualität, Lust und Intersexualität gesprochen und auf welche Weise das, was unter ‚gutem Sex‘ verstanden werden kann, thematisiert wird. Für viele ältere Menschen wie mich, für die Sexualität in ihrer Jugendzeit ein verschlossenes Buch gewesen ist, sicher aber auch für manchen jungen Menschen heute ist eine solche Gesprächsrunde insofern gewöhnungsbedürftig, als es noch keineswegs selbstverständlich ist, in dieser Weise über Sex zu sprechen. Denn so recht mag man sich mit diesem Thema noch nicht anfreunden, vielleicht weil man sich dabei ertappt fühlt, nicht ähnlich sachlich und kühl über die (eigene?) Sexualität reden zu können. Denn diese neue Normalität des selbstverständlichen Redens über sexuelle Verhaltensweisen birgt die Gefahr, in einer irgendwie mechanischen, irgendwie seelenlosen Weise über etwas zu sprechen, was die meisten Menschen in ihrem innersten Gefühlsleben berührt. Als kundiger Zuhörer wird man sich auch fragen, wie die Teilnehmer einer solchen Gesprächsrunde selbst zu dem stehen, worüber sie reden.

Erfreulich ist auch, wenn davon gesprochen wird, dass Sexualität und Lust keineswegs mehr etwas ist, was unterdrückt gehört, wie das vor gar nicht langer Zeit noch verkündet worden ist. Sexualität ist etwas, was uns von frühester Kindheit an bis ins hohe Alter begleitet, ist etwas, was uns Menschen in jeder Lebensphase glücklich machen kann. Noch vor fünfzig Jahren ist unter sexueller Aufklärung verstanden worden, Jugendlichen ein lusttötendes Kauderwelsch an lateinischen Ausdrücken vorzusetzen. Später ist Aufklärung darauf reduziert worden, von den Gefahren der Sexualität zu reden, nicht aber von den schönen Gefühlen. Aufklärung ist weitgehend Vergangenheit. Heute überlässt man diese Aufgabe dem Internet und den sogenannten sozialen Medien in der Hoffnung, die jungen Leute werden schon etwas Rechtes daraus machen. Welche Auswirkungen das auf das Sexualverhalten haben kann, ist am Beispiel der Frage verdeutlicht worden, was unter ‚perfektem Sex‘ verstanden werden und wie man einen solchen Sex beim ‚Sexting‘ oder ‚Dating‘ herbeiführen könnte. Als unbedarfter Zuhörer fragt man sich angesichts der allgegenwärtigen Werbung, ob ‚perfekter Sex‘ so etwas wie eine Handelsware ist, die sich mit etwas Geschick bei Lidl oder Aldi finden und erwerben lässt.

An dieser Stelle ist mir als interessiertem Zuhörer etwas sehr klar geworden, etwas, was auch dieser Gesprächsrunde bei aller Offenheit gefehlt hat. Keiner der Teilnehmer hat den Mut, vielleicht auch nicht den Willen gehabt, auf ein einfaches und zugleich uraltes Wissen hinzuweisen: Mögen sich zwei Partner, wird jeder Sex, auf den sie sich verständigen, als perfekt empfunden. Sich zu lieben bedeutet nämlich vor allem, Verständnis für den Partner zu haben, Verständnis für sein Wesen, seine Eigenarten, seine Wünsche und seine Gefühle. Wo keine Zuneigung, wo keine Liebe vorhanden ist, wird auch ein ‚perfekter Sex‘ nicht zum Glück führen.

Teil I

Reifung

1

Obwohl mir das zuerst komisch vorgekommen ist: mit vierzehn Jahren habe ich begonnen, private Notizen zu machen. Auf die Idee bin ich durch eine spannende Jugendgeschichte gebracht worden, die ich kurz davor gelesen habe. In dieses geheime Notizbuch schreibe ich das hinein, was mich besonders beeindruckt und beschäftigt, was sonst aber niemanden etwas angeht. Und zu dem, was nun wirklich niemanden etwas angeht, gehören meine Gedanken zu Mädchen. Seit kurzer Zeit geistern immer häufiger Traumbilder von ihnen durch meinen Kopf. Ich weiß gar nicht, woher die kommen. Was weiß ich überhaupt von Mädchen?

Die meisten Mädchen, die ich bislang kennen gelernt habe, sind auf irgendeine Weise merkwürdig, manchmal verlockend, manchmal abweisend, manchmal albern und manchmal zickig. Nur wenige erscheinen mir interessant, an die ich dann denken muss. Seit wann schaue ich überhaupt nach Mädchen? Ich habe neben einem Bruder eine kleine Schwester, doch das zählt nicht; vielleicht, weil sie manchmal richtig zickig sein kann. Wenn ich den Erzählungen meiner Eltern glauben darf, soll ich damals in der Volksschule angeblich eine ganze Mädchenklasse zu meinen Freundinnen erklärt haben. Darüber ist in der Familie gelacht worden. Weil mir das ganz und gar nicht gefallen hat, ist mir dieser Spott eine Lehre gewesen; von mir aus habe ich erst viel später wieder von Freundinnen geredet.

An dem losen Geschwätz meiner Kameraden über Mädchen habe ich mich nur ungern beteiligt. Vielleicht deshalb, weil mir das eine oder andere Mädchen interessant und auch ganz lieb vorgekommen ist und mir der Widerspruch zu dem, was meine Kameraden über gerade diese Mädchen von sich gegeben haben, nicht gefallen hat. Mit Mädchen ist bisher also gar nichts losgewesen? So ganz stimmt das nicht. Ich muss von drei Erlebnissen berichten, bei denen ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass Mädchen eigenartig andere, ganz neue und irgendwie aufregende Gefühle bei mir erzeugen können. Das erste Erlebnis hatte ich vor einem halben Jahr, als wir noch im Badischen gewohnt haben. Karin ist die Tochter einer dort mit meinen Eltern befreundeten wohlhabenden Familie, sie ist etwa so alt wie ich. Bei unseren Besuchen ist mir immer mehr aufgefallen, wie hübsch sie ist. Obwohl sie sich wie ein ziemlich verwöhntes Mädchen benimmt, mag ich sie irgendwie. Bei einem unserer Besuche hat sie gerade eine Tennisstunde hinter sich, bei der ich zuschauen durfte. Tennisspielen ist etwas, woran ich gar nicht zu denken wage, etwas, was meine Eltern in der Nachkriegszeit auch gar nicht bezahlen können. Als die Stunde vorbei ist, ist der Platz noch eine Weile frei geblieben. Karin hat mich gefragt, ob ich auch mal ein paar Schläge probieren möchte. Da habe ich natürlich sofort mitgemacht. Weil ich im Federballspiel geübt bin, habe ich nach ein paar Probeschlägen bald begriffen, worauf es beim Tennisspiel ankommt. Als sie sich daraufhin ein wenig über den Platz gescheucht fühlt, hat ihr das natürlich nicht gefallen. Irgendwie ist es deshalb zu einem Gerangel um die Filzkugel gekommen, die sie mir abnehmen will, um das Spiel zu beenden. Dabei hat sie meinen Arm und meine Hand mit dem Tennisball ganz eng an ihre schon entwickelten Brüste geklemmt. Vor Schreck ist mir die Spucke weggeblieben! Sie hat das gar nicht weiter gestört, im Gegenteil, sie hat wohl Spaß an dieser Art der Balgerei gehabt. Du meine Güte, hat mich das aufgeregt! Noch einige Nächte danach habe ich geglaubt, ihre Brüste an meinem Arm und an meiner Hand zu spüren. Einem Mädchen so nahezukommen, eine Berührung zu erleben, an die sonst niemals zu denken ist, das ist unglaublich gewesen! Später habe ich mich gefragt, ob ihr das bewusst gewesen ist, ob sie diese Art der Balgerei und diese Berührungen womöglich sogar gewollt hat. Ich habe jedoch keine Gelegenheit mehr gehabt, das herauszufinden, denn wenige Wochen später ist meine Familie weit weg in den Norden umgezogen. Die Erinnerung an das Erlebnis mit Karin ist zwar nicht in Vergessenheit geraten, doch immer mehr vom Gefühlsnebel einer vielleicht von ihr gewollten erregenden Begegnung verhüllt worden.

Bei einem Familientreffen vor drei Wochen mit den Verwandten meines Vaters ist auch eine zwei Jahre ältere Cousine dabei gewesen. Sie hat die nächstbeste Gelegenheit genutzt, mich beiseite zu ziehen und mich zu fragen, ob ich wüsste, was ein Kuss ist. Als ich geantwortet habe, dass ich das natürlich wüsste, hat sie gesagt, nein, ich meine kein Küsschen, sondern einen richtigen Kuss. Nanu, was ist denn ein richtiger Kuss? Ich habe wohl ziemlich fragend aus der Wäsche geguckt. Schließlich hat sie es mir erklärt: Ein richtiger Kuss ist, wenn unten einer steht. Da habe ich erst recht fragend geguckt! Was heißt das denn: ‚wenn unten einer steht‘? An einer Fortsetzung dieses Themas hat meine Cousine dann aber kein Interesse mehr gehabt, offenbar bin ich ihr einfach zu ahnungslos. Mich hat das aber echt gewurmt! Ich möchte schon noch wissen, was sie mit dieser Erklärung gemeint hat.

Einige Wochen später hat ein weiteres Familientreffen stattgefunden, jetzt sind die Verwandten meiner Mutter eingeladen worden. Für uns Kinder ist zum Übernachten im Zimmer, in dem mein Bruder und ich schlafen, ein Schlaflager eingerichtet worden. So ein Massenlager ist natürlich etwas herrlich Spannendes. Da ist so manche Frozzelei hinund hergegangen. Zur Nacht habe ich schon eine Weile auf meinem Schlafplatz gelegen. Weil eine fast gleichaltrige Cousine etwas später dran war, musste sie über mich hinwegsteigen, um zu ihrem Schlafplatz zu gelangen. Wie damals für Mädchen üblich ist sie nur durch ein langes Nachthemd bekleidet. Beim Drübersteigen hat sie eine längere Pause gemacht; den Grund dafür habe ich nicht erkennen können. Ich bin sowieso völlig gebannt gewesen. Denn sie hat für ein paar lange Sekunden mit leicht gespreizten Beinen direkt über mir gestanden und mir einen unglaublich schönen Anblick geboten! Dieser Anblick hat mich noch lange verfolgt und am Einschlafen gehindert.

Später habe ich mich gefragt, ob sie wirklich noch so arglos ist und sich nichts dabei gedacht hat. Oder ob dahinter eine Absicht gesteckt hat. Je länger ich darüber nachgedacht habe, desto mehr bin ich davon überzeugt: das ist Absicht gewesen! Mädchen stecken offenbar voller Geheimnisse und voller geheimer Wünsche, Wünsche, über die nicht gesprochen wird und von denen ich absolut keine Ahnung habe. Ich denke, ich sollte in Zukunft bei Begegnungen mit Mädchen genauer hinschauen; vielleicht haben sie mehr vor als das, was sie erkennen lassen.

2

Nach jenem wunderschönen Anblick vor drei Tagen sind mir die bisher gemachten Erfahrungen mit Mädchen nicht mehr aus dem Kopf gegangen: vor einem halben Jahr die Balgerei mit Karin; dann vor wenigen Wochen die Sache mit jener Cousine und dem Kuss; und jetzt ein sonst völlig unmöglicher Anblick, den mir eine andere Cousine geboten hat. Meine frühere Ansicht, Mädchen seien überwiegend uninteressant, ist bedenklich ins Wanken geraten. Es sieht so aus, als sind Mädchen viel interessanter als gedacht.

Bislang ist mein Kopf mit dem Verhalten von Mädchen beschäftigt gewesen. Doch da scheint sich etwas zu ändern. Weit weg von meinem Kopf geschieht Unerwartetes. Bei dem Teil meines Körpers, der von meinen Kameraden als Schwanz und im Biologiebuch als Penis bezeichnet wird, tut sich etwas. Während mir meine bisherigen Erfahrungen mit Mädchen durch den Kopf gehen, spüre ich dort eine Reaktion. Merkwürdige Gefühle breiten sich aus, neue, unbekannte Gefühle, die mir aber seltsam spannend vorkommen. Was soll ich von all dem halten? Was ist da bloß los mit mir? Die Gefühle, die ich erlebe, erscheinen mir so abenteuerlich schön! Was ich von meinen Kameraden bei deren Tuscheleien hinter vorgehaltener Hand zu hören bekomme, klingt allerdings, als sei das, was ich so schön finde, etwas Verbotenes. Etwas, wovor die Erwachsenen warnen würden, weil es schädlich sein soll! Das hat mich nachdenklich gemacht. Obwohl ich mich bei meinen Eltern sehr gut aufgehoben fühle, habe ich mich nicht getraut, sie zu fragen, was es damit auf sich hat.

Ich habe aber meine Ohren gespitzt und manches Gerede zur Kenntnis genommen, auf das ich früher nie geachtet habe. Schließlich habe ich beschlossen: Solange niemand weiß, welche neuen Gefühle ich habe, soll mir egal sein, was andere darüber denken! Denn ich kann nicht anders und muss meine neuen Gefühle weiter studieren. Bald habe ich bemerkt, was bei mir so alles passieren kann. Das ist ja toll! Die merkwürdig erregenden Gefühle und die seltsame Spannung, die ich dabei spüre, gefallen mir sehr. Mir ist jene Cousine in den Sinn gekommen, die mir erklären wollte, was bei einem richtigen Kuss passiert. Ist es das, was sie gemeint hat? Wenn ich ein Mädchen ‚richtig‘ küsse, wird mein kleiner Freund da unten steif? Keine Ahnung, aber vielleicht ist das so.

Einige Monate sind vergangen, in denen mit Mädchen absolut nichts los gewesen ist, in denen es keine Gelegenheit gegeben hat, auszuprobieren, ob es stimmt, was da mit meinem kleinen Freund passieren soll, wenn ich ein Mädchen küsse. Denn dazu müsste ich ein Mädchen kennen, das sich von mir küssen lässt. Doch ein solches Mädchen ist weit und breit nicht zu finden! Was bleibt mir da anderes übrig als davon zu träumen? Natürlich achte ich mittlerweile auf Äußerungen anderer zu dem, was da bei mir passiert. Wenn man besonders darauf achtet, fällt auf, dass über jene geheimnisvolle Körperregion öfter getuschelt wird, als man denkt. Bei allem, was ich zu hören bekomme, kann ich nicht verstehen, wieso das, was ich da fühle, etwas Verbotenes sein soll. Warum ist etwas verboten, was so viel Spaß macht? Natürlich habe ich meine Gefühle geheim gehalten, und das wird auch weiterhin so bleiben. Was da unten mit meinem kleinen Freund geschieht, geht absolut niemanden etwas an!

Erfahrungen mit Mädchen? Es ist hoffnungslos. In dasselbe Mietshaus, in dem meine Familie wohnt, ist eine neue Familie eingezogen. Zu dieser Familie gehören zwei wirklich hübsche Mädchen, ein Zwillingspaar, etwas älter als mein anderthalb Jahre jüngerer Bruder. Natürlich haben diese Mädchen unser Interesse erregt. Es hat etwas gedauert, bis wir den beiden aufgefallen sind und sie sich bereit gezeigt haben, mit uns ein Wort zu wechseln. Für mich hat es dann aber schnell Grund zum Ärgern gegeben. Mein Bruder hat mit seinen Annäherungsversuchen bei einem dieser Mädchen mehr Glück als ich bei dem anderen. Mein Bruder ist der Sonnyboy der Familie, ich dagegen bin der Ernstere. Während mein Bruder sich bald mit einem der Mädchen zum Spazierengehen verabreden kann, habe ich meine Annäherungsversuche beim anderen Mädchen aufgeben müssen. Denn das andere Mädchen verhält sich im Unterschied zu ihrer Schwester eigenartig und ist vor allem schnippisch, verhält sich also genau so merkwürdig, wie ich das früher bei einigen anderen schon einmal festgestellt habe. Pech gehabt, denke ich und sage mir: brauche ich überhaupt ein Mädchen?

Mein Vater erlebt zum zweiten Mal eine für ihn und unsere Familie erfreuliche Besserung seines Einkommens, indem er eine neue Stelle in einer anderen Stadt antreten kann. Das Opfer, das seine Familie erbringen muss, ist ein erneuter Umzug, der ein Jahr später stattfindet. Jetzt leben wir am Rand einer Kleinstadt, in der ich von der Obersekunda bis zur Oberprima mein drittes Gymnasium besuche.

In unmittelbarer Nähe unterhalb eines am Berg gelegenen Häuschens, das meine Eltern mieten konnten, befindet sich hügeliges Waldgelände und Gestrüpp, weiter unten liegt ein Freibad. Mit Nachbarjungen haben wir uns schnell angefreundet. Sie, mein Bruder und ich haben bald entdeckt, dass es dort verschwiegene Stellen gibt, an denen sich häufig Liebespaare treffen. Das hat natürlich unser Interesse geweckt! Wir haben uns an das eine oder andere Liebespaar herangeschlichen und versucht, es beim Liebesspiel zu beobachten. Zweimal haben wir etwas länger zuschauen können, die anderen Male hat es jedoch nicht lange gedauert, dann sind wir entdeckt und verjagt worden.

Untereinander haben wir kaum über das Gesehene gesprochen. Dazu war das zu aufregend, zu sehr unser Innerstes und unsere Träume berührend. Ich wollte auch nicht in jener abfälligen Weise darüber reden, wie viele meiner Kameraden das taten. Das, was ich da draußen manchmal gesehen habe, hat jedoch meine Fantasie angeregt und mir eine erste Ahnung gegeben, was bei solchen Liebestreffen geschieht und wozu Mädchen und junge Frauen offenbar bereit sind. Zusammen mit meinen früheren Erfahrungen ist in meinem Kopf allmählich ein bestimmtes Bild von Mädchen entstanden. Zunächst sind sie verschlossen wie eine Auster; man bekommt ihre Erziehung zu mädchenhafter Zurückhaltung zu spüren. Dann fangen sie bei passender Gelegenheit an, mit uns Jungen zu spielen, uns gegeneinander auszuspielen, uns auf bestimmte Weisen zu verlocken. Und irgendwann zeigt sich, dass viele von ihnen ebenso wie wir jungen Burschen hinter Liebeserlebnissen her sind ... Bei aller meine Neugier weckenden Erregung bin ich mir aber keineswegs sicher, ob mir wirklich gefällt, was ich da gelegentlich zu sehen bekomme. Kürzlich hat mir ein Klassenkamerad ein Mädchen schmackhaft machen wollen, von dem er berichtet hat, das sei ein Mädchen, das mir ‚für fünfzig Pfennige das Schwänzchen aus der Tasche ziehen würde‘, wie er gesagt hat. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich diese Vorstellung als abstoßend empfunden. Ich verspüre absolut keine Lust, so ein Mädchen kennen zu lernen. Das Mädchen, an dem ich Gefallen finden kann, müsste irgendwie anders sein.

3

Schon zum zweiten Mal bin ich in den Sommerferien Gast auf dem modernisierten Bauernhof eines entfernten Verwandten. Das alte Besitzerehepaar, dem der Hof einmal gehört hat, sitzt auf dem Altenteil und ist mir schon immer sehr zugetan gewesen. Das hat auf Gegenseitigkeit beruht, denn auch ich habe sie sehr geachtet und gemocht. Der Hof und die zugehörigen Ländereien werden jetzt vom Sohn bewirtschaftet. Er hat eine attraktive und viel jüngere Frau geheiratet und mit ihr zwei Töchter. Im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren fühle ich mich herrlich stark und bemühe mich, bei den körperlich schweren Arbeiten zur Zufriedenheit aller zu helfen. In meiner freien Zeit soll ich die beiden Töchter beaufsichtigen, die nur wenige Jahre jünger sind als ich. Doch was heißt das: beaufsichtigen. Sie wollen, dass ich mit ihnen spiele. Die beiden Mädchen sind sehr natürlich und unbefangen und freuen sich, jemanden zu haben, der das Vertrauen der Eltern und Großeltern hat und mit dem sie spielen können; oder das zu tun, was sie unter Spielen verstehen. Denn was sie gern herbeiführen, sind kleine Balgereien, in die sie mich verwickeln, wann sie können. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, finde diese Art von Spiel aber durchaus spannend. Bei diesen harmlosen Balgereien kommt es vor, dass ihre unter den Sommerkleidchen nur durch ein Höschen verborgenen Unterleiber für mich sichtbar werden. Das trifft mich wieder mit Wucht. Wie verboten schön diese Anblicke sind! Ich habe nicht den Eindruck, als ob die Mädchen das verbergen wollen. Im Gegenteil, ich glaube, sie wollen mich auf eine noch kindlich naive Weise ein bisschen reizen. Niemals habe ich daran gedacht, bei unseren Balgereien solche Situationen auszunutzen und ihre Körper in unangemessener Weise zu berühren; auch dann nicht, wenn sie meinen Arm oder meine Hand dicht an ihren Körpern festgehalten haben. Diese Erlebnisse haben allerdings meine Fantasie befeuert. Wie früher schon einmal habe ich mich gefragt, was ich von diesem Benehmen der Mädchen halten soll. Mädchen können abweisend oder sogar albern sein, sie können sich aber auch so verhalten, wie ich das hier erlebe. Welche Geheimnisse stecken in ihnen, Geheimnisse, die mein Gefühlsleben in einer Weise in Fahrt bringen, die ich an meinem kleinen Freund zu spüren bekomme? Nächtliche Träume von diesen Mädchen habe ich mir allerdings verboten! Stattdessen habe ich mir erlaubt, von ihrer jungen Mutter zu träumen. Sie ist eine Frau, die sich in besonders herzlicher Weise um mich kümmert. Ich habe mir vorgestellt, wie sie es irgendwie fertig bringt, mich zu besuchen und mir die ersten Lektionen der Liebe zu erteilen. Natürlich ist mir klar, wie vollkommen unwirklich das ist, natürlich wird das niemals geschehen, doch es sind halt so wunderschöne Träume! Träume von unbekannten Gefühlen und Erlebnissen ...