Lebensluft - Christiane Köhn-Ladenburger - E-Book

Lebensluft E-Book

Christiane Köhn-Ladenburger

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Beschreibung

Tom war es, als würden Kulissen an ihm vorbeigeschoben. Dahinter musste ein anderer Film ablaufen. Der seines wirklichen Lebens. Voller Abenteuer und Reisen. Dieser Husten hatte ihn herauskatapultiert. Und was jetzt? Wie die Luft zum Atmen … alles war ganz selbstverständlich. Dem Abenteurer Tom wird der Boden unter den Füßen weggerissen und er muss sich auf völlig neue Wege begeben. Dass dies sein größtes, aber wahrscheinlich auch sein letztes Abenteuer werden wird, hätte er nie gedacht: Alte Liebe, verdrängte Wut, neue Freundschaften und spirituelle Unterstützung … Wird er am Ende das finden, was er im tiefsten Inneren gesucht hatte? Sich selbst und damit vielleicht auch Rettung?

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Seitenzahl: 343

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1. Auflage 2022

lebensluft

Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten.

Copyright © 2022

2022 Verlag Herz und Gold, Bopfingen

Lektorat:

Chris Beck, Alexandra Eryiğit-Klos, Sabrina Neumeister

Umschlags- und Layoutgestaltung:

Projektteam AG Christiane Köhn-Ladenburger

Covermotiv/Satz

Christiane Köhn-Ladenburger

ISBN 978-3-949656-04-0

www.herzundgold.com

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titel

1. Ein Tauchen

2. Abschied

Laghu

3. Reisemut

Laghu

4. Vive la passion

5. Kirchenkerzen

Laghu

Laghu

6. Wanderung – Umwege führen ans Ziel, Irrwege in die Irre

7. Lebewohl Freiheit

8. Heimat ist kein Ort

9. Glücksfall

Laghu

10. Weiterleben

11. Das Juwel

12. Eintauchen ins Kurleben

13. Ankunft der Schätze

Laghu

14. Besuchszeit

Laghu

15. Schorsch und die unerträgliche Leichtigkeit

Laghu

16. Der Schamane

17. Endlich Montag!

18. Chance auf Neues

19. Der Mowak

20. Seminar und das Labor

21. Göttin, Hexenhaus und eine Fee

22. Die Gänseblümchenmeditation

23. In der Bibliothek

24. Gegen die Zeit

25. Der Blitzer

26. Aus und vorbei

27. Wellness – letzter Versuch

Laghu

28. In die Stille

29. Überpünktlicher Zug

30. Kloster Flüli

31. Der Tag - Jetzt

Epilog

Lebensluft

Danke

Anmerkung

1

Ein Tauchen.

Gefangen! Dabei könnte er gemütlich in der Sonne sitzen und ein Bier zischen. Seine Hände klammerten sich an das Seil.

Erneut versuchte Tom einen Druckausgleich herzustellen, indem er seine Nasenflügel zusammendrückte und wieder und wieder kräftig schluckte. Vergeblich wartete er auf das charakteristische „Plopp“ in den Ohren. Nichts! Alle anderen schienen dies mühelos zu bewältigen, nur er hing hier fest. Er blickte nach oben. Über ihm türmte sich das Wasser bis zu der kleinen hellen Oberfläche, die sich verlockend kräuselte. Das Schiff wippte im Rhythmus der Wellen. Er hatte für diesen Kurs gezahlt. Viel Geld geopfert, um diese andere Seite des Meeres kennenzulernen. Nein, er würde jetzt nicht aufgeben.

Die Dunkelheit erinnerte ihn an den Schrank, in dem er sich früher oft versteckte. Die Kälte drang durch das Neopren in sein Inneres. Weit entfernt, beinahe unerreichbar, schimmerte der Himmel. Auftauchen. Frische Luft atmen. Der Kopf kämpfte gegen den Wunsch zu fliehen. Vergessen war der Traum, schwerelos in einer farbigen Unterwasserwelt zu schwimmen. Irgendwo unter ihm musste die Tauchgruppe sein. Mit neuer Motivation versuchte er durch heftiges Schlucken und Schütteln des Kopfes den Druckausgleich herbeizuzwingen. Ohne Erfolg. Trotzdem tauchte er weiter nach unten, das Seil fest in seinen Händen. Allein zwischen den Welten wollte er auf keinen Fall bleiben. Der Drang, der Gruppe zu folgen, war so groß, dass er den höllischen Schmerz, der sich mit rasender Geschwindigkeit in seine Ohren bohrte und in seinen Kopf vordrang, kurz ignorieren konnte. Seine Hände suchten automatisch den Weg nach oben. Nur weg von diesem inneren, unerträglichen Brennen. Als er zur Wasseroberfläche hinaufsah, zog ein großer Schatten über ihn hinweg. Was war das? Adrenalin schoss durch seinen Körper. Der Schatten umkreiste ihn, kam näher! HAI! Sein Herz klopfte so stark, dass er es bis in seine Fingerspitzen fühlte. Das Mundstück nehmen und ihn anpusten, erinnerte sich eine Stimme in ihm. Aber er war erstarrt und völlig bewegungsunfähig. Die Zeit schien stillzustehen und sich um ihn auszudehnen. Der Hai gefror zu einem Standby-Bild. Tom schloss die Augen – so wie damals als Kind, wenn die Angst zu groß wurde. In der Dunkelheit. Er atmete schwer. Sog gierig die Luft ein und biss auf das Mundstück, bis seine Wangen knirschten.

Nichts. Kein Angriff! Kein Schmerz. Vorsichtig öffnete er wieder die Augen. Der Hai war verschwunden. Dafür tauchte der Lehrer auf, hinter ihm folgte Toms Tauchpartnerin. Er machte das übliche OK-Zeichen, um herauszufinden, ob Tom dieses erwiderte. Nichts war ok. Wie sollte er das nur erklären? Tom schüttelte den Kopf. Zeigte mit dem Daumen wild nach oben. Auftauchen! Er wollte hier raus. Der Tauchlehrer nahm Toms Sauerstoffanzeige und nickte. Tom verstand nicht. Was wollte der Kerl? Nun griff er in Toms Weste, um den Schlauch zu lösen und hielt ihm die Anzeigeuhr vor die Taucherbrille. Roter Bereich! Tom starrte auf das Wort: DANGEROUS. Ihm würde in Kürze die Luft ausgehen! Erneut überrollte ihn eine Welle der Panik und ihm war plötzlich eiskalt. Gedanken rasten durch sein Hirn. Der Hai, die Ohren! Im Meer war er sprachlos, buchstäblich unmündig – nicht in der Lage, sich selbst zu erklären. Es war nicht seine Schuld. Die Hilflosigkeit schnürte ihm die Kehle zu. Alles in ihm wollte fliehen. An Land. Und zwar so schnell wie möglich. Mit wenigen Zeichen schickte der Tauchlehrer seine Begleiterin zurück zu den anderen und zeigte mit dem Daumen nach oben. Tom kannte nur ein Ziel: zurück in die Freiheit – weg aus diesem Gefängnis des Meeres.

Der Tauchlehrer hielt seinen Arm fest, bremste ihn. Langsam schwebten sie nach oben. Kurz vor der Wasseroberfläche, sein Herz beruhigte sich langsam, stoppte der Lehrer erneut. Dekompression. Er erinnerte sich an den Theorieunterricht. Dennoch machte es ihn nervös. Diese eine Minute, die ihn von der Freiheit abhielt, wollte nicht enden. Das Zeichen zum Auftauchen. Endlich! Er schoss durch die Wasseroberfläche, spuckte das Mundstück aus und schnappte nach Luft. Eine Welle überschwemmte sein Gesicht und füllte den Mund mit Salzwasser. Hustend und schwer atmend zog Tom sich an der schwankenden Leiter ins Boot. Der Tauchlehrer winkte kurz und war im nächsten Augenblick in der sich kräuselnden Oberfläche verschwunden. Zwei Tauchbegleiter eilten zu Tom und halfen ihm aus der schweren Weste. Er wickelte sich in ein Handtuch und legte sich flach auf den Boden. Tauchen war nicht sein Ding. Ohne Möglichkeiten zur Kommunikation und seiner Freiheit beraubt, konnte er der Unterwasserwelt nichts abgewinnen.

Verständigung nur mit Zeichen? Ein interessanter Gedanke. Das war ein Ansatz. Darüber konnte er in seinem Blog schreiben. Waren Zeichen aus ethnologischer Sicht nicht der Beginn der Sprache? Er hatte es heute am eigenen Leib erfahren, wie diese Verständigung funktionierte und beeinträchtigte.

Die Sonne wärmte seinen Körper und das leichte Schaukeln des Schiffes versetzte Tom in einen schläfrigen Zustand.

Er setzte sich auf und blinzelte in die Sonne. Das Meer glitzerte. In der Ferne sprangen Delfine aus dem Wasser. Als der Kapitän zu ihm trat und ihm eine Flasche Bier reichte, spürte er wieder Lebendigkeit durch seine Zellen strömen. Beim zweiten Bier kehrte seine Tauchpartnerin aufs Schiff zurück. Sie gesellte sich zu ihm an die Reling. Er bot ihr seine Flasche an.

„Was war los da unten?“, fragte sie nach einem großen Schluck.

„Problem mit dem Sauerstoff.“ Er zuckte die Schultern.

„Das Wasser ist einfach nicht mein Element. Jedenfalls nicht, wenn ich untertauche.“

Sinja strich sich eine nasse Strähne hinters Ohr.

„Das heißt: Du tauchst nicht weiter?“

„Nein, aber ich habe ein Thema für meinen Blog. Die Sprachlosigkeit und der Beginn der Verständigung. Die Worte fügen sich bereits in meinem Kopf zu einem Text. Dieser Tauchgang hat mich wenigstens inspiriert.“

Sie lächelte ihn an und gab ihm einen raschen Kuss auf die Wange.

„Und ich hatte schon befürchtet, du seist krank. Aber nun strahlst du richtig.“

Der Tauchlehrer trat zu ihnen.

„Tom! Wie geht´s dir?“

Tom nickte und brummte: „Alles bestens.“

Doch Mike ließ sich damit nicht abspeisen. Er musterte ihn und sagte dann leise, so dass die Worte nur zu Tom drangen:

„Ist schon ungewöhnlich, dass du so viel Sauerstoff gebraucht hast. Geh mal zum Doc…nicht, dass du da irgendwas verschleppst.“

„Nein! Es war nur der Druckausgleich und natürlich der Hai.“

Der Tauchlehrer legte freundschaftlich seine Hand auf Toms Schulter und zwinkerte ihm zu:

„Wenn du gesundheitliche Probleme hast, bekommst du das Geld für den Kurs zurück.“ Laut an alle gerichtet:

„Und jetzt kommt – es gibt vorne Sandwiches für alle.“

Wie auf Kommando knurrte Toms Magen laut und deutlich. Er lachte und Sinja nahm seine Hand, als sie über das schwankende Schiff zum Bug gingen.

Die Arztpraxis befand sich in einer eisgekühlten Einkaufsmall. Jetzt zur Siesta waren dort nur vereinzelte Passanten. Der Friseur stand vor seinem Salon und rauchte gelangweilt. Ein Wachmann kickte gedankenverloren eine Dose. Die Langeweile hing tief vor den bunten Schaufenstern. Sinja hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Nun fröstelte sie in ihren Hotpants und dem Top. Die Arztpraxis bestand aus einem einzigen Raum mit einer kleinen Theke. Hinter einem Wandschirm war der Behandlungsbereich. Bereits beim Eintreten fand Tom den Geruch nach Desinfektionsmittel betäubend. Sinja blieb in der Tür stehen:

„Tom, ich warte auf dich bei der Cafeteria.“

„Alles gut. Ich sagte ja, dass ich allein klarkomme.“

Sie strich ihm über den Rücken und verschwand. Der Wachmann hob den Kopf pfiff leise vor sich hin, ohne den Blick von ihrem Po zu wenden. Tom grinste. Sinja war eine Augenweide.

Er saß auf dem harten Holzstuhl und wippte leicht nach vorn, während er auf die Theke starrte. Der Arzt kam und holte ihn nach hinten.

„Diving-Test?“

Tom nickte. Abhören, Lungentest. Kopfschütteln. Wiederholtes Abhören mit tiefem Einatmen. Tom hatte ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas schien dem Arzt nicht zu gefallen.

„Das hat ja ewig gedauert.“

Sinja zog eine Schnute und sprang vom Barhocker.

„Ja, und beim Tauchen bin ich raus. Wahrscheinlich eine verschleppte Lungenentzündung. Soll mich noch mal im Krankenhaus durchchecken lassen.“

„Oh!“ Sinjas blaue Augen wurden noch größer.

„Halb so wild. Ich habe eh keine Lust auf Tauchen. Und ich bekomme mein Geld zurück.“ Er wedelte mit einem Attest.

„Was hältst du von einem Sundowner am Beach und anschließend ein leckeres Abendessen? Als Abschiedsgeschenk von deinem Tauchbuddy.“ Sinja grinste und warf den Kopf in den Nacken. Sie strich ihm spielerisch mit der Hand über den Arm.

Seine Füße bohrten sich in den Sand, während er einen kräftigen Schluck von seinem Bier nahm. Vor ihm der Laptop, beklebt mit zahlreichen Aufklebern. Eine lässige Dokumentation seiner vergangenen Reiseziele, die er nicht ohne Stolz der Welt präsentierte. Die Sonne glitzerte im Meer. Noch eine halbe Stunde, dann würde Sinja kommen. Perfektes Timing zum Sonnenuntergang. Tief saugte er die Meeresbrise ein und leckte sich leicht die Lippen. Sie schmeckten nach dem Salz der Freiheit. Dann flogen seine Finger über die Tastatur. Der Bericht von seiner letzten Reise und die Verbindung zur heutigen Erfahrung flossen aus ihm heraus. Völlig konzentriert auf seinen Text vergaß er binnen Sekunden die Welt um sich. Erst durch eine Stimme schreckte er auf. Ärgerlich hob Tom den Blick.

„Sorry. Bin zu spät … gleich wird sich der Himmel rot färben und wir haben noch keine Drinks.“

„Sinja!“ Er hatte sie völlig vergessen. Rasch speicherte er den Text und klappte den Laptop zu. Noch benommen, nahm er einen Schluck Bier, das mittlerweile warm und schal war. Untrinkbar! Er erhob sich:

„Ich hole uns Drinks. Gin Tonic?“

Sie nickte und zeigte bei ihrem Lächeln eine makellose Reihe weißer Zähne. Sein Unmut war verflogen. Pfeifend kehrte er mit den Drinks zurück, gab ein Glas Sinja und zog geschickt ein Badetuch aus seinem Rucksack.

„Komm, wir setzten uns in die Dünen. Dort sind wir ungestört.“ Der Himmel war rot gefärbt und die Sonne verschwand in rasender Geschwindigkeit im Meer. Nur noch ein letzter, orangefarbener Streifen erzählte zum Murmeln des Meeres vom Sonnenuntergang. Tom plumpste mit direktem Blick zum Meer in den Sand. Für Sinja legte er sein Handtuch aus. Sie rückte so nah an ihn heran, dass sie beide locker auf dem Tuch Platz gehabt hätten

Er spürte, wie sein Puls schneller ging. Ihr Duft – eine Mischung aus herber Frische und weiblicher Jugend – stieg ihm zu Kopfe. Er konnte sie gut riechen. Sehr sogar. Rasch nahm er einen Schluck Gin Tonic, fischte einen Eiswürfel heraus und lutschte versonnen daran. Svenja tat es ihm nach, doch ließ sie ihr Eis auf seinen Rücken gleiten. Ein kurzer Schrei und er wälzte sich lachend auf sie. Einen Moment hielt er sie gefangen, dann gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze und gab sie frei.

Ein einzelner Stern strahlte bereits am sich dunkelblau verfärbenden Himmel, der sich über ihnen spannte.

Sie setzte sich auf ihn. Seine Hände fanden wie von allein zu ihrem Po und als ihre Lippen seine berührten, durchströmte ihn die Erregung so heftig, dass es ihm den Atem nahm. Sinja schien genau zu wissen, was sie wollte. Ihre Hände lagen heiß auf seinen Wangen, während ihre Zungenspitze sich vorsichtig vorwagte. Dabei rieb sie sich leicht auf ihm und er konnte seine Erregung nicht mehr unterdrücken. Er erwiderte ihren Kuss. Für Minuten gab es nur sie beide und die Erforschung des anderen. Neugier wechselte mit Vorsicht. Alles in Tom schrie nach mehr. Seine Hände wanderten unter ihr Top. Er spürte ihr Frösteln und als er die Lippen von ihr löste, sprang sie auf wie ein Flummi.

„Los, lass uns tanzen, feiern! Keine Ahnung, wie lange ich noch hier bin.“ Er lachte. Das Leben konnte so einfach sein und diese Kleine war ein Geschenk. Sie schien keinerlei Sehnsucht nach einer dauerhaften Beziehung zu haben und allein der Kuss hatte ihn erregt wie schon lange nichts mehr. Er folgte ihr durch den Sand. Immer wieder drehte sie sich lächelnd zu ihm um.

Nach drei weiteren Drinks waren Toms Hüften so locker, dass er den Arm um ihre Hüfte schwang und sich im Rhythmus mit ihr wiegte. Immer enger und kreisender. Es war an der Zeit, etwas zu sagen. Also näherte er sich ihrem Ohr:

„Du machst mich wahnsinnig.“

Sie lachte und kniff ihn in den Po. Dann warf sie den Kopf in den Nacken. Ihre blauen Augen funkelten:

„Wo ist dein Zelt?“

„Nicht weit von hier. Wir können am Meer entlang gehen.“ Er nahm ihre Hand, drehte sie aus und ging zielstrebig von der Tanzfläche, ohne ihre Hand loszulassen.

Die Nachricht von Marie war wie ein Schlag in den Magen gewesen. Tot. Einfach weg. Das war nicht zu begreifen. Vor ein paar Tagen hatte Tom noch mit Marcus geskypt. Er hatte ihm alle Unterlagen für das bevorstehende Treffen gemailt. Und nun sollte er ihn nie wiedersehen? Die Beerdigung war in zwei Tagen. Die Flüge nach München waren unbezahlbar. Aber er hätte es auch nicht ertragen. Rieselnde Erde auf den Holzsarg. Weinende Kinder. Die viel zu junge Witwe. Dabei hatte Marcus gerade sein Leben ändern wollen – die alte Clique zusammenführen, um von seinen neuen Lebensplänen zu berichten. ZU SPÄT. Warum dachte man immer, es könne einen selbst nicht treffen?

Nach dem ersten Schock hatte er sofort begonnen seine Sachen zu packen. Aber jetzt, während der Bus über die holprige Straße klapperte, löste sich die Schutzhülle auf, bekam Risse. Immer wieder stiegen Bilder der Vergangenheit in ihm auf. Sein erster und einzig echter Freund. Ausgelöscht. Aufgelöst. Wo auch immer. Er schloss die Augen. Bloß keine Tränen! Jungs weinen nicht. Dieser Spruch saß ihm tief in den Knochen. Er schluckte heftig.

Einfach weg. Du bist frei. Du hast überlebt. Waren das seine Gedanken? Die Hitze erdrückte ihn.

„Stopp!“

Er musste raus. Raus aus diesem Bus. Frische Luft atmen. Was trinken oder irgendwohin gehen, aber nicht hier herumsitzen. Seinen Gedanken und Erinnerungen ausgeliefert. Was für eine dumme Idee. Die Trauer würde hier über ihm zusammenbrechen. Er schnappte seinen Rucksack und verließ den Bus an der nächsten Haltestelle. Nur raus hier. Weitergehen. Nicht nachdenken.

Ein Fuß vor den anderen setzen. Bis zur nächsten Kneipe. Dann ein paar Bier, ein Bett und Dunkelheit.

2

Abschied

Ein blauer Himmel strahlte über dem Friedhof. In Marie herrschten Regen und Dunkelheit. Sie zog ihren schwarzen Pareo enger um die Schultern und folgte Cathy. Gerade hatte ihre Freundin noch im Auto getobt, andere Fahrer verflucht, das BMW Cabrio in eine zu enge Parklücke gequetscht. Doch sobald sie den Friedhof betraten, war sie verstummt. Schatten fielen in sich bewegenden Mustern durch die Zweige der Allee. In dieser angespannten Stille entdeckte Marie überall kleine Details der Vergänglichkeit. Hier ein braunes welkes Blatt, dort ein verlassenes Schneckenhaus. Aus allen Himmelrichtungen strömten schwarz gekleidete Menschen zur Aussegnungshalle. Cathy übernahm die Führung und sicherte ihnen Sitzplätze. Alle reckten die Köpfe, um einen Blick auf den Sarg zu erhaschen. Marcus, überlebensgroß in einem gerahmten Foto, blickte ihnen entgegen. Umrandet von weißen Lilien stachen seine leuchtend blauen Augen heraus. Ganz der unbekümmerte Surferboy – braun gebrannt mit verschmitztem Lächeln. Verdammt! Er war noch nicht einmal vierzig. Und jetzt? Vorbei! Ausgelebt! Frau und Kinder saßen in der ersten Reihe. Stumm und starr. Bei dem Gedanken an ihre Schmerzen floss Maries Herz über vor Mitgefühl. Wie gerne würde sie sie alle in den Arm nehmen und ihnen sagen, dass alles wieder gut würde. Irgendwann. Aber schon als sie diesen Gedanken dachte, kam er ihr heuchlerisch vor. Die Worte hörten sich wie leere Phrasen an. Keine Worte würden den Schmerz lindern oder den Schock des tragischen Unfalls nehmen. Wie schnell das Leben beendet sein konnte! Davon war keiner ausgenommen, auch sie nicht. Lebte sie so, dass sie morgen sterben könnte? War sie mit sich im Reinen? War Marcus es gewesen? Er hatte unbedingt gewollt, dass sie zusammen wegfuhren. Beim letzten Treffen – ohne Tom, der immer durch die Welt gondelte – hatte er darauf bestanden und voller Euphorie die alten Zeiten ihrer Studentenband heraufbeschworen. Als alle – selbst Tom – per Videokonferenz zustimmten, hatte er ein Treffen in Mexiko geplant und für sie alle gebucht und jetzt… war es zu spät.

Plötzlich spürte sie eine schier unerträgliche Enge in ihrem Brustkorb.

Cathy beugte sich zu ihr und flüsterte:

„Schau dich um, ich komme mir vor wie in ‚Frühstück bei Tiffany‘. Ganz München hat sich in Schale geworfen und eine der traurigsten Veranstaltungen zu einem Mode-Event gemacht.“

Marie blickte sich vorsichtig um. Kleine Hüte, große Sonnenbrillen und elegante schwarze Kleider, über allem schwebte der benebelnde Duft von Chanel No. 5. Dann raunte Marie:

„Meine Oma hat immer gesagt‚ das letzte Hemd hat keine Taschen. Also Marcus ist es völlig egal, was hier abgeht. Mir tun nur seine Frau und die Kinder leid.“

„Ja, sicher ein Schock. Aber ich glaube nicht, dass sie lange die trauernde Witwe mimt. Die hatte doch schon die ganze Zeit was mit ihrem Personaltrainer.“

„Cathy, das kannst du doch gar nicht wissen! Sicher trauert sie. Und die Kinder erst! Sie haben ihren Vater verloren.“ Bevor Cathy antworten konnte, setzte die Musik ein. Queen. Sein Lieblingssong: Who wants to live forever! Stiche durchbohrten ihr Herz. Bilder der Erinnerung schoben sich immer wieder vor ihr inneres Auge: Marcus, wie er selbstvergessen tanzte. Sein berühmtes Schlagzeugsolo – die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Sein Lachen und das Strahlen, wenn sie die Bühne betraten. Jedes Mal hatte er sie gepufft und ihr zugeraunt:

„Baby, wir rocken den Saal und danach wird ordentlich gefeiert!“ Tränen liefen Marie über die Wangen. Sie suchte nach einem Taschentuch und entdeckte, dass Cathy ihr bereits eines hinhielt. Marie wurde klar, dass nun auch ihre Freundin mit den Tränen kämpfte. Die Worte des Pfarrers lösten sich in Nebel auf.

Was war der Sinn ihres eigenen Lebens? Mutter sein? Internetseiten gestalten? Sie dachte an ihren Mann, ihre Ehe, das Leben, das sie führte. War das wirklich alles? Verschwendete sie ihre Lebenszeit? Immer neue Fragen überrollten ihren Körper wie eine Welle, als sie die Aussegnungshalle mit dem Strom der Trauernden verließ.

Die helle Sonne dieses Frühlingstages blendete. Ihre geschwollenen Augen schmerzten. Rasch versteckte sie sich hinter ihrer Sonnenbrille. Wie durch ein Vergrößerungsglas nahm sie Details wahr. Die Gießkanne mit dem tropfenden Wasserhahn. Die Schatten der Trauergemeinde, die sich langsam zum Grab bewegte. Gleich würde er in der Erde verschwinden. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Der Tod! Auch sie würde sterben. Sie ahnte bereits die Schwere der Traurigkeit, den dunklen Schlund, der sie verschlingen würde. Ihre Hände zitterten. Der Sarg wurde versenkt. Eine Trompete spielte ein letztes Lied. Die Vögel verkündeten unbeeindruckt den Frühling und der Duft frischer Erde ließ Marie schaudern. Als sie am Grab stand und eine Rose auf den Eichensarg warf, konnte sie ihr Schluchzen nicht länger unterdrücken. Marie weinte laut.

Cathy nahm ihren Arm und zog sie sanft von der Grube zurück. Durch den Schleier ihrer Tränen sah Marie noch das versteinerte Gesicht von Marcus Witwe.

„Kein Leichenschmaus!“, hatte Cathy energisch beschlossen. Nun parkte sie das Auto vor dem Café der Reitanlage.

„Heiße Schokolade. Das wird dir guttun“, sagte Cathy aufmunternd.

Marie erhob sich schwerfällig. Es war, als wolle die Erde sie verschlingen und immer tiefer in sich hineinziehen.

Jeder Schritt – unendlich langsam. Cathy packte sie am Handgelenk.

„Komm! Du gehst jetzt zur Toilette und machst dich frisch. Kaltes Wasser hilft immer. Wir haben gerade einen Freund verloren. Ich kann jetzt nicht auch noch auf meine Freundin verzichten.“

Marie verschwand zögernd in die Damentoilette. Rote Augen blickten sie traurig aus dick geschwollenen Lidern im Spiegel an. Wie kurz das Leben doch war. Sie ließ das kalte Wasser über ihre Hände fließen, bis sie jegliches Gefühl verloren hatte. Dann legte sie die Handflächen vorsichtig auf ihre Augen und versuchte sich vorzustellen, wie Hitze und Röte aus ihrem Gesicht wichen. Als sie sich wieder im Spiegel ansah, war sie verblüfft, wie gut ihr kleiner Trick gewirkt hatte. Ihre Hände schienen eine besondere Magie zu besitzen. Vater, als er noch bei ihnen wohnte, hatte immer gesagt:

„Marie, lege deine kleinen heißen Hände auf meinen Kopf. Du kannst heilen – im Nu sind meine Schmerzen verschwunden.“ Ihr Vater! Wie lange war es her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte? Aus Trotz hatte sie damals nicht Medizin studiert. Nur um ihm eins auszuwischen. Weil er einfach verschwunden war. Mit einer neuen Frau und einer neuen Familie. Deshalb hatte sie sich für ein Design-Studium entschieden. Ordnung und Schönheit.

Sie riss sich von ihren Gedanken los und kehrte ihrem Spiegelbild den Rücken zu.

„Marie, wo warst du so lange?“ Cathy deutete anklagend auf Maries Tasse. Der Kakao war sicher nicht mehr heiß.

„Ich habe meine Augen gekühlt.“

„Respekt! Du siehst viel besser aus!“

„Cathy, leben wir wirklich ein glückliches Leben?“

Ihre Freundin seufzte:

„Glück. Was bedeutet schon Glück? Ich genieße die Stunden mit meinem Liebhaber und den Rest der Zeit versuche ich zu überleben.“

„Liebst du ihn?“

Nachdenklich rührte Cathy in ihrem Latte Macchiato.

„Liebe ist so ein großes Wort. Ich vergesse bei ihm die Zeit. Er ist vernarrt in mich und wir haben großartigen Sex. Aber ich könnte nie mit ihm zusammenleben. Er hat das Logo seines Fußballvereins als Tattoo auf der Brust!“

Marie verschluckte sich beinahe.

„Das hast du gar nicht erzählt! Ist es etwa ein Neuer? Nicht mehr der Banker?“

„Ja. Nagelneu – er ist zehn Jahre jünger, arbeitet bei BMW am Band. Schichtarbeit. Kein Abitur. Keine Ausbildung. Und ganz schlimm: Fußballfan.“

„Wie bist du denn an den geraten? Mein Gott, Cathy! Du hast einen Mann und ein Kind.“

Ihre Freundin zuckte die Achseln:

„Eine PR-Aktion zur Mitarbeitersuche. Aber vergiss es. Nichts Ernstes. Einfach eine kleine Flucht aus der Realität. – Zurück zum Glück. Nein, ich bin nicht glücklich! Bist du ´s? Da draußen auf dem Land?“

Marie trank einen Schluck des kalten, bitteren Kakaos und strich sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen.

„Ich liebe meine Kinder. Ich habe einen Job, einen Mann. Aber manchmal denke ich, ich lebe ohne wirklichen Sinn. Funktioniere einfach. Marcus’ Tod hat mich echt aus der Bahn geworfen. Liebe ich meinen Mann? Ich weiß es nicht. Das Leben kann so schnell zu Ende sein. – Was ist mit unserer Mexikoreise?“

„Ohne Marcus? Er wollte diese Reise unbedingt. Meinst du, er hat geahnt, dass er bald sterben würde?“

„Vielleicht. Unbewusst. Du weißt, ich hatte wegen dieser Reise einen heftigen Streit mit meinem Mann. Ich finde, wir sollten fliegen. Marcus zu Ehren. Und für ein glücklicheres Leben.“

„Also, wenn du das sagst… ich bin dabei!“ Cathy lächelte verschwörerisch.

„Vielleicht reichen meine Meilen für zwei klitzekleine Upgrades.“

„Hast du was von Tom gehört?“

Cathy scrollte bereits in ihrem iPhone.

„Nein, dabei habe ich ihm von Marcus’ Tod und der Beerdigung geschrieben. Bisher keine Antwort. Du?“

„Nein. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er zu einer Wanderung aufgebrochen ist und sich auf unser Treffen in San Luis Potosí freut. Auch auf seinem Blog – kein neuer Eintrag.“

Plötzlich spürte sie Panik in sich aufsteigen.

„Meinst du, es geht ihm gut?“ Ihre Stimme zitterte.

„Marie, beruhige dich! Es sterben niemals zwei Menschen gleichzeitig. Er ist auf einer Wanderung. Wie oft hören wir nichts von ihm?“

Cathy hat recht. Einatmen, ausatmen. „Er wird mir schreiben!“, versuchte sie sich zu beruhigen.

„Gut, ich hoffe, du hast recht. Manchmal habe ich so komische Vorahnungen.“

Cathy blickte auf. Ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen.

Deshalb ergänzte Marie:

„Ich glaube, Tom braucht uns. Es geht ihm nicht so gut, wie er immer tut.“

„Wir werden ihn bald sehen. Unser Flug geht bereits in zehn Tagen.“

Bei dem Gedanken an die Reise spürte Marie ein Kribbeln im Bauch. Vorfreude vermischte sich mit einer Spur Sorge. Ein beiläufiger Blick auf die Uhr versetzte Marie einen Stich.

„Cathy, ich muss los! Meine Mutter passt nur bis sechs auf die Zwillinge auf, wenn ich zu spät komme und sie ihren Bridge-Abend verpasst, darf ich mir das ewig anhören. Bringst du mich noch zum Bahnhof?“

„Klar.“ Cathy winkte mit ihrer Kreditkarte. In Sekundenschnelle eilte der Kellner herbei

Zum ersten Mal seit Tagen lächelte Marie:

„Also, ich freue mich auf unsere Reise. Das Organisatorische wird sicher kein Problem. Da lehne ich mich mal ganz entspannt zurück.“

Die Vorfreude glitt wie eine warme Sommerbrise über ihre Haut und durchflutete ihren ganzen Körper. Bei dem Gedanken an die Sonne, das Abenteuer und das Wiedersehen mit Tom verspürte sie ein wohliges Kribbeln.

 

Laghu

„Unsere Dimensionen werden sich vermischen. Es steht eine Zeit der Veränderung an. Die Menschen werden einen Entwicklungsschritt hinter sich bringen, der es einigen ermöglicht, mit uns direkt in Kontakt zu treten. Darauf gilt es sich vorzubereiten.“

„Haaaatttschhhiii!“ Alle starrten zu der kleinen Fee der Fülle. Wie eine Hummel schlug sie erschrocken mit ihren Flügeln und ihre Aura wurde von einem zarten Rosa durchzogen. Der Elf auf dem Podium schüttelte den Kopf und setzte seine Ausführungen weiter fort.

Durch das lautstarke Niesen hatte Laghu die Aufmerksamkeit einer männlichen Fee geweckt. Er betrachtete diese füllige Fee. Bei jeder ihrer Bewegungen stoben goldene Sternchen gen Himmel. Die Gesetze der Gravitation schien sie – trotz ihrer Körperfülle – zu überwinden. Mühelos flog sie kreuz und quer.

Er hatte so ziemlich jede Fee der südlichen Hemisphäre bezirzt, doch dieses Exemplar war etwas Besonderes. Elegant schwebte er um all die geistigen Wesen, die fasziniert dem Elfen zuhörten und ihm in schimmernden Lilatönen zustimmten. Sherchai hielt den Elfen für einen Poser, der sich einfach nur wichtig zu machen versuchte. Elfen waren solche Spaßbremsen.

Nun sendete er rotes Licht in Form eines Feuerwerks zu Laghu und kündigte so seine Absichten und seine Ankunft an.

Wie konnte das nur passieren? Ihr Kopf dröhnte und das war für Feen ganz und gar ungewöhnlich. Ebenso wie der Absturz. Ihre Tante ließ sie nun schon eine gefühlte Ewigkeit warten, während sie sich mit dem Rat über den Vorfall austauschte.Sherchai war so witzig gewesen. Er hatte sie auf eine ungewöhnliche Art umgarnt. Komplimente ließen sie immer schwach werden.

Und dann der vergorene Nektar. Er hatte ihn so charmant in lila Blütenköpfe gefüllt und wahre Lobeslieder darauf gesungen.

„Trink, meine Schönste, es ist ein Jahrgang 95 vom Lilienfeld 27, köstliches Aroma“, hatte er verführerisch lächelnd gesagt.

Laghu legte geschmeichelt den Kopf zur Seite. Er war die Reinkarnation von Casanova, wie es schien. Das konnte sie in seiner Arkana-Chronik lesen. Sie nippte am Nektar. Es tat sooo gut, mal über die Stränge zu schlagen. Sie hatte es satt, immer nur Wünsche zu erfüllen, brav ihrer Tante zu folgen und ewige philosophische Gespräche zu führen. Das Leben als Fee musste doch mehr zu bieten haben! Der Alkohol schoss ihr in den Kopf. Farben überschlugen sich vor ihren Augen. Das Gebräu brannte leicht im Hals. Sie lachte laut auf. Fröhlich flatterten ihre Flügel. Tanzen. Singen. Und mehr von diesem Zeug. Das Feenleben war wieder leicht.

Sie lachten und immer wieder füllte Sherchai lila Blütenkelche mit dem süßlich schmeckenden Nektar.

„So, ich werde nun über diese Blumenwiese balancieren.“ Laghu steuerte auf ein Spinnennetz zu, dessen Faden sich glitzernd vom Rosenstrauch bis zur nächsten Eibe spannte. Normalerweise ein Kinderspiel. Nur leider hatte sie ihre Brille weggezaubert, damit Sherchai ihre strahlend grünen Augen bewundern konnte und irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Gleichgewichtsinn. Während sie noch darüber nachdachte, verfehlte sie den Faden, taumelte und stürzte in die Tiefe. Sie hörte noch das Kichern von Sherchai. Alles drehte sich. Furcht überkam sie. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu und mit dem Verlust ihrer Schwingung stürzte sie durch Raum und Zeit.

Rasende Bilder flogen an ihr vorbei. Sie schrie.

Dann landete sie in braunem, klebrigem Schaum. Bevor sie darin unterging, kam eine riesige Schaufel angeschwebt und hob sie empor.

Laghu sah in große, tränenblinde Augen, die ins Leere starrten und sie offensichtlich nicht wahrnahmen. Eine Woge von tiefer Traurigkeit ging von diesen Augen aus, und drang tief in Laghus Innerstes. Marie! Der Name war plötzlich da.

Ein riesiger Schlund öffnete sich vor Laghu. Sie war völlig erstarrt. und konntekeinen Flügel bewegen. Um sie herum war tiefe Nacht. Die Dunkelheit wollte sie verschlingen. Im letzten Moment tauchte das Gesicht ihrer Tante auf.

Sie war zurück im Feenland. Keine Ahnung, was da gerade mit ihr geschehen war. Auch Sherchai wusste es nicht. Wenn sie daran dachte, konnte sie wieder diese unangenehmen Schwingungen in sich spüren. Scham, Angst, Schmerzen. Für eine Fee war das ein riesiges Paket. Das lastete schwer auf ihren Schultern.

3

Reisemut

„Los, das begießen wir jetzt mit Champagner! Bitte zwei Gläser Moët.“

Cathy zog ihre Schuhe aus, seufzte genüsslich und rekelte sich in dem breiten Sitz der Business Class.

Marie blickte sich um. Ihr Innerstes war in Aufruhr. Sie hatte das Gefühl als krabbelten tausende kleiner Ameisen in ihrem Bauch. Übel war ihr auch. Sie versuchte, sich mit positiven Gedanken zu beruhigen. Alles wird gut! Ich bin ruhig und gelassen. Es geht mir in jeder Hinsicht besser und besser. LÜGE!, schrie eine Stimme in ihr. Du wirst sterben! Raus aus diesem Flugzeug!

„Hallo? Erde an Marie. Was ist los? Du machst ein Gesicht, als müsstest du zu deiner Hinrichtung. Dabei sind wir auf den Weg nach Mexiko und zwar so komfortabel wie nur möglich.“ Cathy grinste selbstzufrieden und hob das Glas zu Marie, um mit ihr anzustoßen.

„Kein Alkohol. Ich habe Cocculus unter der Zunge. Das beste homöopathische Mittel gegen Reisekrankheit.“

„So ein Quatsch. Jetzt trinkst du einen Champagner, nimmst nach dem Essen eine Tablette und alles ist gut. Schatzi, wir fliegen in einen Erholungsurlaub nach Mexiko und nicht zu einer Expedition an den Nordpol.“

Marie zögerte. Wie jedes Mal im Flugzeug hatte sie den Absturz vor Augen: Verdrehte Körperteile im Dschungel, Schmerzen, Blut und Chaos.

„Gut! Ich trinke Champagner und wenn es schlimmer wird, nehme ich deine Pharmaziekeule. Aber nur für Marcus.“ Sie holte tief Luft.

„Ich bin ewig nicht mehr geflogen.“

Cathy lächelte zufrieden:

„Dies ist der Start. Ab heute beginnen wir richtig zu leben.“ Marie nippte und spürte das perlige Kribbeln am Gaumen. Nach einem großen Schluck wurde ihr heiß.

„Was haben wir dann bisher gemacht?“, fragte Marie, während sie das Glas leerte. Wie von Zauberhand fühlte sie sich in Watte gepackt.

„Wir vegetieren dahin! Jeden Tag im Hamsterrad. Keine Zeit für nichts. Ich spüre mich schon gar nicht mehr. Wenn mich einer fragt: ‚Wie geht es dir?‘ – Keine Ahnung! Wer bin ich eigentlich? Und sag mir nicht, das sei bei dir anders … “

Marie seufzte:

„Nein. Ich funktioniere, genau wie alle anderen berufstätigen Mütter. Es ist so lange her, dass ich von Küssen erregt war und völlig verzaubert auf rosaroten Wolken geschwebt bin“

Sie starrte aus dem Fenster. Waren sie schon in der Luft? Nein. Die Stewardess eilte beflissen herbei und nahm das leere Glas mit. Ein Film über die Sicherheitsvorkehrungen des Flugzeuges wurde auf den Bildschirmen gezeigt. Kaum einer der Passagiere gönnte dem einen Blick. Mit dem Vibrieren der Maschinen verschwand die wohlige Wirkung des Champagners. Marie klammerte sich an die Armlehnen. Start und Landung – die gefährlichsten Phasen des Fluges. Wie konnte Tom nur ständig um die Welt tingeln? Ach, wäre sie jetzt in ihrem Kräutergarten. Der Duft von Pfefferminz und Rosmarin. Die Geschwindigkeit drückte sie in den Sessel. So bequem er auch war, das änderte nichts. Sie rang nach Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Alles wird gut! Dies ist nicht unser Ende. Bitte, lieber Gott, lass uns heil landen und ich verspreche dir, keine faulen Kompromisse. Ich werde das Beste aus mir machen, aber bitte lass mich diesen Flug überstehen.

„Marie, Marie … Marie!“

Jemand zupfte sie am Arm. Widerwillig öffnete sie die Augen.

„Hier. Nimm eine Tablette. Dann kannst du schlafen.“

Marie schluckte folgsam die kleine blaue Pille, die Cathy ihr gegeben hatte und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Wehmütig betrachtete sie die kleine Bar der Business Class. So eine Schande, sie würde auf all diese Köstlichkeiten verzichten.

Cathy strich ihr über den Arm und hielt ihre Hand. Müdigkeit stülpte sich über sie wie ein dunkler Sack. Willenlos gab sie sich dem Schlaf hin. Ein letzter Gedanke blitzte noch auf: Bitte, liebe Engel, passt auf meine Kinder auf.

Völlig benommen öffnete Marie langsam ihre Augen. Stimmen störten ihren Traum. Ein Rütteln an ihrem Arm. Verschwommen sah sie die Umrisse einer Frau. Wo war sie?

„Marie, aufwachen! Es gibt Frühstück! Wir fliegen doch nicht Business Class, damit du den ganzen Flug verschläfst.“

Fliegen? Sie flog? Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Alles war ruhig. Das Sonnenlicht erhellte das Flugzeug und der Duft von Kaffee zog bereits durch den Gang. Marie entspannte sich wieder. Sie versuchte ihr Bett wieder in einen Sitz zu verwandeln. Sofort war eine Stewardess zur Stelle. In Nullkommanichts waren Matratze und die Bettdecke verstaut. Marie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr Sitz zum Bett umgebaut worden war. Cathy schien froh, endlich wieder eine Gesprächspartnerin zu haben. Sie plapperte ohne Unterlass.

„Also, wir landen bald in Dallas zwischen. Schau nicht so erschrocken wie ein Kaninchen! Dort werden wir im Day-Spa einfallen. Maniküre, Pediküre, endlich wieder eine ordentliche Frisur. Wer will schon total verstrubbelt in Mexiko einlaufen? Ich habe vorab ein wenig gegoogelt. Unser Hotel ist traumhaft. Das muss man Marcus lassen. Tom wohnt im Hostel, aber falls wir zu lange feiern, kann er sicher in unserer Suite übernachten.“

Marie blickte auf ihre Hände. Sie waren von der Gartenarbeit und dem Reiten rissig und kein Nagel schien heil zu sein. Zweifelnd hielt sie Cathy ihre Finger unter die Nase:

„Maniküre – ich weiß nicht …“

„Oh doch. Gerade deine Nägel haben es nötig. Und schau, hier in dem kleinen Beautytäschchen ist eine Handcreme.“ Tatsächlich lag auf dem kleinen Regal neben ihr ein Täschchen mit allerlei Zubehör. Sogar Parfum.

„Oh mein Gott! Was das alles kostet?!“ Ihr Alltag war auf Effizienz und sparsames Wirtschaften ausgerichtet und nun dieser Überfluss. Es fühlte sich nicht richtig an.

„Das ist die Wiedergutmachung für den Stress, den ich durch diese Pfeifen von Vorgesetzten habe. Also mach dir deswegen mal keine Sorgen. Das Schlimme ist, dass man sich in rasender Geschwindigkeit an Luxus gewöhnt und dann ist es hart, wieder zurückzustecken. Aber bei deiner Flugangst wird das wohl nicht so schnell vorkommen. Umso mehr freue ich mich, dass wir das hier jetzt wirklich durchziehen.“ Sie stupste Marie mit der Schulter an. Ihr wurde warm ums Herz. Cathy war einfach ein Segen.

Marie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Frisur glich dem Helm von Darth Vader. Mit einer Grimasse drehte sie sich zu Cathy, die neben ihr saß:

„Die Macht ist mit dir, Luke Skywalker. Rschhhhhh.“

Cathy erblickte ihre Freundin und brach in Gelächter aus.

„Schnucki – dafür könnte ich es mit jeder Frau der Ewing-Familie aus Dallas aufnehmen.“ Spektakuläre Locken umrahmten ihr Gesicht. Voller Stolz zeigte sie ihre feuerroten Nägel.

Marie prustete:

„Was ist nur aus der klassischen Cathy geworden? Also auf, jetzt kaufen wir Cowboystiefel und Jeans. Dein Jil-Sander-Outfit ist hier echt unpassend.“

„Zum Glück verstehen die lieben Beautyengel kein Deutsch. Great, thank you. Wonderful.“ Mit diesen Worten reichte Cathy der irritiert dreinblickenden Stylistin ihre Kreditkarte.

„Und nun?“, fragte Marie, als sie den Beauty-Salon des Flughafens verlassen hatten und auf einen endlos langen Gang blickten.

„Die Lounge ist langweilig in Dallas. Also würde ich vorschlagen, wir essen so richtig ungesund! Fett, Alkohol und Zucker. Amerikanischer als das Klischee. Es gibt ein großartiges American Diner.“ Cathy marschierte los. Marie folgte zögernd.

Als sie die Speisekarte in der Hand hielt, meinte sie:

„Cathy, du weißt, ich lebe größtenteils vegetarisch. Falls ich mal Fleisch esse, dann nur Bioqualität, damit ich weiß, dass die Tiere artgerecht gehalten wurden. Außerdem vertrage ich keine Antibiotika.“

„Dann nimmst du halt Pommes, frittierte Zwiebelringe und ein leckeres Bier. Wir starten in ein Abenteuer und vielleicht sogar in ein neues Leben. Also, da musst du deine Bio-Komfortzone schon mal verlassen.“

Marie blickte auf ihre Fingernägel. French Manicure. Der weiße Streifen und der rosa schimmernde Nagellack kamen ihr schon vor wie ein gewaltiger Schritt. Und das Fliegen erst. Die ganze aufregende Reise.

„Ich nehme den Maiskolben und ein Bier. Dann verschlafe ich vielleicht den nächsten Flug.“

Wenn Marie nur daran dachte, zitterten ihre Knie. Womöglich würden sie mit einer kleinen, alten Maschine weiterfliegen und hinter der mexikanischen Grenze abstürzen.

Hastig kippte sie das Bier hinunter und pickte vereinzelte Maiskörner aus dem Kolben, während sich ihre Freundin einen Halbpfünder gönnte. Immer wieder tupfte Cathy sich das Fett mit einer Serviette aus den Mundwinkeln. Maries Nervosität stieg mit jeder Minute.

Als Cathy mit dem Essen fertig war, schob sie Marie die Tablettenpackung Vomex zu:

„Hier! Gönn dir einen benebelten und angstfreien Flug. Danach kannst du die Pharmazie wieder verteufeln.“

 

Laghu

In Laghu ´s Kopf drehte sich alles. Die Energie auf der Erde und die Nähe zu den vielen Menschen fühlte sich schwer an. Ein wenig erdrückend. Ganz nah bei Marie – der Menschenfrau – ging es ein wenig besser. Doch seitdem sie an diesem seltsamen Ort waren, wo große Stahlungetüme sich in die Luft erhoben - die Menschen konnten ja nicht einmal selbst fliegen - umgab sie eine unruhige Schwingung. Nervös und zerstreut. Laghu hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie flog unsichtbar für die Erdenbewohner in Bögen, als hätte sie wieder dem vergorenen Nektar gefrönt.

Die Gedanken durchströmten sie unkontrolliert – auch so ein seltsames Phänomen auf der Erde. Zuhause konnte sie viel klarer denken. Und nun hatte sie also: Eine Mission? Dass ich nicht lache! Nur, weil sie durch reinen Zufall in den Kakao der Menschenfrau gestürzt war, sollte sie jetzt an sie gebunden sein?

Pah. Doch das Gremium hatte entschieden. Alles war ein Zeichen. Das hieß aber doch noch lange nicht, dass sie hier Zeit vergeuden musste. Es war ein Zeichen, dass sie endlich Sherchai gefunden hatte. Doch der hatte sich schön verkrümelt, als sie die Contenance und wohl auch die Schwingungsfrequenz verlor und ins Reich der Menschen stürzte. Feigling.

Und nun war sie gefangen in diesem Flug-Ding. Und ihr Schützling hatte Angst. Laghu verstand es nicht ganz. Absturz? Sie sah Maries Bilder in ihrem Kopf. Grausam. Verdrehte Körperteile. Blut und Tod. Aber sie - Laghu - könnte sich ja an den Ankunftsort beamen. Dann würde sie es sich in einer Palme gemütlich machen und später an diesem Ort, den sie Mexico nannten, die Menschenfrau Marie empfangen. Das war doch mal eine Idee.

Also: Hasta luego. Kam ihr in den Sinn. Keine Ahnung, was das wieder bedeutete…

Irgendeine Energie hielt sie zurück. War sie gefesselt? An diese Frau fixiert? Laghu dachte nach. Jedes System konnte überwunden werden und auch energetische Fesseln ließen sich lösen. Sie konzentrierte sich auf ihr Inneres. In ihrem Kern sammelte sie Kraft und bündelte sie zu einer regenbogenfarbenen Kugel. Dann erschuf sie in ihren Gedanken ein leuchtendes Schwert, das blitzschnell und mit präziser Wucht alle Fesseln durchtrennte. Laghu wollte sich in ihre Kugel zurückziehen um schließlich wieder am Ankunftsort zu erscheinen.

Mit voller Wucht wurde sie zurückgeschleudert und fand sich in einem langen, braunen Gestrüpp wieder. Dabei traf sie auf eine helle Energie., die sie durchströmte und am Genick packte. Als Laghu wieder klar sehen konnte, saß sie auf der Armlehne von Maries Sessel.

„Was suchst du hier?“ Die fein klingende Stimme war streng. Sie gehörte zu einem in gleißendes Licht gehüllten Engel.

Laghu atmete erleichtert auf.

„Engel sind also auch auf der Erde. Wer hätte das gedacht!“

Das Lichtwesen stützte die Arme in die Hüften.

„Natürlich. Ich bin ihr Schutzengel. Und nun erklär DU mir mal, was eine Fee von Marie möchte?!“

Laghu ging mit ihrem Gesicht ganz nah an das Engelchen heran. Nase an Nase funkelte sie es an.

„Nichts! Ich wollte hier weg. Aber irgendetwas hält mich zurück.“

Der Engel schoss durch sie hindurch, was ein leichtes Kribbeln der Freude in Laghu verursachte. Sie drehte sich um.

„Magie – würde ich sagen. Ich sehe einen Zauber.“

Der Engel runzelte seine Stirn, was bei einem so strahlenden Wesen putzig wirkte. Als könne er ihre Gedanken lesen, rümpfte er die Nase:

„Auch wir sind nicht allwissend. Also, was willst du hier?“

„Weg. Sagte ich doch schon. Kannst du mir helfen? Anscheinend ist dir meine Anwesenheit nicht recht.“

Der Engel verschwand. Wie unhöflich! Dabei hielten die Menschen doch so viel auf Engel. Sie hatte gesehen, dass Marie ein Kartenset mit diesen Engelsgestaltenin ihrer Handtasche aufbewahrte. Laghu fragte sich, warum Engel einen so guten Ruf in der Menschenwelt hatten. Da leuchtete das Licht wieder vor ihr auf.

„Du hast Glück. Der Zauber, der dich mit Marie verbindet, schadet euch nicht. Im Gegenteil, ihr werdet euch befruchten. Sorry, ich kann dir leider nicht helfen. Du wirst wohl erst mal bei ihr ausharren müssen. Ich muss jetzt los. Diese negativen Gedanken, die Marie ständig in die Welt schickt, wollen neutralisiert werden. Sonst passiert tatsächlich noch ein Unglück.“