Leere Häuser - Brenda Navarro - E-Book

Leere Häuser E-Book

Brenda Navarro

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Beschreibung

Der auffällig hübsche dreijährige Daniel verschwindet von einem Spielplatz. Nur für kurze Zeit war seine Mutter in die Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon vertieft gewesen. Eine Unbekannte hat den Jungen mitgenommen und sich damit endlich ihren Kinderwunsch erfüllt. Sie nennt ihn Leonel. Beide Frauen erzählen von ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung und ihren Schuldgefühlen. Beide reflektieren ihre Liebesbeziehungen und Lebensträume. Beide leiden unter dem psychischen Druck ihrer familiären Umgebung. Daniels in bürgerlichen Verhältnissen lebende Mutter ist sich nicht sicher, ob sie das verlorene Kind wirklich gewollt hatte. In ihrem aufgezwungenen Familienleben fühlt sie sich trotz Momenten des Glücks allein und überfordert. Die aus einer sozial benachteiligten Familie stammende Kidnapperin hingegen ist entschlossen, ihre Chance zu nutzen. Dank des ersehnten Kindes und ihrer eigenen Süßigkeitenproduktion, die ihr finanzielle Unabhängigkeit verschafft, will sie sich gegenüber ihrer bösartigen Mutter und ihrem gewalttätigen Liebhaber behaupten. Aber die Träume scheitern. Brenda Navarro gelingt es in ihrem psychologisch raffiniert komponierten Roman, einer von Machismo geprägten Gesellschaft ungeschönt den Spiegel vorzuhalten und die Rollen von Frauen und Müttern grundsätzlich zu hinterfragen.

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Seitenzahl: 210

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www.lenos.ch

Brenda Navarro

Leere Häuser

Roman

Aus dem Spanischen

von Stephanie von Harrach

Die Autorin

Brenda Navarro, geboren 1982 in Mexiko-Stadt, studierte Soziologie und Feministische Ökonomie an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko und erwarb einen Master in Gender, Women and Citizenship Studies an der Universität Barcelona. Sie war als Drehbuchautorin, Reporterin und Redakteurin tätig, arbeitete für Menschenrechtsorganisationen und forscht zu Frauenarbeit und Migrationsfragen. Ihr schriftstellerisches Werk umfasst Erzählungen, Gedichte und zwei Romane, der Debütroman Casasvacías wurde 2020 mit dem Premio Tigre Juan ausgezeichnet und in elf Sprachen übersetzt. Brenda Navarro lebt in Madrid.

brendanavarro.com.

Die Übersetzerin

Stephanie von Harrach, geboren 1967 in Köln, studierte Literatur- und Medienwissenschaften in Frankfurt am Main. Sie war viele Jahre als Lektorin für deutschsprachige und internationale Literatur bei verschiedenen Verlagen tätig. Heute lebt und arbeitet sie in Zürich. Zu ihren Übersetzungen aus dem Spanischen gehören einige Bücher des Argentiniers Jorge Bucay sowie Die Kinder derMassai von Javier Salinas. Aus dem Englischen übersetzt hat sie u. a. Im Schatten des Banyanbaums von Vaddey Ratner und Young Blood von Sifiso Mzobe.

Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.

Titel der spanischen Originalausgabe:

Casas vacías

Copyright © Brenda Navarro, 2018

c/o Indent Literary Agency, www.indentagency.com

E-Book-Ausgabe 2024

Copyright © der deutschen Übersetzung

2024 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: lynea/Shutterstock

eISBN 978 3 03925 715 7

Dieses Buch ist für Nacho Bengoetxea.

Danke, Dana und Alba, dass es euch gibt.Und danke auch an Yuri Herrera.

Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Erster Teil

So weit ist es nun gekommen, dass ichunterm Baum sitzeam Ufer des Flussesim sonnigen Morgen.Das Ereignis ist ohne Belang,es geht nicht in die Geschichte ein.

Wisława SzymborskaFragment aus

»Kann auch ohne Überschrift bleiben«*

*Alle Übersetzungen, wenn nicht anders vermerkt, aus: Wisława Szymborska. Gesammelte Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius und Renate Schmidgall. Berlin: Suhrkamp 2023.

Daniel verschwand drei Monate, zwei Tage, acht Stunden nach seinem Geburtstag. Er war drei Jahre alt. Er war mein Sohn. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, war zwischen der Wippe und der Rutsche im Park, in den ich nachmittags immer mit ihm ging. An mehr erinnere ich mich nicht. Oder doch: Ich war traurig, weil Vladimir mir angekündigt hatte, dass er geht, weil er das Ganze nicht zu billig werden lassen wollte. Es billig werden lassen, als würde man etwas Wertvolles für zwei Pesos verscherbeln. Das war ich, als ich meinen Sohn verlor: die Frau, die sich von Zeit zu Zeit, alle paar Wochen, von einem flüchtigen Liebhaber verabschiedete, der sie mit wohlfeilem Sex abspeiste wie mit kleinen Almosen, um sich seinen Abgang zu erleichtern. Die reingelegte Käuferin. Der Reinfall einer Mutter. Diejenige, die nicht gesehen hat.

Ich habe wenig gesehen. Was habe ich gesehen? Ich durchkämme das Geflecht von Erinnerungsbildern nach jenem noch so kleinen Faden, der mich, wenigstens für eine Sekunde, fassen lässt, wann es passiert ist. In welchem Moment, ab wann habe ich Daniel nicht mehr gesehen? In welchem Moment, ab welchem Augenblick, ab welchem unterdrückten Schrei eines dreijährigen Körpers ist er verschwunden? Was ist passiert? Ich habe wenig gesehen. Und obwohl ich unter den Menschen herumgeirrt bin und immer wieder seinen Namen gerufen habe, war ich taub. Sind Autos vorbeigefahren? Waren noch andere Leute da? Welche? Wer? Ich habe meinen dreijährigen Sohn nie wiedergesehen.

Nagore hatte um zwei Uhr Schulschluss, aber ich habe sie nicht abgeholt. Ich habe sie nie gefragt, wie sie an jenem Tag nach Hause gekommen ist. Tatsächlich haben wir nie darüber gesprochen, ob irgendjemand an diesem Tag zurückgekommen ist, vielleicht sind mit den vierzehn Kilo meines Sohnes auch wir alle verschwunden und nie mehr zurückgekehrt. Bis heute gibt es kein Bild in meinem Kopf, das mir Antwort darauf geben könnte.

Dann, das Warten: ich zusammengesackt auf einem schmuddeligen Stuhl bei der Staatsanwaltschaft, wo Fran mich später abgeholt hat. Wir warten beide, wir warten immer noch auf diesem Stuhl, auch wenn wir physisch ganz woanders sind.

Wie oft hatte ich mir gewünscht, sie wären tot. Ich schaute in den Badezimmerspiegel und stellte mir vor, wie ich sie beweinte. Aber ich habe nicht geweint, ich unterdrückte meine Tränen und setzte wieder eine neutrale Miene auf, für den Fall, dass ich es beim ersten Anlauf nicht richtig hinbekommen hätte. Ich stellte mich also noch mal vor den Spiegel und fragte: Gestorben? Was soll das heissen, gestorben? Wer ist gestorben? Alle beide? Waren sie zusammen? Sind sie wirklich, wirklich tot, oder ist es bloss ein Hirngespinst, das mich zum Weinen bringen soll? Wer bist du, mir zu sagen, dass sie tot sind? Wer von ihnen, welcher von beiden? Und die einzige Antwort, die kam, war ich selbst, die ich vor dem Spiegel stand und hartnäckig wiederholte: Wer ist gestorben? Es möge bitte jemand gestorben sein, damit ich nicht diese Leere spüre! Und angesichts des schweigenden Echos antwortete ich mir selbst: alle beide, Daniel und Vladimir. Ich habe sie gleichzeitig verloren, und irgendwo auf der Welt leben beide weiter, ohne mich.

Du stellst dir alles Mögliche vor, nur nicht, dass du eines Tages aufwachst mit der Last einer verschwundenen Person. Was ist eine verschwundene Person? Es ist ein Gespenst, das dich verfolgt wie ein schizophrener Wahn.

Obwohl ich nie eine dieser Frauen sein wollte, die die Leute auf der Strasse mitleidig anschauen, kehrte ich oft in den Park zurück, beinahe täglich, um genau zu sein. Ich setzte mich auf dieselbe Bank und rief mir jede Regung ins Gedächtnis: Telefon in der Hand, die Haare über dem Gesicht, zwei oder drei stechfreudig um mich herumschwirrende Mücken. Daniel und sein dümmliches Kichern ein, zwei, drei Schritte entfernt. Zwei, drei, vier Schritte. Blick nach unten. Zwei, drei, vier, fünf Schritte. Da. Ich schau zu ihm rauf. Ich seh ihn und widme mich wieder dem Telefon. Zwei, drei, fünf, sieben Schritte. Keiner. Er fällt. Steht wieder auf. Vladimir liegt mir im Magen. Zwei, drei, fünf, sieben, acht, neun Schritte. Und ich vollziehe jeden Schritt mit, jeden Tag: zwei, drei, vier … Und erst als mich Nagore beschämt anstarrte, weil ich schon wieder da stand, zwischen Wippe und Rutsche, und den Kindern den Weg versperrte, erst da begriff ich: Ich war eine dieser Frauen, die die Leute auf der Strasse mitleidig und voller Angst anschauen.

Andere Male suchte ich ihn still von der Bank aus, und Nagore sass, die Beine übereinandergeschlagen, neben mir und sagte keinen Ton, als wäre ihre Stimme an irgendetwas schuld, als wüsste sie bereits jetzt, dass ich sie hasste. Nagore war der Spiegel meiner Abscheulichkeit.

Warum bist nicht du verschwunden?, sagte ich einmal zu Nagore, als sie aus der Dusche nach mir rief, damit ich ihr das Handtuch vom Badezimmerregal runterreichte. Sie sah mich mit ihren blauen Augen an, völlig verdutzt, dass ich es ihr direkt ins Gesicht gesagt hatte. Ich schloss sie sofort in die Arme und bedeckte sie mit Küssen. Ich streichelte ihr nasses Haar, das mir Gesicht und Arme nässte, wickelte sie ins Handtuch und drückte sie an meinen Körper, und wir weinten zusammen. Warum war nicht sie verschwunden? Warum haben all die Opfer nichts gebracht?

Ich hätte es sein sollen, sagte sie später einmal zu mir, als ich sie zur Schule gebracht hatte. Ich beobachtete, wie sie auf ihre Klassenkameraden zulief, und wollte sie nie wiedersehen. Ja, sie hätte es sein sollen, aber sie war es nicht. Jeden Tag ihrer Kindheit kehrte sie wieder nach Hause zu mir zurück.

Es ist nicht immer dieselbe Art von Traurigkeit. Nicht jedes Mal wachte ich mit seelischem Magengrimmen auf, aber es brauchte nur etwas zu geschehen, und sofort musste ich schlucken und wurde mir der Wichtigkeit des Atmens bewusst. Atmen ist kein mechanischer Akt, es ist eine stabilisierende Handlung; wenn du ins Straucheln gerätst, weisst du, dass du atmen musst, um dich im Gleichgewicht zu halten. Leben geschieht ganz von selbst, aber atmen muss man lernen. Also zwang ich mich, Schritt für Schritt. Wasch dich. Kämm dich. Iss. Wasch dich, kämm dich, iss. Lächle. Nein, nicht lächeln. Du lächelst nicht. Atme, atme, atme. Weine nicht, schrei nicht. Was tust du, was tust du? Atme. Atme, atme. Vielleicht gelingt es dir morgen, dich vom Sofa aufzurappeln. Morgen ist immer ein anderer Tag, ich aber lebte offenbar immer denselben, denn es gab kein Sofa, von dem ich mich hätte erheben müssen.

Manchmal rief Fran an, um mich daran zu erinnern, dass wir noch ein anderes Kind hatten. Nein, Nagore sei nicht meine Tochter, sagte ich zu ihm. Nein. Aber wir kümmern uns um sie, wir bieten ihr ein Zuhause, sagte er zu mir. Nagore ist nicht meine Tochter. Nagore ist nicht meine Tochter. (Atme. Mach was zu essen, sie müssen essen.) Daniel ist mein einziges Kind, und wenn ich ihm was zu essen machte, spielte er auf dem Boden mit Spielzeugsoldaten, und ich brachte ihm Karotten mit Zitrone und Salz. (Er hatte hundertfünfundvierzig Soldaten, alle grün, alle aus Plastik.) Ich fragte ihn, was er spielte, und er in seinem unverständlichen Brabbeln sagte, Soldaten, und wir beide vernahmen ihren Schritt auf dem grossen Marsch. (Das Öl qualmt, die Nudeln brennen an. Es ist kein Wasser im Mixer.) Nagore ist nicht meine Tochter. Daniel spielt nicht mehr mit den Soldaten. Es lebe der Krieg! Oft riefen sie mich aus der Schule an und erinnerten mich daran, dass Nagore auf mich wartete und sie bald schliessen mussten. Tut mir leid, sagte ich, obwohl mir ein »Nagore ist nicht meine Tochter« auf der Zunge lag, und ich legte empört auf, weil sie mir eine Mutterschaft abverlangten, um die ich nie gebeten hatte. Und in einem unterdrückten Schluchzen, das in einen Erstickungsanfall mündete, flehte ich darum, Daniel zu sein und mit ihm verlorengehen zu können, stattdessen aber verflog der Nachmittag nur so, bis Fran wieder anrief, um mich daran zu erinnern, dass ich mich um Nagore kümmern müsse, weil sie auch meine Tochter sei.

Vladimir kehrte einmal zurück, ein einziges Mal. Wahrscheinlich aus Mitleid, aus Pflichtgefühl, morbider Neugier. Er fragte mich, worauf ich Lust hätte. Ich küsste ihn. Er umsorgte mich einen Nachmittag lang, als würde ich ihm etwas bedeuten. Er berührte mich behutsam, als hätte er Angst, so zögerlich wie jemand, der nicht weiss, ob er die frisch geputzte Glasscheibe berühren darf. Ich nahm ihn mit in Daniels Zimmer, und wir schliefen miteinander. Schlag mich, schlag mich, bis ich schreie, wollte ich ihm sagen. Aber Vladimir versicherte sich bloss, ob es mir gutgehe und ob ich etwas brauchte. Ob ich mich wohl fühlte. Ob ich aufhören wolle. Ich will, dass du mich schlägst, du musst mir geben, was ich dafür verdient habe, Daniel verloren zu haben, schlag mich, schlag mich, schlag mich. Ich habe es nicht gesagt. Später kam er mir schuldbewusst mit dem nie gemachten Vorschlag, dass wir hätten heiraten sollen. Dass er … Egal. Dass er mir kein Kind gemacht hätte?, reagierte ich auf seine Verlegenheit, seine Angst, etwas Verfängliches zu sagen. Dass er mich und unser Kind nicht in irgendeinen Park mitgenommen hätte? Nein. Kein Kind. Dass er mir ein Leben ohne mütterliches Leid ermöglicht hätte? Ja, vielleicht das, antwortete er, als ich es ihm nahelegte, und dann, flüchtig, wie er war, ging er und liess mich wieder allein.

An dem Tag kam Fran und brachte Nagore zu Bett, und ich wollte, dass er mir nahekommt und merkt, dass meine Vagina nach Sex riecht. Und dass er mich schlägt. Aber Fran hat nichts gemerkt. Wir fassten uns schon lang nicht mehr an, nicht mal ein beiläufiges Streifen.

Fran spielte abends vor dem Einschlafen für Nagore Gitarre. Ich hasste ihn, ich verzieh ihm nicht, dass er es wagte, ein Leben zu haben. Er ging arbeiten, bezahlte die Rechnungen, spielte den Guten. Aber was für eine Art von Güte steckt in einem Mann, der nicht jeden Tag darunter leidet, seinen Sohn verloren zu haben?

Nagore kam allabendlich, pünktlich um zehn nach zehn, um mir einen Gutenachtkuss zu geben, und ich vergrub mich in den Kissen und tätschelte ihr zur Antwort den Rücken. Was für eine Art von Güte steckt in jemandem, der Liebe einfordert, indem er Liebe gibt? Keine.

Nagore verlor ihren spanischen Akzent, kaum dass sie in Mexiko angekommen war. Sie ahmte mich nach. Sie war wie ein Insekt, das aus seiner Verpuppung schlüpfte und die Flügel ausbreitete, damit wir ihr beim Fliegen zusehen konnten. Sie erstrahlte in einer Farbenpracht, als hätte der elterlich gesponnene Kokon sie bloss auf das reale Leben vorbereitet. Sie entwuchs der Kindheit, überwand ihre Traurigkeit. Nach Daniels Verschwinden stutzte ich ihr die Flügel. Ich würde nicht zulassen, dass etwas stärker strahlte als er und die Erinnerung an ihn. Wir sollten das gerahmte Familienfoto sein, das intakt bleibt, selbst wenn das traurige Flattern eines Insekts es zu Fall bringt.

Fran war Nagores Onkel, seine Schwester hatte sie in Barcelona zur Welt gebracht. Fran und seine Schwester stammten aus Utrera. Beide hatten die Welt durchstreift, bevor sie entschieden, sich niederzulassen und in Familien zu verewigen.

Die Schwester starb durch die Hand ihres Ehemanns, weshalb Fran uns die Fürsorge für Nagore auflud. Ich wurde Mutter eines sechsjährigen Mädchens, während in meinem Bauch Daniel heranwuchs. Eigentlich war ich keine Mutter, und das war das Problem. Das Problem ist, dass ich immer noch am Leben bin.

Es gab Momente, da wollte ich eine dieser Mütter sein, die mit schweren Füssen die Strassen abklappern. Rausgehen, um Flugblätter mit Daniels Konterfei aufzuhängen, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Gespräch um Gespräch. Manchmal, ganz selten, wollte ich auch Nagores Mutter sein, ihr das Haar bürsten, ihr Frühstück machen, sie anlächeln. Aber ich war wie erstarrt, lethargisch, funktionierte manchmal rein aus Instinkt. Viel öfter wollte ich Amara sein, Frans Schwester, und die Verantwortung, über zwei fremde Leben zu wachen, an sie abtreten. Wollte die Verruchte, die Notleidende, die zu Unrecht Ermordete sein. Nicht gebären. Nicht austragen, nicht die lebenerschaffenden Zellen produzieren. Nicht Leben, nicht Quelle sein, nicht zulassen, dass der Mythos Mutterschaft sich durch mich fortsetzt. Daniels Möglichkeiten beschneiden, solang er noch in meinem Bauch war, Nagore einsperren, bis sie aufhört zu atmen. Das Kissen sein, das sie im Schlaf erstickt. Die Wehen rückgängig machen, durch die sie beide auf die Welt gekommen sind. Nicht gebären. (Atme, atme, atme.) Nicht gebären, denn sind sie erst einmal auf der Welt, ist die Mutterschaft für immer.

Sollte ich jemals Kind gewesen sein und das Recht haben, mich daran zu erinnern, dann waren es Geigen, die mich in jenen Zustand von Erfüllung versetzt haben, den ich nicht an Nagore weitergeben konnte. Geigen. Die Geigen im Haus meiner Eltern, während die Sonne durchs Fenster schien und das Wohnzimmer erhellte, in dem ich spielte. Geigen, die Begleitmusik zu meinen Spielen. Eines Tages wachte ich in der festen Überzeugung auf, dass Nagore Geige lernen sollte. Ich erkundigte mich nach Privatlehrern, wir gingen in die Stadt, um uns einen Überblick über die verschiedenen Modelle und Preise zu verschaffen. Wir fragten nach den Unterschieden, lauschten den Ausführungen, ohne sie zu verstehen, taten aber so als ob. Nagore griff freudig nach meiner Hand, lächelte und strahlte etwas Kindliches aus. Ja, Geigen. Fran zog zwar die Augenbrauen hoch, willigte aber ein und veranlasste sogar den heimischen Privatunterricht. Er gab mir einen Zettel mit dem Stundenplan und der Telefonnummer, unter der ich den ersten Termin bestätigen sollte. Ich klebte ihn an den Kühlschrank. Es hat niemals Geigen im Haus gegeben.

Und was, wenn wir zu den Grosseltern gehen, ins weisse Haus in Utrera?, fragte Nagore. Nach Utrera gehen, wo ich doch meinen Sohn verloren habe? Ich gab ihr eine Ohrfeige. Und leugnete es umgehend. Niemals wäre ich imstande, ein kleines Mädchen zu schlagen.

Daniel kam an einem 26. Februar auf die Welt. Sternzeichen Fische, dachte ich. Fran war es egal. Fische sind schwierig, sie leiden viel und neigen erst recht zum Drama. Widder hätte er sein sollen. Ich wollte immer ein unabhängiges Kind. Daniel wog zwei Kilo und neunhundert Gramm, gesunde Lunge, ein Apgar-Wert von 8. (Atme, atme, atme …) Daniel war Fische und hatte weisse, fast durchscheinende Haut … (Atme, atme, atme!) Daniel war Fische, wog zwei Kilo, fast drei, weisse Haut, durchscheinend, aber Fische, Fische zu sein ist nicht gut … (Atme, atme, atme!, atme.) Daniel war Fische, er war mein Sohn, Daniel war, er war mein Sohn. Ist mein Sohn … (Atme, at… nein, nein, ich will nicht atmen.) Daniel ist mein Sohn, und ich will wissen, wo er ist.

Ich verdiene es nicht, zu atmen. Ich atme. Atmen ist meine Strafe.

Fran, wie wenig bleibt von dem, was wir hatten, ein paar armselige Brotkrümel, die einem aus dem Mund fallen, weil man alles auf einmal reingestopft hat. Fran, wie wenig ich über ihn weiss und er über mich. Wie konnten wir es wagen, Eltern zu werden? Warum? Fran, so wenig gemeinsame Zeit und ein so riesiges Unglück. Fran, der Stoiker, der Starke, der Harte, das präzise Uhrwerk, der Massvolle. Der Massvolle. Der Idiot. Es gibt Menschen wie Fran und mich, die sterben sollten, sowie sich zeigt, dass sie nicht zu Eltern taugen.

Als natürliche Auslese.

Erst als Nagore wegging, merkte ich, dass ich sie liebte, vorher nicht.

Fran wollte keine Kinder. Oder doch, aber nicht sofort. Wozu? Deshalb ejakulierte er auf meine Beine. Ich mochte es, wenn er das tat. Sein weisser Samen brachte meine braune Haut zum Leuchten. Vladimir benutzte ein Kondom. Wie dünn die elastische Schicht zwischen uns war und wie entschieden seine Ablehnung der Fruchtbarkeit! Diese Entschlossenheit, eine Barriere zwischen seiner und meiner Haut zu errichten. Dass Fran mich mit seiner feuchten Eichel berührte, gab mir das Gefühl, dass er mich liebte. Und die Liebe, so trügerisch, so fiebrig, lässt den Samen von den Beinen in die Gebärmutter gelangen und von der Gebärmutter direkt ins Unglück. Manche von uns kommen auf die Welt, um keine guten Mütter zu sein, uns sollte Gott vor unserer Geburt sterilisieren.

Ich machte einen Test, um herauszufinden, ob ich schwanger war. Als ich es Fran mitteilte, umarmte er mich, als wäre es das, was von ihm erwartet wurde. Willst du es? Willst du, dass wir dieses Baby bekommen?, fragte ich. Ja, er hat Ja gesagt. (Atme, atme …) Willst du dich darum kümmern, wirst du dich um mich kümmern? Ja, er hat Ja gesagt. Egal was passiert, es wird uns gutgehen, nicht wahr? Ja, er hat Ja gesagt. Er hat (atme) Ja gesagt. (Atme, atme, atme, atme!) Er hat Ja gesagt. Was auch passiert, uns wird es gutgehen, nicht wahr? Ja. Egal was passiert, uns wird es gutgehen, nicht wahr? Ja. Was auch passiert, uns wird es gutgehen. Nicht wahr? Ja. Egal was passiert, uns wird es gutgehen. Nein. Ja. Wir hätten an diesem Tag abtreiben sollen.

Vielleicht suchten sie nach irgendeiner Spur von ihm, jedenfalls sahen sich Fran und Nagore gemeinsam Fotos von Daniel an, wenn sie glaubten, dass ich es nicht mitbekomme. Ihr werdet noch blind davon, sagte ich eines Tages zu ihnen. Ich bekam keine Antwort. Ihr sucht auf einem Foto, und warum geht ihr nicht auf die Strasse und sucht da nach ihm? Nichts, sie reagierten einfach nicht auf meine Provokation. Was seht ihr denn? Ihr habt ihn doch nie gesehen, insistierte ich. Als er hier war, habt ihr ihn nie gesehen. Doch, wir haben ihn gesehen, sagte Nagore. Ihr habt ihn nicht gesehen. Doch!, brüllte Nagore zurück. Doch, wir haben ihn gesehen, wir haben ihn gesehen, und deinetwegen ist er verschwunden, nur wegen dir! Fran legte ihr die Hand auf den Mund, und sie fing an zu weinen. Sie haben ihn nicht gesehen. Ich auch nicht. Das schmerzte am meisten, dass wir alle drei tief im Inneren wussten, dass es nicht nur meine, sondern unser aller Unachtsamkeit gewesen war, aber es war einfacher, mir die Schuld zuzuschieben oder dem Schicksal, was wir manchmal taten. Es lief auf dasselbe hinaus.

Wo ist Daniel hingegangen?

In der ersten Nacht zu Hause ohne Daniel wollte ich schlafen, konnte aber nicht. Ich nahm Frans Hand, und schweigend lauschten wir dem Autolärm vor unserem Fenster. Später gesellte sich Nagore zu uns. Sie kuschelte sich in die Mulde meiner Fötushaltung. Wahrscheinlich hat keiner von uns drei in der ganzen Nacht ein Auge zugetan, aber einander gesehen haben wir nicht; allenfalls das Licht der Autoscheinwerfer auf dem Bett. Allenfalls Teile unserer Körper, die Decke, unsere ineinander verschlungenen Hände. Wir waren Gespenster. Wer verschwindet, nimmt unwiederbringlich etwas mit – den Verstand derer, die zurückbleiben.

Atme. Streich dir die Erde vom Leib. Halte durch. Steh auf. Atme. Atmen, wozu?

Ich lernte, Respekt gegenüber Menschen zu empfinden, die in der Lage sind, über ihre Gefühle zu sprechen. Sie zu teilen und empathisch zu sein. Ich spürte, dass etwas in meiner Lunge, meiner Luftröhre, zwischen meinen Stimmbändern festsass. Der Versuch zu sprechen tat weh, als würde mich jemand würgen. Mein Körper veränderte sich, wurde matt, schlapp, schwach. Daniel muss sich auch sehr verändert haben. Ich stelle mir vor, wie er an der Hand einer sanften, grauhaarigen Frau durch die Strassen geht. Ich visualisiere sogar die Schritte und die Sekunden, die sie braucht, um ihm im Park ein Eis oder Zuckerwatte zu kaufen. Ich sehe vor mir, wie er es mit der ihm eigenen Bedachtsamkeit isst. Ich geniesse es, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie weitergehen, wie er lacht, wie er isst und wie er der Frau spuckefeuchte Küsse gibt. Er kennt mich nicht, erinnert sich nicht an mich. Er weiss nicht, wer Nagore ist, weiss nicht, wer Fran ist, sie könnten direkt an ihm vorbeigehen, und er würde weiter die grauen Haare küssen, die Hände in der Zuckerwatte vergraben. Ich stelle mir auch vor, wie er schläft, Vielfrass mit vollem Bäuchlein, die Finger im Schlaf gespreizt, und man sieht ihn leicht atmen, so dass ich weiss, dass er lebt. Er lebt. Unterdessen versuche ich, meine Spucke zu schlucken, bohre mir die Fingernägel in die Handflächen und halte inne wie eine Frau, die kurz davor ist, in Erscheinung zu treten, aber nicht erscheint.

Nagore wuchs schnell heran. Das Leben liess ihr nach und nach die Brust, die Hüften und den Hochmut anschwellen, mit dem sie uns demonstrierte, dass sie – trotz allem – immer noch am Leben war. Sie erschuf sich ihre eigene geschützte Welt, zu der ich keinen Zugang hatte, aber ich nahm an, dass sie in der Schule lachte und Witze machte und voll durchatmete. Ich stellte mir vor, wie sie ihren Dingen nachging und lachte und glücklich war und sich als sehr lebendig empfand, sehr präsent, sich des festen Bodens unter ihren Füssen gewiss. Deshalb spürte ich dieses Brennen im Bauch, als sie einmal ihre Zimmertür hinter sich zuzog, und ich rannte los und riss die Tür auf: In diesem Haus gibt es keine Geheimnisse, sagte ich, und sie schaute mich still von ihrem Bett aus an. Sie wusste, dass zwischen uns alles ein Geheimnis war, vor allem die Tatsache, dass wir uns im Grunde gegenseitig hassten.

Hätte ich im Park nicht das Telefon in der Hand gehabt, wäre Daniel noch bei mir. Hätte ich an diesem Nachmittag nicht rausgehen wollen, um Vladimirs Nachricht aus dem Kopf zu bekommen, wäre Daniel noch bei mir. Hätte ich nicht beschlossen, zu glauben, dass die Liebe eine Entscheidung ist, und mich daher entschieden, Fran zu lieben, obwohl jede meiner Muskelfasern nach Vladimir schmachtete, wäre Daniel nicht bei mir. Dann hätte er gar nicht existiert. Hätte ich mich nicht mit Vladimir eingelassen, wäre ich immer noch eine Frau, die im Begriff ist, sich selbst zu erschaffen. Ich hätte keine Familie gegründet, bloss um die Affäre zu beenden, ich müsste kein Leid ertragen, aber die Liebe vergeht nicht einfach so, man entliebt sich nicht willentlich, auch wenn sich das alles nach einer Entschuldigung anhören mag.

Du inspizierst sogar das Geschirr. Jeder noch so kleine Hinweis auf seine Nähe genügt. Daniel war im Suppenteller, den er stehengelassen hatte, bevor wir in den Park gingen, in der Kleidung, die wir am Morgen in den Wäschekorb gelegt hatten. Im ungemachten Bett, in seinen Spielsachen. In jedem Winkel des Hauses war Daniel noch präsent: sogar im Geräusch der in der Sonnenwärme knackenden Ziegel, das klang, als schmisse Daniel ein Spielzeug auf den Boden. Fran hatte das begriffen und deshalb in den ersten Tagen versucht, alles aufzuräumen, absolut alles, als wolle er gänzlich neue Szenerien schaffen, in denen ich nicht in Traurigkeit schwelgen konnte; wie mit dem Teller, den er weggeworfen hatte, weil er inzwischen mit einer Schimmelschicht überzogen war. Ich hatte ihn zufällig beim Müllbeutelwechseln entdeckt. Als ich ihn zwischen Essensresten und Milchtüten ausmachte, kramte ich ihn hysterisch hervor, schnappte mir die Kaffeetasse, die Fran im Gespräch mit Nagore auf den Esstisch gestellt hatte, und warf sie nach ihm auf der Suche nach Streit. Aber Fran stritt schon nicht mehr und liess mich, vor Wut gelähmt und wimmernd, einfach stehen. Nichts hatte wirklich noch Bedeutung für mich, und es dauerte ewig, bis ich wieder so etwas erlebte wie eine echte Katharsis.