Lektionen - Ian McEwan - E-Book

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Ian McEwan

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Beschreibung

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1959 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.

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Ian McEwan

Lektionen

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

Diogenes

Für Margy Hopkins, meine Schwester, und für meine Brüder Jim Wort und David Sharp

Erst fühlen wir. Dann fallen wir.

James Joyce, Finnegans Wake

I

1

Dies war die Erinnerung eines Schlaf‌losen, kein Traum. Wieder die Klavierstunde – der orangerot geflieste Boden, ein hohes Fenster und in dem kahlen Raum in der Nähe der Krankenstation ein neues Klavier. Er war elf Jahre alt und versuchte sich an Bachs erstem Präludium aus Band eins des Wohltemperierten Klaviers, vereinfachte Fassung; von diesen Bezeichnungen wusste er aber nichts. Er fragte sich nicht, ob das Stück berühmt war oder eher unbekannt. Es war ohne Zeit, ohne Herkunft. Dass sich jemand die Mühe gemacht hatte, diese Noten zu schreiben, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Sie waren einfach da, die Musik ein Schulding, dunkel wie ein Kiefernwald im Winter, allein für ihn da, sein ureigenes Labyrinth kalter Sorgen. Er würde nie hinausfinden.

Direkt neben ihm auf der Klavierbank saß die Lehrerin. Rundes Gesicht, aufrecht, parfümiert, herb. Ihre Strenge verdeckte ihre Schönheit. Nie lächelte sie, blickte ihn nie verärgert an. Manche Jungen behaupteten, sie sei verrückt, aber das bezweifelte er.

Er machte einen Fehler, genau da, wo er ihn immer machte, und sie lehnte sich herüber, um ihm zu zeigen, wie es ging. Ihr Arm an seiner Schulter fest und warm, ihre Hände mit den lackierten Nägeln genau über seinem Schoß. Mit einem unangenehmen Kribbeln verebbte seine Aufmerksamkeit.

»Hör doch. Das hier muss leichter, fließender klingen.«

Doch als sie die Stelle spielte, hörte er kein leichtes Fließen. Ihr Parfüm betörte seine Sinne, machte ihn taub. Der schwere, süßliche Geruch, hart wie etwas Greifbares, wie ein abgeschliffener Flusskiesel, drängte sich in seine Gedanken. Zwei Jahre später fand er heraus, dass es Rosenwasser war.

»Noch einmal«, sagte sie mit leicht ansteigendem, warnendem Ton. Sie war musikalisch, er nicht. Er wusste, dass sie in Gedanken woanders war, dass seine Bedeutungslosigkeit sie langweilte – noch so ein tintenklecksender Internatsjunge. Seine Finger drückten die klanglosen Tasten. Er konnte die blöde Stelle auf der Seite sehen, ehe er sie erreichte; und es geschah, ehe es geschah, der Fehler kam ihm entgegen, die Arme ausgestreckt wie eine Mutter, bereit, ihn an sich zu drücken, immer derselbe Fehler, der ihn abholen kam, wenn auch ohne Hoffnung auf einen Kuss. Und so geschah es. Sein Daumen führte ein Eigenleben.

Gemeinsam hörten sie den falschen Ton zu rauschender Stille verhallen.

»Tschuldigung«, flüsterte er vor sich hin.

Ihr Missfallen äußerte sich als rasches Ausatmen durch die Nase, wie ein umgekehrtes Schniefen, das er nicht zum ersten Mal hörte. Ihre Finger fanden die Innenseite seines Oberschenkels, direkt unter dem Saum der grauen Shorts, und kniffen fest zu. Am Abend würde da ein winziger blauer Fleck sein. Ihre Hand fühlte sich kühl an, als sie unter seinen Shorts bis dahin hochwanderte, wo der Gummizug seiner Unterhose die Haut einschnürte. Er wich zurück, stand von der Bank auf und wurde rot.

»Setz dich. Noch mal von vorn!«

Ihre Strenge löschte aus, was gerade geschehen war. Es war vorbei, und schon zweifelte er an seiner Erinnerung, zauderte, eine weitere verstörende Kollision mit dem Verhalten der Erwachsenen. Nie sagten sie einem, was sie wussten. Sie verbargen vor einem die Grenzen ihrer eigenen Ignoranz. An dem, was geschehen war, was immer es auch gewesen sein mochte, musste er selbst schuld sein, und Ungehorsam widersprach seinem Naturell. Also setzte er sich, hob den Kopf, sah auf dem Papier die finstere Säule der untereinandergereihten Notenschlüssel und begann von vorn, noch holpriger als beim letzten Mal. Es konnte kein Fließen geben, nicht in diesem Wald. Allzu schnell näherte er sich wieder der blöden Stelle. Die Katastrophe war unentrinnbar, das Wissen darum machte sie unausweichlich, und so senkte sich sein idiotischer Daumen, als er hätte reglos bleiben sollen. Er hörte auf zu spielen. Der nachhallende Misston klang wie sein laut ausgesprochener Name. Sie packte mit Daumen und Fingerknöchel sein Kinn, drehte sein Gesicht zu ihr. Selbst ihr Atem roch nach Parfüm. Ohne den Blick abzuwenden, griff sie nach dem dreißig Zentimeter langen Lineal auf dem Klavierdeckel. Noch einmal würde er sich nicht schlagen lassen, aber als er von der Bank rutschte, um aufzustehen, sah er es nicht kommen. Sie erwischte ihn am Knie, mit der Kante, nicht mit der flachen Seite. Ein brennender Schmerz. Er wich einen Schritt zurück.

»Du tust, was ich dir sage. Setz dich!«

Es brannte, aber er würde nicht hingreifen, jetzt noch nicht. Er sah sie ein letztes Mal an, ihre Schönheit, ihre eng anliegende, hochgeschlossene Bluse mit den Perlknöpfen, die diagonalen, fächerförmigen Stoff‌falten rund um den Busen, darüber ihr ruhiger, korrekter Blick.

Er lief vor ihr davon, so schnell er konnte, lief an einer Kolonnade von Wochen, Monaten vorbei, bis er dreizehn und es spät am Abend war. Wie schon seit Monaten sah er sie in seinen Wachträumen vor dem Einschlafen, diesmal aber war es anders, das Gefühl wild, das kalte Flattern im Bauch das, was man wohl Ekstase nannte. Alles war neu, gut oder schlecht, und alles war seins. Nichts hatte sich je so mitreißend angefühlt, wie jenen Punkt zu überschreiten, an dem eine Umkehr unmöglich war. Zu spät, kein Zurück mehr, wen kümmerte es? Verblüfft kam er zum ersten Mal in die eigene Hand. Kaum hatte er sich erholt, setzte er sich im Dunkeln auf, stieg aus dem Bett und ging zur Toilette, zum ›Scheißhaus‹, um den milchigen Klecks in seiner Hand zu untersuchen, der Hand eines Kindes.

Dann gingen seine Erinnerungen in Träume über. Er zoomte näher heran, noch näher, durch das schimmernde Universum hinab zum Blick vom hohen Gipfel über einen fernen Ozean, ein Blick wie der des dicken Cortés in jenem Gedicht, das die ganze Klasse als Strafarbeit fünfundzwanzigmal abschreiben musste. Ein Meer sich windender Geschöpfe, kleiner als Kaulquappen, Millionen und Abermillionen, dicht gedrängt bis hin zum gewölbten Horizont. Noch näher, bis er in der Menge einen Bestimmten fand und ihm folgte auf seinem Weg, sah, wie er mit den Geschwistern um die Wette durch rosige, glatte Tunnel schwamm, alle anderen überholte, die erschöpft hinter ihm zurückblieben. Endlich war er angekommen, allein vor einem Rund, prachtvoll wie die Sonne, sich langsam im Uhrzeigersinn drehend, gelassen und voller Wissen, gleichmütig wartend. Wenn nicht er, dann würde es jemand anders sein. Und als er durch dichte blutrote Vorhänge eindrang, kam aus der Ferne ein Heulen, dann plötzlich das Sonnengesicht eines schreienden Babys.

Er war ein erwachsener Mann, ein Dichter, zumindest sah er sich gern als solcher, der sich, verkatert und mit Fünf-Tage-Bart, aus den Untiefen eines kurzen Schlummers erhob und vom Schlafzimmer ins Zimmer des schreienden Babys taumelte, es aus dem Bettchen hob und an sich drückte.

Dann war er unten im Haus, das Kind, in eine Decke gewickelt, schlief an seiner Brust. Ein Schaukelstuhl und auf dem Couchtisch daneben ein Buch über die Probleme der Welt, das er sich gekauft hatte, obwohl er wusste, dass er nie dazu kommen würde, es zu lesen. Er hatte eigene Probleme. Er saß vor dem Verandafenster und blickte durch die feuchte, diesige Dämmerung in einen schmalen Londoner Garten auf einen einsamen kahlen Apfelbaum. Links davon eine umgestürzte grüne Schubkarre, die seit irgendeinem vergessenen Tag im Sommer nicht mehr bewegt worden war. Etwas näher ein runder Metalltisch, den er schon seit einer Ewigkeit lackieren wollte. Der kalte, späte Frühling ließ noch nicht erkennen, dass der Baum tot war, dieses Jahr würden keine Blätter mehr sprießen. In der heißen, drei Wochen anhaltenden Dürre im vergangenen Juli hätte er ihn trotz Sprengverbot retten können, aber er war zu beschäftigt gewesen, um Eimer mit Wasser durch den Garten zu schleppen.

Er schloss die Augen, und sein Kopf sank nach hinten, doch schlief er nicht, sondern erinnerte sich wieder. Hier das Präludium, wie es gespielt werden sollte. Lang her, dass er dort war, wieder elf, und mit dreißig Jungen zu einer alten Wellblechbaracke lief. Sie waren zu jung, um zu verstehen, wie elend ihnen war, und zum Reden war ihnen zu kalt. In kollektivem Zaudern bewegten sie sich wie ein corps de ballet im Gleichklang und eilten stumm einen steilen Rasenabhang hinab, um sich im Dunst aufzustellen und gehorsam auf den Beginn des Unterrichts zu warten.

Drinnen, genau in der Mitte, stand ein Kohleofen, und kaum aufgewärmt, gerieten die Jungen außer Rand und Band. Hier konnten sie das, anders als sonst, denn der Lateinlehrer, ein kleiner freundlicher Schotte, hatte die Klasse nicht im Griff. An der Tafel stand von seiner Hand: Exspectata dies aderat. Darunter in der krakeligen Schrift eines Jungen: Der lang erwartete Tag ist gekommen. In eben dieser Baracke, so war ihnen erzählt worden, hatten sich Männer in ernsteren Zeiten einst auf den Krieg zur See vorbereitet und die Mathematik des Minenverlegens gelernt. Hier erledigten sie auch ihre Schularbeiten. Und hier und jetzt stolzierte ein großer Junge, ein berüchtigter Schulhof‌tyrann, zur Tafel, beugte sich vornüber und bot sardonisch grinsend seinen Hintern dar, auf das der vom Schotten halbherzig mit einem Turnschuh vertrimmt wurde. Jubelrufe für den Halbstarken; niemand sonst hätte sich das getraut.

Als Lärm und Chaos anschwollen und etwas Weißes über die Tische segelte, fiel ihm ein, dass Montag war – wieder einmal, dieser lang erwartete und gefürchtete Tag. An seinem Handgelenk die dicke Uhr, die sein Vater ihm geschenkt hatte. Verliere sie nicht. In zweiunddreißig Minuten begann der Klavierunterricht. Er versuchte, jeden Gedanken an die Lehrerin zu vermeiden, denn er hatte nicht geübt. Zu dunkel und unheimlich der Wald, um sich allein bis zur Stelle vorzuwagen, an der sein Daumen blindlings nach unten ging. Wenn er an seine Mutter dachte, wurde er schwach. Sie war zu weit fort und konnte ihm nicht helfen, also verdrängte er sie. Niemand konnte verhindern, dass es wieder Montag wurde. Der blaue Fleck von letzter Woche war fast verblasst, und was hieß es schon, sich an den Duft der Klavierlehrerin zu erinnern? Es war nicht dasselbe, wie ihn zu riechen. Eher wie ein Bild ohne Farbe, oder wie ein Ort oder wie das Gespür für einen Ort oder irgendwas dazwischen. Jenseits der Furcht noch etwas anderes, Erregung; auch die musste er verdrängen.

Für Roland Baines, den schlaf‌losen Mann im Schaukelstuhl, war die erwachende Stadt kaum mehr als ein fernes Rauschen, das mit jeder verstreichenden Minute weiter anschwoll. Rushhour. Vertrieben aus ihren Träumen, ihren Betten, fuhren die Menschen durch die Straßen wie der Wind. Er aber brauchte nichts weiter, als seinem Sohn ein Bett zu sein. Er spürte den Herzschlag des Babys an seiner Brust, fast doppelt so schnell wie seiner. Ihrer beider Puls mal im Takt, dann wieder nicht, eines Tages jedoch würden sie phasenverschoben bleiben, würden sich nie wieder so nah sein. Er würde seinen Sohn weniger gut kennen als jetzt, später noch weniger. Andere würden Lawrence dann besser kennen, würden wissen, wo er war, was er tat und sagte; und er würde einem Freund näher sein, seiner Geliebten oder seinem Geliebten. Manchmal weinen, allein. Vom Vater gelegentliche Besuche, eine feste Umarmung, über die Arbeit reden, über das Neueste, die Familie, ein wenig über Politik, dann der Abschied. Bis es aber so weit war, wusste er alles über ihn, wusste, wo er in jedem Augenblick war, an jedem Ort. Für das Baby war er ein Bett und ein Gott. Das lange Loslassen mochte den Kern des Elternseins ausmachen, doch das war in diesem Moment kaum vorstellbar.

Viele Jahre waren vergangen, seit er den elfjährigen Jungen mit dem geheimen ovalen Mal an der Oberschenkelinnenseite losgelassen hatte. An jenem Abend, nach dem Lichterlöschen, hatte er den blauen Fleck untersucht, auf dem Scheißhaus die Schlafanzughose runtergelassen und sich vorgebeugt, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Hier der Abdruck ihres Fingers und Daumens, ihre Signatur, ein ihm eingeschriebenes Zeugnis jenes Augenblicks, der dadurch real wurde. Fast wie ein Foto. Es tat nicht weh, wenn er den Rand abtastete, an dem die blasse Haut sich vom Grünlichen ins Blaue verfärbte. Er presste mit dem Finger drauf, direkt in der Mitte, wo der Fleck fast schwarz war. Es tat nicht weh.

*

In den Monaten, die auf das Verschwinden seiner Frau folgten, auf das Erscheinen der Polizei und die Versiegelung der Wohnung, hatte er oft versucht, sich den Spuk jener Nacht zu erklären, in der er plötzlich allein gewesen war. Müdigkeit und Stress hatten ihn zurück zu den Anfängen getrieben, zu den ersten Grundsätzen, der endlosen Vergangenheit, doch hätte er gewusst, was ihn erwartete, wäre es noch schlimmer gewesen – all die Termine in abgetakelten Amtszimmern, die Warterei mit hundert anderen auf am Boden festgeschraubten Plastikbänken, bis endlich seine Nummer aufgerufen wurde, zahllose Gespräche, in denen er seinen Fall vorbrachte, während Lawrence H. Baines auf seinem Schoß plapperte und quengelte. Schließlich bekam er etwas Hilfe vom Staat, eine Zuwendung für alleinerziehende Eltern, eine winzige Witwerrente, dabei war sie gar nicht tot. Wenn Lawrence ein Jahr alt wäre, würde er einen Platz im Kindergarten kriegen, und sein Vater könnte einen Lehrstuhl annehmen – in einem Callcenter als Professor der hilfreichen Seelsorge oder Ähnliches. Absolut vernünftig. Sollte er etwa andere für sich schuften lassen, während er den ganzen Nachmittag über seinen Sestinen brütete? Da war kein Widerspruch. Es war ein Arrangement, ein Abkommen, das er akzeptierte – und hasste.

Was vor langer Zeit in dem kleinen Zimmer unweit von der Krankenstation geschah, war so katastrophal wie seine gegenwärtige Misere, doch er machte weiter, damals wie heute, und wirkte dabei nach außen hin fast normal. Zugrunde richten konnte ihn nur, was von innen kam, das Gefühl, im Unrecht zu sein. War diese Empfindung damals die eines irregeleiteten Kindes gewesen, warum dann heute den Schuldgefühlen nachgeben? Mach ihr Vorwürfe, nicht dir selbst. Er kannte jedes Wort ihrer Postkarten und ihrer Abschiedsnachricht auswendig. Gewöhnlich lässt man solche Nachrichten auf dem Küchentisch zurück. Sie aber hatte ihre auf sein Kissen gelegt, wie ein Riegel bitterer Schokolade in einem Hotel. Versuche nicht, mich zu finden. Mir geht es gut. Es ist nicht Deine Schuld. Ich liebe Dich, aber dies ist endgültig. Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn Du kannst. Auf dem Bett, auf ihrer Seite, lag ihr Hausschlüssel.

Was für eine Liebe war das? Ein Kind zu gebären, war das ein falsches Leben? Nach einem ordentlichen Drink blieb er fast jedes Mal voller Hass an ihrem letzten, unvollständigen Satz hängen. Bitte vergib mir, wenn Du kannst, nur hätte sie hinzusetzen sollen: wie ich mir selbst vergeben habe. Das Selbstmitleid derjenigen, die geht, gegen die bittere Klarheit dessen, der bleibt, der verlassen wurde. Gegensätze, die sich mit jedem Fingerbreit Scotch verhärteten. Ein weiterer unsichtbarer Finger, der ihn lockte. Sein Hass wuchs, und jeder Gedanke war eine Wiederholung, eine Variation über das Thema ihrer selbstsüchtigen Fahnenflucht. Nach einer Stunde forensischer Reflexion wusste er, sie war nicht mehr weit, die Wende, der Dreh- und Angelpunkt seiner abendlichen Denkarbeit. Fast da, schenk noch mal nach. Die Gedanken verlangsamten sich, dann hielten sie abrupt an, ohne ersichtlichen Grund, wie der Zug in dem Gedicht, das seine Klasse unter Strafandrohung auswendig lernen musste. Ein heißer Tag, eine Haltestelle in Gloucestershire, Stille, jemand hustete. Und dann kehrten sie zurück, luzide Bilder, klar und deutlich wie naher Vogelgesang. Er war endlich betrunken, und ihm stand frei, sie wieder zu lieben und zurückhaben zu wollen. Ihre entrückte engelsgleiche Schönheit, ihre zarten, feingliedrigen Hände, die nur leicht von ihrer deutschen Kindheit geprägte Stimme, ein wenig heiser, als hätte sie gerade einen Schreikrampf hinter sich. Dabei hatte sie nie geschrien. Sie liebte ihn, also musste er schuld sein, und es war nett von ihr zu beteuern, dass es nicht an ihm liege. Er wusste nicht, welchen minderwertigen Teil seiner selbst er anklagen sollte, also musste er in Gänze schuld sein.

So benebelt wie zerknirscht, auf einer traurig-schönen Wolke schwebend, tappte er grübelnd die Treppe hinauf, sah nach dem Baby, fiel ins Bett, manchmal noch vollständig angezogen, und schlief ein, um in den schalen Morgenstunden wieder aufzuwachen, erschöpft, aber hellwach, wieder zornig, durstig, wütend. Im Dunkeln zählte er seine guten Seiten auf und beklagte, was für ein Unrecht ihm doch angetan worden war. Er verdiente beinahe gleich viel, hatte, was Lawrence anging, immer seinen Teil getan, auch nachts, war treu gewesen, hatte sie geliebt und sich nie damit herausgeredet, dass für geniale Dichter andere Regeln galten. Also war er ein Narr gewesen, ein Blödmann, deshalb hatte sie ihn verlassen, vielleicht für einen richtigen Kerl. Nein, nein, er war ein guter Mensch, ein guter, und er hasste sie, das war endgültig. Dies ist endgültig. Der Kreis schloss sich – er war wieder am Ausgangspunkt. Dem Schlaf am nächsten kam er, wenn er auf dem Rücken lag, die Augen schloss, auf Lawrence horchte und ansonsten Erinnerungen nachhing, Sehnsüchten und Gespinsten, sogar brauchbare Zeilen fielen ihm ein, nur konnte er sich nicht aufraffen, sie aufzuschreiben, so ging es eine Stunde lang, noch eine, dann eine dritte, bis der Morgen anbrach. Gleich würde er in Gedanken alles wieder durchspielen, den Besuch der Polizei, den Verdacht, unter dem er stand, die Giftwolke, gegen die er das Haus abgedichtet hatte, und die Frage, ob er das Ganze noch mal von vorn machen musste. Dieses nutzlose Sich-im-Kreis-Drehen hatte ihn eines Abends zurück zur Klavierstunde geführt. Zum widerhallenden Zimmer, in das er gestolpert war, nun zum Zusehen verurteilt.

In Latein und Französisch hatte er die Zeiten gelernt. Sie waren schon immer da gewesen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, nur war ihm nie aufgefallen, wie Sprache die Zeit einteilte. Jetzt wusste er es. Seine Klavierlehrerin benutzte das Präsens, um die nahe Zukunft zu bestimmen. »Du sitzt aufrecht, das Kinn gereckt. Du hältst die Ellbogen im rechten Winkel. Die Finger sind bereit, leicht gekrümmt; die Handgelenke bleiben geschmeidig. Dein Blick ist auf das Blatt gerichtet.«

Er wusste auch, was rechte Winkel waren. Zeiten, Winkel, wie man Präsens buchstabierte. Dies waren Elemente der realen Welt, und um die zu lernen, hatte sein Vater ihn dreitausend Kilometer weit von der Mutter fortgeschickt. Es gab Dinge, die Erwachsenen wichtig waren, Millionen Dinge, die er sich nach und nach aneignen würde. Sobald er nach der Lateinstunde das Zimmer der Klavierlehrerin betrat, außer Atem, aber pünktlich, fragte sie ihn, ob er in der Woche geübt habe. Er log. Daraufhin setzte sie sich wieder dicht neben ihn, ihr Parfüm hüllte ihn ein. Das Mal, das sie auf seinem Bein hinterlassen hatte, war verblasst, die Erinnerung an das Geschehene unklar. Falls sie ihm aber noch mal wehtun wollte, würde er ohne Zögern aus dem Zimmer stürmen. Es gab ihm eine Art Kraft, dieses Rumoren der Anspannung in seiner Brust, als er behauptete, in der letzten Woche drei Stunden geübt zu haben. In Wahrheit: null, nicht mal drei Minuten. Noch nie hatte er eine Frau willentlich getäuscht. Seinen Vater, vor dem er sich fürchtete, hatte er schon mal angelogen, um keinen Ärger zu kriegen, seiner Mutter aber hatte er immer die Wahrheit gesagt.

Die Lehrerin räusperte sich leicht, was hieß, dass sie ihm glaubte. Vielleicht aber auch nicht.

Sie flüsterte: »Also gut, dann los.«

Das große, dünne Notenheft mit den leichten Stücken für Anfänger lag in der Mitte aufgeschlagen. Zum ersten Mal bemerkte er die drei Metallklammern im Falz, die das Heft zusammenhielten. Die brauchte er nicht zu spielen – bei dem dummen Gedanken musste er beinahe lächeln. Der strenge, aufrechte Schwung des Violinschlüssels, der Bassschlüssel, gekrümmt wie der Fötus des Kaninchens in seinem Biologiebuch, die Halb- und die Viertelnoten mit ihren schwarzen und weißen Köpfen – die weißen hielt man länger –, und diese abgegriffene, eselsohrige Doppelseite, seine ureigene, ganz persönliche Strafarbeit. Nichts davon wirkte vertraut, noch nicht mal unfreundlich.

Als er anfing, klang die erste Note doppelt so laut wie die zweite. Vorsichtig bewegte er sich weiter zur dritten, dann zur vierten, wurde schneller. Es war eine Vorsicht, die ihm bald wie heimliches Anschleichen vorkam. Weil er nicht geübt hatte, fühlte er sich frei. Er folgte der Partitur, mit der rechten Hand, mit der linken, ignorierte die mit Bleistift vermerkten Fingersätze. Er musste sich an nichts erinnern, hatte nur die Tasten in der richtigen Reihenfolge anzuschlagen. Plötzlich drohte die blöde Stelle, aber sein linker Daumen vergaß, sich zu senken, und dann war es bereits zu spät, er war drüber hinaus, auf der anderen Seite, glitt sacht über den Wald hinweg, dort oben, wo Licht und Raum reiner waren, und eine Zeit lang meinte er, die Andeutung einer Melodie zu erkennen, die wie ein Scherz über dem steten Marsch der Töne schwebte.

Den zwei, vielleicht auch drei Anweisungen pro Sekunde zu folgen verlangte seine volle Konzentration. Er vergaß sich, vergaß sogar sie. Zeit und Raum verschmolzen. Das Klavier schwand zusammen mit der Existenz selbst. Wie ein Erwachen aus nächtlichem Schlaf war es, als er ans Ende kam, zu dem beidhändigen einfachen Akkord. Doch nahm er die Hände nicht von den Tasten, ließ am Ende der Doppelganzen nicht los, wie es die Noten auf dem Blatt verlangten. Der Akkord hallte nach und verklang im kahlen kleinen Zimmer.

Er ließ selbst dann nicht los, als er ihre Hand auf dem Kopf spürte, auch nicht, als sie den Druck verstärkte und seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Nichts in ihrer Miene verriet, was als Nächstes geschehen würde.

Leise sagte sie: »Du …«

Erst jetzt nahm er die Hände von den Tasten.

»Du kleiner …«

In einer komplizierten Bewegung senkte sie den Kopf und neigte ihn seitlich, sodass ihm ihr Gesicht wie in einem Sturz entgegenkam, der in einem Kuss endete, ihre vollen Lippen auf seinen, ein sanfter, langer Kuss. Er wehrte sich nicht, noch erwiderte er den Kuss. Es geschah, und er ließ es geschehen und fühlte dabei nichts. Erst später, als er, allein, diesen Moment wieder und wieder aufrief und durchlebte, konnte er dessen Bedeutung ermessen. Währenddessen aber lagen ihre Lippen auf seinen, und er wartete wie betäubt darauf, dass es aufhörte. Eine plötzliche Ablenkung, und es war vorbei. Über das hohe Fenster war ein Schatten gezuckt, eine Bewegung. Sie wich zurück und sah sich danach um, genau wie er. Sie hatten es beide zur selben Zeit gesehen oder gespürt, etwas am Rand ihres Blickfeldes. War es ein Kopf gewesen? Schultern? Ein missbilligendes Gesicht? Doch das kleine rechteckige Fenster zeigte nur zerzupf‌te Wolken und ein Stück vom blassblauen Winterhimmel. Er wusste, von draußen war das Fenster selbst für den größten Erwachsenen unerreichbar weit oben. Es musste also ein Vogel gewesen sein, vielleicht eine Taube aus dem Verschlag im alten Stall. Lehrerin und Schüler aber hatten sich schuldbewusst voneinander gelöst, und obwohl er gerade sehr wenig verstand, wusste er, dass sie nun ein Geheimnis verband. Das leere Fenster hatte sie brüsk auf die Welt der Menschen dort draußen aufmerksam gemacht. Und er wusste auch, dass es unhöf‌lich gewesen wäre, sich mit der Hand über den Mund zu wischen, obwohl die verdunstende Feuchtigkeit auf seinen Lippen kribbelte.

Sie drehte sich wieder zu ihm, sah ihm tief in die Augen und in einem festen, freundlichen, besänftigenden Ton, der zum Ausdruck brachte, dass sie die neugierige Welt da draußen nicht im Mindesten kümmerte, sprach sie zu ihm, und zwar im Futur, um die Gegenwart vernünftiger scheinen zu lassen. Was ihr gelang. Allerdings hatte er sie noch nie so viel reden hören.

»In zwei Wochen gibt es einen freien Nachmittag, Roland. Er fällt auf einen Freitag. Und du wirst mit dem Rad in mein Dorf fahren. Erwarton. Wenn du über Holbrook kommst, ist mein Haus auf der rechten Seite, gleich nach dem Pub, das mit der grünen Tür. Du wirst rechtzeitig zum Mittagessen da sein. Hast du verstanden?«

Er nickte, begriff aber nichts. Dass er auf schmalen Straßen und Feldwegen quer über die Halbinsel zum Mittagessen in ihr Dorf fahren sollte, wenn er doch in der Schule essen konnte, verblüff‌te ihn. Wie alles andere auch. Zugleich aber wünschte er sich trotz seiner Verwirrung oder vielleicht gerade deshalb, allein zu sein, um über den Kuss nachdenken zu können.

»Ich werde dir zur Erinnerung eine Karte schicken. Von jetzt an werde ich dir keinen Klavierunterricht mehr geben, sondern Mr Clare. Ich sage ihm, dass du ausgezeichnete Fortschritte machst. Und nun, junger Mann, Dur- und Moll-Tonleitern mit zwei Kreuzen.«

*

Nach dem Wohin ließ sich leichter fragen als nach dem Warum. Wohin war sie verschwunden? Vier Stunden vergingen, ehe er Alissas Zettel und ihr Verschwinden der Polizei meldete. Zwei Stunden zu spät, fanden seine Freunde. Ruf an! Er widerstand, harrte aus. Er wollte nicht nur die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie jeden Augenblick zurückkehren konnte, er wollte auch keinen Fremden ihre Nachricht lesen oder ihre Abwesenheit of‌fiziell bestätigen lassen. Zu seiner Überraschung kam einen Tag nach seinem Anruf‌ tatsächlich jemand vorbei, ein Polizeiinspektor vom örtlichen Revier, der unter Zeitdruck zu stehen schien. Er notierte sich ein paar Details, warf einen Blick auf Alissas Nachricht und sagte, er werde sich wieder melden. Eine Woche lang geschah nichts, in dieser Zeit trafen ihre vier Postkarten ein. Der Spezialist kam unangemeldet am frühen Morgen in einem kleinen Streifenwagen, den er verbotenerweise vorm Haus abstellte. Es regnete in Strömen, doch dass er mit seinen Stiefeln eine Dreckspur durch den Flur zog, schien er nicht zu bemerken. Detective Inspector Douglas Browne wirkte mit seinen schwabbelnden Wangen so freundlich und vertrauenswürdig wie ein großer braunäugiger Hund. Er hockte mit Roland am Küchentisch, die Schultern vornübergebeugt. In seinen riesigen Pranken, die Knöchel dunkel behaart, hielt er Rolands Notizbuch, die Postkarten und den Zettel vom Kopfkissen. Ein schwerer Mantel, den er nicht auszog, machte ihn noch massiger und hundeähnlicher. Die beiden Männer saßen inmitten eines Durcheinanders von schmutzigen Tellern und Tassen, Werbepost, Rechnungen, einer fast leeren Nuckelflasche, den verschmierten Überresten von Lawrences Frühstück und dem Lätzchen. Dies waren die Schleimjahre, wie sie einer von Rolands Freunden genannt hatte. Lawrence saß ungewöhnlich still im Kinderstuhl und schaute ehrfürchtig auf diesen Hünen mit den überbreiten Schultern. Während seines Besuchs reagierte Browne nicht ein einziges Mal auf die Anwesenheit des Babys, was Roland ihm stellvertretend für seinen Sohn ein wenig übel nahm. Unwichtig. Der sanfte Blick aus den braunen Augen des Beamten ruhte allein auf dem Vater, der sich genötigt sah, Routinefragen zu beantworten. Es habe in der Ehe keine Probleme gegeben, sagte er lauter als beabsichtigt. Vom gemeinsamen Konto sei kein Geld abgehoben worden. Es seien Ferien, die Schule, an der sie arbeitete, könne daher kaum mitbekommen haben, dass sie verschwunden war. Sie hatte einen kleinen schwarzen Koffer mitgenommen. Ihr Mantel war grün. Hier ein paar Fotos, ihr Geburtsdatum, die Namen ihrer Eltern und deren Adresse in Deutschland. Gut möglich, dass sie eine Baskenmütze trug.

Der Beamte interessierte sich für die jüngste Postkarte aus München. Roland wusste von keinen Bekannten dort. In Berlin, ja, auch in Hannover oder in Hamburg. Sie stammte schließlich aus dem lutherischen Norden. Als Browne fragend eine Braue hob, erklärte Roland, dass München im Süden liege. Vielleicht hätte er ihm besser erklärt, wer Luther war. Doch der Beamte senkte den Blick wieder ins Notizbuch und stellte weitere Fragen. Nein, antwortete Roland, so etwas habe sie noch nie getan. Nein, er habe keine Kopie ihres Passes. Nein, sie habe in letzter Zeit nicht deprimiert gewirkt. Ihre Eltern lebten in der Nähe von Nienburg, einer kleinen Stadt, ebenfalls im Norden Deutschlands. Er hatte sie wegen einer anderen Sache angerufen und herausgehört, dass seine Frau nicht dort gewesen war. Nein, er habe ihnen nichts gesagt. Ihre mit chronischen Ressentiments geschlagene Mutter wäre explodiert, hätte sie diese Neuigkeit über ihr einziges Kind erfahren. Die Familie verlassen? Wie konnte sie nur! Mutter und Tochter lagen sich ständig in den Haaren. Irgendwann würde man den Schwiegereltern und seinen eigenen Eltern aber wohl Bescheid sagen müssen. Alissas erste drei Postkarten, aus Dover, Paris und dann Straßburg, waren binnen vier Tagen angekommen. Die vierte, aus München, zwei Tage später. Seither nichts mehr.

Detective Inspector Browne studierte erneut die Postkarten. Alle gleichlautend. Mir geht’s gut. Mach Dir keine Sorgen. Gib Larry einen Kuss von mir. Gruß Alissa. Die exakte Wiederholung wirkte gestört oder feindselig. Wie eine Bitte um Hilfe oder auch eine Art Beleidigung. Immer derselbe blaue Filzstift, kein Datum, unlesbarer Stempel, und bis auf Dover stets dieselbe nichtssagende Stadtansicht mit einer Brücke über die Seine, den Rhein, die Isar. Mächtige Flüsse. Sie driftete ostwärts, weiter fort von daheim. In der Nacht zuvor, kurz vorm Einschlafen, hatte Roland sie als Millais’ ertrunkene Ophelia vor sich gesehen, die im sanften, klaren Gewässer der Isar trieb, vorbei an der Pupplinger Au mit den nackten Badenden, die wie gestrandete Robben am grasbewachsenen Ufer lagen. Kopfvoran glitt sie auf dem Rücken dahin, lautlos und ungesehen durch München, vorbei am Englischen Garten, zum Donau-Zusammenfluss, weiter unbemerkt durch Wien, Budapest und Belgrad, durch zehn verschiedene Länder samt ihrer brutalen Geschichte, entlang der Grenzen des Römischen Reiches bis hin zum weißen Himmel und grenzenlosen Marschdelta des Schwarzen Meeres, dort, wo sie sich in Letea einst im Windschatten einer alten Mühle geliebt und unweit von Isaccea einen Schwarm lärmender Pelikane gesehen hatten. Vor zwei Jahren erst. Purpurfarbene Reiher, glitzernde Ibisse, eine Sibirische Graugans. Bis dahin hatte er sich nie sonderlich für Vögel interessiert. An jenem Abend hatte er sich vor dem Einschlafen mit ihr davontreiben lassen an einen Ort wilder Glückseligkeit, eine Quelle. Seit einiger Zeit aber kostete es ihn Kraft, länger in der Gegenwart zu bleiben. Die Vergangenheit bildete oft nur die Überleitung zu ruhelosen Fantastereien. Er gab der Müdigkeit die Schuld, dem Kater, der Verwirrung.

Über sein Notizbuch gebeugt, sagte Douglas Browne in tröstendem Ton: »Als meine Frau genug von mir hatte, hat sie mich rausgeworfen.«

Er wollte etwas erwidern, aber Lawrence krähte dazwischen, forderte seine Teilhabe ein. Roland stand auf, befreite ihn aus dem Hochstuhl und setzte ihn sich auf den Schoß. Der neue Blickwinkel auf den riesigen Fremden, nun aus unmittelbarer Nähe, ließ das Baby wieder verstummen. Es musterte ihn scharf und sabberte dabei mit offenem Mund. Niemand konnte sagen, was einem sieben Monate alten Kind durch den Kopf ging. Eine schattige Leere, ein gleichförmiger Winterhimmel, über den Sinneseindrücke – Geräusche, Gesehenes, Berührtes – in hohen Schwüngen und Bögen explodierten, ein Feuerwerk in Primärfarben, sofort wieder vergessen, sofort durch Neues ersetzt und wieder vergessen. Oder ein tiefer Teich, in den alles fiel und verschwand, aber erhalten blieb, unwiederbringlich da, dunkle Umrisse in tiefem Wasser, deren Schwerkraft selbst achtzig Jahre später noch wirkte, auf dem Totenbett, in späten Geständnissen, in letzten Rufen nach verlorenen Lieben.

Seit Alissa fort war, achtete er bei seinem Sohn auf Zeichen des Kummers, der Verletzung und fand sie bei jeder Gelegenheit. Ein Baby vermisste selbstverständlich seine Mutter, nur wie, wenn nicht in der Erinnerung? Manchmal blieb Lawrence zu lange still. Schockiert, betäubt, Narbengewebe, das sich innerhalb von Stunden in den tiefsten Regionen des Unbewussten bildete, falls es einen solchen Ort, einen solchen Vorgang denn gab. Letzte Nacht hatte er zu heftig geweint. Empört, weil er nicht haben konnte, was er vermutlich schon vergessen hatte. Nicht die Brust. Auf Drängen der Mutter war er von Anfang an mit der Flasche gefüttert worden. Teil ihres Plans, dachte Roland in schlimmeren Momenten.

Der Detective Inspector schloss sein Notizbuch. »Falls wir Ihre Frau finden, dürfen wir Ihnen ohne ihre Erlaubnis nicht sagen, wo sie sich aufhält, das ist Ihnen bewusst, oder?«

»Aber Sie können mir sagen, ob sie lebt?«

Er nickte und dachte kurz nach. »Ist eine vermisste Frau tot, ist meist ihr Mann der Mörder.«

»Dann wollen wir hoffen, dass sie noch am Leben ist.«

Browne richtete sich auf und kippelte leicht mit dem Stuhl nach hinten, mimte Überraschung. Zum ersten Mal lächelte er, sah Roland freundlich an. »Meist läuft es wie folgt. Also: Er bringt sie um, beseitigt die Leiche, sagen wir, irgendwo im New Forest, an einer einsamen Stelle, flaches Grab, meldet sie als vermisst. Und dann?«

»Und dann was?«

»Dann fängt es an. Plötzlich wird ihm klar, wie großartig sie war. Sie haben sich geliebt. Er vermisst sie, und er beginnt, seine eigene Geschichte zu glauben. Sie ist durchgebrannt. Oder ein Psychopath hat sie auf dem Gewissen. Er ist in Tränen aufgelöst, er ist deprimiert, auf einmal ist er wütend. Er ist kein Mörder, er lügt nicht, jedenfalls nicht nach eigenem Verständnis. Sie ist weg, und er vermisst sie wirklich. Auf alle anderen wirkt das echt, macht er einen ehrlichen Eindruck. Solche Typen sind schwer zu knacken.«

Lawrences Kopf sank an die Brust des Vaters; der Kleine döste. Roland wollte nicht, dass der Detective schon ging, denn war er fort, wurde es Zeit, die Küche zu putzen, die Schlafzimmer aufzuräumen, sich um die Wäsche zu kümmern und den verschmutzten Flur. Eine Einkaufsliste zu machen. Dabei wollte er nichts als schlafen.

»Ich bin noch im Stadium des Vermissens«, sagte er.

»Stehen ja auch erst ganz am Anfang, Sir.«

Da begannen beide Männer, leise zu lachen. Als wäre es ein Witz, und sie wären alte Freunde. Roland begann, dieses Hängegesicht zu mögen, den sanften Hundeblick, der von unendlichem Erdulden sprach. Auch die Neigung des Detectives zu überraschenden Vertraulichkeiten respektierte er.

Stille, dann fragte Roland: »Warum hat sie Sie rausgeworfen?«

»Hab zu viel gearbeitet, zu viel getrunken, kam jeden Abend zu spät nach Hause. Hab sie ignoriert, die Kinder, drei prima Jungs. Hatte eine Geliebte, und irgendwer hat es ihr erzählt.«

»Da kann man Ihre Frau ja nur beglückwünschen, Sie los zu sein.«

»Fand ich auch. Ich stand kurz davor, einer dieser Typen mit zwei Familien zu werden. Von denen hört man doch manchmal. Die Alte weiß nichts von der Neuen, die Neue ist eifersüchtig auf die Alte, und wie von Hummeln gestochen rennt man als Kerl zwischen beiden hin und her.«

»Und jetzt sind Sie mit der Neuen zusammen.«

Browne seufzte laut, schnaubte, blickte beiseite und kratzte sich am Hals. Die selbstgeschaffene Hölle war ein interessantes Konstrukt. Niemandem blieb es erspart, sich wenigstens einmal im Leben so eine zu erschaffen. Manche Leben bestanden aus nichts anderem. Dass selbstzugefügtes Leid gleichsam einer Verlängerung des eigenen Charakters entsprach, war eine Tautologie. Trotzdem musste Roland oft darüber nachdenken. Man baut sich eine Foltermaschine und setzt sich rein. Passt wie angegossen und hat jede Menge Schmerz im Angebot: sei es ein bestimmter Job oder eine Vorliebe für Alkohol, Drogen oder gar für Verbrechen mitsamt dem Hang, sich erwischen zu lassen. Strenge Religion war eine weitere Wahlmöglichkeit. Ein ganzes politisches System konnte im selbstauferlegten Elend versinken – er hatte einige Zeit in Ost-Berlin verbracht. Die Ehe, eine Maschine für zwei, bot zahllose Möglichkeiten, allesamt Varianten der folie à deux. Jeder kannte Beispiele zuhauf, und Rolands eigene Maschine war eine ziemlich ausgetüftelte Konstruktion. Daphne, eine gute Freundin, hatte es ihm eines Abends, lange vor Alissas Abtauchen, nachdem Roland ihr gestanden hatte, dass es ihm seit Monaten nicht gut ging, folgendermaßen dargelegt: »In der Abendschule bist du wirklich toll, Roland. So viele Kurse! Aber bei allem, was du sonst probierst, willst du stets der Weltbeste sein. Klavierspieler, Tennislehrer, Journalist, neuerdings Dichter. Und das sind nur die Tätigkeiten, von denen ich weiß. Sobald du merkst, dass du nicht der Beste bist, wirfst du das Handtuch und verachtest dich. Auch alle deine Beziehungen laufen nach demselben Muster. Du willst zu viel und suchst dir deshalb bald jemand Neuen. Oder sie erträgt deinen Perfektionswahn nicht und serviert dich ab.«

Der Detective schwieg weiterhin, und Roland wiederholte seine Frage mit anderen Worten: »Also, neue Frau oder alte Frau, was wollen Sie wirklich?«

Still begann Lawrence, im Schlaf zu scheißen. Der Gestank war gar nicht schlimm. Eine Erkenntnis, die mit dem Erwachsenenalter kam – wie rasch man die Scheiße derjenigen ertragen lernte, die man liebte. Eine Faustregel des Lebens.

Browne dachte gründlich über Rolands Frage nach, während sein Blick ziellos durch den Raum wanderte. Er sah chaotische Bücherregale, Zeitschriftenstapel, oben auf dem Schrank einen kaputten Drachen. Dann stützte er die Ellbogen auf den Tisch, senkte den Kopf und starrte auf die Maserung im Kiefernholz, während er sich mit beiden Händen den Nacken massierte. Schließlich richtete er sich auf.

»Was ich wirklich will? Eine Schriftprobe von Ihnen. Irgendwas. Ein Einkaufszettel genügt.«

Roland spürte eine Woge der Übelkeit in sich aufsteigen und wieder verebben. »Sie glauben, ich hätte diese Nachrichten geschrieben?«

Ein Fehler, nach einer anstrengenden Nacht das Frühstück auszulassen. Keine Scheibe Toast mit Butter und Honig gegen den absackenden Blutzuckerspiegel. Lawrence hatte ihn zu sehr auf Trab gehalten. Und mit zittrigen Händen hatte er sich den Kaffee dreimal stärker als gewöhnlich gemacht.

»Ein Zettel für den Milchmann würde reichen.«

Aus der Manteltasche fischte Browne ein ledernes Päckchen, an dem ein Gurt befestigt war. Stöhnend und mit einem genervten Seufzen fischte er die Kamera aus ihrem abgegriffenen Etui, wofür er mit seinen Wurstfingern an einer viel zu kleinen silbernen Schraube drehen musste. Eine alte Leica, silber-schwarz, mit allerhand Dellen. Browne hielt den Blick auf Roland gerichtet und lächelte verkniffen, während er den Objektivdeckel abschraubte.

Er stand auf und legte mit pedantischer Ruhe Alissas vier Postkarten und den Zettel nebeneinander in eine Reihe. Sobald er sie, von beiden Seiten, fotografiert hatte und die Kamera wieder in seiner Tasche verschwunden war, sagte er: »Toll, dieser neue Film. So schnell. Das reinste Wunder. Interessiert Sie so was?«

»Früher mal«, sagte Roland und fügte dann vorwurfsvoll hinzu: »Als Kind.«

Browne zog aus einer anderen Manteltasche mehrere Plastikhüllen, fasste die Postkarten eine nach der anderen an einer Ecke an und ließ sie in drei transparente Umschläge gleiten, die er dann zukniff. In einen vierten steckte er den Kopfkissenzettel. Es ist nicht Deine Schuld. Dann setzte er sich und machte daraus mit seinen großen Händen einen ordentlichen Stapel.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das hier gern mitnehmen.«

Rolands Herz klopf‌te so heftig, dass er sich fast wieder hellwach fühlte. »Es macht mir aber was aus.«

»Fingerabdrücke. Sehr wichtig. Sie kriegen das alles wieder.«

»Es heißt, auf Polizeirevieren geht so viel verloren.«

Browne lächelte gutmütig. »Warum führen Sie mich nicht durchs Haus? Wir brauchen also eine Handschriftenprobe, ein Kleidungsstück Ihrer Frau, irgendwas mit ihren Fingerabdrücken drauf und, ähm, etwas fehlt noch… ja, eine Handschriftenprobe von ihr.«

»Die haben Sie doch schon.«

»Irgendwas Älteres.«

Roland stand auf, Lawrence im Arm. »Vielleicht war es keine gute Idee, Sie bei einer Privatangelegenheit hinzuzuziehen.«

Der Detective ging bereits vor zur Treppe. »Vielleicht.«

Als sie zum schmalen Treppenabsatz kamen, sagte Roland: »Ich muss mich erst um das Baby kümmern.«

»Ich warte hier.«

Als er aber fünf Minuten später mit Lawrence auf der Hüfte zurückkam, war Browne schon im Schlafzimmer, in ihrem Schlafzimmer, das durch seine massige Gestalt auf geradezu grobschlächtige Weise verkleinert schien. Er stand am Fenster neben dem kleinen Tisch, an dem Roland arbeitete. Wie zuvor starrte das Baby den Mann staunend an. Verstreut um die Schreibmaschine, eine tragbare Olivetti, lagen ein Notizbuch und drei Seiten mit kürzlich verfassten, ins Reine getippten Gedichten. In dem dämmrigen, nach Norden gehenden Zimmer hielt der Detective ein Blatt ins Licht.

»Entschuldigen Sie bitte, aber das ist privat. Sie gehen eindeutig zu weit.«

»Der Titel ist gut.« Er las ihn tonlos vor. »›Glamis mordet den Schlaf.‹ Glamis, hübscher Mädchenname. Walisisch.« Er legte das Blatt wieder hin und kam in dem schmalen Durchgang zwischen Bettende und Wand auf Roland und Lawrence zu.

»Sind nicht meine Worte und ist außerdem Schottisch.«

»Sie schlafen also nicht gut?«

Roland ging nicht darauf ein. Alissa hatte die Schlafzimmermöbel blassgrün angemalt, mit einem Schablonenmuster blaue Eichen- und Ahornblätter aufgetragen. Roland öffnete für Browne eine der Schubladen. In drei Reihen lagen da ihre ordentlich gefalteten Pullover. Die unterschiedlichen Parfums, die sie benutzte, ergaben eine verhaltene Duftmischung, eine reiche Geschichte. Der Moment ihres Kennenlernens überlagert von dem Moment, in dem sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Das war zu viel für ihn, ihre Düfte, ihre plötzliche Präsenz, und er wich zurück wie vor zu hellem Licht.

Browne beugte sich mühsam hinab und nahm den nächstbesten, einen schwarzen Kaschmirpullover. Er wandte sich um und stopf‌te ihn in einen seiner Plastikbeutel.

»Und meine Handschriftenprobe?«

»Hab ich schon.« Browne richtete sich auf und klopf‌te auf die Kamerabeule in seiner Manteltasche. »Ihr Notizbuch.«

»Ohne meine Erlaubnis?«

»War das ihre Seite?« Er sah zum Kopfende des Bettes.

Roland war zu wütend, um zu antworten. Auf Alissas Nachttisch lag eine rote Haarklammer mit zusammengepressten Plastikzähnen auf einem Taschenbuch, das Browne an den Ecken anhob, Pnin von Nabokov, um es dann behutsam aufzuschlagen. Sein Blick wanderte über die ersten Seiten.

»Die Anmerkungen Ihrer Frau?«

»Ja.«

»Haben Sie das Buch gelesen?«

Roland nickte.

»Diese Ausgabe?«

»Nein.«

»Gut, dann wäre das hier was für die Forensik, ist im jetzigen Stadium aber wohl noch nicht nötig.«

Roland hatte sich mit Mühe wieder gefangen und schlug einen Plauderton an. »Ich dachte, die Zeit der Fingerabdrücke ist vorbei. Sind Gene nicht die Zukunft?«

»Neumodischer Blödsinn. Werde ich nicht mehr erleben. Und Sie auch nicht.«

»Ach ja?«

»Kein Mensch wird das erleben.« Der Detective wandte sich in Richtung Treppenabsatz. »Sie müssen Folgendes wissen: Ein Gen ist kein Ding, sondern eine Idee. Eine Idee mit einer bestimmten Information. Ein Fingerabdruck ist ein Ding, eine Spur.«

Die beiden Männer und das Baby waren auf der Treppe, an deren Fuß Browne sich umdrehte. Die durchsichtige Plastiktüte mit Alissas Pullover hatte er sich unter den Arm geklemmt. »Wir kommen nicht zu einem Tatort und suchen nach abstrakten Ideen. Wir suchen nach den Spuren realer Dinge.«

Wieder wurden sie von Lawrence unterbrochen. Er riss einen Arm hoch, schrie aus vollem Hals – ein Laut, der mit einem explosiven Konsonanten begann, einem B oder einem P – und zeigte dabei mit seinem feuchten Finger sinnlos auf die Wand. Roland nahm an, dass solche Schreie Übungen für ein Leben voller Worte waren. Lawrence musste seine Zunge für all das trainieren, was er dereinst zu sagen haben würde.

Roland folgte Browne durch den Flur und sagte mit einem Lachen: »Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, dass dies hier ein Tatort ist.«

Der Detective öffnete die Haustür, trat hinaus und drehte sich um. Hinter ihm stand, leicht schräg auf dem Bürgersteig, sein winziger Wagen, ein Morris Minor in Himmelblau. Die niedrig stehende Morgensonne vertief‌te die Hängefalten in seinem Gesicht. Wenn er einen belehren wollte, wirkte er nicht sonderlich überzeugend.

»Ich hatte mal einen Sergeant, der sagte: Wo es Menschen gibt, da ist auch ein Tatort.«

»Klingt für mich nach totalem Blödsinn.«

Browne hatte sich allerdings schon abgewandt und schien ihn nicht gehört zu haben. Vater und Sohn sahen ihm nach, wie er über den kurzen unkrautüberwucherten Weg zum kaputten Gartentor ging, das von Anfang nie richtig zugefallen war. Auf dem Bürgersteig blieb er ein paar Sekunden stehen, leicht vornübergebeugt, und suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel. Endlich hatte er ihn gefunden und schloss den Wagen auf, um sich dann, mit einer einzigen Bewegung, einer geschmeidigen Drehung seines massigen Oberkörpers, rückwärts in den Wagen zu falten und die Tür hinter sich zuzuziehen.

*

Nun also konnte Rolands Tag beginnen, ein kühler Tag im Frühling des Jahres 1986, und er war ihm eine Last. Die Haushaltsarbeit, so stupide, jetzt um ein neues Element vermehrt, das unreine, ungewaschene Gefühl, ein Verdächtiger zu sein. Falls er das denn war. Fast wie schuldig sein. Eine Tat, Ermordung der eigenen Frau, klebte an ihm wie die verkrusteten Frühstücksreste auf Lawrences Gesicht. Der arme Wurm. Einträchtig sahen sie dem Detective zu, der darauf wartete, sich in den Verkehr einzufädeln. Neben der Haustür stand ein dürrer, an einem Bambusstab festgebundener Schössling. Eine Robinie. Der Verkäufer im Gartencenter hatte gemeint, die würde auch in abgasgeschwängerter Luft gedeihen. Von der Türschwelle aus wirkte für Roland alles wie zufällig, fast, als wäre er von einem vergessenen Ort in diese Umstände hinabversetzt worden, in ein von jemand anderem hinterlassenes Leben; nichts davon hatte er selbst gewählt. Das Haus, das er nie kaufen wollte und sich nicht leisten konnte. Das Kind in seinen Armen, von dem er nie angenommen hatte, dass er es einmal lieben und brauchen würde. Der zufällige Verkehr, der langsam an diesem Gartentor vorbeirollte, das jetzt ihm gehörte und das er nie reparieren würde. Die schwächelnde Robinie, die zu kaufen ihm nie eingefallen wäre, der Optimismus, mit dem sie gepflanzt worden war, längst verflogen. Er wusste aus Erfahrung, dass der einzige Ausweg bei Gefühlen der Nichtzugehörigkeit darin bestand, sich etwas Einfaches vorzunehmen und es zu erledigen. Er würde in die Küche gehen und seinem Sohn das Gesicht waschen, so zärtlich wie möglich.

Doch als er die Haustür hinter sich zutrat, kam ihm eine andere Idee. Und diesem Gedanken folgend ging er mit Lawrence die Treppe hoch ins Schlafzimmer, um einen Blick in das aufgeschlagene Notizbuch zu werfen. An den letzten Eintrag konnte er sich nicht erinnern. In fünfzehn Monaten hatte er neun Gedichte in literarischen Zeitschriften veröffentlicht – das Notizbuch das Emblem seiner Ernsthaftigkeit. Kompakt, graue Linien, ein fester dunkelblauer Einband, grüner Rücken. Er würde nicht zulassen, dass es zu seinem Tagebuch verkam, dass darin die Einzelheiten der Entwicklung des Babys festgehalten wurden, seine eigenen Stimmungsschwankungen oder verkrampf‌te Überlegungen zum Zeitgeschehen. Viel zu gewöhnlich. Sein Material war das Gehobenere. Der obskuren Spur einer exquisiten Idee zu folgen, die zu einer freudigen Verengung führen mochte, einem glühenden Punkt, in dem sich reines Licht bündelte und der eine erste Zeile erhellte, die den geheimen Schlüssel zu allen weiteren Zeilen enthielt, die folgen mussten. Das hatte er schon erlebt, aber es zu wollen, sich danach zu sehnen, dass es erneut geschah, garantierte gar nichts. Die notwendige Illusion war die, dass sich das beste je geschriebene Gedicht in unmittelbarer Reichweite befand. Ein klarer Kopf half da nicht. Nichts half. Ihm blieb nichts übrig, als dazusitzen und zu warten. Manchmal knickte er ein und füllte eine Notizbuchseite mit matten eigenen Reflexionen oder mit Passagen von anderen Schriftstellern. Das war das Letzte, was er wollte. Er kopierte einen Absatz von Montaigne über das Glück. Glück interessierte ihn nicht. Davor hatte er Zeilen aus einem Brief von Elizabeth Bishop abgeschrieben. Es half, so zu tun, als wäre man fleißig, aber er konnte sich nichts vormachen. Seamus Heaney hatte in einem Radiobeitrag einmal gesagt, die einzige Pfl‌icht eines Schriftstellers sei es, sich an den Schreibtisch zu setzen und sitzen zu bleiben. Wenn das Baby tagsüber schlief, setzte Roland sich also hin, wartete und schlief oft selbst ein, den Kopf auf der Tischplatte.

Das Notizbuch lag rechts neben der Schreibmaschine, geöffnet auf den Seiten, die Browne aufgeschlagen hatte. Für die Aufnahme hatte er es nicht verrücken müssen. Durch das Schiebefenster fiel kühles, volles Licht. Die Zeilen standen oben auf der Blattrückseite. Seine Teenagerjahre verwandelt, sein Leben in andere Bahnen umgelenkt. Erinnerung, Leid, Zeit. Gewiss Material genug für ein Gedicht. Als er das Notizbuch zur Hand nahm, griff auch das Baby danach. Roland hielt es außer Reichweite, was einen Protestschrei auslöste. Hinter der Schreibmaschine sammelte ein Fives-Ball Staub an. Er hatte das Squash-ähnliche Spiel nie gespielt, hatte den Ball nur nach einer Handverletzung geknetet. Sie gingen ins Bad, er machte das Gesicht des Kleinen sauber und wusch den Ball in Seifenlauge. Etwas, an dem Lawrence seine Kiefer erproben konnte. Es funktionierte. Sie lagen beide rücklings auf dem Bett, Seite an Seite. Der kleine Junge, kaum ein Drittel der Größe seines Vaters, saugte und kaute. Die Passage war anders, als er sie in Erinnerung hatte, denn jetzt las er sie mit dem Blick eines Polizisten. Sie wurde dadurch nicht besser.

Als ich es beendete, kämpf‌te sie nicht dagegen an. Sie wusste, was sie getan hatte. Damals, als Mord über der Welt hing. Sie liegt tief begraben; in schlaf‌losen Nächten aber springt sie aus dem Dunkeln vor. Setzt sich auf den Klavierhocker. Parfüm, Bluse, rote Nägel. Lebendig wie eh und je, mit Erde im Haar wie aus dem Grab. Ach, diese Tonleitern! Grässlicher Geist. Sie will nicht verschwinden. Gerade zur falschen Zeit, wenn ich Ruhe brauche. Sie muss tot bleiben.

Er las den Eintrag zweimal. Beiden Frauen Vorwürfe zu machen war pervers, aber er tat es dennoch: Miss Miriam Cornell, seiner Klavierlehrerin, die sich auf neuartige Weise über Raum und Zeit hinweg in seine Angelegenheiten mischte; und Alissa Baines, geborene Eberhardt, geliebte Gattin, die ihn aus der Ferne, wo immer sie auch war, in ihrem Würgegriff hatte. Bis Alissa ihre Existenz bewies, würde er Douglas Browne nicht los. Und insofern er das Denken des Polizisten beeinflusst hatte, machte Roland sich auch selbst Vorwürfe. Beim zweiten Lesen fand er, seine Handschrift unterscheide sich deutlich von jener der Postkarten und der Notiz. Es war nicht alles verloren, aber es war schlimm.

Er drehte sich auf die Seite, um seinen Sohn anzusehen. Hier eine Einsicht, für die er viel zu lang gebraucht hatte – alles in allem war Lawrence eher Trost als Last. Der Fives-Ball hatte seine Faszination verloren, kullerte aus dem beidhändigen Babygriff und blieb an einer Deckenfalte liegen, speichelglänzend. Der Kleine blickte nach oben, die blaugrauen Augen nichts als leuchtende Aufmerksamkeit. Im Mittelalter hatten Künstler das Sehen als einen Lichtstrahl dargestellt, der vom Geist nach außen schoss. Und Roland folgte diesem Strahl hinauf zu den gesprenkelten Deckenplatten, die angeblich die Brandgefahr minderten, hin zum gezackten Loch, hinterlassen vom Vorbesitzer, der im Schlafzimmer einen Kronleuchter aufgehängt hatte. Was in einem niedrigen, drei mal dreieinhalb Meter großen Zimmer von einigen Ambitionen zeugte. Und dann sah er sie, direkt über ihnen, eine langbeinige Spinne, die kopfüber zur Zimmerecke lief. So viel Entschlossenheit in einem so winzigen Kopf. Jetzt verharrte sie, wiegte sich auf Beinen dünn wie Haar, schwankte wie im Takt zu einer inneren Melodie. Gab es irgendjemanden, einen Experten, der erklären konnte, was sie tat? Da war kein Fressfeind, den sie täuschen musste, keine andere Spinne, die es zu verführen oder zu bedrohen galt, nichts, das sie auf ihrem Weg aufhielt. Trotzdem wartete sie, tanzte auf der Stelle. Als die Spinne schließlich ihren Weg fortsetzte, hatte sich Lawrences Aufmerksamkeit anderem zugewandt. Er drehte den übergroßen Kopf, sah seinen Vater und strampelte heftig mit allen vieren, die Beine streckten und krümmten sich, die Arme schlugen um sich. Er gab alles. Dabei war er aber kommunikativ, sah ihn sogar fragend an. Lawrence ließ Roland nicht aus dem Blick, während er wieder um sich trat und dann mit einem neugierigen, nur halb angedeuteten Lächeln abwartete. Wie war ich? Er wollte für seine Taten bewundert werden. Damit ein sieben Monate altes Baby angeben konnte, musste es eine Vorstellung davon haben, dass es andere, ihm ähnliche Wesen gab, eine Vorstellung, wie es sein mochte, beeindruckt zu sein, wie wünschenswert, wie angenehm es sein konnte, von anderen wertgeschätzt zu werden. Unmöglich? Aber der Anblick war eindeutig. Zu kompliziert, den Gedanken zu Ende zu denken.

Roland schloss die Augen und überließ sich einer langsamen, kreisenden Empfindung. Ah, jetzt schlafen, wenn das Baby nur auch schliefe, wenn sie zusammen hier auf dem Bett schlafen könnten, und sei es nur für fünf Minuten. Doch die geschlossenen Augen des Vaters beschworen für Lawrence ein zu eisiger Dunkelheit schrumpfendes Universum herauf, mit ihm als dem letzten lebenden Geschöpf, frierend und verwaist am einsamen Strand. Tief holte er Luft und schrie, ein erbärmliches, durchdringendes Geheul des Verlassenseins und der Verzweif‌lung. Für sprachlose, hilf‌lose Menschen lag große Macht im brutalen Wechsel extremer Gefühle. Eine krude Form der Tyrannei. Echte Tyrannen wurden oft mit Kindern verglichen. Waren bei Lawrence Freud und Leid nur durch den allerfeinsten Gazeschleier voneinander getrennt? Nicht einmal das. Sie waren eng ineinander verwickelt. Als Roland sich endlich aufraff‌te und zur Treppe ging, das Baby im Arm, herrschte wieder selige Zufriedenheit. Lawrence klammerte sich an das Ohrläppchen seines Vaters und erkundete beim Hinuntergehen mit unbeholfenem Fingerstupsen die Windungen der Ohrmuschel.

Noch nicht einmal zehn Uhr am Vormittag. Es würde ein langer Tag werden. Er war jetzt schon lang. Brownes Stiefelschmutz auf den billigen Edwardianischen Fliesen im Flur führte ihn zurück zu Browne selbst. Ja, ja, es war schon schlimm. Hier aber konnte er einen Anfang machen. Weg damit. Einhändig griff er zum Mopp, füllte einen Eimer und beseitigte den Dreck. Walzte ihn im Grunde so dünn aus, dass er nicht mehr zu sehen war. So wurde letztlich fast jede Sauerei beseitigt. Seine Müdigkeit verwandelte alles in eine Metapher. Die häuslichen Pfl‌ichten sorgten dafür, dass er sich über die Forderungen der Außenwelt ärgerte, ihren Verlockungen widerstand. Vor zwei Wochen hatte es eine Ausnahme gegeben. Die internationale Politik mischte sich in seine Vergangenheit. Amerikanische Kampf‌flugzeuge hatten bei einem Luftangriff auf Libyen seine alte Grundschule zerstört, es aber nicht geschaff‌t, Colonel Gaddaf‌i umzubringen. Wenn er neuerdings einen Artikel über eine Rede von Reagan oder Thatcher las, fühlte er sich außen vor und zugleich schuldig, weil er so unaufmerksam war. Doch jetzt galt für ihn nur, stur zu bleiben und getreu all die Aufgaben zu erledigen, die er sich selbst setzte. Weniger zu denken hatte einiges für sich. Bekomm die Müdigkeit in den Griff, konzentrier dich aufs Wesentliche: Baby, Haus, Einkaufen. Seit vier Tagen hatte er keine Zeitung mehr gelesen. Das Radio in der Küche, das den ganzen Tag leise vor sich hin dudelte, meldete sich gelegentlich im ruhigen Ton männlicher Dringlichkeit, lockte ihn zurück. Er bemühte sich, die Stimme zu ignorieren, während er mit Eimer und Mopp daran vorbeieilte. Das geht dich etwas an, murmelte sie. Unruhen in siebzehn Gefängnissen. So was hat dich interessiert, als du noch Anteil an der Welt genommen hast … Eine Explosion … Der Vorfall wurde bekannt, als schwedische Behörden über radioaktive … Er hastete vorbei. Bleib in Bewegung, schlaf nicht ein, halt die Augen offen.

Nach dem Flur war die Küche dran; Lawrence saß in seinem Hochstuhl und spielte mit einer geschälten Banane. Die Waschbecken-und-Tisch-Säuberungsaktion war so gut wie erledigt. Er trug Lawrence nach oben. Die von ihm in den beiden Schlafzimmern erzielte Ordnung war eher kosmetischer Natur, vorerst aber hatte er den Absturz ins Chaos verhindert. Die Welt kam ihm minimal vernünftiger vor. Hier, oben an der Treppe, lag ein Haufen für die Waschmaschine. Alissa war in diesen Dingen auch nicht besser gewesen. Eigentlich – aber nein, heute wollte er nicht an sie denken.

Später, nachdem Lawrence seine Milch ausgetrunken hatte, schlief er ein, und Roland ging ins Schlafzimmer nebenan. Anstatt selbst zu schlafen, wollte er einige Änderungen an seinem Gedicht über Schlaf‌losigkeit vornehmen. Glamis. Auf bloß angedeutete Weise – es konnten nur Andeutungen sein, weil er nicht genug wusste – ging es um den Nordirlandkonflikt. 1984 war er ein paar Tage in Belfast und Derry gewesen, zusammen mit Simon, einem irischen Freund aus London, neureich dank einer Kette von Fitnessklubs und sehr idealistisch. Simon wollte beidseits der Konfessionsgrenze Tennisvereine gründen. Roland sollte Chef‌trainer werden. Sie suchten nach passenden Orten und lokaler Unterstützung. Sie waren naiv, dumm. Man verfolgte sie, zumindest glaubten sie das. In einem Pub in Knockloughrim riet ihnen ein Typ im Rollstuhl – die Kniescheiben bestimmt zerschossen –, »vorsichtig« zu sein. Simons anglisierter Ulster-Akzent erregte nirgendwo Argwohn. Niemand war sonderlich an Tennistraining für Kinder interessiert. Sechs langweilige Stunden wurden sie an einer Straßensperre von britischen Soldaten aufgehalten, die ihnen ihre Geschichte nicht abkauf‌ten. In jener Woche hatte Roland kaum geschlafen. Es regnete, es war kalt, das Essen grauenhaft, die Bettlaken im Hotel waren klamm, alle rauchten Kette und sahen erbärmlich aus. Er kam sich vor wie in einem schlechten Traum und musste sich immer wieder daran erinnern, dass seine Furcht keine Paranoia war. War sie doch. Niemand hatte ihnen was angetan oder sie auch nur bedroht.

Er fürchtete eine zu große Nähe zu Heaneys Punishment, in dem eine gut erhaltene weibliche Moorleiche Gedanken an ihre »verräterischen Schwestern« heraufbeschwört, irische Frauen, die wegen einer Liebschaft mit dem Feind geteert und gefedert werden, während der Dichter zusieht, empört, aber auch irgendwie mitschuldig, weil er es versteht. Was konnte ein Außenstehender, ein Engländer mit gerade mal einer Woche halbherzigen Engagements in Nordirland, schon über den Konflikt zu sagen haben? Seine neue Idee lief genau darauf hinaus – im Gedicht die eigene Ignoranz und Schlaf‌losigkeit herauszuarbeiten. Darüber zu schreiben, wie verloren und verängstigt er gewesen war. Dann tauchte ein neues Problem auf. Browne hatte diese getippte Fassung, die vor ihm lag, in der Hand gehabt. Roland las den Titel, hörte in Gedanken die tonlose Stimme des Detective und war angewidert von »Glamis mordet den Schlaf«. Schwach, geschwollen, zu sehr in Shakespeares Windschatten. Nach zwanzig Minuten legte er das Gedicht beiseite, um seinem jüngsten Einfall nachzugehen. Er schlug das Notizbuch auf. Das Klavier. Liebe, Erinnerung, Schmerz. Aber auch hier hatte der Detective seine Spuren hinterlassen. In Rolands Beisein war seine Privatsphäre verletzt worden. Gebrochen der unschuldige Pakt zwischen Gedanke und Blatt, Idee und Hand. Oder beschmutzt. Ein Eindringling, eine feindliche Präsenz machte ihm die eigene Wortwahl madig. Er musste sich jetzt mit den Augen eines anderen lesen und gegen mögliche Missdeutungen wehren. Selbstbewusstheit war der Tod eines jeden Notizbuchs.

Er legte es fort, stand auf und dachte an seine unmittelbare Situation, an die Schwere der Umstände. Das genügte, um sich gleich wieder hinzusetzen. Denk sorgfältig nach. Erst eine Woche war vergangen, seit sie ihn verlassen hatte. Genug der Schwäche! Verzärtelt, wo er doch stark sein musste. Irgendeine Lyrik-Autorität hatte mal behauptet, ein Gedicht zu schreiben sei körperliche Arbeit. Er war achtunddreißig, kräftig, besaß Durchhaltevermögen, und was geschrieben stand, blieb seins. Der Poet ließ sich nicht vom Polizisten beirren. Ellbogen auf dem Tisch, Kinn in die Hände gestützt, ermahnte er sich dementsprechend, bis Lawrence aufwachte und zu schreien begann. Für heute war sein Tagwerk getan.

Als er am frühen Nachmittag das Baby anzog, um einkaufen zu gehen, hörte er die Vögel in der Dachrinne an der Rückwand des Nachbarhauses zanken, und ihm kam ein Gedanke. Unten im Haus, Lawrence im Arm, sah er auf dem Tischkalender nach, der neben dem Telefon im Flur auf einem Stapel Telefonbücher lag. Schon Mai, irgendwie hatte er das gar nicht mitbekommen. Und da Samstag war, musste bereits der dritte sein. Seit dem frühen Vormittag hatte sich das kleine staubige Haus aufgeheizt. Er öffnete ein Fenster im Parterre. Sollten die Diebe doch kommen, während er sich in den Geschäften herumtrieb. Sie würden nichts finden, was sich zu stehlen lohnte. An der Ziegelmauer wärmte sich ein Schmetterling, ein Tagpfauenauge. Keine Wolke war am Himmel, den er tagelang ignoriert hatte, und es roch schwer und süß nach der Rasenmahd von nebenan. Lawrence würde keinen Mantel brauchen.

Roland war nicht gerade unbeschwert, als er mit dem Baby im Kinderwagen aus dem Haus ging, doch schien ihm sein beengtes Leben auf einmal weniger wichtig. Es gab andere Leben, größere Sorgen. Unterwegs versuchte er es mit forscher Gleichgültigkeit; hast du deine Frau verloren, finde dich damit ab, suche dir eine neue oder warte darauf, dass sie zurückkommt – viel mehr Möglichkeiten gab es nicht. Sich den Kopf nicht unnötig zu zerbrechen, darauf kam es letztlich an. Sie beide, Lawrence und er, würden schon zurechtkommen. Morgen waren sie bei guten Freunden zum Essen eingeladen, die zehn Minuten entfernt wohnten. Das Baby würde auf dem Sofa einschlafen, geschützt von einer Reihe Kissen. Daphne war eine alte Freundin, seine Vertraute. Sie und Peter kochten ausgezeichnet. Sie hatten drei Kinder, eines so alt wie Lawrence. Andere Freunde würden auch da sein. Sie würden neugierig nach den jüngsten Entwicklungen fragen. Douglas Brownes Besuch, seine Art, ihn zu verhören, das flache Grab im New Forest, seine empörenden Übertretungen, die kleine Kamera in der Manteltasche und was der Sergeant gesagt hatte – ja, all das würde Roland zu einer Komödie umdichten. Aus Browne würde Wachtmeister Dogberry aus Viel Lärm um nichts. Auf dem Weg zu den Geschäften lächelte er vor sich hin und malte sich das Gelächter seiner Freunde aus. Sie würden bewundern, wie gut er das alles wegsteckte. Manche Frauen fanden einen Mann, der ein Kind allein aufzog, durchaus attraktiv, gar heldenhaft. Die Männer würden glauben, ihm seien Hörner aufgesetzt worden. Er aber war ein wenig stolz auf sich selbst, auf die Wäsche, die sich in diesem Moment in der Maschine drehte, auf den sauberen Flur, auf das zufriedene, gut genährte Kind. Er würde sich einige Blumen aus dem Blecheimer kaufen, an dem er vor zwei Tagen vorbeigekommen war. Zwei Bund rote Tulpen für den Küchentisch. Der Laden war gleich da vorn, eher Kiosk als Blumenhändler, und wenn er schon hinging, würde er sich auch gleich eine Zeitung kaufen. Er war bereit, sich der großen turbulenten Welt zu stellen, und würde im Park das Neueste darüber lesen, sofern Lawrence es zuließ.

Es war unmöglich, sich eine Zeitung zu kaufen, ohne einen Blick auf die Schlagzeile zu werfen. Radioaktive Wolke erreicht Großbritannien. Aus dem Gemurmel seines Küchenradios hatte er bruchstückhaft schon von der Explosion gehört. Und während er darauf wartete, dass die Blumen eingewickelt wurden, fragte er sich, wie es eigentlich möglich war, dass man etwas wusste, wenn auch nur ansatzweise, es aber zugleich verleugnete, nicht wahrhaben wollte und von sich wies, um dann, im Moment der Offenbarung, den Luxus des Schocks zu genießen.