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Das neue umfassende Werk über den umstrittenen Revolutionär! Fanatiker oder Hoffnungsträger? Wer war der Revolutionär, der mit seinen Ideen nicht nur Russland, sondern die ganze Welt veränderte? Die Biografie stellt Werdegang und Denken von Wladimir Iljitsch Lenin ins Zentrum. Sie hakt dort nach, wo sich Urteile verfestigt haben. Zusammenhänge werden neu arrangiert und überraschende Erklärungen dafür angeboten, wie einem Außenseiter der Aufstieg zum Führer des ersten sozialistischen Staates gelang. Die Autoren rollen nach umfassender Einsicht in Originaldokumente die Biografie eines Mannes auf, der als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gilt. So entsteht ein neues, vielschichtiges Lenin-Bild, das die Geschichte eines Einzelgängers in einer Welt im Umbruch erzählt. Spannend, informativ und fesselnd!
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Seitenzahl: 985
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Verena Moritz · Hannes Leidinger
DIE BIOGRAFIE
Eine Neubewertung
Residenz Verlag
Für Lena
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Salzburg – Wien
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlaggestaltung und grafische Gestaltung / Satz:
Joe P. Wannerer – BoutiqueBrutal.com
Umschlagbild: Gomes/Projekt »Lenin is still around«.
Lektorat: Eva-Maria Kronsteiner
ISBN 978 3 7017 4711 5
Einführung
1 Der Bruder
2 Verbannung und Aufbruch
3 Am Anfang war die Partei
4 Entfremdungsprozesse
5 Generalprobe
6 Aus der Ferne
7 Lehren
8 Wirklichkeiten, Möglichkeiten
9 Zukunftsperspektiven
10 Lenin weist den Weg
11 Brandreden
12 Ende der Illusionen
13 Umsturz
14 Weichenstellungen
15 Blutige Wirren
16 Die neue Internationale
17 Nachleben. Lenin in der (post)sowjetischen Erinnerung und Geschichtspolitik
18 Vermächtnis und Bilanz
Zeittafel
Abkürzungen
Personenregister
Weiterführende Links
1 Die Texte 15, 16, 17 stammen von Hannes Leidinger, die restlichen von Verena Moritz. Kapitel 18 ist ein gemeinsamer Text.
Die russischen Revolutionäre wollten den totalen Umsturz.In ihm werde die gesamte alte Welt mit ihrem Bösenund ihrer Finsternis,mit ihren Heiligtümern und Werten verbrennenund auf der Brandstätte ein das ganze Volkund alle Völker beglückendes neues Leben erstehen.Mit weniger als dem Glück der ganzen Weltmag der russische Revolutionär sich nicht zufriedengeben.Sein Bewusstsein ist apokalyptisch.
Nikolaj Berdjajew, Die Geister der russischen Revolution1
1 Nikolaj Berdjajew, Die Geister der russischen Revolution, in: De profundis. Vom Scheitern der russischen Revolution, hg. von Ulrich Schmid und mit einer Einleitung von Karl Schlögel, Berlin 2017, 108f.
Als der unter seinem Pseudonym »Lenin« bekannt gewordene Wladimir Iljitsch Uljanow am 21. Januar 1924 aus dem Leben schied, überbot sich nicht nur in der Sowjetunion die Presse in ihren Versuchen, dem Anlass gemäße Darstellungen seiner Vita abzuliefern. Während man dort in einer bombastischen Verherrlichung des Verstorbenen schwelgte und den Tod des Revolutionsführers betrauerte, zogen einige Blätter im Westen bei ihrem Rückblick auf Leben und Werk Lenins Vergleiche mit anderen historischen Persönlichkeiten. Dabei fielen u. a. Namen wie Oliver Cromwell und Maximilien de Robespierre. Analogien zu historischen Umbrüchen, zur Glorious Revolution sowie zur Französischen Revolution, schienen sich mit Blick auf das Lebenswerk des umstrittenen russischen Regierungschefs anzubieten. Im Zentrum aller Berichte stand erwartungsgemäß Lenins Sternstunde: die »Oktoberrevolution« im Jahr 1917.
Jene, die mit dem Umsturz vor allem den Aufbruch in eine neue Zeit verbanden, die Überwindung von Unterdrückung und Knechtung sahen oder sich von der Strahlkraft einer angekündigten hellen Zukunft beindrucken ließen, priesen den Toten als genialen Revolutionär und visionären Führer oder zumindest als wagemutigen Pionier, der sich an nichts weniger als die Verwirklichung des Sozialismus gewagt hatte. Andere sahen ihn wiederum als realitätsfernen Fanatiker oder doktrinären Eiferer, brandmarkten ihn als Gewaltmenschen und skrupellosen Zyniker. Ungeachtet solcher Urteile konstatieren ihm vergangene wie gegenwärtige Kommentator:innen eine überragende Relevanz. Sein Wirken zu Beginn des 20. Jahrhunderts und seine Ideen prägten die Weltgeschichte über Jahrzehnte hindurch. Der bolschewistische Oktoberumsturz im russischen Petrograd bzw. St. Petersburg mag das fragwürdige Projekt einer überschaubaren Gruppe von Revolutionären gewesen sein, die Lenins Drängen auf die Machtergreifung obendrein nicht widerspruchslos und eher zaghaft nachkamen. Trotzdem stellt das, was auf den 25. Oktober 1917 folgte, eine so tiefgreifende Zäsur dar, dass sie den Beginn eines »kurzen« 20. Jahrhunderts markierte, dessen Ende dann mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gleichgesetzt wurde.
Besteht Konsens über Lenin als einflussreiche historische Persönlichkeit, gibt es offensichtlich ein Überangebot an Zuschreibungen und viele außerordentlich unterschiedliche, ja völlig konträr gezeichnete Lenins. Je nach weltanschaulichen Standpunkten und einer sich verändernden politischen Konjunktur wurden die Urteile immer wieder nachjustiert oder erfuhren bestimmte Schwerpunkte. Im postsowjetischen Russland verschob sich die zuvor bedingungslose Bewunderung und kultische Verehrung des Revolutionsführers nach und nach hin zu einer mehr oder weniger diffusen Ablehnung. 1993 wurde bezeichnenderweise das große Lenin-Museum in Moskau geschlossen.1 Diskussionen über die »Lebensberechtigung« sogar des Mausoleums am Roten Platz setzten sich nach der Amtszeit von Boris Jelzin fort. Das Regime unter Wladimir Putin begann, Lenin vor allem als Vaterlandsverräter und Verschwörer zu sehen, der seine Heimat ausländischen Machtgelüsten preisgab, um sie später in neuer Gestalt wieder zu errichten. Dennoch legte eine 2017 anlässlich des 100. Jahrestags der Revolution in Auftrag gegebene Umfrage offen, dass im Vergleich zu 2006 wieder mehr – nämlich 56 statt zuvor 40 Prozent – Russ:innen positive Assoziationen mit Lenin verbanden.2 Die Beharrungskraft eines über so lange Zeit als Erlösergestalt verklärten »Führers« ist womöglich größer, als die Architekten der russischen Geschichtspolitik vermutet hatten. Demensprechend entnehmen abstruse Lenin-Interpretationen dem Werk des geschmähten Revolutionärs bei aller Kritik immerhin seine angebliche Einsicht, einen vom Westen losgelösten Weg beschreiten zu müssen, als richtungsweisenden Auftrag für Russlands Zukunft.3 Andere wiederum verpflanzen Lenin als »Pantokrator der Sonnenstäubchen« – so der kuriose Titel einer nichtsdestoweniger erfolgreichen Lenin-Biografie – in die russische Gegenwart, unterziehen seine Lebensgeschichte einer eigenwilligen Aktualisierung und formen ihn zur allumfassenden Identifikationsfigur für – jeden.4
Das westliche Lenin-Bild blieb oder bleibt indessen relativ stabil. Enthüllungen ab den 1990er Jahren, die den Bolschewikenführer als rücksichtslosen Fürsprecher von Terror und Unterdrückung entlarvten, führten außerhalb Russlands dazu, noch vorhandene Sympathien weitgehend zu tilgen und durchaus verbreiteten Fehleinschätzungen entgegenzuwirken. Der »gute«, von Motiven der Weltverbesserung durchdrungene Lenin, der dem »bösen« Machtmenschen Stalin als »reine« Lichtgestalt gegenübergestellt wurde, erwies sich keineswegs als der makellose Heilige, als der er verehrt wurde. Freilich trafen solche »Entdeckungen« auch auf resistente Lenin-Anhänger:innen, die den Sermon von einem gerechtfertigten revolutionären Terror gegen eine ausbeuterische Bourgeoisie und verräterische Sozialchauvinisten genügend verinnerlicht hatten, um den Denkmalsturz zu ignorieren. Lenin selbst hatte entsprechende Anhaltspunkte für eine Exkulpation geliefert: Er relativierte seinen Terror als weit »harmloser« als jenen einer über Jahrhunderte herrschenden Elite, die sich kraft Geburtsrechts und Gewaltmonopols über das Volk erhob, es entmündigte, ausbeutete und in Kriege hetzte. Dieser Kontrast sicherte ihm die Wertschätzung selbst von Kritiker:innen, die sich von seinen Methoden abgestoßen fühlten, nicht aber von seinen Zielen.
Unter diesen und anderen Vorzeichen gab es auch in den letzten Jahren vereinzelt Versuche, Lenin gewissermaßen wiederzubeleben bzw. wurden seine Ideen anscheinend für würdig befunden, wiederbelebt zu werden.5 Das vorliegende Buch will das nicht. Es lässt sich demensprechend auch gar nicht erst auf eine ausufernde Diskussion über ein gescheitertes sozialistisches Experiment ein, dem im Prinzip begrüßenswerte Ideale zugrunde lagen und das bei günstigeren Verhältnissen womöglich hätte funktionieren können. Behandelt wird nicht, was hätte sein können, sondern was war oder aus unterschiedlichen Gründen sich zu etwas entwickelte, das sich von Lenins – durchaus fragwürdigen – ursprünglichen Plänen einerseits weit entfernte und ihnen andererseits entsprach. Wer mit »Massenerschießungen«, »Gasbomben«, »Revolutionstribunalen« und staatlichem Terror »ohne jegliche Rechtsgarantien für die Delinquenten die neue Gesellschaft herbeimorden« wolle, der komme nicht bei der »höheren Lebensform« des Sozialismus an.6 Das schrieb ihm eine seiner wichtigsten Leitfiguren und gleichzeitig einer seiner größten Kritiker ins Stammbuch: Karl Kautsky.
Lenin hat das Interesse einer Vielzahl von Biograf:innen auf sich gezogen. Anhand von mehrbändigen Chroniken mit Zehntausenden Einträgen lassen sich beinahe zu jedem Tag seines Lebens Informationen finden.7 Die höchst produktive Lenin-Biografik mit dem Enthüllungsbuch von Dimitrij Wolkogonow, dem so vielschichtigen und kenntnisreichen Lenin-Porträt von Robert Service oder der klaren und anregenden Analyse Lenin’scher Ideologie und Politik von Wolfgang Ruge als Beispiele aus der Phase nach dem Ende der Sowjetunion begann aber in den letzten Jahren langsam etwas auszudünnen.8 Blickt man auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit, dann ist es sicher die umfassende Lenin-Biografie von Louis Fischer, die auch heute noch zu beeindrucken vermag.9 So scheint es, als sei alles schon erzählt worden, was es über Lenin zu wissen gibt. Nachdem die Öffnung sowjetischer Archive den Großteil dessen zugänglich gemacht hatte, was lange Zeit nur ganz wenigen Auserwählten bekannt gewesen war, ergaben sich im Wesentlichen keine großen Überraschungen mehr. Auch wenn von den etwa 3700 unveröffentlichten Lenin-Manuskripten, die noch Anfang der 1990er Jahre darauf warteten, ans Licht der Öffentlichkeit zu gelangen, sicher nicht alle publiziert wurden, fällt es schwer, an immer noch verborgene Sensationen zu glauben, die alles umwerfen könnten, was man bisher von Lenin gedacht hatte.10 Am ehesten seit jeher als streng geheim klassifizierte Dokumente über die erste Phase des Weltkommunismus könnten vielleicht noch interessante Details enthalten. Sie blieben aber auch in der Zeit von Glasnost und Perestrojka unter Verschluss und werden es wohl auch bleiben.
Hinzu kamen aber in den letzten 30 Jahren detaillierte Forschungen und umfangreiche Publikationen über die Russische Revolution, die sich auch als erweiterte Lenin-Biografien lesen lassen. Tatsächlich ist die Literatur über den Oktoberumsturz, seine Vorgeschichte und seine Folgen nahezu unüberschaubar geworden.11 Dabei ging es den Autor:innen immer wieder darum, gängige Narrative aufzubrechen, hinter die Kulissen zu blicken und Quellen einer abermaligen Durchsicht zu unterziehen. Diese Neubewertung vorhandener oder auch dominanter Erzählungen nahmen sich vereinzelt auch ein paar Lenin-Forscher:innen zum Vorbild, um ihrerseits einen frischen Blick auf den umstrittenen Revolutionsführer zu werfen. Ergebnis war eine überschaubare Anzahl englischsprachiger Publikationen, deren Reichweite vermutlich kaum über kleine akademische Zirkel hinausging. An den wertvollen Anregungen, die sie enthalten, sollte aber nicht vorbeigegangen werden – selbst wenn man so manche Schlussfolgerung der Autor:innen nicht oder nicht immer zur Gänze teilen kann.12 Lang davor hat bereits Dietrich Geyer mit seiner imponierenden Studie über »Lenin in der russischen Sozialdemokratie 1890–1903« tiefgründige Einsichten über dessen Anfänge als Revolutionär und Parteimann geliefert. Will man dem Werden Lenins nachspüren, ist Geyers 1962 veröffentlichte Schrift nach wie vor eine unverzichtbare Grundlage.13
In Anbetracht der Bedeutung Lenins für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und der 100 Jahre, die seit seinem Ableben vergangen sind, erscheint es in jedem Fall angemessen, eine Neubetrachtung zu wagen. Vorhandenen, zuweilen immer noch ideologisch verzerrten oder aber fragmentarischen Lenin-Bildern sollen möglicherweise überraschende Perspektiven hinzugefügt werden, bekannte Aspekte sind gegebenenfalls anders zu gewichten. Die vorliegende Biografie sucht nach einem historischen Lenin.14 Sie ist außerdem als eine Art Update zu verstehen, weil eine Vielzahl von neueren Arbeiten miteinbezogen wurde, um die hier vorgestellten Interpretationen zu stützen bzw. zu diskutieren. Berücksichtigung fanden aber natürlich auch ältere Publikationen, weil sie – wie am Beispiel von Dietrich Geyers Buch betont wurde – immer noch wichtige Anhaltspunkte für die Suche nach einem Lenin enthalten, der sich mit einer einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnung kaum erfassen lässt.15 Bei alledem will die vorliegende Lebens- oder eher Lebenswerkbeschreibung in erster Linie seine Entwicklung als Revolutionär und Parteiführer in den Blick nehmen. Im Mittelpunkt steht folgerichtig die Frage, wie Lenin dachte, warum er das so tat und wie sich seine Konzepte und Anschauungen – immer wieder auch in Kontrast zu oder im Dialog mit vorherrschenden Interpretationen – in damalige Diskurse einfügen lassen. Der private Lenin oder vielmehr Wladimir Iljitsch Uljanow und sein Umfeld, über den überdies mehr oder weniger aktuelle Werke greifbar sind, treten demgegenüber eher in den Hintergrund.16
Die Neubetrachtung von Lenins politischem Leben führt den Leser bzw. die Leserin auf das Terrain vieler theoretischer Fragen, die Lenin beschäftigten. Sie reflektieren eine Zeit großer Umbrüche und leidenschaftlicher Diskussionen über die Zukunft. Lenin lebte vor diesem Hintergrund viele Leben, wirkte im konspirativen Milieu und im Exil, verbrachte Jahre im Gefängnis und in Verbannung und war mehrmals auf der Flucht. Selbst aus der zeitlichen Distanz von über 100 Jahren macht es immer noch staunen, dass der Führer einer kleinen Partei, die bis 1917 über weite Strecken im Untergrund oder halb legal wirkte, nur wenige Monate nach der Heimkehr aus seinem Exil an die Spitze des früheren Zarenreichs gelangen konnte.
Die Berücksichtigung von Forschungsdiskussionen oder das Aufzeigen vieler Querverbindungen zur internationalen Sozialdemokratie sowie zur damaligen Weltpolitik machen immer wieder einen Perspektivenwechsel erforderlich, der nicht zuletzt einem breiteren Lesepublikum entgegekommen will. Die Ausführungen greifen bei alledem weit aus und behandeln einzelne Themen mehrmals, um entlang von verschiedenen Fragen Zusammenhänge klar oder klarer zu machen und um einen »vollständigeren« Lenin entdecken zu helfen. Totale und Nahaufnahmen wechseln, die Chronologie wird aufgebrochen, um Längsschnitte einzufügen oder um einzelnen Aspekten genauer nachzugehen.
Zahlreiche Gespräche mit Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Interesse an der Figur Lenin haben, trugen im Vorfeld und während der Arbeit am Buch zu der Entscheidung bei, bestimmte Themen besonders detailliert zu behandeln. Dazu zählen beispielsweise die Parteispaltung 1903, die »Diktatur des Proletariats« als Konzept oder aber die Frage der Alternativen zur Rätemacht. Lenin, das zeigte sich im Zuge der erwähnten Gespräche, erschien vielen wie ein »Revolutionär aus der Flasche«, weil sie ihn ausschließlich mit dem Jahr 1917 verknüpften. So betrat er die Weltbühne wie eine Art Dschinn, der unvermittelt aus einem Gefäß entwich und schnurstracks die »Oktoberrevolution« herbeizauberte. Zu zeigen, dass Lenin alles andere als ein »Flaschengeist« war, bedingte daher auch, die Botschaften des »Roten Oktober« weiter zurückzuverfolgen und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Vita zu schreiben.
Zentral bei dem Versuch, den historischen Lenin sichtbar zu machen, ist zweifellos das Einordnen seiner Überlegungen und Konzepte in den Kontext der damaligen Sozialdemokratie mit ihren Interpretationen des Marxismus und ihren stark voneinander abweichenden Meinungen über den »richtigen Weg« hin zur Überwindung der »Klassenherrschaft«. Karl Kautsky, der bereits erwähnte deutsche Parteitheoretiker mit altösterreichischen Wurzeln, präsentiert sich hier für Lenin als zentrale Figur, die ihm immer wieder Anlass gab, zwischen Distanz von und Nähe zur internationalen Sozialdemokratie zu schwanken, bevor er sich mit Abscheu nicht nur von ihr, sondern auch von ihm abwandte. Der Hass war in der Folge auf beiden Seiten groß. Kautsky führte ab 1918 wohl nicht zuletzt deswegen einen so regen publizistischen Feldzug gegen den Bolschewikenführer, weil dieser sich unentwegt auf ihn berief und ihn so zum ideellen Kollaborateur eines »Diktators« machte, dessen Verfolgungswahn selbst vor ehemaligen Weggefährten nicht haltmachte. Die Praxis der bolschewistische Machtausübung vor Augen, sah sich Kautsky primär bemüßigt, all die – wie er meinte – Irrtümer Lenins und der Bolschewiki über Marxismus und Demokratie auszuräumen. Demokratie sei, schrieb er, möglich ohne Sozialismus, aber nicht umgekehrt.17
Der manchen vielleicht eher unbekannte Lenin, der sich und seine Theorien ursprünglich als Teil der internationalen Sozialdemokratie verstand, aber dabei zu ganz anderen Schlüssen kam als später Karl Kautsky, blickt auf einen Werdegang zurück, in dem das Schicksal seines Bruders von größter Bedeutung war. Dessen Hinrichtung als Zaren-Attentäter im Jahr 1887 stellte die Welt der Familie Uljanow auf den Kopf und katapultierte den damals siebzehnjährigen Lenin in die Laufbahn des notorischen Widerständlers. Diesen schickten die Behörden des autokratischen Romanowimperiums in die Verbannung nach Sibirien, wo er zu einem politischen Kopf reifte, der den Elan eines marxistischen Eiferers entwickelte und sich gleichzeitig von den terroristischen Methoden früherer Revolutionäre nicht vollends trennte. Die Neuorientierung der bereits 1898 gegründeten Russischen Sozialdemokratischen Partei unter seiner Federführung begriff Lenin als Ausgangspunkt für die Umgestaltung des gesamten Zarenreichs. Als Längsschnitt aufbereitet ist in der Folge die Spaltung von 1903, als sich die russische Sozialdemokratie in Bolschewiki und Menschewiki teilte oder eher zu teilen begann. Sie wirft eine Menge von Fragen auf, die nicht zuletzt auf das Problem der Wesensmerkmale des Bolschewismus bzw. Leninismus und seiner »Abartigkeit« abzielen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dann der Revolution von 1905, die essenziell war nicht nur für Lenins Verständnis davon, wie ein Umsturz »gemacht« werden konnte, sondern auch, wie und warum er scheiterte.
Der junge Lenin bzw. die Frühzeit seiner Entwicklung bildet zweifellos einen der Schwerpunkte des Buches. Das gilt nicht minder für jene Periode, die oft ins Hintertreffen gerät, da für gewöhnlich erst nachfolgende Zäsuren für bedeutsamer gehalten werden. Das heißt, dass auch die Jahre 1905 bis 1914, bevor der Erste Weltkrieg Lenin zu einem noch konsequenteren revolutionären Kurs animierte, besonders detailliert beschrieben werden. Die Ereignisse im Jahr 1917 bzw. die Rolle, die er damals spielte, sind ohne Kenntnis dieser Vorgeschichte nicht zu verstehen.
Aufgegriffen werden des Weiteren auch Verschwörungstheorien, die Lenin vor allem im Zusammenhang mit einer Kollaboration mit Deutschland, das sich ab 1914 im Krieg mit Russland befand, sahen und sehen. Dabei soll anhand einzelner Fragen abgewogen werden, inwieweit das Bild vom Verräter zutreffend oder aber überzogen ist. Neue An- oder Einsichten bieten auch die Überlegungen zu Lenins politischem Kurs ab dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Hier gilt es, u. a. zu fragen, wie tief diese Zäsur in Hinblick auf seine eigenen Konzepte ging bzw. inwieweit auch hier ganz einfach seine Anpassungsfähigkeit an neue Situationen zum Tragen kam.
Es hätte den Rahmen des Buches gesprengt, Lenins nachrevolutionäre Politik mit all ihren vielschichtigen Hintergründen und Auswirkungen so abzuhandeln, dass die Darstellung der Breite und Vielfalt diesbezüglicher Forschungen auch nur ansatzweise gerecht geworden wäre. Tatsächlich sind gerade für diese Phase unzählige verdienstvolle und überaus lesenswerte Publikationen vorhanden. Dennoch: Die Frage der bolschewistischen Alleinherrschaft sowie der Friede von Brest-Litowsk, mit dem die Bolschewiki im März 1918 aus dem Weltkrieg ausschieden, konnten selbstverständlich ebenso wenig ausgespart werden wie der Bürgerkrieg und Lenins Rezepte für den Aufbau des Sozialismus. Zusätzlich zu den vielen veröffentlichten Untersuchungen, die diese Themen behandeln und in das vorliegende Buch eingeflossen sind, wurden auch russisch- sowie deutschsprachige Quelleneditionen und nicht zuletzt Lenins eigene Texte herangezogen. Sie legen Kalkül und Taktik des kommunistischen Parteichefs, der er ab 1918 war, in wesentlichen Punkten offen. Der Auseinandersetzung mit der gesamten Materie gemeinsam ist der Versuch, anhand verschiedener Fragen dort zuzuspitzen und nachzuhaken, wo in den »großen Erzählungen« der Ablauf der Ereignisse vielleicht zu »glatt« erscheint. Am Ende stehen eine knappe Rekonstruktion von Lenins »Nachleben« und eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Bilanz, die er, gezeichnet von schwerer Krankheit, gegen Ende seines Lebens zog.
Ohne russische Geschichte lässt sich eine Lenin-Biografie selbstredend nicht schreiben. Sie bzw. die Entwicklung des Zarenreichs in groben Strichen nachzuzeichnen, ist unerlässlich, um verstehen zu können, wie aus Wladimir Iljitsch Uljanow aus Simbirsk eine welthistorische Schlüsselfigur wurde. Dabei gilt es, ein paar Besonderheiten zu beachten: Zum einen betrifft das die russische Zeitrechnung mit ihrem julianischen Kalender, die vom im Westen gebräuchlichen gregorianischen ein paar Tage abwich. Zeitangaben im Buch richten sich nach dem julianischen Kalender, den die Bolschewiki 1918 an die westliche Zeitrechnung anglichen. Das Zarenreich, das korrekterweise als »Russländisches Imperium« anzuführen wäre, wird im Buch synonym als »Russland« bezeichnet, das Adjektiv »russländisch« zu »russisch« gemacht. Dieses Zugeständnis an die im Deutschen zu Lenins Zeit gebräuchliche Verwendung von »Russland« und »russisch« versus »Russländisches Imperium« und »russländisch« entspricht auch den vorherrschenden Leser:innengewohnheiten. Trotzdem muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der Terminus »Russländisches Imperium« den Charakter des zarischen Vielvölkerreichs angemessener abbildet. Ethnische Russen machten überdies weit unter der Hälfte der Gesamtbevölkerung des Romanowimperiums aus. Die »Oktoberrevolution« wird – sofern nicht ohnehin als Oktoberumsturz bezeichnet – unter Anführungszeichen gesetzt. Die damit beabsichtige Relativierung, die in der Geschichtswissenschaft mittlerweile üblich ist, gründet sich auf der Tatsache, dass die Machtergreifung an sich nicht als Revolution zu sehen ist, sondern für den Sturz der Provisorischen Regierung als militärische Operation geplant wurde. Bis zum 25./26. Oktober sprachen die Bolschewiki außerdem selbst von einem »Aufstand«, der aber schon während der Kämpfe in Russlands Hauptstadt bzw. nach seinem Gelingen umgehend als »Revolution« überhöht wurde, als die sie sich im Sinne der weiteren politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen dann auch darstellte.
Die russische Hauptstadt St. Petersburg wurde mit Kriegsbeginn 1914 in Petrograd umbenannt. Die nachfolgenden Ausführungen halten sich an diese Namensänderung. Die Nennung russischer Eigennamen folgt im Wesentlichen der Duden-Transkription. Einige »eingedeutschte« Familiennamen werden in der solcherart üblich gewordenen Schreibweise angeführt.
Verena Moritz und Hannes Leidinger, Wien im Mai 2023
1 David Hearst, One step forward, two steps back. Just when the Lenin museum was, in: The Guardian, 30.11.1993, 24.
2https://www.rferl.org/a/russia-lenin-positive-role-levada-poll/28441045.html(2.3.2023). Vgl. Ian Kershaw, Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert, München 2022, 72. Vgl. auch Dietrich Beyrau, Oktoberrevolution. »Flammenschrift auf Europas östlicher Wand«, in: Jahrbuch für Kommunismusforschung (2017), 31–52, 32f.
3 Vgl. S. G. Kara-Murza, Lenin. Algoritm revoljucii I obraz buduščego, Moskva 2018. Der Autor ist nicht zu verwechseln mit dem russischen Regimekritiker Wladimir Kara-Murza.
4 Vgl. Lev Danilkin, Lenin. Pantokrator solnečnych pylinok, Moskva 2017.
5 Siehe u. a.: Slavoj Žižek, Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt am Main 2017.
6 Mike Schmeitzner, Antinomie und Verflechtung. Kautsky, Lenin, Trotzki und der Deutungskampf um die »Diktatur des Proletariats«, in: Mike Schmeitzner (Hg.), Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision, Baden-Baden 2022, 43–64, 56f.
7 Siehe dazu die sogenannte »Biochronika« unter https://leninism.su/biograficheskiexroniki-lenina.html (17.2.2023). Die Betreiber:innen der Site geben sich allerdings an einigen Stellen als Verteidiger:innen des Andenkens Stalins zu erkennen, was auch die Zusammenstellung der Vielzahl angebotener, qualitativ höchst unterschiedlicher Materialien zur Biografie Lenins fragwürdig erscheinen lässt.
8 Wolfgang Ruge, Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie, Berlin 2010; Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000; Dimitri Wolkogonow, Lenin. Utopie und Terror, Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1994.
9 Louis Fischer, Das Leben Lenins, Köln/Berlin 1964.
10 Vgl. Ruge, Lenin, 399.
11 Hervorzuheben ist insbesondere: Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017.
12 Vgl. etwa die mit Gewinn zu lesende Biografie von Christopher Read, der aber mit einem Resümee wie »Lenin Lived! Lenin Lives! Lenin Will Live Forever!« den Verdacht einer Art Rehabilitationsversuch nährt: Christopher Read, Lenin. A Revolutionary Life, London/New York 2005. Siehe auch: Lars Lih, Lenin Rediscovered. What is to Be done? In Context, Jefferson 2005; Anna Krylova, Beyond the Spontaneity-Consciousness Paradigm: »Class Instinct« as A Promising Category of Historical Analysis, in: Slavic Review 62/1 (2003), 1–23; Leopold Haimson, Lenin’s Revolutionary Career Revisited. Some Observations on Recent Discussions, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 5/1 (2004), 55–80, oder Richard Mullin, The Russian Social-Democratic Labour Party, 1899–1904, Leiden/Boston 2015.
13 Dietrich Geyer, Lenin in der russischen Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung im Zarenreich als Organisationsproblem der revolutionären Intelligenz 1890–1903, Köln/Graz 1962.
14 Vgl. Read, Lenin, 283f.
15 Neben Geyer zu würdigen gilt es u. a. die im Folgenden oft zitierten Arbeiten von Manfred Hildermeier.
16 Vgl. Victor Sebestyen, Ein Leben, Berlin 2017, aber auch Helen Rappaport, Conspirator. Lenin in Exile, New York 2010.
17 Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, 5.
Als Lenin 1917 nach Russland zurückkehrte, lagen vielen Jahre des Exils hinter ihm. Damals soll er, um Angaben zu seiner Person ersucht, folgende Zeilen niedergeschrieben haben: »Mein Name ist Wladimir Iljitsch Uljanow. Ich wurde am 10. April1 1870 in Simbirsk geboren. Im Frühjahr 1887 wurde mein älterer Bruder Alexander von Alexander III. zum Tode verurteilt, weil er einen Anschlag auf sein Leben (1. März 1887) gemacht hatte …«2
Alexander Iljitsch Uljanow war keine 21 Jahre alt, als er als Mitglied einer kleinen Gruppe von Verschwörern verhaftet wurde. Der Student, den Familie und Freunde »Sascha« riefen, hatte gemeinsam mit einer Handvoll Kommilitonen die Ermordung des Zaren geplant. Der russische Monarch, Alexander III., sollte durch das Zünden eigens hergestellter Sprengkörper beseitigt werden. Doch das Bombenattentat kam nicht zur Ausführung. Die jungen Männer wurden bereits überwacht, als sie zur Tat schreiten wollten. Schon Wochen vor dem beabsichtigten Terrorakt nahm die Polizei in St. Petersburg Ermittlungen auf. Auf einer Liste mit den Namen der Verdächtigen befand sich auch jener von Lenins Bruder.
Von Saschas Mordplänen wusste die Familie im fernen Simbirsk nichts. Seine Verhaftung im März 1887 traf sie völlig unvorbereitet. Zwei Attentäter, ausgestattet mit einer Schusswaffe, wurden auf der Prachtstraße der russischen Hauptstadt, dem Newskij-Prospekt, von Ordnungswächtern angehalten. Vier weitere Komplizen, die zum Teil kleinere Sprengkörper sowie eine als Buch getarnte Bombe bei sich trugen, wurden von den »Detektiven«, die für den Schutz des Zaren abgestellt worden waren, ebenfalls festgenommen. Der Zugriff auf Sascha erfolgte kurze Zeit später in der Unterkunft von zwei weiteren Mitverschwörern.3
Der Entscheidung für den Zarenmord vorangegangen waren verschiedene Protestaktionen der Petersburger Studenten. Sie blieben wirkungslos und machten lediglich eines deutlich: das Beharrungsvermögen der Obrigkeit und die scheinbare Allmacht der Ochrana, der russischen Geheimpolizei. Trotzdem waren wohl diese am Ende bescheiden dimensionierten Versuche der Auflehnung mitentscheidend dafür, dass Sascha Uljanow sich zum Revolutionär wandelte. Als im Spätherbst 1886 nach einer Demonstration die Verhaftung von 40 Studenten erfolgte, fertigte er ein Flugblatt an, in dem der Mangel an Bürger- bzw. Freiheitsrechten im Zarenreich beklagt wurde.4
Der Anschlag auf Alexander III. wurde alles in allem ziemlich dilettantisch vorbereitet – so lautete das knappe Urteil einer Nachwelt, welche die Verstrickung des Lenin-Bruders in das Komplott von 1887 meist nur oberflächlich betrachtete.5 Die Aktionen einer scheinbar isolierten Gruppe von Studenten, die offenbar über keinerlei bedeutende Netzwerke und entsprechende Verankerung in einer ohnehin in Agonie befindlichen oppositionellen Szene verfügte, erscheinen tatsächlich eher einer spontanen Empörung als einem ausgeklügelten Plan entsprungen zu sein. Noch dazu wurde der Anschlag auf den Zaren vereitelt. Die einigermaßen improvisierte Herstellung der Sprengkörper hätte die Chancen auf eine erfolgreiche Attacke aber auch ohne die rechtzeitige Intervention der Exekutive minimiert. Daran konnte es keinen Zweifel geben: Als einer der bereits verhafteten Attentäter eine der »Höllenmaschinen« zünden wollte, erfolgte keine Explosion. Hätte sie so stattgefunden, wie es die Konstrukteure eigentlich vorgesehen hatten, wäre die Zerstörungskraft zweifellos enorm gewesen. Obwohl die Geheimpolizei sich in den vergangenen Wochen so intensiv mit der Bespitzelung der Verdächtigen befasst hatte und auch von Chemikalien und anderen einschlägigen »Stoffen« wusste, fehlte ihr offenbar jegliche Kenntnis davon, dass Sascha und seine Freunde sich als Bombenbastler betätigten.6 Im abgefangenen Brief eines Mitverschwörers war zwar nur eher kryptisch von »Terror« die Rede gewesen. Dass sich die Sicherheitskräfte aber so gar keinen Reim darauf machten, was hier im Gange war, zeugt nicht unbedingt von deren großer Professionalität.7
Am Ende standen nichtsdestoweniger ein offenkundiger Misserfolg und das vergebliche Opfer junger Rebellen, die sich als Befreier des russischen Volkes von Knechtschaft und Unterdrückung empfanden. Ein Bekennerschreiben hatten sie bereits vorab formuliert. Darin wurde die geplante Ermordung des Monarchen als legitime »Hinrichtung« bezeichnet.8 So ergab sich das Bild einer überschaubaren Runde von einerseits radikalisierten, aber andererseits auch eher naiven Anfängern, die recht unbedarft in die Rolle gewaltbereiter Revolutionäre geschlüpft waren. Anscheinend tat sich eine fatale Diskrepanz zwischen Tat und Tätern auf: Hier agierten keine hartgesottenen »Profis« aus der Terrorszene, sondern halbe Kinder. Aber waren sie deswegen harmlos?
Fast alle betraten völlig neues Terrain, als sie ihre »Verschwörerkarriere« begannen. Das traf auf Saschas Kommilitonen nicht viel weniger zu als auf ihn selbst. Die Nervosität, die sich in den Wochen vor dem Attentat unter ihnen breit machte, war jedenfalls groß. Immer neue Verstecke mussten gesucht werden, um die Fertigung der Sprengkörper im Geheimen zu Ende zu bringen. Die Angst vor Entdeckung war berechtigt. Der selbst auferlegte Druck, die nötigen Vorkehrungen innerhalb einer relativ knapp bemessenen Frist abzuschließen, paarte sich mit einem Mangel an Erfahrung in konspirativen Praktiken. Nichtsdestoweniger hielten die jungen Rebellen an ihrem hochgesteckten Ziel fest. Sie orientierten sich dabei an einer bereits vollbrachten Tat: Als Vorlage diente der 1. März 1881. An jenem Tag starb der Vater des amtierenden Zaren, Alexander II., bei einem Bombenanschlag. Das Datum war seitdem aufgeladen mit der Symbolik des revolutionären Triumphs. Die Ausführenden nicht nur dieses Terrorakts, sondern auch die Protagonisten anderer Angriffe auf Angehörige des Herrscherhauses oder auf hohe Beamte wurden als Märtyrer und Überwinder der Autokratie überhöht.9 Zumindest von einer revolutionären Untergrund-Propaganda. Dem solcherart präsentierten Idealismus der Bombenschmeißer oder Revolverattentäter, die entweder ebenso wie ihre Opfer bei den Anschlägen ums Leben kamen, zum Tode verurteilt wurden oder in den Gefängnissen des Zarenreichs verfaulten, zollten revolutionäre Schriften entsprechenden Respekt. Um die Männer und Frauen, die ihrem Protest gegen die herrschenden Verhältnisse mit Gewaltakten Ausdruck verliehen, entstand ein regelrechter Kult.10
Der 1. März 1881 grub sich tief in das Gedächtnis der russischen Bevölkerung ein. Das Attentat erschütterte das Romanowimperium. Der Tod Alexanders II., unter dem 1861 die Leibeigenschaft in Russland aufgehoben worden war und der von offizieller Seite als »Zar-Befreier« gepriesen wurde, löste auch in Lenins Familie Betroffenheit aus. Am Gedenkgottesdienst für den ermordeten Monarchen teilzunehmen, erachtete vor allem Vater Ilja Uljanow alles andere als bloße Pflicht. Die Söhne Wladimir und Sascha waren damals elf und 15 Jahre alt.
Die Uljanows lebten in der Provinz. Fast 1500 Kilometer trennten Simbirsk von Russlands Hauptstadt. Eine Bahnverbindung existierte noch nicht. Wladimirs und Saschas Geburtsort unterschied sich, abgesehen von der Geschäftigkeit, die am Hafen der Wolga-Stadt herrschte, wenig von anderen russischen Provinzzentren. Einrichtungen für die Entfaltung eines lebendigen kulturellen und geistigen Lebens fehlten fast vollständig. Immerhin gab es ein Gymnasium, das einer kleinen Schar von Auserwählten die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs eröffnete. Die Uljanow-Kinder gehörten zu diesem Kreis der Hoffnungsträger, hinter denen nicht selten ehrgeizige Eltern standen, die sich ihren Platz in der Gesellschaft erst in der jüngeren Vergangenheit mühsam erarbeitet hatten. Ilja Uljanow stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte Mathematik studiert und es zum Volksschulinspektor des gesamten Gouvernements Simbirsk gebracht. Als Folge dieser Position gehörte er dem Erbadel an und durfte sich Exzellenz nennen. Er war hoch angesehen, beeindruckte seine Mitmenschen durch unermüdlichen Fleiß und eine ehrliche Hingabe, mit der er sich seinen Aufgaben widmete. Der abseits seiner beruflichen Verpflichtungen eher unnahbare Familienvater legte einen regelrecht messianischen Geist an den Tag. Ilja Uljanow förderte das Schulwesen im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Mittel, wo er nur konnte. Die eminente Bedeutung von Bildung als Grundlage von Fortschritt und Wohlstand vermittelte er auch seinen eigenen Kindern.
Ilja Uljanow war bestimmt kein Revolutionär, sondern ein Aufsteiger, der es als seine Pflicht ansah, das Licht der Zivilisation in Form von zumindest elementarer Schulbildung in eine überwiegend analphabetische und im Aberglauben verharrende Bevölkerung zu tragen. Gleichzeitig überwachte er die Lernfortschritte der eigenen Nachkommenschaft mit großem Interesse und ebensolcher Strenge. Sascha und Wladimir, der auf den Kosenamen »Wolodja« hörte, enttäuschten ihn nicht. Dem stumpfsinnigen Pauken, das ein über weite Strecken öder Lehrplan vorsah, fügten sie sich. Die Zeit im Gymnasium war geprägt von einem System, das jegliche Freiheit des Denkens erstickte. Bibliotheken durften die Schüler nicht ohne Weiteres aufsuchen. Diese Orte des Wissens galten als Brutstätte von Subversion und Wurzelgrund umstürzlerischen Gedankengutes. Sascha nahm diese feindliche, intolerante Haltung gegenüber einem freien geistigen Leben und letztlich allem, was der Macht der Autokratie abträglich erschien, bereits als Gymnasiast wahr. Nicht ohne Grund erzählte er im Zuge des Gerichtsprozesses, der kurz auf den misslungenen Anschlag vom März 1887 folgte, von Gefühlen tiefster Unzufriedenheit mit der »Abnormalität« der herrschenden Verhältnisse, die ihn bereits seit »früher Kindheit« erfüllt hatten. Er begann, wie er darlegte, schon damals von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« zu träumen.11
Bevor Alexander II. bei dem Attentat am 1. März 1881 zu Tode kam, hatte es bereits eine Reihe von Anschlägen auf sein Leben gegeben. Die Vielzahl dieser Attacken hinterließ auch innerhalb der Familie des Zaren Spuren, beförderte ein hypertrophes Sicherheitsbedürfnis und die ständige Angst vor neuer Gewalt. Der Aufwand für den Schutz des Monarchen war enorm. Trotzdem ging Alexander III. angeblich nicht schlafen, bevor er sich persönlich davon überzeugt hatte, dass sich kein Eindringling unter seinem Bett befand. Karl Marx und Friedrich Engels bezeichneten ihn in ihrer »Vorrede« zur zweiten russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests als »Kriegsgefangenen der Revolution«, nachdem man Jahrzehnte zuvor Alexander I. zum »Chef der europäischen Reaktion proklamiert« habe.12
Die repressiven Maßnahmen des neuen Herrschers, der den in Summe immer noch oft zaghaft gebliebenen und zum Teil misslungenen Reformen des Vorgängers und Vaters wenig abgewinnen konnte, zerschlugen in weiterer Folge auch die als »Narodnaja Wolja« bezeichnete revolutionäre Bewegung Russlands, die sich als radikaler Zweig der früheren Gruppierung »Semlja i wolja« (»Land und Freiheit«) herausgebildet hatte. Die Narodowolzen rekrutierten sich wie alle Oppositionellen zum überwiegenden Teil aus der schmalen Schicht der sogenannten Intelligenzija, die immer mehr Zulauf auch aus der Unterschicht erhielt. Diesen Gebildeten gegenüber standen als größte Bevölkerungsgruppe die Bauern, deren traditionelle Organisationsformen auf dörflicher Ebene (Dorfgemeinde bzw. Obschtschina) zum Ausgangspunkt für verschiedene Interpretationen des Sozialismus russischer Prägung wurden. Die Bauern bzw. das Volk (»Narod«) konnten indessen mit der Volkstümelei, dem Narodnitschestwo der Intelligenzija wenig anfangen. Als 1874 vor allem Studenten und junge Intellektuelle aufs Land strömten und »ins Volk gingen«, um ihre egalitären und gegen die Unterdrückung der Autokratie gerichteten Botschaften zu verbreiten, stießen sie auf Unverständnis. Die Bauern hörten sich die Reden dieser Volkstümler, Volksfreunde oder Narodniki wie Predigten an, aber verstanden sie nicht.13 »Sozialismus«, resümierte später einer der Aktivisten, »ließ die Bauern zurückprallen wie Erbsen von einer Wand.«14 Auf das unwissende und gegenüber jeglichen Neuerungen anscheinend immune Volk am Land konnte man also nicht bauen, wollte man eine Änderung der herrschenden Verhältnisse herbeiführen. Es bedurfte demnach fähiger Einzelpersonen, ganz der Sache verschriebener Revolutionäre, um den Staat hinwegzufegen und eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Die erhoffte Massenerhebung, der umfassende Volksaufstand, musste offenbar initiiert werden. Die Revolution würde nicht von selbst geschehen – diese Erkenntnis ebnete den Weg zu radikalen Methoden.
Eine in die Krise geratene Autokratie hatte indessen auf durchaus umstrittene und in weiterer Konsequenz oft halbherzige Reformen gesetzt. Das galt insbesondere für die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft. Viele Ungerechtigkeiten blieben auch danach bestehen und der Erwerb des Landes, der den Bauern nun ermöglicht wurde, ersetzte lediglich die alten Abhängigkeiten durch neue. Die meisten bebauten als Folge nach wie vor zu kleine oder wenig ertragreiche Flächen und rangen wie früher ums Überleben. Der Adel wiederum, der sich gegen alles sträubte, was seine Privilegien zu gefährden drohte, war den Herausforderungen einer wettbewerbsfähigen und effizienten Bewirtschaftung seiner Güter meist nicht gewachsen. Ein großer Teil des Landadels verarmte. Niemand hat die Folgen dieses Niedergangs und die Tristesse, aber auch Unfähigkeit der ländlichen Oberschicht Russlands, sich tatkräftig auf die neuen Zeiten einzustellen, eindrücklicher geschildert als der Schriftsteller Anton Tschechow: In Stücken wie Der Kirschgarten oder Drei Schwestern schieben sich unüberwindbar scheinende Hindernisse vor den ersehnten Aufbruch in eine bessere Welt. Tschechows Helden sinnieren und klagen, aber sie bleiben unentschlossen und kraftlos.
Mit Gegenwind konfrontiert waren indessen auch die außenpolitischen Ambitionen des russischen Romanowreichs. Militärische Fehlschläge, Misserfolge am Verhandlungstisch sowie der damit verbundene befürchtete Prestigeverlust – und nicht oder zumindest sehr viel weniger die Probleme im Inneren – stießen Veränderungen an. Bereits die Niederlage im Krimkrieg (1853–1856), der viele Facetten eines modernen Konflikts vorwegnahm, offenbarte die Schwächen Russlands, deckte seine wirtschaftlichen Defizite auf und definierte eine überfällige Modernisierung des Staatswesens als geradezu zwingenden Ausweg aus drohender Stagnation und befürchtetem Verfall. Das Ende der Leibeigenschaft war nur eine der Folgen dieser Erkenntnis gewesen. Alexander II. schaffte sie nicht zuletzt deswegen ab, weil er so einem Aufbegehren der Bauern zuvorzukommen hoffte.
Nach dem Krimkrieg taten sich weitere Probleme in Zusammenhang mit Russlands Feldzügen auf. Wenig zufriedenstellend für das Romanowimperium präsentierte sich beispielsweise der Ausgang des Krieges mit dem Osmanischen Reich 1877/78. Das Zarenreich sah sich nach einem erfolgreichen Auftreten auf dem Schlachtfeld um seine Lorbeeren gebracht, als am Berliner Kongress dem fortschreitenden Einfluss Russlands auf dem Balkan Einhalt geboten wurde.
So mündeten ein militärisches Debakel einerseits und ein vorenthaltener Sieg andererseits in Selbstanalysen, die schließlich über die von oben initiierten Reformen hinausgingen und zu höchst unterschiedlichen Resultaten führten. Alle, die sich Gedanken über die Zukunft des Landes machten, mussten bei ihren Reflexionen gezwungenermaßen immer wieder dort ansetzen, wo im Grunde alle Erörterungen der weiteren Entwicklung des Zarenreichs begannen: bei der Überwindung der Rückständigkeit und dem Aufschließen zu den westeuropäischen Staaten. Nicht ausblenden konnte man bei alledem die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die verspätete Industrialisierung, die Russland zu einem europäischen Sonderfall machten. Diesen wiederum versuchte die offizielle »Volkstums«-Ideologie mit ihrer Bejahung von Autokratie, Orthodoxie und Nationalität mit Vorstellungen von einem geradezu vorteilhaft unzeitgemäßen Entwicklungsgrad zu verknüpfen.15 Das weitgehende Fehlen eines russischen Bürgertums oder der Abstand zu den geistigen und kulturellen Errungenschaften des Westens ließen sich allerdings nicht ohne Weiteres beschönigen. Waren die einen damit befasst, die Mängel russischer Zustände aufzulisten, konzentrierten sich die anderen auf die vermeintlichen Stärken des Riesenreichs, das sich um eine Neuorientierung bemühte. Für die sogenannten Slawophilen gehörte die Orthodoxie zur »heiligen« Eigenart des russischen Wesens und in weiterer Konsequenz zum größten Kapital des Zarenreichs, während die »Westler« ihre Konzepte von der Umgestaltung des Imperiums auf Vorbilder außerhalb der russischen Reichsgrenzen ausrichteten. Der Auseinandersetzung mit den Ideen der Revolution von 1789 und den Entwürfen der französischen Sozialisten kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Beschäftigung mit solchen Konzepten hatte auch die sogenannten Dekabristen oder »Dezembermänner« inspiriert. Doch der gescheiterte Dekabristenaufstand von 1825, dem in Summe sehr unterschiedliche Visionen von der Umgestaltung des Reichs zugrunde lagen, war nur noch eine Reminiszenz an längst vertane Chancen für eine alternative Entwicklung des Landes. Jetzt aber erfassten Debatten über Russlands Zukunft größere Kreise und mobilisierten vor allem auch junge Menschen. Innerhalb der durchaus heterogenen Gruppierung »Semlja i wolja« verbanden sich schließlich revolutionäre Konzepte mit dem Glauben an das Ideal der russischen Dorfgemeinde (Obschtschina). Russland sollte demnach keinen Weg beschreiten, der von seinen ureigensten Wurzeln wegführte. Das war auch das Credo von Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij, das sich mit einem ultrakonservativen Wertekanon verband. Das Fehlen einer politischen Öffentlichkeit verlieh in jedem Fall der Literatur des Zarenreichs einen gewissermaßen kompensatorischen Charakter. Die russische Realität mit all ihren Widersprüchlichkeiten reflektierten als Konsequenz nicht zuletzt jene Erzählungen und Romane, die das Russlandbild des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Dostojewskij transportierte in ihnen eigene Visionen von der besonderen Bestimmung, ja Mission seiner Heimat. Diese erkannte er als ehemaliger »Revolutionär«, der nach seiner Beinahe-Hinrichtung und anschließenden Verbannung als geläuterter Regimegegner auf literarischer Ebene Vorstellungen von einem unverformten, nach »Vollendung« strebenden Russland entwickelte, hauptsächlich in der Orthodoxie. Im lateinischen Katholizismus hingegen erblickte er lediglich eine Häresie und den Sozialismus betrachtete er gar als ein vom »Katholizismus gezeugtes Ungeheuer«. Er lehnte es ab, westlichen Vorbildern nachzueifern und den »Europäern auf allen Vieren« regelrecht »nachzukriechen«.16
Saschas und Wladimirs Mutter hatte schwedisch-deutsche Wurzeln und wurde als Protestantin erzogen. Die Uljanow-Kinder hingegen wuchsen im Geiste der Orthodoxie auf. Zum orthodoxen Glauben war außerdem Lenins Großvater, Alexander Blank, konvertiert, der dem Judentum abschwor und sich obendrein zum Antisemiten entwickelte.17 Auch dessen Vater, also Lenins Urgroßvater, wandte sich, bereits in fortgeschrittenem Alter, der christlichen Religion zu.18 Die Geschichte über die jüdischen Vorfahren des Revolutionsführers hatte allerdings im offiziellen sowjetischen Narrativ keinen Platz. Für Lenin selbst spielte sie ohnehin keine Rolle. Von den Großeltern väterlicherseits weiß man auch ohne die Eingriffe der Sowjetpropaganda wenig. Lenins Ahnen könnten Tschuwaschen, Mordwinen, Kalmücken oder Kirgisen gewesen sein, die möglicherweise zunächst dem Islam oder aber einer christlichen Sekte angehörten und erst später getauft wurden.19 Die Uljanows empfanden sich ungeachtet dessen als Russen, gingen in die Kirche und riefen keineswegs den Eindruck hervor, Opponenten des herrschenden Regimes zu sein – im Gegenteil. Doch zog Ilja Uljanow offenbar die Kritik konservativer Kreise auf sich, die argwöhnten, dass der umtriebige Volksschulinspektor den Religionsunterricht bzw. die orthodoxe Kirche, der immer noch wesentliche Kompetenzen im Bildungswesen zukamen, in seinem Zuständigkeitsbereich marginalisierte. Allen Anschein nach führte der nichtsdestoweniger als tiefreligiös beschriebene Ilja Uljanow, und mit ihm die ganze Familie, den Umstand, dass er frühzeitig von seinem Posten abgezogen werden sollte, auf diese Anschuldigungen zurück.20 In diesem Zusammenhang ist von einer regelrechten »Gegenreformation« im Zarenreich die Rede, die das Bildungswesen wieder auf alte Bahnen lenken wollte und liberale Auffassungen, wie sie offenbar Ilja Uljanow vertrat oder wenigstens auch vertrat, verurteilte.21
Bemerkenswert erscheint die Toleranz des wohlwollenden, aber für gewöhnlich gegenüber den Kindern durchaus eisern und autoritär auftretenden Ilja Uljanow, als ihm Sascha als Sechzehnjähriger erklärte, dem orthodoxen Gottesdienst fernbleiben zu wollen. Es folgte keine Standpauke und anscheinend unterblieben auch Versuche, den Sohn von seinem Entschluss abzubringen.22 Auch die Schwester Anna hatte sich damals bereits vom Glauben abgewandt.23 Angesichts der bezeugten Frömmigkeit, die in der Familie herrschte, und der eminenten Bedeutung von Religion für das damalige russische Selbstverständnis kann dieser jugendliche Protest als Revolution im Kleinen bezeichnet werden. Die Heranwachsenden mochten bereits Vorbilder aus der revolutionären Szene vor Augen gehabt haben. Andrej Scheljabow beispielsweise, einer der Attentäter des 1. März 1881, erklärte im Zuge des anschließenden Prozesses offen, dass er die orthodoxe Kirche ablehnte, »das Wesen der Lehre Jesu Christi« aber »anerkenne«.24 Diese Einstellung entsprach den Ansichten vieler Narodniki bzw. Narodowolzen wie auch den Überzeugungen der Zarenmörder von 1881. Bis auf eine Ausnahme verweigerten alle, die als Folge des Attentats auf Alexander II. zum Tode verurteilt wurden, bezeichnenderweise die letzte Beichte.25
Lenins Vater hatte, wie es scheint, die Macht klerikaler Kreise zu spüren bekommen. Ob er sich tatsächlich gegen sie auflehnte oder lediglich Opfer von Verleumdungen wurde, muss offenbleiben. Für den schillernden Revolutionär und Lenin-Biografen Leo Trotzki kann es indessen keinen Zweifel daran geben, dass Ilja Uljanow die Obrigkeit niemals mit Kritik herausgefordert hatte. Er habe dem »Absolutismus« stets als gefügiger Beamter gedient.26 Anderslautende Darstellungen seien lediglich Konstrukt der späteren Sowjetpropaganda, die sich daran stieß, den Vater des Revolutionsführers als treuen Adepten des zarischen Systems vorzuführen, der er zeitlebens gewesen war. Auch die Uljanow-Töchter Anna und Maria sowie der jüngste Sohn Dimitrij hätten niemals auch nur den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass der Vater oppositionelle Ideen vertrat. Aber klar ist auch: Ilja Uljanow war im reaktionären Klima unter Zar Nikolaus I. aufgewachsen und hatte die Reformen des Nachfolgers auch als persönlichen Auftrag für das Gestalten einer neuen, helleren Zukunft gesehen.27
Auch der zweite Sohn kehrte der Religion den Rücken zu. Wladimir, der – so Lenins Frau viele Jahre später – die »Schädlichkeit der Religion« durchschaute, sich »das Kreuz von seinem Halse« riss und aufhörte, »in die Kirche zu gehen«, soll diese Entscheidung genauso wie Sascha um sein 16. Lebensjahr herum getroffen haben.28 Damals war der Vater vermutlich bereits tot.29 1886 streckte ein Schlaganfall den Mitfünfziger nieder. Ilja Uljanow schied trotz einer bereits angeschlagenen Gesundheit völlig unerwartet aus dem Leben. Der frühe Tod des pflichtbewussten Schulinspektors wird in Zusammenhang mit der Verbitterung gesehen, die er angesichts des drohenden Endes seiner Karriere empfunden haben dürfte. Obwohl durch die Unterstützung von Freunden und nach langen Monaten des Wartens eine Entscheidung des zuständigen Ministeriums für eine Verlängerung seines Dienstes erfolgte, blickte er auf eine quälende Zeit voller Ungewissheit, Kränkungen und Sorgen zurück.30 Nicht anders als bei etlichen fiktiven Figuren, die die russische Literatur hervorgebracht hat, lässt sich auch an Ilja Uljanows Biografie in Anbetracht der Abwehrhaltung einer fortschrittsfeindlichen Bürokratie ein scheinbar vorgezeichnetes, geradezu zwangsläufiges Scheitern ablesen: Das erfolgreiche und darüber hinaus selbstlose berufliche Wirken des Pädagogen blieb am Ende unbedankt. Mehr noch: Eine nunmehr einsetzende restriktive Politik, die ein »Zuviel« an Bildung für die unteren Schichten als schädlich erachtete, untergrub sein Lebenswerk.31 Guter Wille und unbeirrbares Arbeiten an der Sache schienen nicht auszureichen, um ein neues, modernes Russland auf den Weg zu bringen. Aus dieser Beobachtung könnte womöglich auch Sascha Uljanow seine Lehren gezogen haben. Als er begann, sich mit revolutionärer Literatur zu beschäftigen, blickte er vielleicht auf das Leben seines Vaters und hatte das Schicksal eines Gescheiterten vor Augen, den die Obrigkeit gedemütigt hatte. Dessen am Ende mit so vielen Enttäuschungen verbundene Laufbahn bot in jedem Fall Anhaltspunkte für eigene, wahrscheinlich bereits deviante Überzeugungen, aber auch für eine Auseinandersetzung mit den Befunden kritischer Zeitgenossen und erklärter Regimegegner.
Dass es die Pflicht der Intelligenzija sei, das Volk aus der Finsternis der Unwissenheit herauszuführen, um es aufklärerisch an die Ideen des Sozialismus heranzuführen, konnte man beispielsweise bereits bei Pjotr Lawrow nachlesen. Seine im Exil verfassten Schriften beeinflussten das Narodnitschestwo maßgeblich und betonten den notwendigen Elan Einzelner, um die Sache der Revolution voranzutreiben.32 Lawrows Ansichten konkurrierten mit den Vorstellungen radikaler Kritiker der Autokratie, die sich von einer demokratischen, auf »Aufklärung« bauenden Revolutionstheorie abwandten.33 Wenngleich demgegenüber Saschas und Wladimirs Vater kaum an eine gewaltsame Umwälzung in Russland dachte, sah er sein Wirken wohl als Beitrag zu einer Modernisierung seines Landes. Von den späten 1870er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs kam es immerhin zu einer Vervierfachung der Grundschulen im Zarenreich. Um 1914 konnten etwa 40 Prozent der russischen Bevölkerung lesen und schreiben.34
Die Schriften von Regimekritikern haben Sascha Uljanow ohne Zweifel stark beeinflusst. Trotz einer strengen Zensur ließen sich viele verbotene Texte im Zarenreich ausfindig machen. Bereits der Besitz solcher Werke konnte freilich im Gefängnis enden. Gelegentlich versagte die Kontrolle jedoch. Karl Marx’ Kapital beispielsweise wurde von den zuständigen Stellen gar nicht erst als bedenklich klassifiziert. Das Hauptwerk der zentralen Gestalt jener Ideologie, die Lenin zu seiner Mission machte und seine Heimat für immer veränderte, konnte Anfang der 1870er Jahre ungehindert in russischer Übersetzung erscheinen. Auch deswegen, weil die Zensur-Beamten es für viel zu kompliziert und daher schwer verständlich hielten. Sascha und die Schwester Anna griffen indessen zu Schriften von Dimitrij Pissarew. Der Literaturkritiker und Philosoph, der aufgrund regimekritischer Äußerungen zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde, träumte vom Ende des Massenelends und verknüpfte dessen Überwindung mit revolutionären Entwicklungen. Sein besonderes Interesse für Biologie kann wohl auch in Zusammenhang mit Saschas Hinwendung zu den Naturwissenschaften gesehen werden. Pissarews Bücher waren laut Anna »die ersten verbotenen« Schriften, die sie und der Bruder lasen.35 Damals besuchten sie noch die Schule und sinnierten über das Schicksal des in jungen Jahren verstorbenen Regimekritikers, der bei einem Badeunfall ums Leben gekommen war. Aber nicht alle glaubten der offiziellen Berichterstattung über die Todesumstände. Zumindest ging das Gerücht um, dass jener Gendarm, der Pissarew beschatten sollte, den Ertrinkenden den Wellen überließ, ohne Hilfe zu leisten. Sascha und seine Schwester zeigten sich tief bewegt von dieser Geschichte. Anna erinnerte sich später an ein »konzentriertes und verdüstertes Gesicht«, als sie mit ihrem Bruder über den Tod des verehrten Schriftstellers sprach.36 Pissarews Schicksal ließ offenbar auch Wladimir nicht kalt. Seine Texte sollten ihn später inspirieren und zum Träumen animieren – Träumen von der Revolution.37
Die Lektüre verbotener Texte war aber keine Voraussetzung, um sich mit dem Widerstand gegen die Zarenherrschaft auseinanderzusetzen. Bereits aus der Zeitungsberichterstattung, die etwa die Prozesse gegen die Attentäter des 1. März 1881 oder aber Verfahren zu anderen Anschlägen mitverfolgte, ließen sich wesentliche revolutionäre Botschaften herauslesen. Der Gerichtssaal wurde zur Bühne, auf der Gegner des herrschenden politischen Systems ihre Programme erläutern konnten, wo sie die Missstände im Zarenreich schonungslos anprangerten und ihr »Martyrium« für die Sache als nachahmenswerten Widerstand bewarben. Selbst die Geschworenen zeigten sich vor diesem Hintergrund geneigt, mit den Angeklagten zu sympathisieren. So wurde 1878 beispielsweise Vera Sassulitsch, die ein Attentat auf den St. Petersburger Generalgouverneur Fjodor Trepow verübt hatte, in einem spektakulären Prozess freigesprochen. In der Presse befasste man sich offenbar mehr mit den Motiven der Tat – Rache für die Auspeitschung eines Delinquenten – als mit dem Anschlag an sich. Vergeblich versuchte die Regierung, die Terroristen als Verbrecher zu desavouieren. Als immer deutlicher wurde, wie erfolglos solche Anstrengungen blieben, wurde der Presse eine detaillierte Darstellung der Gerichtsverhandlungen untersagt.38 Urteile ergingen hinter verschlossenen Türen.
Als der Vater starb, hatte Sascha dem heimatlichen Simbirsk bereits den Rücken gekehrt. In der Hauptstadt des Zarenreichs studierte der junge Mann Naturwissenschaften und konnte sich auf regelmäßige finanzielle Zuwendungen von der Familie verlassen. Die Uljanows waren auch nach dem Ableben des »Ernährers« ausreichend bemittelt. Lenins Mutter besaß überdies Anteile am Familiengut in Kokuschkino, das wenige Kilometer von Kasan entfernt lag. Die Ausbildung von sechs Kindern war ungeachtet des nunmehr bescheideneren Haushaltsbudgets nicht gefährdet. Sascha, der den Tod des Vaters schwernahm und angeblich sogar an Suizid dachte,39 konnte sein Studium fortsetzen und blieb in St. Petersburg. Die große Trauer, die er empfand, schließt einen schwelenden Vater-Sohn-Konflikt als Triebfeder für die Radikalisierung des ältesten Uljanow-Sohnes aus.
Zu der Zeit, als Sascha zu studieren begann, existierten im russischen Kaiserreich nur acht Universitäten. Dort setzte sich im Prinzip das fort, was der junge Student bereits vom Gymnasium kannte: Drill und eine akademische Lehre, welche aller Inhalte entledigt wurde, die auch nur Spuren subversiver – oder besser: für subversiv gehaltener – Ideen enthielten.40 Doch gerade die, gemessen an der Gesamtbevölkerung, verschwindend kleine Zahl an Studierenden, über die Russland verfügte, hatte sich immer wieder als besonders aufmüpfig und widerständig erwiesen. Schon seit den 1860er Jahren galt die studentische Jugend als »Träger extremistischer Ideen und Gruppe mit hohem Radikalisierungspotenzial«.41 Daran vermochten auch die restriktiven Bestimmungen der 1880er Jahre, die den Studenten Uniformen aufzwangen und eine noch rigorosere Bespitzelung als bisher beinhalteten, nichts zu ändern42 – im Gegenteil.
Weder die Geschwister noch die Mutter ahnten, welche Wandlung Sascha in St. Petersburg durchgemacht hatte. Alle waren stolz auf den begabten Sohn und Bruder. Nicht anders als im Gymnasium glänzte Sascha auch an der Universität mit hervorragenden Leistungen. Mit 20 war er nun zum Familienoberhaupt geworden, die jüngeren Geschwister blickten zu ihm auf. Auf seine berufliche Karriere hoffte die Familie nach dem Tod des Vaters vielleicht noch mehr als zuvor. Der kleine Bruder, Wolodja, hatte dem älteren immer nachgeeifert, wollte so sein wie er. Tatsächlich tat er sich, nicht anders als im Übrigen fast alle Uljanow-Kinder, im Gymnasium stets als Klassenbester hervor. Sascha fand trotzdem keinen Draht zu dem als lärmend und bestimmend beschriebenen Wladimir. Dessen vorlautes, zuweilen renitentes Verhalten gegenüber der Mutter, das er nach dem Tod des Vaters an den Tag legte, stieß ihn wohl ab. Das gestand Sascha zumindest der Schwester Anna bzw. das war es, was diese sich zusammenreimte. Er selbst wollte offenbar keine überflüssigen Erklärungen abgeben und beließ es bei einer mehr oder weniger kryptischen Aussage über das nicht ganz einfache Verhältnis zum jüngeren Bruder.43
In diese Episode hat die Nachwelt ebenso viel hineininterpretiert wie in Lenins Charakterisierung als mitunter eigensinniges und jähzorniges Kind, das sich nicht immer mustergültig verhielt. Weder muss die angedeutete Distanz, die der Beziehung der Uljanow-Brüder innewohnte, noch die Darstellung Lenins als bereits in jungen Jahren von sich eingenommene Persönlichkeit in übertrieben psychologisierende Diagnosen münden. Der lebhafte, laute Junge war Lenin außerdem primär im Kreis der Familie. Außenstehende nahmen ihn eher als distanziert wahr.44 Enge Freunde hatte er keine. Anna Uljanowa behauptete aber später, dass der adoleszente Lenin dennoch alles andere als ungesellig gewesen war.45 Ungeachtet divergierender Aussagen über Lenins Temperament im Kindes- und Jugendalter waren es womöglich lediglich der Altersunterschied und die ungleichen Stadien der Entwicklung, die das Brüderpaar voneinander entfernten. Die Wertschätzung, die Wladimir bzw. Wolodja gegenüber dem älteren Sascha zum Ausdruck brachte, bleibt wohl ein Fakt. Und glaubt man den späteren Aufzeichnungen der Schwester, dann hat sie Wladimir nie mit den Bedenken des Bruders über seinen Charakter konfrontiert – ganz offensichtlich, um die Gefühle des »kleinen Lenin« nicht zu verletzen.46
Sascha hatte sich schon früh für Biologie und die Tierwelt interessiert und widmete sich auch in seiner Freizeit dieser Leidenschaft. Vor allem die Beschäftigung des Bruders mit Ringelwürmern blieb Lenin in Erinnerung. Seine eigenen Vorlieben galten eher der Antike, aber auch dem Lesen von Romanen, die Sascha seinerseits für oberflächlich hielt. Darunter die Werke von Iwan Turgenjew, die dem Studenten und angehenden Revolutionär wenig zu sagen schienen, während der kleine Bruder sie regelrecht verschlang. In Petersburg hatten sich Saschas Interessen jedenfalls auf Bereiche konzentriert, die nichts mehr mit den harmlosen Experimenten der Kindheit zu tun hatten. Im Rahmen seiner Beteiligung an den Attentatsvorbereitungen für den 1. März 1887 wandte er sich u. a. der Herstellung von Bomben zu und brachte hierbei sein Wissen über Chemie ein. Um den Sprengstoff beschaffen zu können, versetzte er sogar jene Goldmedaille, die er in Anerkennung einer herausragenden Forschungsarbeit an der Universität erhalten hatte.47
Ein kaltblütiger Terrorist war Lenins großer Bruder trotz seiner evidenten Verstrickung in die Verschwörung gegen den Zaren nicht. Außerdem kamen ihm wohl Zweifel an der Ausgereiftheit der Attentatsvorbereitungen. Er hatte, kurz bevor der Plan aufflog, eine Verschiebung des Anschlags auf den Herbst vorgeschlagen. Außerdem dachte er ursprünglich nicht daran, das eigene Leben zu opfern. Anders als diejenigen Kameraden, die sich als Bombenschmeißer zur Verfügung gestellt hatten und auf diese Weise mehr oder weniger zwangsläufig einem tristen Schicksal entgegensahen, wollte er im Untergrund bzw. im Ausland weiter gegen die Autokratie kämpfen.48 Revolutionäre Leidenschaft und Besonnenheit schlossen sich also nicht völlig aus. Sascha achtete außerdem sorgsam darauf, die Schwester Anna, die 1887 ebenfalls nach St. Petersburg gekommen war, um sich ihrer Ausbildung zur Pädagogin zu widmen, nicht in das Komplott hineinzuziehen. Die älteste der Uljanow-Töchter entging der Verhaftung trotzdem nicht, obwohl sie verglichen mit dem Schicksal des Bruders sehr viel mehr Glück hatte. Sie musste freilich St. Petersburg verlassen und wurde für fünf Jahre unter Polizeiaufsicht gestellt.49 Dutzenden anderen jungen Frauen und Männern, die im Zuge der Ermittlungen zum Teil auf bloßen Verdacht hin belangt wurden, erging es ähnlich oder schlimmer. Über 100 wurden verhaftet, 15 vor Gericht gestellt. Die Hälfte schickte man ohne Verfahren nach Sibirien, andere wurden für ein paar Monate ins Gefängnis gesteckt und die, die vergleichsweise glimpflich davonkamen, mussten die Relegation von der Universität in St. Peterburg hinnehmen.50
Anna beschrieb den Bruder Sascha als außergewöhnlich einnehmenden und liebenswürdigen Charakter. Es gab keinen »besseren oder freundlicheren Menschen« als ihn, meinte sie.51 Andere glichen dem Typus des skrupellosen, fanatischen Revolutionärs wohl tatsächlich eher als der in sich gekehrte älteste der Uljanow-Brüder. Doch obwohl er erst nach und nach Anschluss an den extremistisch ausgerichteten Kern der Petersburger Studentenschaft gefunden hatte, erfolgte seine Radikalisierung offenbar umso konsequenter. Wesentlichen Anteil daran hatte die Mitgliedschaft in einem studentischen Lesezirkel, wo über verschiedene Ansätze zu Problemen und Entwicklungen der Ökonomie und insbesondere über das »Schicksal des Kapitalismus« sowie die Bauernfrage in Russland diskutiert wurde.52 Texte von John Stuart Mill, Adam Smith oder Nikolaj Tschernyschewskij gehörten zur Lektüre der jungen Männer. Letztgenannter war bereits zu einer Ikone der revolutionären Bewegung in Russland geworden.
Lesen allein befriedigte einige bald nicht mehr. Die jungen Männer wollten vielmehr ein deutliches Zeichen setzen, klarmachen, dass der Widerstand gegen die Autokratie nicht gebrochen war. Das Aufbegehren Sascha Uljanows und seiner Kommilitonen versuchte, an den revolutionären Elan vor allem der 1870er Jahre anzuknüpfen, als eine ganze Reihe von Terrorakten und großen Gerichtsprozessen den Traum von großen Umwälzungen sichtbar und konkreter an die Wirklichkeit herangerückt hatte. Nicht ohne Grund nannten sich die jugendlichen Attentäter »Terroristische Fraktion der Narodnaja Wolja«. Beschworen wurde dabei jene radikale Ausrichtung des Narodnitschestwo, dessen Organisationen nach dem 1. März 1881 so gut wie vernichtet worden waren. Einigen Narodowolzen gelang die Flucht ins Ausland, der Rest landete im Gefängnis, wurde nach Sibirien verbannt oder verschwand im Untergrund. Und so richteten verbliebene Anhänger den Blick zurück auf eine Zeit, als die Bewegung vor allem aufgrund aufsehenerregender Anschläge von sich reden machte. Auch Pjotr Schewyrew, Kopf jener Terrorzelle, der Lenins Bruder beigetreten war, wandte sich der Vergangenheit zu. So mancher wollte später in ihm gar die Verkörperung jener »Dämonen« erkennen, die Fjodor Dostojewskij in seinem gleichnamigen Roman beschrieben hatte. Der literarischen Figur Pjotr Werchowenskij war freilich eine andere reale Person Pate gestanden: Sergej Netschaew. Kompromisslos und in seiner Methodenwahl von jeglicher Moral befreit, hatte dieser in seinem Katechismus des Revolutionärs einen Verhaltenskodex entworfen, der die extremsten Formen der Destruktivität zu den einzig wahren und wirksamen Instrumenten des Widerstands erklärte. Dieser radikale Vernichtungswille richtete sich schließlich auch gegen die eigenen Mitstreiter. Wer widersprach, sollte ausgelöscht werden. Einen seiner Opponenten ließ Netschaew folgerichtig ermorden. Hierauf flüchtete er in die Schweiz, wurde aber, begleitet von einer auch außerhalb des Zarenreichs auf den russischen »Meuchelmörder« aufmerksam gewordenen Presseberichterstattung, schließlich an sein Heimatland ausgeliefert. An die Verurteilung des über die Grenzen des Zarenreichs hinaus bekannten Nihilisten, dessen Ansichten selbst innerhalb des revolutionären russischen Milieus Entsetzen hervorriefen, reihten sich viele Jahre Haft. 1884 starb er in der berüchtigten Peter-Paul-Festung – in Ketten.
Schewyrew stützte seine Überlegungen wohl auf Netschaews schauderhaften Katechismus, als er vorschlug, einen Kameraden, der zufällig zum Mitwisser der Verschwörung geworden war, zu liquidieren.53 Wahrscheinlich hatte er dabei auch vor Augen, wie sehr Verräter in den eigenen Reihen der Sache schaden konnten. Dafür gab es ein markantes Beispiel: Schwerwiegende Folgen für die revolutionäre Bewegung hatten vor allem die Machenschaften Sergej Degaews, den die Ochrana als Doppelagenten anwerben konnte. Degaew sorgte dafür, dass die »Narodnaja Wolja« vollständig von der Geheimpolizei kontrolliert und dann im Sommer 1883 endgültig zerschlagen wurde.54 Degaew ermordete Georgij Sudejkin, jenen Ochrana-Chef, der ihn angeworben und zum Verräter gemacht hatte, wenige Monate später mithilfe zweier Narodowolzen. Die Beseitigung Sudejkins war Resultat eines üblen Deals gewesen: Lew Tichomirow, hochrangiges Mitglied der »Narodnaja Wolja«, der zuvor den Fängen der Geheimpolizei entkommen war, sehnte sich nach Rache für das durchtriebene Zerstörungswerk Sudejkins und nach Vergeltung für die Perfidie Degaews. Letzterer befand sich in einer aussichtslosen Lage und taktierte: Er trug sich an, seine Schuld am Untergang der »Narodnaja Wolja« mit der Ermordung des Ochrana-Chefs zu tilgen. Damit wollte er seine Haut retten. Tichomirow ließ sich überzeugen. Tatsächlich wurde am Ende der Tod Sudejkins als Preis für die Schonung von Degajews Leben ausgehandelt. Die Attentäter verfuhren gnadenlos: Sudejkin wurde regelrecht hingeschlachtet. Degaew gelang indessen trotz einer Hetzjagd der zarischen Sicherheitskräfte, die gleich nach der Bluttat einsetzte, und ungeachtet einer hohen Belohnung, die für seine Ergreifung ausgesetzt wurde, die Flucht nach Frankreich und schließlich nach Amerika. Während der Doppelagent in den USA zum Mathematikprofessor avancierte, wandelte sich Lew Tichomirow im Exil vom Revolutionär zum Erzkonservativen, der seine Vergangenheit als Verirrung jugendlicher Torheit verdammte.55 Nachdem Alexander III. ihm die Rückkehr nach Russland gestattet hatte, veröffentlichte er dort u. a. eine Schrift, die erklären sollte, warum er seine »Karriere« als Revolutionär an den Nagel gehängt hatte.56 Damit nicht genug, pries er den Zaren als »idealen Herrscher«, der selbstlos dem »Wohl des Volkes« diente.57
Das radikale Milieu war rau, und nicht jeder eignete sich für ein Leben im Untergrund. Wer einmal im Gefängnis gelandet war, hatte sich eventuell verführen lassen, die Seiten zu wechseln. Dass es besser war, verdächtig erscheinende, womöglich schwankend gewordene Mitstreiter lieber früher als später auszuschalten, glaubten schon Jahre vor der spektakulären Degaew-Affäre zwei junge Radikale, als sie in Odessa einen Kameraden beinahe totprügelten und mit Säure übergossen. Das Opfer überlebte schwer entstellt und erblindete.58 Einer der Attentäter, Lew Deutsch, zählte später zu den Hoffnungsträgern in Zusammenhang mit dem Einigungsprojekt der russischen Sozialdemokratie.59
Die Gruppe junger Revolutionäre, der Lenins Bruder angehörte, wusste um die Konsequenzen von Verrat und Entdeckung.60 Die »Degaew-Story« war allseits bekannt. Sogar im Ausland hatte die Presse über die brutale Abrechnung des Ochrana-Spitzels mit seinem früheren Chef berichtet. Im Fall Pjotr Schewyrews kamen zu einer für unabdingbar gehaltenen Vorsicht selbst gegenüber Kameraden offenbar auch psychische Faktoren hinzu, die eine besonders ausgeprägte Paranoia beförderten.61 Vorhandene Fotos zeigen den Anführer der Verschwörer vom 1. März 1887 als jungen Mann von durchaus einnehmendem Äußeren. Der tuberkulöse Revolutionär, der einem relativ privilegierten sozialen Umfeld entstammte, wurde von Historiker:innen als nicht unbedingt von Idealen durchdrungener Rebell porträtiert. Vielmehr stellte man ihn als »schrillen«, ja »hysterischen« Charakter dar, der sich wie im Fieber der Planung des Attentats gewidmet hatte. Dass ihn seine schlechte Gesundheit zwang, kurz vor der geplanten Ausführung des Anschlags eine Kur auf der Krim anzutreten, warf ein schiefes Licht auf ihn. Während des Prozesses wälzte er die Schuld überdies auf andere ab – allerdings auf jene, die sich im Ausland in Sicherheit befanden. Dennoch rechneten ihm das manche später übel an. Er log, wo es nur möglich war, und rechtfertigte dieses Verhalten gegenüber einem ebenfalls inhaftierten Kameraden damit, dass es ohnehin gleichgültig war, was er vor Gericht aussagte. Nichts von alledem würde nach außen dringen. Der Prozess fand im Geheimen statt und im Geheimen würde man ihn auch aufhängen.62
Schonungslos fallen nicht nur Charakterisierungen von Pjotr Schewyrew aus. Die Bombenschmeißer der Gruppe, also jene, die das Attentat auf den Zaren ausführen sollten, erscheinen retrospektiv als radikalisierte »Machos«. Selbstverliebt und die Unsterblichkeit des Helden vor Augen, warteten sie geradezu ungeduldig auf den »großen Tag«. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie den Anschlag überleben würden, wollte Schewyrew den potenziellen Selbstmordattentätern Giftpillen überlassen, um ihnen Gefängnis und befürchtete Qualen zu ersparen. Sie lehnten ab. Männer wie sie, entgegneten die jungen Verschwörer abwiegelnd und mit gehörigem Pathos, würden auch die Folter ertragen.63
Sascha fühlte sich offenbar von einem solchen Auftreten seiner Kommilitonen angezogen. Ihre todesmutige, kompromisslose Haltung imponierte ihm. Trotzdem war er entsetzt von Schewyrews Kaltblütigkeit – vor allem in Anbetracht dessen Pläne, den erwähnten Mitwisser einfach zu töten. Er sprach von Netschaew-Methoden und empfahl, den unfreiwillig zum Komplizen gewordenen Kameraden lieber ins Ausland zu schicken, ihm zuvor einen falschen Pass zu verschaffen und ihn mit Reisegeld auszustatten.64
Sascha konnte Netschaew und seinen Anschauungen anscheinend sehr viel weniger abgewinnen als später sein jüngerer Bruder. Wladimir sah in dem skrupellosen Nihilisten nicht nur ein organisatorisches Talent und würdigte dessen Fähigkeit zu konspirativer Arbeit, sondern stimmte auch Netschaews radikalen Ansichten über die Art, wie mit den Angehörigen des russischen Herrscherhauses zu verfahren sei, zu. Der ultraradikale Dissident hatte die Ausrottung sämtlicher Romanows zu einer Notwendigkeit erhoben.65 Dass Lenin bereits in jungen Jahren auch den Lehren Pjotr Tkatschows beipflichtete, der ebenfalls rabiate Methoden propagierte, um die Autokratie zu stürzen, blieb lange Zeit unwidersprochen. Der »erste wirkliche Theoretiker der russischen Revolution«66, der die »Erziehungsdiktatur« einer kleinen Minderheit »kraft ihrer höheren geistigen und sittlichen Legitimierung« befürwortete, spielte aber in Lenins Denken womöglich eine eher untergeordnete Rolle.67 Das zumindest lässt sich mittlerweile in einer Neubewertung von Was tun?, einem der Hauptwerke Lenins, nachlesen.68