Lernen aus dem Lockdown? -  - E-Book

Lernen aus dem Lockdown? E-Book

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Beschreibung

Krisendiskurse in der Freien Theaterszene Ende März 2020 wurden die Theater für mehrere Monate geschlossen. Der Lockdown des Kulturlebens hat einerseits Probleme offengelegt, von denen man schon vorher wusste oder hätte wissen können. Andererseits hat er auch die Einzigartigkeit von Theater als Kunst der Versammlung und Begegnung ins Bewusstsein gerufen, solidarisches Handeln und unerwartete Lösungen provoziert. Und jetzt? Wie wollen wir nach der Krise weiter machen? Können wir aus diesen Erfahrungen lernen? Die Publikation versammelt Beiträge von Freien Theaterschaffenden und Kulturpolitiker*innen über ihre aus der Corona-Krise gewonnenen Erkenntnisse, Ideen und Forderungen. Die Themen reichen von Förderpolitik und sozialer Absicherung über das Grundrecht der Kunstfreiheit und Digitalität bis zur Verwundbarkeit des Körpers im Theaterraum. Mit Beiträgen von Michael Annoff/Nuray Demir, Holger Bergmann, Boris Nikitin, Daniela Dröscher, Joy Kristin Kalu, Meine Damen und Herren, Mbene Mwambene, Sibylle Peters, Anja Quickert, Sahar Rahimi, Felizitas Stilleke, Swoosh Lieu, Arne Vogelgesang, Stefanie Wenner u. a. Das Impulse Theater Festival ist seit 30 Jahren die wichtigste Plattform für das Freie Theater im deutschsprachigen Raum. 2020 musste das Festival in der Corona-Krise abgesagt werden und wurde in Teilen ins Internet verlegt. Eine Publikation des Impulse Theater Festival, herausgegeben von Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Falk Schreiber für das NRW KULTURsekretariat.

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Seitenzahl: 166

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Eine Publikation des

Impulse Theater Festival

www.impulsefestival.de

Herausgegeben von

Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Falk Schreiber für das NRW KULTURsekretariat

Gestaltung: sensomatic

Korrektorat: Katharina Sacken (Deutsch), David Tushingham (Englisch)

Vertrieb im Buchhandel:

Alexander Verlag Berlin, Fredericiastraße 8, 14050 Berlin

www.alexander-verlag.com

© 2020 bei den Autor*innen und Fotograf*innen,

NRW KULTURsekretariat, Alexander Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Form der Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.

ISBN 978-3-89581-545-4 (eBook)

Gefördert durch:

LERNEN AUS DEM LOCKDOWN?NACHDENKEN ÜBER FREIES THEATER

Impulse Theater FestivalNRW KULTURsekretariat

INHALT

VORWORT

Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Falk Schreiber

ATEMPAUSE WO SICH DAS LEBEN BAHN BRICHT

Stefanie Wenner

ZEIGE DEINE WUNDE

Falk Schreiber

SHOWCASE IM SPLITSCREEN VIDEOBOTSCHAFTEN AN DIE DOMINANZKULTUR

Michael Annoff und Nuray Demir

WWW.WASSOLLDASTHEATERIMINTERNET.DE WAS MACHT EIN INKLUSIVES THEATERKOLLEKTIV IN PANDEMIEZEITEN? HOMEOFFICE?

Meine Damen und Herren

KRÄNK

Sahar Rahimi

CIRCLES OF RESILIENCE AN OBSERVATION ON WOUND TOPOGRAPHY AND POSSIBILITY

Diya Naidu

THE PLACE BETWEEN WALLS AN ACTOR’S INTEGRITY ON STAGE

Mbene Mbunga Mwambene

WENN ES MIT ANFASSEN IST ÜBER BERÜHRUNG UND ISOLATION

Sibylle Peters

ERST MAL AUSHALTEN VON DEN GEFAHREN DES THEATERS

Wilma Renfordt

FIKTIONEN EINES VERLETZLICHEN THEATERS WIE VERHÄLT SICH DAS THEATER ZU SEINEN BARRIEREN JENSEITS DER PANDEMIE?

Joy Kristin Kalu

THEATER DER VERWUNDBARKEIT

Boris Nikitin

VIRTUELLER RAUM ALS SCHUTZZONE

Yves Regenass

DIESE 7 EINFACHEN SÄTZE WERDEN DIR DABEI HELFEN, DAS THEATER ENDLICH INS INTERNET ZU BRINGEN

Arne Vogelgesang

WIR VERSAMMELN UNS IM DIGITALEN! WIE HAUPTSACHE FREI ALS ERSTES FESTIVAL INS NETZ UMZOG. UND WELCHE FALLEN DORT LAUERTEN

Julian Kamphausen und Susanne Schuster

JENSEITS DES ECHORAUMS DIGITALISIERUNG UND DIGITALITÄT ALS CHANCEN FÜR EIN THEATER NACH CORONA

Christian Esch

BIELEFELD! MÜNCHEN! NEW YORK! WÄHREND DER PANDEMIE GINGEN DIE THEATER INS NETZ. OHNE ZU WISSEN, WAS SIE DORT ERWARTEN WÜRDE

Falk Schreiber

DEMOKRATIE DER MITTEL KOMPONIEREN, LERNEN, ENTSCHEIDEN: ARBEITEN IM KOLLEKTIV ALS ECHTES ZUHAUSE

Swoosh Lieu

JETZT ERST RECHT FREUNDSCHAFT ALS KURATORISCHES PRINZIP HOFFNUNG

Felizitas Stilleke

EIN TOTENTANZ DIE KRISE VERDEUTLICHT DIE KLASSEN-VERWERFUNGEN UNSERER GESELLSCHAFT

Anja Quickert

ZEIGE DEINE KLASSE SOZIALE HERKUNFT UND FREIES THEATER

Daniela Dröscher

DIESE BESCHÄFTIGUNG DER PREIS DER WARENFÖRMIGKEIT: KÜNSTLERISCHE ARBEIT IM ZEITALTER DER ÖKONOMISIERUNG

Christine Peters

LERNEN, MIT EINEM VIRUS ZU LEBEN DARSTELLENDE KUNST IN DER (POST-)CORONA-GESELLSCHAFT

Jan Deck

SYSTEMIRRELEVANZ WAS MACHEN CORONA UND DIE PANDEMIEMASSNAHMEN MIT DER KUNSTFREIHEIT?

Nora Auerbach und Sonja Laaser

MOMENTE VON GLANZ UND NIEDERGANG ODER #TAKECARE FÜR EINE NEUE, ZUGÄNGLICHERE FÖRDERPRAXIS

Holger Bergmann

NACH DER RETTUNG EIN VORSCHLAG ZUR STÄRKUNG DES GEMEINWOHL-GEDANKENS IM KULTURBEREICH

Sebastian Linz

ÜBER GELD SPRECHEN HONORARE UND DIENSTVERHÄLTNISSE IN DEN FREIEN DARSTELLENDEN KÜNSTEN

Sara Ostertag

LOCK ME | LOCK MICH DIE KUNST UND ALTE ROUTINEN IM NEUEN ALLTAG

Jörg Albrecht

SCHWANKHALLE, BREMEN, 30. April 2020, Foto: Jürgen Petersen (Techniker), war im Haus, um die Saalbestuhlung unter Einhaltung der Abstandsregelung zu simulieren.

VORWORT

Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Falk Schreiber

„Alles fühlte sich an wie nach einem Unfall“, schrieb Holger Bergmann, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, am 21. März 2020 in einem Facebook-Posting. Und so war es auch: Das Gewohnte war plötzlich zum Stillstand gekommen und bedroht. Eine Woche zuvor hatten die Theater des Landes angesichts der eskalierenden Corona-Pandemie sämtliche Vorstellungen abgesagt. Einen echten Lockdown gab es in Deutschland, Österreich und der Schweiz zwar nicht, wohl aber einen des Kulturlebens: Alle Bühnen, Konzertsäle, Ausstellungshäuser, Festivals waren durch die (insgesamt eher milden) Kontaktbeschränkungen zur Untätigkeit gezwungen. Und jetzt? Wie wollen wir nach der Krise weitermachen? Können wir aus diesen Erfahrungen lernen? Nicht nur als Gesellschaft, sondern auch als Freie Theatermacher*innen?

In den ersten Wochen des pandemiebedingten Ausnahmezustands waren die Medien voll mit Reflexionen und Statements zu dem, was die Krise an Veränderungen mit sich bringen könnte. Im August, kurz vor Drucklegung dieses Bandes, wirkt es eher so, als würde die Welt sich wie gewohnt weiterdrehen. Zu begrüßen ist das angesichts ihres Zustands nicht. Deshalb haben wir inmitten der Theater-Zwangspause Akteur*innnen der Freien Szene dazu eingeladen, in Texten und Fotos Momentaufnahmen aus einer Zeit festzuhalten, in der nichts mehr war wie gewohnt und die Frage unumgänglich wurde, wie es denn eigentlich weitergehen soll: politisch, ästhetisch, strukturell.

Die Beiträge blicken aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen: Sie zeigen auf, dass vor dem Virus und auch sonst eben nicht alle gleich sind, sie fragen nach Solidarität, Ein- und Ausschlüssen. Sie behandeln die Verletzbarkeit des Körpers im Theater, die durch das Virus plötzlich offenbar wird, sie diskutieren den Status künstlerischer Existenz, deren Prekarität, so hat die Pandemie es gezeigt, ganz wesentlich von finanziellen wie sozialen Ressourcen bestimmt wird. Auf der ökonomischen Ebene fragen die Autor*innen, wie sich Kunstförderung, Honorarstrukturen und Gemeinwohl angesichts der veränderten Situation und auch darüber hinaus neu denken ließen. Und können wir das alles auch im Internet machen? Schließlich weitet sich der Blick auf die gesellschaftliche Ebene, mit Beiträgen zur Kunstfreiheit oder zur sozialen Bedeutung des Freien Theaters.

Eigentlich hatten die Impulse 2020 ihren 30. Geburtstag feiern wollen, u. a. mit einer Akademie zur Festivalgeschichte. Diese und viele andere Veranstaltungen mussten wegen der Kontaktbeschränkungen ins Folgejahr verschoben werden. Eine um den Großteil der Programmpunkte reduzierte Digitalversion des Festivals trat an die Stelle von Versammlung und Begegnung vor Ort in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr. Die geplante Jubiläumspublikation wurde mitsamt der Akademie vorerst auf Eis gelegt. Und so ist dieser Band nicht zuletzt ein Dokument des Verlusts, einer Leerstelle. Diese Leerstelle gilt es auszuhalten, denn nur so kann sie uns ein Spiegel sein.

Haiko Pfost, geboren 1972 im Schwarzwald, ist für die Festival-Ausgaben 2018 bis 2023 künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festival. Er ist gelernter Industriekaufmann und hat Theater- und Religionswissenschaft sowie Psychologie in Berlin studiert. Als Festivaldramaturg arbeitete er beim Festival Theaterformen, beim steirischen herbst, bei den Internationalen Schillertagen sowie als Mitglied der Programmjury des Festivals Politik im Freien Theater. Gemeinsam mit Thomas Frank gründete er 2007 brut — Koproduktionshaus Wien und leitete das Haus bis 2013.

Wilma Renfordt ist seit 2017 Dramaturgin beim Impulse Theater Festival. 1982 geboren, wuchs sie am Rand des Ruhrgebiets auf und arbeitete nach dem Theaterwissenschafts-Studium an der FU Berlin frei als Dramaturgin, Autorin und kuratorische Assistenz, u. a. als Teil der Gruppe copy & waste. 2016/17 war sie Dramaturgin beim steirischen herbst. Falk Schreiber, Kulturjournalist. Geboren 1972 in Ulm, Studium in Tübingen und Gießen, Zeitschriftenvolontariat in Hamburg. Seit 2018 freischaffend, schreibt u. a. für Theater heute, Tanz, Nachtkritik, Hamburger Abendblatt, taz über Darstellende und Bildende Kunst. Mitglied diverser Fachjurys. Lehrt journalistische Praxis.

LICHTHOF THEATER, HAMBURG, 6. Mai 2020, Foto: Gesine Lenz (Produktionsleitung), besuchte picnic beim Videodreh zu „aria for no audience“ im leeren Theater.

ATEMPAUSE WO SICH DAS LEBEN BAHN BRICHT

Stefanie Wenner

Pause war in der Schule immer das, wo das Leben stattfand. Pausen waren dazu da, der Schule einen Sinn zu geben, in großen Teilen. Die Pause war wild und frei, aufregend später, in der Pubertät. Sommerpause war in meiner Zeit als Arbeiterin an einem Theater so etwas wie Sendepause, aber in Teilen vergleichbar mit dem, was Pause in der Schule auch war: Leben. Wenn wir versuchen, unseren Atem zu pausieren, wird rasch klar, dass das enge Grenzen hat. Mit etwas Übung lassen sich diese Pausen verlängern. Mit etwas Übung wird auch erlebbar, dass wir mit unserem Atemrhythmus unsere Wahrnehmung massiv verändern und unsere körperliche Existenz intensivieren können. Wo die Atempausen enden, bricht sich das Leben Bahn, unser Leben. Das wir nicht beherrschen, das uns gegeben ist, Atemzug, für Atemzug. Willentlich aufhören zu atmen – eine unlösbare Aufgabe. In der Pause wird der Zug des Lebens erlebbar, etwas, das mich durchströmt, ich kann es nicht festhalten, aber ich kann meine Wahrnehmung dafür intensivieren. Die Pause, die das Theater hierzulande durch Covid-19 erfährt, stellt es in seiner gegebenen Form infrage. In „Pause“ steckt auch, dass etwas final endet, zur Ruhe kommt, aufhört. Das ist die Bedeutung der altgriechischen Wurzel des Wortes, die auf den Stillstand verweist. Die Menopause wäre so eine Art der Pause, die ein Ende benennt. Eine Pose, eine zur Ruhe gekommene Bewegung, hat indes ebenso mit der Pause zu tun. Eine Theaterpose assoziieren wir mit einer archetypischen, eher überkommenen Spielweise. Das Theater selbst kann eine Pose des Bürgertums sein, eine Kultur, deren Pause im absoluten Sinne womöglich gekommen ist. Denn dieses Theater basierte auf Verträgen und Konventionen, deren Wegfallen wir nicht betrauern müssen. So entsteht in der Pause Raum für Neues, für das, was Theater heute sein kann, erneut erneuert, Magie. Für neue, heilende Verträge, eine weitere Dimension der Pause, in der Etymologie des englischen put, setzen, stellen, legen, eine Handlungsoption aus dem Potenzial der Unterbrechung heraus, die nicht wieder aufnimmt, was vorher schon ein Problem war. So kann diese Pause, dieser Moment von Ruhe, zur Vorlage, zur Pause dessen werden, was kommen mag, was wir uns herbeiimaginieren. Was wir nun tun, welche Praktiken wir hier etablieren, kann zur Blaupause werden und zur Basis einer neuen Theaterkultur der Zusammenkunft menschlicher und nicht-menschlicher Körper, eine Feier der Gegenwart, anerkennende Teilhabe, Pause als Befreiung. Der Druck des Lebens bricht sich Bahn durch die versteinerten Institutionen, die Leben in ihrem Sinne angeeignet und verwertbar gemacht haben. Wir pausen ab, was die Pause ermöglicht hat, und kommen zu einem neuen, lebendigen Theater, new life theater. Wir atmen.

Stefanie Wenner, Professorin für Angewandte Theaterwissenschaft an der HfBK Dresden seit 2015, Promotion in Philosophie an der FU Berlin 2001, seither Kuratorin und Dramaturgin in der Freien Szene, u. a. am HAU Berlin und bei den Impulsen. Seit 2014 Betreiberin von apparatus, gemeinsam mit Thorsten Eibeler. Dort Arbeit an der Herstellung besserer Darstellung von Wirklichkeit mit den Mitteln von Theater und Kunst.

ZEIGE DEINE WUNDE

Falk Schreiber

Zeige deine Wunde. Mache dich angreifbar. Öffne dich, breite die Arme aus, atme tief ein. Atme die Aerosole ein. Mache dich angreifbar.

Hier deine Wunde. Hier dein Körper, hier deine Infektion, hier deine Verletzung. Hier deine Angst. Aufwachen, Schlafengehen, Aufstehen, Angst. Angst vor der Krankheit, vor dem Tod, vor dem Souveränitätsverlust. Zeige deine Wunde! Gib deine Souveränität auf! Souveränitätsverlust: irrelevant werden. Unsichtbar werden. Zeige deinen Antrag: Corona-Soforthilfe für Soloselbstständige! (Aber nicht für dich, nicht für dich!) Zeige das Ablehnungsschreiben.

Hier dein Körper. Sei nackt, sei angreifbar. Es gibt hier ein Problem: Gib dem Problem einen Namen. Finde eine Lösung für das Problem, finde keine Lösung. Gehe online, schaffe Sichtbarkeiten, brich zusammen, stelle fest: Das funktioniert alles überhaupt nicht! Das trägt sich nicht, da kommt kein Geld rein, die Miete für den nächsten Monat: fällt aus. Abendessen: fällt aus. Premiere: fällt aus. Oder: Das funktioniert doch. Warum auch nicht? Warum funktioniert das eine Projekt, warum funktioniert das andere nicht?

Hier dein Leben. Es gibt nichts mehr zu gewinnen, es gibt nur noch was zu lernen. Es gibt Netzwerke zu knüpfen, Solidaritäten zu entwickeln. Es gibt Strukturen, die hinterfragt werden wollen. Es gibt Ästhetiken, die neu gedacht werden wollen. Gibt es eine Ikonografie des Lockdowns? Gibt es Images der Angreifbarkeit?

Zeige deine Wunde. Öffne dich. „Let me see your beauty broken down / Like you would do / For one you love.“ (Leonard Cohen)

SHOWCASE IM SPLITSCREEN VIDEOBOTSCHAFTEN AN DIE DOMINANZKULTUR

Michael Annoff und Nuray Demir

DAS FREIE THEATER WAR SCHON IMMER IM LOCKDOWN

„Gimme my check, put some respeck on my check Or pay me in equity, pay me in equity Or watch me reverse out the debt“

APES**T, The Carters (2018)

Frühjahr 2020: Das Theater muss zu Hause bleiben. Auf eilig einberufenen Zoom-Konferenzen fängt es an, sich Sinnfragen zu stellen: Wie kann ich die Kunst der Begegnung und der Versammlung bleiben? Wie bleibe ich ohne öffentliche Orte lebendig? Was kann ich tun, um aus der Krise eine Chance zu machen?

Viele Theatermacher*innen erleben den pandemischen Lockdown als ein einschneidendes Ereignis. In der Quarantäne ist ihrer Arbeit die Grundlage genommen. Eingesperrt im Homeoffice eröffnet sich der Raum, nach der Zukunft ihrer Zunft zu fragen. Zwischen iMac und Yogamatte übt die kreative Klasse den Spagat zwischen Panik und Utopie. Wird der Kunst der Geldhahn zugedreht oder macht Not erfinderisch? Entsteht endlich ein postmigra … äh, -digitales Theater, das neue Publikumsgruppen viral erschließt? Das Leben muss irgendwie weitergehen. Was für viele Theatermacher*innen eine neue Erfahrung darstellt, ist für Andere schon lange Alltag: Die Grenzen sind dicht. Auf der Straße zu stehen und von der Polizei angesprochen zu werden. Bürgerliche Freiheit, aber kein Zugang zu bürgerlichen Institutionen. Depressiv, aber keine Therapie.

Im Jahr 2018 haben lediglich zehn Prozent der Menschen in Deutschland wenigstens einmal eine öffentlich geförderte Kulturinstitution besucht. Kann es sein, dass das Freie Theater für die Mehrheit der Menschen schon immer im Lockdown gewesen ist? Liegt es vielleicht daran, dass sich das Theater und sein Publikum schon lange vor Corona in Social Distancing geübt haben? Im Mai 2020 sind „systemrelevante“ Lohnarbeiter*innen längst wieder bei der Arbeit und schieben sogar Doppelschichten. Oder haben in Kurzarbeit andere Sorgen als Kulturbesuche. Offensichtlich erleben die Insider*innen des Freien Theaters den Lockdown viel dramatischer als ihre Nicht-Besucher*innen. In der Stille der Heimarbeit erwachen alte Audience-Development-Träume, in denen neue Besucher*innengruppen gewonnen werden, ohne dass man sich selbst ändern muss.

Das Theater wird aber nur dann gestärkt aus der Krise hervorgehen, wenn es von vorne beginnt: bei seinem Programm und seinen Dramaturgien. 2018 drehten The Carters ihr „APES**T“-Video im Louvre und hatten schnell mehr Klicks als das Museum im ganzen Jahr Besucher*innen. Mona Lisa musste sich wie ein in die Jahre gekommener Stummfilmstar mit einer Statistinnenrolle begnügen. Traurig lächelnd schaute sie aus dem Hintergrund der Selbstkrönung einer Schwarzen Künstlerin zur Queen of Pop zu. In der Krise 2020 gehen TikTok-Tänze durch die Decke. Die Zuschauer*innenzahlen der Lockdown-Programme deutschsprachiger Kulturinstitutionen dümpeln jedoch im zweistelligen Bereich. Aus Millionen Menschen sind längst selbst mediatisierte Performer*innen geworden. Das Theater hat also nicht nur seine auratischen Aufführungsorte verloren, es muss auch noch auf denselben Plattformen wie falcopunch (mehr als acht Millionen Follower) und youneszarou (fünf Millionen Follower) um Aufmerksamkeit buhlen. Während die Lai*innen- und Alltagskultur in den ersten Tagen einen fulminanten Kreativitätsschub erlebt, dackelt die „Hochkultur“ mal wieder hinterher: Wozu Balkonkonzerte kuratieren, wenn die sich in vielen Nachbarschaften wie von selbst organisieren?

SZENEN EINER GESPALTENEN GESELLSCHAFT

„Die meiste Zeit sitzen wir in einem oder zwei Zimmern und arbeiten, während jeder uns zur Verfügung stehenden Sekunde. In fünf Jahren, erzählt mir jemand im Internet, wird es ein Drittel aller US-Amerikaner wahrscheinlich genauso machen: als Online-Freelancer freiberuflich und allein arbeiten.“ „Die Selbstsucht der anderen“, Kristin Dombek (2014)

Analoge Aufführungen fallen aus, die Theaterbühnen bleiben zu. In der unfreiwilligen Spielzeitpause wird frisch gestrichen, renoviert und Inventur gemacht. Die Programmverantwortlichen erproben zu Hause neue digitale Formate: Online-Inszenierungen und kontaktloses Theater, Live-Chats und Zoom-Panels, Screen-Sharings und Streams der guten alten Aufzeichnung von der Standkamera aus der letzten Reihe. Theater für alle (mit stabiler Internetverbindung). Die „neue“ Ästhetik des Splitscreens wird anscheinend zum Sinnbild der gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Lockdown werden Wohnarbeitszimmer zum Guckkasten neuer Inszenierungsformen, die die Grenzen von Privatem und Professionellem verwischen lassen. Das Gegenwartstheater versammelt seine Akteur*innen in kleinen Kacheln unterteilt auf der Bühne des Screens. Auf allen Kanälen dasselbe Spiel: Dramaturg*innen und Künstler*innen beraten vor ewig gleichen Altbaukulissen, was zu tun ist. Hier und da ein Requisit bürgerlichen Dekors, aber irgendwie ironisch in Szene gesetzt. Weißer Stuck rahmt das Ganze.

Im Lockdown sind die Theatermacher*innen wie so viele in der Gesellschaft einer Illusion erlegen: dass sich in der Bedrohung durch einen pandemischen Virus alle in der gleichen Situation befinden. In der Krise tritt die Digitalisierung plötzlich wieder in ihrer alten Paraderolle auf, in der sie seit Mitte der 1990er Jahre niemand mehr sehen wollte: Sie darf noch einmal darbieten, dass das Internet eine grandiose Demokratiemaschine wäre. Und so verhüllt der Splitscreen im Freien Theater und anderswo seinen Apparat, der alte Ungleichheiten wiederholt und vergrößert. Die digitalen Formate und Dramaturgien sind Teil dieser Illusion, weil die Kacheln den Eindruck erzeugen, dass alle Akteur*innen wirklich den gleichen Background hätten.

Festangestellte Dramaturg*innen müssen den Apparat notgedrungen am Laufen halten. Die Risiken und Belastungen eines abrupt veränderten Bedarfs werden aber an die freischaffenden Künstler*innen outgesourct. Obwohl die Künstler*innen auf Ausfallhonorare hoffen und warten, machen viele Institutionen neue Rechnungen auf: Auch digitale Formatentwicklungen kosten Geld.

Die Neuerfindung des Theaters findet unter ungleichen Bedingungen statt. Während die großen Institutionen noch auf die Bedeutung der Kunst für Gesellschaft beharren, kratzen die Künstler*innen die nächste Miete zusammen. Und auch wenn Soli-Kampagnen so mancher Häuser Straßenzüge und Newsfeeds zieren, verschlimmert so manche kuratorische Idee die Ungleichheit in prekären Verhältnissen noch mehr. Die strukturelle Unterfinanzierung des Freien Theaters müssen nach wie vor vor allem die Künstler*innen aushalten und zugleich flexibel auf die Anfragen des digitalen Notprogramms reagieren.

Der Umbau des Apparats führt dazu, dass alte Illusionen weitergesponnen werden. Viele Programme erweckten vor der Krise den Eindruck, ihre Positionen und Perspektiven für ein breites Publikum in der postmigrantischen Gesellschaft zu diversifizieren. Was aber ausblieb, war bisher eine nachhaltige Veränderung des institutionellen Apparats, der vermehrt migrantisierte Künstler*innen auf die Bühne brachte. Die Institutionen werden bis heute vor allem von sozial privilegierten Theatermacher*innen betrieben. Insbesondere diskriminierte Künstler*innen müssen zur gleichen Zeit bangen, endgültig aus dem Spiel geworfen zu werden.

POSTMIGRANTISCHE PERSPEKTIVEN

„Voodoo, I can do what you do, easy“

Ready or not, The Fugees (1996)

Im Lockdown nimmt sich das Theater ganz viel vor. Auf seiner To-do-List steht: Nach der Krise muss ich die Kunst sein, die die postmigrantische Gesellschaft bei sich im Publikum versammelt. Tage und Wochen vergehen, und plötzlich ist so viel zu tun, dass das Theater vergisst, was früher schiefgelaufen ist. Es verzettelt sich mal wieder, denn schon vor der Krise hätte es besser mehr getan, als nur migrantisierte Künstler*innen in sein Programm zu integrieren. Auch wenn heute viel öfter von postmigrantischem Theater und Diversität die Rede ist, tun viele Institutionen so, als ginge es noch immer darum, sich „interkulturell zu öffnen“. Es geht aber nicht um die Bereitschaft weißer Dominanzkultur, sich selbst migrantisierte Positionen zur Seite zu stellen. Stattdessen müssen Institutionen lernen, dass sie keine Bollwerke sind, sondern flexible Systeme von Öffnung und Schließung. Theater muss lernen, seine Apparate ständig auseinanderzunehmen und neu zusammenzubauen, kaum dass sie zu laufen beginnen. Nachdem Deutschland jahrzehntelang seine Realität als Einwanderungsland verpennt hat, geht es nicht allein darum, bisher ausgeschlossene Akteur*innen, ihre Geschichte(n), Formate und Dramaturgien hereinzulassen. Ein postmigrantisches Theater ist nicht nur sein „diversitätssensibles“ Programm, es muss eine Institution sein, die sich kontinuierlich darauf vorbereitet, diejenigen am Apparat zu beteiligen, die in Zukunft noch dazukommen wollen.

Wenn das schon der Fall wäre, würde das Theater des Lockdowns vielleicht ganz anders aussehen. Das situierte Wissen von 70 Jahren Migrationsgeschichte(n) hätte Eingang in die Theaterarbeit gefunden. Denn lange bevor das Theater online ging, gab es schon Millionen Expert*innen für Homevideos in Deutschland. Mit Kassettenrecordern und Videokameras produzierten sogenannte Gastarbeiter*innen und ihre Familien schon mit modernsten Kommunikationstechnologien, als in weißen Amtszimmern noch von „Ausländerkulturarbeit“ die Rede war. Da wurden quer durchs Wohnzimmer bombastische Bühnenbilder gebaut, auf der Tanzbühne im Kinderzimmer probierte das Ensemble, und in der Küche schrie die Chefdramaturgin den Intendanten an. Wer solche Meisterwerke kennt, die als Kassetten- und Videobriefe an weit entfernte Verwandte und Freund*innen verschickt wurden, kann im Lockdown der Theater nur müde gähnen. Bereits 2004 analysierte Fatima El-Tayeb: „Das jüngste Medieninteresse an der ‚zweiten Generation‘ scheint kaum mehr als eine erneute Objektifizierung, eher hippes Saison-Thema als echtes Interesse an den Lebensumständen dieser neuentdeckten Gruppe.“ Stattdessen ist die Postmigrantisierung des Freien Theaters bereits vor der Pandemie ins Stocken geraten. Der Erfolg von Identitätspolitiken ist in ein kuratorisches Paradigma übersetzt worden, über das die Institutionen der Dominanzkultur die Sichtbarkeit marginalisierter Künstler*innen verwalten.

Dieses Paradigma führt dazu, dass eine marginalisierte Gruppe nach der anderen zum neuen Subjekt der Emanzipation ausgerufen wird, nur um dann nach einer Weile von einer anderen ersetzt zu werden. Die Subjekte antidiskriminatorischer Kämpfe werden in den Spielplänen so schnell ausgewechselt und neu besetzt, dass sie kaum strukturell wirksam werden können: Queers vs. Kanaks vs. Crips vs. Climate. In den Konjunkturen identitätspolitisch informierter Programme werden diejenigen zur Verfügungsmasse (eher) privilegierter Kurator*innen, die die gerade aktuellen Marginalisierungsdiskurse notgedrungen glaubhaft verkörpern.