Leute, die an die Tür klopfen - Patricia Highsmith - E-Book

Leute, die an die Tür klopfen E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Als seine Gebete erhört werden und sein jüngerer Sohn eine schwere Krankheit übersteht, wird Versicherungsagent Alderman plötzlich erleuchtet und tritt einer christlichen Sekte bei. Er beginnt, die Familie mit Moralpredigten, Kirchenbesuchen und Gebeten zu quälen. Als die Freundin seines siebzehnjährigen Sohnes Arthur schwanger wird, kommt es zur Konfrontation.

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Patricia Highsmith

Leute, die an die Tür klopfen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Leute, die an die Tür klopfen

Gewidmet dem palästinensischen

Volk und seinen Führern für

ihren Mut im Kampf um ein Stück ihrer Heimat.

Dieses Buch hat nichts mit ihrem Leid zu tun.

1

Arthur warf den Stein im exakten Winkel. Der Stein hüpfte in sechs, sieben Sprüngen über das Wasser, bevor er sank, und ließ goldene Ringe auf dem Teich zurück. Immer noch so gut wie mit zehn, dachte er, und mit zehn hatte er manches besser gekonnt als heute, rückwärts Rollschuh laufen zum Beispiel. Jetzt war er siebzehn.

Er hob sein Fahrrad auf und fuhr nach Hause. Heute war ein besonderer Tag. Der Nachmittag hatte ihn ganz und gar verändert, und er begriff, daß er sich noch gar nicht traute, wirklich nachzudenken, was da geschehen war.

War Maggie in diesem Augenblick genauso glücklich? Vor noch nicht einmal zehn Minuten hatte sie ihn angelächelt und, beinahe wie immer, gesagt: »Bis dann, Arthur! Bye!«

Er sah auf seine Uhr – 5 Uhr 37 nachmittags. Verrückte, langweilige Zeit! Verrückt, die Zeit zu messen! Er spürte die Sonne dieses Maitags auf seinem Gesicht, der Wind kühlte seinen Körper unter dem Hemd. 5 Uhr 37, das bedeutete, daß es in etwa einer Stunde Abendessen gab, daß sein Vater gegen sechs nach Hause kam, zur Zeitung griff und sich in den grünen Wohnzimmersessel fallen ließ. Sein Bruder Robbie würde entweder schmollen oder vor Aufregung platzen, weil ihm jemand in der Schule etwas getan hatte. Arthur riß sein Vorderrad in die Höhe und stellte sich in die Pedale, damit das hintere über einen Ast auf der Straße hüpfen konnte.

Würden sie die Veränderung irgendwie sehen? Überlegte das Maggie in diesem Augenblick auch?

Es war erst die zweite Verabredung gewesen, die er mit Maggie Brewster hatte, wenn man es überhaupt eine Verabredung nennen konnte, und auch heute war sie erst um fünf nach drei zustande gekommen, als Maggie nach der Biologiestunde zu ihm sagte: »Hast du verstanden, was Cooper mit dieser Zeichnung will? Dem Plasmodium?« »Es geht um den Lebenszyklus«, hatte Arthur geantwortet. »Wir sollen es nicht einfach aus dem Buch abzeichnen. Er hat uns gezeigt, wie es geht. Er will, daß wir das wirklich verstehen mit der Vermehrung der Sporen.« Also hatte Arthur angeboten, ihr zu helfen, und war mit dem Fahrrad zu Maggie gefahren. Maggie hatte ihren eigenen Wagen und war vor ihm da. In Maggies Zimmer oben im Haus ihrer Eltern hatte Arthur den Lebenszyklus dieses Malariaerregers binnen zehn Minuten gezeichnet. »Das sollte reichen«, sagte Arthur. »Und meine eigene Zeichnung mache ich andersrum, dann merkt er es nicht.« Er war aufgestanden, und Maggie stand neben ihm. Was dann kam, war so unerwartet, so unglaublich, daß er nicht wußte, wie er überhaupt darüber nachdenken sollte. Die Erinnerung an seine erste Verabredung mit Maggie, sechs Tage zuvor, war eindeutiger; sie waren einfach ins Kino gegangen, in einen Science-fiction-Film. Und im Kino war er zu schüchtern gewesen, ihre Hand zu nehmen! Aber so ein Mädchen war Maggie nun mal, oder so war ihm bei ihr zumute. Er wollte ja nicht alles verderben, und das konnte passieren, wenn er sie im Dunkeln bei der Hand faßte und sie zog sie dann zurück, weil ihr nicht danach war. Arthur spürte, daß er, aus der Ferne, schon seit mindestens zwei Wochen in Maggie verliebt war. Und nach diesem Nachmittag zu urteilen, liebte Maggie ihn womöglich auch. Wunderbar und unglaublich!

Arthur stellte sein Fahrrad in die Garage und ging in die Küche. »Hi, Mom!« Es roch nach Schinkenbraten.

»Hallo, Arthur. – Gerade hat Gus angerufen.« Seine Mutter, die am Herd stand und in einem Topf rührte, drehte sich um. »Ich habe gesagt, du wirst jeden Moment hier sein.«

Arthur verhandelte mit Gus über ein Fahrrad. »Nichts Wichtiges. Danke, Mom.« Arthur sah, daß sein Vater sich bereits in seinem Wohnzimmersessel niedergelassen hatte. »Einen wunderschönen guten Abend, Bruder Robbie«, sagte Arthur zu der mageren Gestalt in Shorts, die ihm auf dem Flur entgegenkam. »Und wie geht es uns heute?«

»Okay«, sagte Robbie atemlos. An einem Fuß hatte er eine schwarze Schwimmflosse, die andere hielt er in der Hand.

»Das freut mich«, sagte Arthur und ging ins Bad. Arthur wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, kämmte sich und betrachtete sich im Spiegel. Seine blaugrauen Augen sahen noch aus wie immer, fand er. Er zupfte seinen Hemdkragen zurecht und ging wieder hinaus.

»Abend, Dad«, sagte Arthur, als er ins Wohnzimmer kam.

»Hm-m. Hi.« Sein Vater warf ihm nur einen kurzen Blick über die rechte Schulter zu. Er las den Chalmerston Herald und hielt ihn weit ausgebreitet mit beiden Händen.

Richard Alderman verkaufte Lebens- und Rentenversicherungen für eine Firma namens Heritage Life; die Büros lagen auf der anderen Seite von Chalmerston, vier Meilen entfernt. Er war nach Arthurs Einschätzung ein aufrechter Mann, der es gut meinte, aber im Laufe des letzten Jahres war Arthur zu dem Schluß gekommen, daß sein Vater seinen Kunden Träume verkaufte, Hoffnung auf eine Zukunft, die es vielleicht nie gab. Sein Vater, das wußte Arthur, brachte seine Versicherungen mit dem Argument an den Mann, daß ein arbeitsames Leben und regelmäßiges Sparen sich am Ende auszahlten, gerade steuerbegünstigt oder als subventionierter Rentenplan. In letzter Zeit machte Arthur sich viele Gedanken um Inflation; das Wort fiel fast jedesmal, wenn seine Mutter vom Einkaufen kam, doch immer wenn Arthur versuchte, darüber zu reden, erklärte sein Vater ihm, daß die Leute, die bei Heritage Life investierten, damit Steuern sparten, daß sie Ehepartner und Kinder hätten, denen sie ihr Vermögen vermachten, und daß nichts verlorengehe. Außer daß der Dollar an Wert verliert, dachte Arthur. Arthur war überzeugt, daß es besser war, wenn man in Grundbesitz oder Kunst investierte, und das ließ sich für seine Begriffe genausogut mit der Notwendigkeit und dem Nutzen harter Arbeit und so weiter verbinden. Solche Gedanken gingen Arthur nun durch den Kopf. Was, wenn er und Maggie sich so sehr mochten, daß sie eines Tages heirateten? Die Brewsters hatten mehr Geld als seine Familie. Das war ihm unangenehm, aber es war eine Tatsache.

Robbies schrille, noch nicht vom Stimmbruch erfaßte Stimme riß ihn aus seinem Tagtraum.

»Das kann ich selber, wenn du mich nur läßt«, schrie er.

»Ar-thur?« rief seine Mutter. »Abendessen ist fertig.«

»Abendessen, Dad«, gab Arthur weiter, für den Fall, daß sein Vater es nicht gehört hatte.

»Ah. Hm. Danke.« Richard erhob sich, und zum erstenmal an diesem Abend sah er seinen Sohn wirklich an. »Mensch, Arthur. Du siehst aus, als ob du heute schon wieder zwei Fingerbreit gewachsen bist.«

»Ehrlich?« Arthur glaubte ihm nicht, aber der Gedanke gefiel ihm.

Der Eßtisch stand am einen Ende der großen Küche, an einer Eckbank, die an die Trennwand zwischen Küche und Flur montiert war. An der anderen Schmalseite und an der Küchenseite stand jeweils ein Stuhl.

Arthurs Vater erzählte von seiner Arbeit – Lois hatte gefragt, wie die Geschäfte gingen. Sein Vater sprach auch von Anstand – davon, wie man »Anstand und Selbstachtung« bewahrte, ein Ausdruck, der von seinem Vater häufig zu hören war. »Da gibt es eine Menge Tricks«, sagte er und blickte Arthur an. »Du kannst dir sagen, daß es kein schlechter Tag war, du kannst dich zu einem kleinen Erfolg beglückwünschen – oder es wenigstens versuchen. Jeder Mensch möchte vorankommen, das ist nur natürlich. Aber das ist etwas Flüchtiges, nicht zu vergleichen mit einem Bankkonto, mit Rücklagen oder einer Investition, die Jahr für Jahr gute Zinsen abwirft …«

Oder einem Mädchen in deinen Armen, dachte Arthur. Was würde einem wohl mehr Selbstachtung geben als das? Seine Mutter auf dem Platz ihm gegenüber sah aus wie immer, ihr kurzes braunes Haar auf halbem Wege zwischen gekämmt und zerzaust, ihr rundliches Gesicht ungeschminkt, mit den ersten Anzeichen von Falten, kleinen Tränensäcken unter den Augen, aber einem freundlichen, glücklichen Ausdruck, mit dem sie höflich den langweiligen Ausführungen seines Vaters lauschte.

Robbie aß verbissen, schaufelte sich mit der Gabel den in kleine Stücke geschnittenen Schinkenbraten in den Mund. Robbie war Linkshänder. Die blonden Augenbrauen hatte er ärgerlich unter der glatten Kinderstirn zusammengezogen, als sei das Essen eine Qual – dabei aß er mit einem phänomenalen Appetit. Sein Körper war dürr. Im Sommer, wenn er Shorts mit Gummizug trug, sah man seine Rippen, und dünne Muskelstränge zeigten sich auf dem Bauch, wenn er wütend war oder brüllte.

»Heute in Schwimmflossen zum Essen?« fragte Arthur seinen Bruder.

Robbie blickte ihn mit seinen grauen, zusammengekniffenen Augen an. »Hast du was dagegen?«

»Später noch in der Badewanne?«

»Die brauche ich morgen für den Schwimmunterricht«, antwortete Robbie.

»Ich seh dich schon vor mir, wie du morgen früh in den Schulbus steigst. Flop-flop-flop.« Arthur wischte sich die Lippen mit einer Papierserviette. »Wahrscheinlich schläfst du in den Dingern, sonst kriegst du sie morgen früh nicht wieder an!«

»Wer sagt, daß ich sie nicht wieder ankriege?« antwortete Robbie durch zusammengebissene Zähne.

»Arthur, laß das«, sagte ihre Mutter.

»Was ich sagen wollte«, fuhr Richard fort, »der Verkauf von Anteilen – Immobilien für Gemeindeprojekte –, das bringt uns eine Menge ein, Loey. Gute Provisionen, das brauche ich wohl nicht zu sagen.«

»Aber ich verstehe nicht, wem du sie verkaufst«, sagte Lois. »Dieselben Leute, die schon Lebensversicherungen haben, kaufen auch noch die Anteile?«

»Ja. Oft. Und das sind kleine Leute, keine Millionäre. Ich hätte beinahe gesagt, die kleinen Leute, das sind meine Leute, aber das stimmt nicht ganz. Fünfzigtausend Dollar manchmal, und glaub mir, sie können sich das leisten – oder es aufnehmen –, wenn ich es richtig angehe und die Konditionen für sie günstig sind.«

Seine Mutter sagte noch etwas, doch Arthurs Gedanken wanderten. Das Tischgespräch kam ihm so langweilig und uninteressant vor wie, na, die Details der amerikanischen Geschichte um das Jahr 1805. Sein Vater sprach schon wieder von »Sicherheit«.

Arthur fühlte sich in diesem Augenblick ausgesprochen sicher, nicht seines Sparkontos wegen, auf dem sich nur etwas über zweihundert Dollar befanden, aber Geld war ja nicht die einzige Grundlage für Sicherheit, nicht wahr? »Dad«, fragte er, »ist Selbstvertrauen nicht auch eine Form von Sicherheit? Das hat doch mit Selbstachtung zu tun, oder? Und davon redest du immer.«

»Ja. Da hast du recht. Die Einstellung spielt schon eine Rolle. Aber ein gleichmäßiges und wachsendes Einkommen, so bescheiden es –« Richard machte seine Ernsthaftigkeit offenbar selbst verlegen, und er blickte Lois an und faßte ihre Hand. »Und ein bescheidenes, gottesfürchtiges Leben, ein stilles Heim – auch das ist Sicherheit, nicht wahr, Loey?«

Das Telefon klingelte.

Lois und Arthur machten beide Anstalten aufzustehen, doch seine Mutter setzte sich wieder und sagte: »Vielleicht ist es noch mal Gus, Arthur.«

»’tschuldigung«, sagte Arthur und wand sich, nachdem Robbie aufgestanden war, aus der Bank. »Hallo?« sagte er ins Telefon.

»Hallo«, meldete sich Maggies sanfte Stimme, und ein wohliger Schrecken durchfuhr Arthur.

»Hi. Alles in Ordnung, Maggie?«

»Sicher. Warum denn nicht? – Ich rufe von oben an. Ich hab noch einen Augenblick bis zum Abendessen. Ich –«

»Was?« Arthur flüsterte.

»Ich finde dich sehr lieb.«

Arthur schloß fest die Augen. »Ich glaube, ich liebe dich.«

»Vielleicht liebe ich dich auch. Das bedeutet viel, wenn man das sagt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Bis morgen.« Sie legte auf.

Arthur kehrte mit ernster Miene in die Küche zurück. »Gus«, sagte er.

Schon vor neun Uhr war Arthur in seinem Zimmer. Ihn interessierte das Abendprogramm im Fernsehen nicht – ein Western, den Robbie unbedingt sehen wollte. Seine Mutter hatte Wäsche zu flicken, sagte sie, sein Vater würde eine Weile lang mit einem Auge dem Western zusehen, dann würde er in sein Arbeitszimmer nebenan gehen und bis kurz vor elf mit Papieren aus dem Büro hantieren.

Sein Zimmer kam ihm häßlich und unordentlich vor, und er hob ein Paar Socken vom Fußboden auf und schleuderte sie in Richtung Schrank. Er betrachtete die Wimpel an der Wand, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Würde bald Zeit, daß er das Orange und Weiß der Chalmerston High School abnahm, sagte er sich, also warum nicht gleich? Vorsichtig zog er die drei Reißzwecken heraus und warf den Wimpel in den Papierkorb. Das Blau-Weiß von Columbia konnte bleiben, denn im September würde er nach Columbia gehen, und Columbia, das war schon etwas, das wirkte erwachsen. Als Hauptfach würde er Biologie wählen, vielleicht Mikrobiologie. Aber die Zoologie interessierte ihn ebenso, die Evolution des tierischen Lebens. Er würde eine Richtung wählen und sich spezialisieren müssen, und das tat er nicht gern.

Maggie! Beim Gedanken an sie lief ein seliger Schauder durch seinen Körper, genau wie am Telefon, als er ihre Stimme gehört hatte. Die vergangenen Wochen, seit ihm Maggie in der Schule aufgefallen war, hatte Arthur sich ausgemalt, daß sie kühl, womöglich hochmütig, unnahbar sein würde. Neunzig Prozent von den Mädchen an der Chalmerston High sahen unglaublich langweilig aus; zehn Prozent trieben es mit jedem und gaben sogar damit an; nochmals vielleicht zwanzig Prozent taten es und behielten es für sich. Die größte Angeberin war Roxanne, die aussah, als sei sie halb Zigeunerin, dabei war sie nicht mal halb Italienerin. Dann gab’s noch ein paar hochnäsige Mädchen, deren Familien so reich waren, daß man sich fragte, warum sie nicht auf Privatschulen gingen. Maggie war anders; sie hatte den Vorteil, daß sie hübsch war, sehr hübsch sogar, und sie ging mit Sicherheit nicht mit jedem ins Bett. Dieser Nachmittag mit Maggie war ganz anders gewesen, als wenn man zum Beispiel nach einer Limonade im Drugstore mit Roxanne und ein paar anderen Mädchen und Jungen zu einem von ihnen nach Hause mitging, weil die Eltern zufällig den ganzen Nachmittag nicht da waren. Die meiste Zeit passierte bei diesen blöden Spielen sowieso nichts, es war albern, reine Zeitverschwendung.

Aber Maggie war keine Zeitverschwendung, bei ihr war es ernst.

Arthur zog sich aus, schlüpfte in seinen Schlafanzug und legte sich dann mit dem aufgeschlagenen Geographiebuch aufs Bett. Am Morgen hatte er eine mündliche Prüfung.

Aus dem Wohnzimmer hörte er Robbie jämmerlich heulen, dann einen lauten Knall, danach nichts mehr. Seine Mutter würde Robbie niemals schlagen, aber vielleicht hatte sie die Geduld verloren und eine Zeitschrift auf den Tisch geknallt. Ein Bild erschien vor Arthurs innerem Auge: Robbie ungefähr sieben, und er brüllte wie am Spieß, weil bei einem Picknick ein kleines Mädchen auf sein Sandwich getreten hatte. Nichts hatte Robbie beruhigen können, nicht einmal ein neues Sandwich. Sein Gesicht war rot geworden; er war barfuß auf der Stelle gehüpft, er hatte mit den geballten Fäusten gefuchtelt, auf seine verkrampfte, spastische Art, und die Adern auf beiden Seiten des Halses waren so geschwollen gewesen, daß es aussah, als würden sie jeden Moment platzen.

Arthur nahm ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber und schrieb:

Liebste Maggie,

danke für Deinen Anruf heute abend. Ich wünschte, ich könnte Dich noch einmal küssen. Ich liebe Dich. Ehrlich.

A.

Als er das geschrieben hatte, fühlte er sich ruhiger. Es würde nicht schwer sein, ihr den Zettel morgen zuzustecken; die anderen hatten kein Auge auf ihn und Maggie, keiner würde gehässige Bemerkungen machen. Auch das war ein schöner Gedanke.

Die Chalmerston High School war ein langgestreckter beigefarbener Ziegelsteinbau, umgeben von Eichen und Tulpenbäumen, die älter waren als die Schule selbst. Eine Turnhalle mit gewölbtem Dach erhob sich hinter dem Hauptbau wie ein Kirchenschiff; tagsüber waren zu fast jeder Zeit Mädchen oder Jungen dort, und an mindestens drei Abenden pro Woche gab es Basketballtraining oder Spiele zwischen der Chalmerston und den Mannschaften von anderen High Schools.

Arthur stellte sein Fahrrad im Ständer ab, unter mindestens hundert anderen.

»Stevy? Hi!« sagte Arthur und winkte einem schlaksigen Jungen mit Kraushaar zu. Er stürmte die breite Steintreppe hinauf und betrat das mit Plakaten bepflasterte Foyer voller lärmender Jungen und Mädchen, die hier warteten, bis die Glocke sie um fünf vor neun zum Antreten in ihre Klassenzimmer rief.

Er sah Maggie erst um kurz vor elf, als die Schüler sich zwischen den Stunden auf den Gängen drängten. Er erkannte sie gleich an ihrem hellbraunen glatten Haar, der aufrechten Haltung, den geraden Schultern. Sie war größer als die meisten Mädchen, fast so groß wie er. »Maggie –«

»Hallo, Arthur!«

Sie gingen gemeinsam. »Wie geht’s dir?« Mit der freien Hand – die andere hielt Bücher und Hefte – kramte Arthur den zusammengefalteten Zettel hervor.

»Gut. Und dir?«

Er hatte erwartet, daß sie etwas Besonderes sagen würde. Sein Blick wanderte an ihren Brüsten entlang, die, wie er wußte, unter der weißen Bluse von einem BH gehalten wurden, hinunter zu den rostbraunen Cordhosen und wieder zurück zu ihrem Gesicht. »Hab dir was mitgebracht.« Er steckte ihr das gefaltete Blatt in die ausgestreckte Hand. »Nur ein paar Worte.«

»Danke, ich –« Jemand rempelte sie an der Schulter an. Sie steckte den Zettel in die Tasche ihrer Bluse.

»Gehst du um drei zum Drugstore?«

»Vielleicht. Ja, okay.«

Arthur hatte den Eindruck, daß ihr Lächeln nichts weiter als höflich war, der kurze Blick, den sie ihm zuwarf, verlegen. Schämte sie sich wegen gestern, bereute sie es? »Dann bis um drei.«

Im Speisesaal hätte Arthur beinahe ein zweitesmal mit ihr gesprochen, aber bis er sein Tablett hatte, saß Maggie schon mit mindestens vier anderen Mädchen an einem Ecktisch ganz hinten. Arthur fand einen Platz an einem der langen Tische in der Raummitte und setzte sich.

»Hallo, Art«, sagte Gus, der plötzlich mit einem Tablett in der Hand neben ihm stand. »Rück mal ein Stückchen«, sagte Gus zu einem Jungen rechts von Arthur. »Du hast gestern abend nicht angerufen«, sagte Gus und setzte sich.

»Bin nicht mehr dazu gekommen. Tut mir leid, Gus.«

»Noch Interesse? Dreißig Dollar?«

»Sicher!«

Sie einigten sich, daß Arthur am Nachmittag um fünf zu Gus nach Hause kommen und das Fahrrad holen würde. Gus verdiente sich etwas, indem er Sachen reparierte, und würde für mindestens eine Stunde direkt von der Schule zu einem Auftraggeber gehen. Arthur wußte, daß Gus manchmal sogar putzen ging. Gus war der Älteste von fünf Geschwistern, und alle, die groß genug waren, mußten mit kleinen Arbeiten zum Unterhalt der Familie beitragen. Insgeheim bewunderte Arthur das, auch wenn es genau das war, was sein Vater hochhielt: altmodische anständige Arbeit, bei der man den Wert jedes Dollars schätzen lernte. Die wenigen Male, die Arthur bei Nachbarn ausgeholfen hatte, hatte er das Geld behalten dürfen. Außerdem bewunderte Arthur Gus auch dafür, daß er so groß war – obwohl ansonsten nicht viel an ihm dran war: glattes blondes Haar, unauffälliges Gesicht mit einem eher sanftmütigen Ausdruck, und er hatte immer eine Brille auf. Körperlich war Gus stark, aber Arthur wußte, daß die Mädchen ihn überhaupt nicht beachteten. Zumindest in dieser Hinsicht fühlte Arthur sich Gus Warylsky überlegen. Unmöglich, einfach unmöglich, sich Gus mit einem Mädchen vorzustellen!

Kurz nach drei traf Arthur im Red Apple ein, den alle nur den Drugstore nannten. Maggie war noch nicht da, aber die übliche Belegschaft – Blödmänner wie Toots O’Rourke, der Football spielte, und natürlich Roxanne, die um die Barhocker tänzelte und einen rosa Rüschenrock zur Schau stellte, mit dem sie als Carmen hätte auftreten können. Die Kerle betatschten sie mit offenen Mäulern, und Roxanne war so blöd und lachte, als bekäme sie am laufenden Band Witze erzählt. Arthur kam nicht oft in den Drugstore und Maggie mit Sicherheit auch nicht. Ein Eiscreme-Soda kostete einen Dollar, ein Stück Apfelkuchen 85 Cents – allerdings war er gut und selbstgebacken. Der Kaffee war dünn. Das Red Apple hatte tatsächlich die Form eines runden Apfels, außen rot angestrichen und mit einem Stiel auf dem Dach, ein peinlicher Versuch in Putzigkeit, und deshalb nannten sie es den Drugstore. Schließlich kam Maggie, in Jeansjacke, einen Bücherbeutel unter dem Arm.

»Wie wär’s mit hier?« Arthur wies auf einen Ecktisch, den er eifersüchtig gehütet hatte. Er fragte, was sie haben wolle – ein Erdbeer-Soda –, und bestellte zwei bei dem Jungen am Tresen, auch wenn er sich nicht viel aus Erdbeeren machte. »Du siehst sehr hübsch aus heute«, sagte er zu Maggie, als er sich gesetzt hatte.

»Danke für deinen Brief.«

Arthur scharrte unter dem Tisch mit den Füßen. »Ach, das! –«

Maggie sah ihn an, als habe sie etwas auf dem Herzen; als ob sie ihm vielleicht sagen wolle, daß sie Schluß mache.

»Irgendwas passiert?« fragte Arthur. »Was mit deinen Eltern?«

Maggies Lippen ließen den Strohhalm los. »Aber nein! – Wieso?«

Ein Mädchenschrei übertönte die Jukeboxmusik. Arthur warf einen Blick über die Schulter. Ein Junge half eben Roxanne vom Boden auf; anscheinend war sie gestürzt.

»Diese Roxanne!« sagte Maggie und lachte.

»Bescheuert.« Arthur schämte sich. Ein paar Monate zuvor war er schwer verknallt in Roxanne gewesen – zwei Wochen lang. Die größte Nutte der ganzen Stadt! Arthur räusperte sich und sagte: »Hast du am Samstag abend schon was vor? Da läuft ein Film – wahrscheinlich nichts Tolles. Oder wir könnten ins Stomps gehen.« Das Stomps war die Disco.

»Nein. – Aber danke, Arthur. Ich brauche Zeit – ich muß mir –«

Arthur nahm das als Absage. »Na, vielleicht kannst du doch nichts mit mir anfangen.«

»Nein, so meine ich das nicht. Aber gestern – so was hat es bisher nie gegeben. Für mich, meine ich.«

Wie war das nun zu deuten? Bereute sie es? War sie schockiert? Für ihn hatte es das bisher genausowenig gegeben, aber das würde er ihr nicht sagen. »Na ja – ist ja nicht so wichtig, wann es ist, aber ich würde dich schon gern wiedersehen. Mit dir ausgehen, meine ich.«

»Ich weiß nicht. Aber ich sag dir Bescheid.«

Das kam Arthur noch entmutigender vor. »Okay.«

2

Am Dienstag der folgenden Woche entwickelte Robbie die (natürlich) schlimmste Mandelentzündung, die Dr. Swithers in den langen Jahren seiner Praxis untergekommen war, und er mußte ins Chalmerston United Memorial Hospital. Arthur nahm das frisch erstandene Fahrrad und brachte seinem Bruder Eiscreme ins Krankenhaus. Er betrachtete Maggie, wenn er sie auf den Gängen der Schule sah; er wollte es unbemerkt tun, weil er dachte, seine Blicke seien ihr peinlich, aber gegen seinen Willen fanden seine Augen sie in jeder Menschenmenge. Dann, am Freitag nachmittag, berührten sie sich fast auf dem Korridor; er wollte ein »Hi« murmeln und weitergehen, doch Maggie sagte:

»Ich gehe mit dir aus, wenn du willst. Es tut mir leid, daß ich so –«

»Macht doch nichts. Du meinst – Samstag womöglich? Morgen abend?«

Sie war einverstanden. Er würde sie um sieben Uhr abholen, und dann würden sie zusammen essen gehen.

Die gute Stimmung des Nachmittags zehn Tage zuvor kehrte zurück. Die Erinnerung an Maggies adrettes Zimmer mit den blauen und beigefarbenen Vorhängen, dem blauen Bettüberwurf, erwachte zu neuem Leben.

»So fidel habe ich dich ja noch nie gesehen, so kurz vor den Prüfungen«, meinte seine Mutter am Freitag abend.

Arthur war überzeugt, daß seine Mutter sich ausmalte, daß er eine Freundin hatte. Ihre Blicke trafen sich am Eßtisch, doch sie lächelte und blickte fort.

Am nächsten Tag sollte Robbie nach Hause kommen. Er hatte einen Tag länger bleiben müssen als vorgesehen – der Arzt wollte sichergehen, daß alles in Ordnung war.

»Robbie erinnert mich so sehr an den kleinen Sweeney drüben im Heim. Weißt du noch, Richard?« fragte Lois.

»Nein.« Richard fuhr vom Essen hoch wie jemand, der in die Zeitung vertieft ist.

»Jerry Sweeney. Ich habe dir von ihm erzählt. Fünf Jahre alt und ständig Angst wegen nichts. Ein lieber kleiner Bursche, fürchtet sich vor dem Dunkeln genau wie Robbie früher. Und seine Eltern machen sich seinetwegen verrückt, wie aufgescheuchte Hühner. Sie gehen zur Therapie bei Dr. Blockman, und der arme Jerry bekommt die Tranquilizer! Stell dir das vor, in seinem Alter!« Lois kniff die Augen zusammen. »Die beiden sind sich wirklich ähnlich.«

»Lois, du läßt diese Kinder zu sehr an dich heran«, sagte Richard und schob seinen Teller zurück. »Du hattest versprochen, daß du das nicht mehr machst.«

»Nein, ich –« Seine Mutter zuckte mit den Schultern. »Arthur, du ärgerst Robbie nicht zu sehr, oder? Wenn ich nicht hier bin und es nicht höre?«

»Nein, Mom. – Warum sollte ich mit so was meine Zeit verschwenden?«

»Ich frage ja nur«, sagte seine Mutter beschwichtigend. »Robbie ist jetzt fast fünfzehn – und auch so schon unsicher genug. Ich weiß nicht, ob unsicher das richtige Wort ist.«

»Das richtige Wort!« sagte Richard. »Wer ist denn nicht unsicher? Robbie hat sein Wertesystem noch nicht gefunden. Die wenigsten haben das mit fünfzehn.« Um schneller an den Nachtisch zu kommen, erhob er sich und räumte seinen Teller ab, und Lois’ ebenfalls.

Wertesystem. Was genau meinte sein Vater damit? Versicherungen an Kunden verkaufen, die Angst vor der Zukunft hatten, zweimal im Monat in die Kirche gehen, hauptsächlich, um gesehen zu werden? Das Wertesystem seines Vaters hatte viel mit Geld zu tun, hatte Arthur den Eindruck. Und sein Vater war, soweit Arthur sah, nicht die Art von Mann, die je das große Geld machen würde, denn dazu hatte er weder die richtige Nase noch das Durchsetzungsvermögen. Sein Vater hatte das College drangeben und Geld verdienen müssen, wie mancher, der es hinterher zu viel gebracht hatte, aber irgendwie war und blieb sein Vater ein kleiner Mann. Selbst äußerlich war er nicht groß, und Arthur hoffte, daß er mit zweiundvierzig oder dreiundvierzig kein solches Bäuchlein wie sein Vater hätte.

Seine Mutter arbeitete vier oder fünf Nachmittage pro Woche im Beverley-Kinderheim. Es war halb Krankenhaus, halb Pflegeheim und Kinderkrippe, und viele der Kinder, die dorthin kamen, waren geistig zurückgeblieben oder seelisch gestört, oder sie wurden einfach dort abgestellt, weil in der Familie etwas nicht stimmte. Lois machte ihre Arbeit ehrenamtlich, da sie keine ausgebildete Pädagogin war, aber sie bekam ein wenig Fahrgeld und konnte mittags dort essen – auch wenn sie das, wie Arthur wußte, nur selten tat. Sobald sie das Beverley-Heim betrat, zog eins der kleinen Kinder ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich, eines zum Beispiel, das allein unten auf dem Flur umherspazierte oder auch in Begleitung einer Krankenschwester. Arthur war einige Male im Beverley-Heim gewesen. Man hätte denken können, seine Mutter sei die Mutter dieser Kinder, oder wenigstens eine Verwandte. Sein Vater nannte es »höchst lobenswerte Arbeit«, und Arthur überlegte, ob sein Vater sie wohl dazu gedrängt hatte. Sie arbeitete seit ungefähr vier Jahren dort, und Arthur konnte sich nicht mehr erinnern, wie es dazu gekommen war. Ließ seine Mutter sich zu leicht herumkommandieren? Manchmal war sie unabhängig und stark, ganz anders als sein Vater, der anscheinend niemals glücklich war; dann trug sie stolz ihren Kopf oben und sagte: »Ich will noch ein bißchen Spaß im Leben haben, bevor es zu spät ist!« und überredete seinen Vater, daß sie mal für eine Woche nach Kalifornien oder Kanada in Urlaub fuhren.

Am folgenden Tag, dem Samstag, ging es Robbie schlechter statt besser. Der Anruf kam am Vormittag, und Arthur war als einziger zu Hause – seine Mutter war einkaufen, sein Vater bei einem Klienten in der Stadt. Es war eine Frauenstimme, die Arthur wissen ließ, daß Robbie heute nicht entlassen werden könne, vielleicht sogar erst am Montag.

»Oh. Wie ernst ist es?«

»Er hat Fieber. Ihre Eltern können zurückrufen, wenn sie wollen.«

Arthur kehrte in die Garage zu seinem Fahrrad zurück. Er schmirgelte ein wenig Rost ab, aber das Rad war in gutem Zustand; Gus war ein tüchtiger Mechaniker. Gewiß hatte Gus im Schweiße seines Angesichts genug Geld verdient, um ein besseres gebrauchtes Rad zu kaufen. Allerdings durfte Gus auch manchmal den Wagen seines Vaters fahren – Arthur dachte mit einem Anflug von Neid daran. Arthur konnte fahren, und mit siebzehn durfte man seine Führerscheinprüfung machen, aber sein Vater wollte, daß er wartete, bis er im September achtzehn wurde. Arthur erkannte den Chrysler schon aus der Ferne am Motorgeräusch. Seine Mutter war zurück. Er trat zur Seite, damit sie in die Garage fahren konnte.

»Das Krankenhaus hat angerufen«, sagte Arthur und machte die Klappe zum Kofferraum auf, wo die Einkaufstüten lagen. »Robbie kann noch nicht nach Hause – vielleicht sogar erst am Montag.«

»Was?« Der Schreck stand seiner Mutter ins Gesicht geschrieben.

»Die Schwester sagt, er hat Fieber und wir können zurückrufen.«

Seine Mutter ging ins Haus zum Telefon, und Arthur lud die Einkäufe aus. Bestimmt war Robbies Lage nicht weiter ernst, dachte er, aber Robbie war nun mal der Typ, der sich bei jeder Pille wehrte und sich vor Schrecken wand, wenn er eine Injektionsnadel nur von ferne sah.

Seine Mutter kam aus dem Wohnzimmer zurück. »Sie sagen, es ist ein ungewöhnlich hohes Fieber und sie geben ihm Antibiotika. Nach vier können wir ihn besuchen.«

Sein Vater kehrte zum Mittag zurück. Als sie um zwei noch einmal anriefen, war Robbies Zustand unverändert.

Seine Eltern waren immer noch nicht zurück aus dem Krankenhaus, als Arthur sich um Viertel vor sieben mit dem Rad auf den Weg zu Maggie machte, die etwa eine Meile entfernt wohnte. Das Haus der Brewsters war ansehnlicher als das seiner Familie, mit einem größeren Rasen und einer prächtigen Blautanne auf der Vorderseite, zwei Feuerdornbüschen in flammendem Rot und einer stattlichen Haustür, weiß mit einem kleinen Dach darüber. Er stellte sein Fahrrad neben der Vordertreppe ab.

Maggie öffnete ihm. »Hallo, Arthur! Komm rein. – Es ist kälter geworden, nicht? Regnet ein wenig?«

Arthur hatte es gar nicht bemerkt.

»Meine Mutter. Mom, das ist Arthur Alderman.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Arthur«, sagte ihre Mutter, die vor einem Plattenschrank in der Ecke des Wohnzimmers kniete. Sie hatte hellbraunes Haar, genau wie Maggies, nur welliger. »Keine Angst, ich spiele nichts, ich suche nur eine Platte, die hier irgendwo sein muß.«

»Etwas Kühles zu trinken, Arthur?« fragte Maggie.

Arthur folgte Maggie durch ein Eßzimmer mit einem großen ovalen Tisch in eine riesige weiße Küche. »Ist dein Vater auch hier?« Irgendwie fürchtete Arthur sich vor der Begegnung.

»Nein, der ist unterwegs.«

»Was macht er?«

»Er ist Pilot. Sigma Airlines. Wechselnde Arbeitszeiten.« Sie öffnete eine Dose Bier.

Vielleicht schwebte Maggies Vater jetzt über Mexiko, dachte Arthur. »Laß es in der Dose. Da bleibt es kühler.«

Ein paar Minuten darauf saßen sie im Auto. Maggie fuhr zum Hoosier Inn – ihre Idee. Nach Arthurs Maßstäben war das Hoosier ein ziemlich plüschiger Laden für ältere Kundschaft, aber das Essen war gut und reichlich. Maggie wollte die Rechnung teilen, aber das ließ Arthur nicht zu. Und sie wollte weder ins Stomps noch ins Kino.

»Ich würde gern hoch zum Steinbruch fahren«, sagte sie.

»Tolle Idee!« Maggie hätte alles vorschlagen können, und für ihn wäre es eine tolle Idee gewesen.

Nach ihrem Fahren zu urteilen kannte Maggie den Weg genau. Sie kamen an den langgestreckten zweistöckigen Wohnheimen der Chalmerston University vorbei, deren U-förmige Innenhöfe um diese Zeit voll mit den Autos der Studenten standen. In manchen Fenstern schimmerte gemütliches Licht. Arthur wünschte, er wäre achtzehn, hätte ein Auto, ein Zimmer im Wohnheim wie die Leute hier – nur daß er natürlich nicht auf die C.U. wollte.

Sie hielten an einem Steinbruch – aufgegeben, wie Arthur wußte. Alles war dunkel. Maggie schaltete die Scheinwerfer aus, nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach, und sie stiegen über das Geröll eine Anhöhe hinauf. Der Wind blies heftiger. Ein paar hundert Meter weiter markierte eine Reihe von Lichtern die Umrisse einer Grube, die noch in Betrieb war. Der Halbmond stand am Himmel und streute sein schwaches Licht. Arthur kannte diesen Steinbruch. Er stand an der Kante und spürte die Leere, das schwarze Loch unter sich. Große Kalksteinblöcke, die Seiten glatt vom Maschinenschnitt, lagen kreuz und quer am Rand der Grube. Maggie kletterte auf einen dieser Blöcke und richtete den Strahl der Taschenlampe in die Tiefe.

»Siehst du Wasser?« Arthur kam hinter ihr herauf.

»Nein. Das Licht reicht nicht bis nach unten.«

Es war, als gebe das hohle Dunkel einen Laut von sich, wie Musik. Arthur legte den Arm um Maggies Taille, sog den Duft ihres Parfums ein, schlug die Augen auf und fand sein Gleichgewicht wieder. Er küßte sie auf die Wangen, dann die Lippen. Sie nahm seine rechte Hand und sprang wieder nach unten, und er mit ihr. Als sie seine Hand losließ, sprang Arthur auf einen anderen Block und von da auf einen weiteren, der oben darauf lag. Er stellte sich vor, wie er hinaufstürmte und sich in die Lüfte hob.

»He, paß auf!« rief Maggie, lachte, leuchtete ihm, damit er sah, wo er absteigen konnte.

Arthur sprang von dem höheren Stein. Ein Fuß landete auf etwas, das nachgab, er strauchelte und fiel. Er rutschte in die Tiefe und breitete die Arme aus. Seine Hände fanden an etwas Halt, vielleicht einem Stück Draht, und das verhinderte den Absturz. Er kletterte wieder aufwärts, hielt sich an scharfkantigen Steinen, immer Maggies Lichtkegel nach, doch sie leuchtete nie genau dahin, wo er es gebraucht hätte. Mit dem Gesicht nach unten erreichte er die Kante und erhob sich.

»Meine Güte, Arthur! Alles in Ordnung?«

»Aber ja.« Er machte einen Schritt auf festem Boden; er wollte nicht zurückblicken und sehen, welchem Schicksal er da entgangen war.

»Mann, das hätte genausogut der Abgrund sein können! – Du hast dir die Hose zerrissen. Ist dein Knie verletzt?«

»Ach was«, sagte Arthur, aber er spürte, wie Blut ihm das linke Schienbein hinablief. Sie gingen zurück zu Maggies Wagen. Arthur leckte sich einen Riß auf der linken Handfläche. Bei dem Geschmack dachte er an Robbie. »Mein kleiner Bruder ist im Krankenhaus.«

»Im Krankenhaus! Was ist passiert?«

»Mandeln rausgenommen. Eigentlich hätte er heute nach Hause kommen sollen, aber es geht ihm wieder schlechter.«

Maggie fragte, wie alt sein Bruder sei. Und ob Arthur von ihr aus zu Hause anrufen wolle. Das Angebot nahm er gern an. Es war fast elf.

Zu Hause meldete sich niemand.

Maggie brachte ein in medizinischen Alkohol getränktes Papiertaschentuch und ein großes Pflaster für den Riß in seiner Handfläche. »Willst du im Krankenhaus anrufen? Oder sind deine Eltern ausgegangen?«

»Glaube nicht«, sagte Arthur. Er schlug die Nummer des Krankenhauses nach und wählte. Er erkundigte sich, und eine Frauenstimme antwortete:

»Ja, Ihre Eltern sind hier. Keine Veränderung.«

»Kann ich bitte mit meiner Mutter sprechen?«

»Wir können das Gespräch nicht nach oben durchstellen … Und keine Besuche mehr heute abend, tut mir leid.«

Maggie stand neben ihm.

»Vielleicht sind sie schon zurück, bis ich nach Hause komme. Oder sie bleiben über Nacht da.« Plötzlich machte Arthur sich Sorgen.

»Soll ich dich zum Krankenhaus fahren?«

»Um die Zeit lassen sie keinen mehr rein.«

Kurz vor Mitternacht traf Arthur in dem leeren Haus ein. Der Kater maunzte erwartungsvoll. Arthur fütterte ihn.

In der Nacht wachte Arthur plötzlich auf, wie aus einem schweren Traum – aber er hatte nicht geträumt. Es war nach drei Uhr morgens. Arthur ging barfuß auf den Flur, schaltete das Flurlicht ein und sah, daß die Schlafzimmertür seiner Eltern noch angelehnt war wie am Abend. Er öffnete die Tür zur Garage. Der Wagen seines Vaters war nicht da. Er kehrte ins Bett zurück und lag lange wach. Schließlich schlief er ein.

Als das Telefon ihn weckte, war es heller Tag; er ging ins Wohnzimmer und nahm ab. Es war ihre Nachbarin Norma Keer; sie hatte gehört, daß Robbie hohes Fieber hatte, und wollte wissen, wie es ihm ging.

»Keine Veränderung, hieß es gestern abend. Meine Eltern sind die Nacht über dageblieben und noch nicht zurück. Wie spät ist es, Norma? Ich bin gerade erst aufgewacht.«

»Neun Uhr fünfunddreißig. Dann frage ich mal im Krankenhaus nach und sage dir Bescheid.«

Normas Stimme hatte etwas Tröstliches. Sie war um die Sechzig, und nichts konnte sie aus der Ruhe bringen, obwohl sie oft davon sprach, daß sie nicht mehr lange zu leben habe – etwas Schreckliches, Krebs oder so etwas. Arthur wußte nicht mehr, was für eine Art Krebs es war. Sie hatte keine Kinder, und ihr Mann war gestorben, als Arthur ungefähr zehn war.

Arthur setzte den Wasserkessel für Pulverkaffee auf. Er goß gerade heißes Wasser in die Tasse, als er den Wagen seines Vaters hörte. Arthur öffnete die Tür von der Küche zur Garage.

Seine Mutter sah müde aus, sein Vater grimmig.

»Wie geht es Robbie?« fragte Arthur. »Alles in Ordnung?«

Sie nickte, so knapp, daß Arthur überlegte, ob es wirklich ein Nicken war. Ihre Augen waren gerötet. Sein Vater trat schweigend ein, der Blick leer vor Erschöpfung.

»Ja, Robbie ist über den Berg«, sagte seine Mutter, »aber mit knapper Not, glaube ich.« Sie hatte sich an der Spüle ein Glas Wasser geholt.

»Ehrlich, Mom. – Die Leute vom Krankenhaus haben mir nichts gesagt – nur ›keine Veränderung‹.«

»Und du warst mit einem Mädchen aus«, seufzte sein Vater.

Sein Ton war vorwurfsvoll, und Arthur ging nicht darauf ein. »Was war mit Robbie, Mom?«

»Hohes Fieber und Streptokokken im Hals«, antwortete seine Mutter. »Die Leute im Krankenhaus sagen, so etwas hätten sie noch nie gesehen. Er war auf der Intensivstation, Sauerstoff und alles. Wir hatten Feldbetten in einem Raum auf demselben Gang. Aber er kommt durch.« Sie nippte an dem Wasser und lehnte sich müde an die Spüle. »Die Krise kam gegen fünf am Morgen, nicht wahr, Richard?«

»Und wir haben gebetet«, sagte Richard und breitete seine Arme in einer Bewegung abwärts. »Wir haben gebetet, und unsere Gebete wurden erhört. War es nicht so, Loey?«

»Hm-hm«, sagte seine Mutter.

»Christus erhörte uns. Ich habe zu Christus gebetet«, sagte Richard, füllte den Kessel und setzte ihn auf den Herd.

Das Telefon klingelte.

»Das ist Norma, Mom. Ich gehe ran.« Arthur ging zum Telefon. »Ja, Norma. Hab’s grad gehört. Meine Eltern sind eben gekommen.«

»Ist das nicht wunderbar? Er ist außer Gefahr.« Norma fragte, ob sie mit seiner Mutter sprechen könne, und Arthur rief sie.

Bei der Stimmung, in der sein Vater war, wollte Arthur nicht zurück in die Küche, aber er ging doch und nahm seinen Kaffee.

»Diese Nacht war eine große Erfahrung für mich«, sagte sein Vater. »Vielleicht wirst auch du eines Tages eine solche Erfahrung machen. Ich hoffe es.«

Arthur nickte. Er wußte, sein Vater wollte sagen, daß Robbies Überleben seinen Gebeten zu verdanken war. »Ich habe gestern abend gegen elf im Krankenhaus angerufen. Sie haben gesagt, es gebe keine Veränderungen. Keiner hat gesagt, daß es ihm schlechter geht. Maggie wollte mich sogar zum Krankenhaus fahren, aber um die Zeit hätten sie keine Besucher mehr eingelassen.«

Sein Vater hatte ein verträumtes Lächeln; man hätte denken können, er habe ihn gar nicht gehört. »Schon seit mindestens einer Woche bist du nicht ganz bei dir. Ein Mädchen. Das ist dir wichtiger als dein Bruder oder ein Menschenleben.«

Das war nicht wahr. Oder doch? Jedenfalls verstand Arthur die Worte als Vorwurf, und offensichtlich hatte sein Vater sie auch so gemeint. Er würde ihm nicht antworten, daß er Maggie liebte und seinen Bruder ebenso. Jetzt tat es ihm leid, daß er auch nur Maggies Namen ausgesprochen hatte. »Ich verstehe nicht, warum du mir das – vorhältst.«

»Weil du selbstsüchtig bist – die Dinge nicht achtest, die im Leben zählen.«

Da Arthur eher fand, daß die letzten Tage ihm die Augen für das geöffnet hatten, was im Leben zählte, zuckte er nur mit den Schultern und hielt den Mund.

Seine Mutter war hereingekommen und hatte die letzten Worte noch gehört. »Richard, wir sind beide müde. Sollten wir denn nicht glücklich sein? Wie wär’s, wenn ich Rührei für uns alle machte? – und dann können du und ich, glaube ich, eine Portion Schlaf vertragen.«

»Rührei soll mir recht sein«, sagte Richard und zog die Jacke aus. »Aber nach Schlaf ist mir nicht. Zu aufgedreht, zu glücklich. Heute ist Sonntag. Ich gehe in den Garten.«

Lois sah ihm ein wenig überrascht nach, als er im Wohnzimmer verschwand. Von seinem Arbeitszimmer führte eine Tür in den Garten.

Arthur ging in sein Zimmer und zog sich an. Er wollte nicht mit ihnen frühstücken, aber er wußte, daß seine Mutter es sich wünschte, also tat er es. Sein Vater aß schweigend und mit seinem üblichen guten Appetit. Seine Mutter nahm nur ein paar Bissen und sagte dann verlegen, sie werde sich vor der Kirche noch ein wenig hinlegen.

Ausgerechnet heute wollen sie um elf zur Kirche, dachte Arthur, wo sie die ganze Nacht nicht geschlafen haben. Dann sagte sein Vater:

»Ich möchte, daß du mitkommst, Arthur.«

Arthur holte Atem, wollte sich damit herausreden, daß er für die Prüfungen lernen müsse, hätte sogar gelogen, daß er sich mit Gus zum Lernen verabredet habe, aber als er den Blick seiner Mutter sah, schwieg er.

3

Und so ging dieser Sonntag in Arthurs Gedächtnis als der Tag ein, an dem sein Vater Gott fand – an dem er »wiedergeboren wurde«, wie sein Vater es ausdrückte. Die Stunde in der Kirche war geradezu peinlich gewesen. Sein Vater hatte fast die ganze Zeit gekniet, gesenkten Hauptes; nur wenn die Gemeinde aufstand und sang, stand er mit auf, und dann hatte er mit seiner recht guten Baritonstimme in einer solchen Lautstärke mitgesungen, daß einige Leute in den Reihen vor ihnen sich umgedreht hatten, um zu sehen, wer da sang. Dann kam die Verabschiedung an der Kirchentür, wo der Prediger, Bob Cole, immer allen die Hand schüttelte; hier hielt sein Vater vor Reverend Cole eine Ansprache, die etliche Umstehende mit anhörten – einige blieben sogar stehen, um zuzuhören –, darüber, wie sein jüngerer Sohn Robbie seine schwere Krankheit überstanden habe, zurückgerufen von den Toten durch die Kraft seiner Gebete zu Christus. »Die Ärzte hatten ihn aufgegeben. Das stand ihnen im Gesicht geschrieben«, hatte sein Vater dem gebannt lauschenden Reverend Cole erklärt. »Er hatte schon Streptokokken im Hals …«

Arthur erzählte einiges davon Maggie, als sie sich das nächstemal trafen, und das war am folgenden Donnerstag abend. Sie waren für Mittwoch verabredet gewesen, doch Maggie hatte abgesagt, aus keinem bestimmten Grund, soweit Arthur sah, und hatte auch nichts Neues abmachen wollen, und am Dienstag abend, als Maggie ihm gesagt hatte, daß aus dem Treffen am Mittwoch nichts würde, war Arthur ein wenig niedergeschlagen gewesen. Und sein Vater, frisch bekehrt, wie er war, hatte Arthur einen Vortrag gehalten, daß er, genau wie Gus, im Sommer eine Arbeit annehmen solle, damit er nicht so abhängig von den zwanzig Dollar die Woche Taschengeld war, und zum Schluß hatte selbst seine Mutter gesagt: »Laß Arthur erst einmal seine Prüfungen machen, Richard. Sie sind wichtig dieses Jahr. Die Ergebnisse zählen, wenn er nach Columbia will.«

Am Dienstag nachmittag war Robbie nach Hause gekommen, und Lois hatte sich im Beverley-Kinderheim freigenommen, damit sie bei ihm sein konnte. Dies eine Mal sah Robbie glücklich und zufrieden aus, ins warme Bett gepackt und mit Eiscreme und Karamelpudding, soviel er wollte. Er lächelte, und sogar die sonst grimmige Stirn entspannte sich. Arthur ging durch den Kopf, daß er womöglich tatsächlich dem Tode nahe gewesen und errettet worden war und daß Robbie das wußte.

Am selben Nachmittag hatte Arthur seine Geschichtsprüfung gehabt und war sicher, daß er bestanden hatte – aber es sollte mindestens gut, möglichst sogar sehr gut sein.

Als er am nächsten Morgen Maggie sah, hatte sie übers ganze Gesicht gestrahlt und hatte ihn gefragt, ob er am nächsten Abend Zeit habe. Ja, das hätte er, antwortete er. Eigentlich hätte er für die Englischprüfung am Freitag lernen müssen, aber das würde er schon irgendwie unterkriegen. Maggie war pure Inspiration.

Am Donnerstag abend waren sie allein bei Maggie zu Hause. Ihre Mutter spielte an diesem Abend Bridge und war nicht vor ein Uhr zurückzuerwarten – das wußte Arthur, denn er hatte Maggie gefragt.

»Selbstgekocht«, sagte Maggie und holte ein Blech mit geschmorten Lammkoteletts aus dem Grill über dem Herd. »Aber wahrscheinlich kein Blumentopf mit zu gewinnen.«

Typisch Maggie! Sie angelte nicht nach Komplimenten – in manchen Dingen war sie wirklich unsicher. Arthur fühlte sich im siebten Himmel, allein mit Maggie in ihrer Küche, im ganzen Haus! An diesem Tag hatte er seine Biologieklausur geschrieben (genau wie Maggie), voller Vorfreude, daß er am Abend zu ihr nach Hause kommen würde, und all die Namen der Gattungen und Stämme waren ihm mühelos aus der Feder geflossen, und er hatte eine wunderschöne Zeichnung gemacht.

Beim Abendessen beschrieb Arthur für Maggie die Ereignisse des Sonntagmorgens – seine Eltern, die nach Robbies kritischer Nacht erschöpft nach Hause gekommen waren, und sein Vater, der lauthals verkündete, er habe Gott gefunden, weil seine Gebete erhört wurden.

»Kann ich mir gut vorstellen. Für die beiden muß es ja wie ein Wunder gewesen sein.«

War das nur höflich? Arthur hatte das Gefühl, daß er nicht deutlich genug gesagt hatte, was er meinte. »Ja, schon – aber glaubst du wirklich, daß Jesus sich persönlich jemandes Gebete anhört? Und das sagt mein Vater.«

Maggie zögerte, dann lächelte sie. »Nein. Das nicht. – Aber wahrscheinlich muß jeder selbst wissen, ob er das glaubt oder nicht.«

»Sicher. Aber ich wünschte, mein Vater würde es für sich behalten. – Jetzt will er mich mit in die Kirche schleppen. Ich hoffe nur, nicht jeden Sonntag. Das mache ich nicht.«

Sie aßen in der Küche an einem einfachen Kiefernholztisch.

»Das erinnert mich an etwas«, sagte Maggie. »Vor ungefähr zwei Jahren trank mein Vater ziemlich viel. Er fand, er trank zuviel, obwohl meine Mutter nie etwas gesagt hat. Ein Freund von ihm hat ihm irgendwelche religiösen Heftchen zu lesen gegeben. Über den Dämon Alkohol. Mit einemmal« – Maggie lachte – »klopften Studenten an unsere Tür und wollten uns Zeitschriften verkaufen, und wir bekamen Reklamepost, weil wir auf irgendwelchen Listen gelandet waren. Meine Mutter war wütend! Und da hat mein Vater gesagt: ›Wenn ich das nicht ohne Leute wie die in den Griff bekomme, dann bin ich ein armer Hund.‹ Und er hat sich etwas vorgenommen und sich dran gehalten. Nie mehr als zwei Drinks pro Tag und überhaupt keinen an den Tagen, an denen er fliegt.«

Maggie legte eine Kassette auf. Duke Ellington in Fargo, 1940, mit »Mood Indigo«. Selbst die Musik, die Arthur gut kannte, klang besser in Maggies Haus. Ob er und Maggie wohl je gemeinsam ein solches Haus hätten?

»Warum hast du die Verabredung am Mittwoch abgesagt?«

»Oh –« Sie sah verlegen aus. »Ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich Angst.«

»Vor mir?«

»Ja. Kann sein.«

Arthur wußte nicht, was er sagen sollte, denn was ihm in den Sinn kam, war entweder zu albern oder zu ernsthaft. »Das ist doch Unsinn.«

Ein wenig später sagte Arthur: »Meinst du, wir können noch mal nach oben in dein Zimmer gehen – wie neulich nachmittags?«

Maggie lachte. »Hast du nichts anderes im Kopf?«

»Doch! Ich habe nichts gesagt! – Aber jetzt, wo du fragst: Nein.«

»Stell dir vor, meine Mutter kommt früher nach Haus.«

»Oder dein Vater!« Arthur lachte wie einer, der Katastrophen ins Gesicht schaut. »Aber – wann dann?«

»Weiß nicht. Muß ich drüber nachdenken. Vielleicht besser, du gibst mich auf.«

»Noch nicht«, sagte Arthur.

Er war zu Fuß gekommen, und am Abend ging er die Meile von Maggies Haus auch wieder zu Fuß zurück. Maggie hatte ihm erzählt, mit zwölf habe sie Ärztin oder Krankenschwester werden wollen. Sie hatte einen kleinen Bruder gehabt, der gestorben war. Und sie hatte von Puppen erzählt. Auf ihrem Bett saß eine riesige Marionette in der Uniform eines Feuerwehrmanns, und Maggie hatte erzählt, die habe sie mit fünfzehn gemacht. Es seien noch mehr davon auf dem Dachboden. Sie habe Theaterstücke für sie geschrieben.

»Das hat ungefähr ein Jahr gedauert. Ich hab immer Sachen, die mich begeistern, und irgendwann ist es dann vorbei«, hatte sie gesagt. »Du hast Glück, daß du so genau weißt, was du willst.«

Arthur trottete die East Forster Steet hinunter, und ein paar Hunde hinter den Häusern fingen zu bellen an. Auch um die Ecke in seine eigene Straße, die West Maple, ging es noch in flottem Tempo, dann wurde er langsamer. Ein Schimmer durch die Vorhänge verriet ihm, daß bei ihm zu Hause das Wohnzimmerlicht brannte. Auch bei Norma Keer nebenan war noch Licht. Norma war immer lange auf, sie las oder sah fern. Arthur ging leise die Stufen zu ihrer Haustür hinauf und pochte zweimal kurz.

»Wer ist da?« rief Norma.

»Einbrecher.«

Norma schloß auf, mit einem breiten Grinsen. »Komm rein, Arthur! – Oh, du bist aber schick. Wo bist du gewesen?«

»Verabredung.« Arthur ging in ihr Wohnzimmer, wo der Fernseher mit abgedrehtem Ton lief, und auf dem Sofa lag unter der Stehlampe ein aufgeschlagenes Buch.

»Was gibt’s Neues? – Möchtest du einen Drink?« Norma war in Strümpfen, wie immer.

»Mmmm – warum nicht? Gin-Tonic?«

»Sicher. Komm mit.«

Sie gingen in die Küche auf der Rückseite des Hauses, und Arthur füllte Normas Drink auf und mixte sich selbst ebenfalls einen. Norma sah ihm dabei zu und schien sich zu freuen, daß sie Gesellschaft hatte. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr dünnes, orangegelbes Haar; es war struppig und stand vom Kopf ab, so daß es je nach Licht wie ein Heiligenschein aussah, eher wie eine Aura als wie echtes Haar. Sie war unförmig und schwammig, so ziemlich die häßlichste Frau, die Arthur je gesehen hatte, aber er war gern bei ihr und erzählte ihr, wenn sie nach der Schule oder der Familie fragte. Normas Abendessengeschirr stand noch ungespült im Becken.

»Ich bin so froh, daß Robbie wieder zu Hause ist«, sagte Norma, »und wahrscheinlich lebt er im Schlaraffenland, nach der Tortur.«

»O ja.« Arthur machte es sich in einem Sessel bequem. Ich habe ein wunderbares Mädchen kennengelernt, hätte er gern gesagt. Norma hätte ihm gespannt gelauscht, wenn er ihr alles über sie berichtet hätte – außer daß sie einmal zusammen im Bett gewesen waren. »Und Dad – der hat Gott gefunden. Hat er es erzählt?«

»Hm? Er – ja er hat etwas erzählt. Ich hab’s vergessen. Was sagt er?«

»Na ja, er ist dankbar, daß Robbie es geschafft hat, und Dad glaubt, daß es seine Gebete waren. Jetzt ist er neu geboren.«

»Oh, du meinst, Richard ist jetzt einer von diesen wiedergeborenen Christen. Die ganze Stadt ist voll davon. Die tun keinem was. Grundanständige Leute meistens. Ha!« Norma hatte manchmal eine Art, an leicht unpassenden Stellen zu lachen.

»Und deshalb«, fuhr Arthur fort, »gibt’s ein neues Gesetz im Land nebenan. Jeden Sonntag in die Kirche und abends ein Tischgebet. Wir müssen dem Herrn für unser Brot danken.« Arthur lächelte, denn ihm ging auf, daß Brot auch für Geld stand.

Norma legte ihre Füße aufs Sofa, ein raschelnder Laut. »Was sagt deine Mutter dazu?«

»Läßt es sich gefallen, um des lieben Friedens willen.« Aber würde sie sich gegen Kirchenbesuch jeden Sonntag auflehnen, wenn sie ihre freie Zeit brauchte, um Büroarbeit für das Heim zu erledigen, und tat sie da nicht auch ein frommes Werk?

Norma nahm einen kleinen Schluck von ihrem Gin-Tonic. »Möchte Richard aus dir und Robbie ebenfalls wiedergeborene Christen machen?«

»Das würde er mit Sicherheit gern.«

»Wie ich höre, braucht man ein persönliches Erlebnis dazu. So eine Art Bekehrung. – Also ehrlich, was Söhne angeht, sollte euer Vater zufrieden mit euch sein – im Vergleich zu anderen Jungs, von denen ich so höre, die ein Auto nach dem anderen zu Schrott fahren, Drogen nehmen, die Schule schmeißen.«

Das war für Arthur kein Trost. Er fühlte sich irgendwie unruhig und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Für mich noch nicht spät, aber für dich vielleicht schon.«

»Nein. Englischklausur morgen, aber zum Glück erst am Nachmittag, da kann ich ausschlafen, wenn ich will.«

Norma blickte mit ihren Glubschaugen forschend in eine Ecke des Zimmers, als suche sie etwas. Arthur mußte an den Blick denken, mit dem Wahrsagerinnen in Cartoons in ihre Kristallkugeln starrten. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm gar nicht gefiel. Was, wenn sein Vater ihm irgendwie den Weg nach Columbia verstellen würde? War sein Vater eifersüchtig wegen Maggie? Ein verrückter Gedanke; sein Vater hätte Maggie wahrscheinlich nicht einmal auf der Straße erkannt, auch wenn er die Familie kannte.

»Was von deiner Großmutter gehört?« fragte Norma.

»Oh – ja. Sie kommt im Sommer zu Besuch. Höchstwahrscheinlich.« Arthurs Großmutter mütterlicherseits lebte in Missouri, in Kansas City, und betrieb eine Ballettschule.

»Würde mich freuen, sie mal wieder zu sehen. – Und du wirst mir fehlen, Arthur, wenn du im September fortgehst.«

Norma redete weiter, und Arthurs Gedanken wanderten. Wenn sein Vater auf die Idee am, ihm das Schulgeld für Columbia zu verweigern, würde seine Großmutter Joan mit Sicherheit ein Wort für ihn einlegen, vielleicht sogar etwas beisteuern; die Kosten für das erste Jahr beliefen sich auf etwa zehntausendfünfhundert. Eigentlich war es noch mehr, aber fünfzehnhundert Dollar bekam Arthur als Stipendium für seine Leistungen in Biologie. Seine Großmutter war ein ganz anderer Mensch als sein Vater, ja auch als seine Mutter. Arthur fiel plötzlich ein Umstand wieder ein, an den er nicht oft dachte: Die Familie seiner Mutter, die Waggoners, war nicht erfreut gewesen, als sie seinen Vater heiratete. Die Waggoners waren wohlhabend, und sie waren dagegen gewesen, daß ihre Tochter sich für einen jungen Mann ohne Geld und ohne klare Zukunftsaussichten entschied. Doch nach der Heirat, hatte seine Mutter Arthur einmal erzählt, hatte ihre Familie Richard akzeptiert, ihn sogar liebgewonnen, und das sah Arthur auch an der Art, wie seine Großmutter mit seinem Vater umging.

»Ich war am Abend drüben und habe Robbie besucht«, sagte Norma. »Ich hatte ein Mad-Heft für ihn; ich glaube, er hat sich gefreut. Er sah gut aus. Glücklicher als sonst – die Augen. Im Bett, aber so aufgekratzt, daß seine Mutter schließlich sagen mußte, er soll den Mund halten. – Noch ein Tröpfchen, Arthur?«

»Nein danke, Norma.« Arthur stand auf. »Ich muß los.« Er lächelte, winkte und war fort.

4

Gleich hinter der Haustür stieß Arthur mit seinem Vater zusammen. Sein Vater, in Schlafanzug und Bademantel, war offenbar gerade aus dem Wohnzimmer gekommen, das einzige Zimmer, wo Licht brannte, und Arthur erschrak sich so, daß er beinahe zurück gegen die Tür getaumelt wäre.

»Du gehst bis spätabends aus«, sagte sein Vater, »und das in der Prüfungswoche.« Die Hände in den Manteltaschen vergraben, stand er da, so daß Arthur sich seitwärts an ihm vorbeischlängeln mußte.

Arthur ging in die Küche und schaltete das Licht ein. »Du bist hoffentlich nicht meinetwegen noch auf.« Er öffnete den Kühlschrank. »Ich bin doch kein Mädchen.«

»Und getrunken hast du auch?«

Arthur fühlte sich nüchtern genug, um sich zu verteidigen. »Ja, gerade eben. Ein Drink mit Norma.«

»Und davor?«

»Zwei Bier, glaube ich. Großes Besäufnis.« Arthur goß sich ein Glas Milch ein, voll bis zum Rand, und trank es, ohne einen Tropfen zu verschütten.

»Und du willst nach Columbia!«

Worauf wollte sein Vater hinaus? Daß er es nicht verdiente, daß er sich ein schönes Leben machte, daß er dumm war?

»Vor Norma warst du mit einer von deinen Freundinnen aus, nehme ich an.«

»Einer von …? Seit wann habe ich einen Harem?«

»Schöne Zeit, sich zu betrinken.« Sein Vater nickte mit seinem massigen Kopf. Das glatte braune Haar wurde schon grau. Einige Strähnen fielen ihm in die breite, gerunzelte Stirn.

Arthur war in Gedanken bei Maggie, ihrer wunderbar kühlen Art, und er sah seinen Vater gelassen an.

»Nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Arthur brauchte ein paar Sekunden für die Antwort. »Nein.« Sein Vater hatte Hausschuhe an, Sandalen mit gekreuzten Lederriemen, und Arthur wußte, daß sein Vater sie nicht mochte. Ein Geschenk von Arthurs Mutter. Hatte sein Vater sie jetzt angezogen, weil sie irgendwie biblisch aussahen? Arthur unterdrückte ein Lächeln, aber er spürte, daß sein Vater den Anflug bemerkt hatte.

»Du mußt dich bessern, Arthur. Sonst kannst du dein College selbst bezahlen.« Sein Vater nickte, dann entspannte er sich ein wenig, nun wo er seine Salve abgefeuert hatte.

Na so was! Sehr feindselig. »Ich verstehe nicht, was ich getan haben soll –«

»In der Zeit, die du vergeudest«, fiel sein Vater ihm ins Wort, »könntest du etwas tun, das dir nützt. Lernen oder arbeiten und auch einmal etwas beisteuern. Darum geht es mir.«

Arthur hatte schon vermutet, daß es seinem Vater darum ging.

»Ich werde mit deiner Mutter darüber reden.«

Über was? Arthur nickte, ungeduldig, doch höflich, und sah seinem Vater nach, wie er ins Wohnzimmer ging und das Licht ausschaltete. Dann verschwand sein Vater im Schlafzimmer links im Flur.

Am nächsten Morgen wurde Arthur von einem sanften Klopfen an der Tür geweckt. Er hatte draußen einen Zettel davorgelegt, auf dem stand: »Ich kann bis zehn Uhr schlafen«, und nun kam Zimmerservice – seine Mutter mit einer Tasse Kaffee!

Seine Mutter trat behutsam ein und schloß die Tür. »Ich muß aufpassen, daß Robbie im Bett bleibt. Am Mittag kommt der Arzt, und ich will nicht, daß er Fieber bekommt.« Sie flüsterte. »Ich höre, du und dein Vater, ihr habt euch letzte Nacht gestritten.«

Arthur nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Nicht gestritten. Er hat mir vorgehalten, daß ich zu lange ausbleibe. Es war gerade mal Mitternacht.«

»Er ist immer noch ein wenig durcheinander, Arthur. Wegen Robbie, weißt du.«

»Setz dich, Mom.« Arthur nahm das Hemd weg, das auf seinem Sessel lag.

Seine Mutter nahm Platz. »Hast du dich mit Maggie getroffen?«

»Ja. Aber sprich nicht mit Dad über sie.«

»Warum?« Seine Mutter lächelte.

»Weil ich das Gefühl habe, Dad will sie nicht. Er will überhaupt nicht, daß ich abends mit jemandem ausgehe.«

»Ach, das ist Unsinn.« Sie erhob sich bereits wieder. »Richard sieht die Welt jetzt mit anderen Augen. Keine Ahnung, wie lange das anhält. Vielleicht nicht lang.«

Die Englischklausur am Nachmittag dauerte zwei Stunden. Maggie saß in derselben Prüfung, und ein paarmal blickte er quer durch den Saal zu ihr hinüber. Sie saß ganz rechts von ihm, und er sah sie im Profil, Kopf geneigt, Mund leicht geöffnet. Unter den Gedichten, die man vervollständigen mußte, wählte Arthur einen Vierzeiler von Byron aus, und als »Gedicht, das Sie im Gedächtnis behalten haben« etwas von Robert Frost. Er nannte je einen Roman von James Fenimore Cooper, Washington Irving und Theodore Dreiser – ein Schriftsteller, den der mochte – und vervollständigte den Titel von Willa Cathers »O, ___!«. Dann ein Aufsatz, eine Seite, über den Einfluß der Medien auf die amerikanische Sprache. Grammatik: Mehrere Sätze, von denen man jeweils den richtigen ankreuzen mußte. Nach zwei Stunden erhoben sich alle, die nicht schon vorher abgegeben hatten, reckten sich, grinsten vor Erleichterung oder runzelten skeptisch die Stirn; Arthur ging geradewegs zu Maggies Platz, aber sie war schon fort, und er fand sie auch nicht auf dem Gang oder in der Aula, als er hinunterlief.

War sie ihm absichtlich aus dem Weg gegangen? Vielleicht. Aber warum?

Arthur nahm sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Robbie spazierte in Schlafanzug und Bademantel durch den Garten, gewiß gegen den Willen seiner Mutter. Arthur trank ein Glas Wasser, dann ging er ans Telefon und wählte Maggies Nummer. Sie wohnte näher bei der Schule und hatte ein Auto. Das Telefon klingelte sieben- oder achtmal, und schließlich nahm Maggie ab.

»Ich bin’s«, sagte Arthur. »Ich dachte, ich sehe dich.«

»Ich wollte nach Hause.«

Lange Pause. Arthur wollte nicht über die Klausur reden. »Ja dann – seh ich dich morgen abend?« Sie hatten sich für Samstag abend verabredet.

»Ich glaube nicht – es geht doch nicht. Ich fahre morgen weg, übers Wochenende. Mit der Familie. – Tut mir leid, Arthur.«

Sie legten auf. Arthur verstand es nicht – hatte er am Abend zuvor etwas falsch gemacht? Er wußte von nichts und konnte es sich nicht vorstellen.

Er nahm sich vor, Maggie am Samstag und Sonntag nicht anzurufen, für den Fall, daß sie doch nicht mit ihrer Familie wegfuhr, denn das hätte ausgesehen, als spioniere er ihr nach. Wenn sie in der Stadt war, konnte sie ihn ja anrufen.

Am Samstag nachmittag stand Robbie auf und zog sich an, nach wie vor bester Laune – womöglich war auch er wiedergeboren? Ihre Mutter hatte darauf bestanden, daß Robbie, in eine Decke gewickelt, jeden Nachmittag in der Sonne saß, und er hatte rote Wangen davon bekommen und seine Stirnlocke war ausgebleicht. Robbie hatte sämtliche Prüfungen zum Schuljahrsende verpaßt und fand überhaupt nichts dabei.

»Was machst du für ein Gesicht?« fragte Robbie ihn.

Arthur wetzte den Spaten. Eben hatte das Telefon geläutet; seine Mutter hatte ihn gerufen, aber es war nicht Maggie gewesen, sondern ein Mädchen namens Ruthie. Sie hatte ihn auf eine Party eingeladen, eine von den »Graduiertenparties«, die es in den nächsten Tagen überall in der Stadt gab. Über den Hauptstraßen von Chalmerston hingen überall orangerote und weiße Spruchbänder »Glückwunsch, Grads«. Arthur hatte sich bei Ruthie bedankt und zugesagt. Aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich hingehen würde.

»Ich mache kein Gesicht«, sagte Arthur.

»Du wolltest nicht, daß ich wieder gesund werde.« Robbie sagte es wie ein nüchternes Faktum.

»Was?« Arthur stand da, auf den Spaten gelehnt. »Bist du übergeschnappt, Kleiner?« Hatte sein Vater Robbie diesen Unsinn eingeredet, überlegte er, so eine Art Anti-Arthur-Propaganda? Arthur widmete sich wieder dem Spaten. »Was hat Dad zu dir gesagt?«

»Er hat nur gesagt – Gott hat mich berührt.«

»Tjaaa, dann vergiß das mal nicht.« Arthur zog seine Worte lang wie ein Texaner. »Von jetzt ab bist du ein braver Junge.«

Um halb elf ging Arthur zu der Party bei Ruthie. Er war froh, daß er für eine Weile aus der häuslichen Atmosphäre fortkam. Schon aus einem halben Häuserblock Entfernung hörte man das Hämmern der Rockmusik. Drei oder vier Fahrräder lagen im Gras vor der Haustür, und mehrere Autos standen am Straßenrand und in der Auffahrt. Die Tür war offen, und Arthur ging hinein.