LIAM - Jens F. Simon - E-Book

LIAM E-Book

Jens F. Simon

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Beschreibung

Luna, die Leitende Lenkerin des Fernraumschiffs ZUKUNFT I, hat sich in der VR-Welt 'Reality-Fiction' in Liam, einem 17 Jahre alten Jungen des Jahres 1977, verliebt. Niemand an Bord ihres Schiffes weiß etwas von ihrer Leidenschaft zur virtuellen Welt. In einer unüberlegten Handlung lässt sie sich dazu hinreißen, Liam mit in ihre Realität zu nehmen. Entgegen aller gültigen, physikalischen Gesetze manifestiert sich Liams Bewusstsein in menschlicher Gestalt auf dem Raumschiff. Hypatia, das Schiffsgehirn der ZUKUNFT I, akzeptiert ihn jedoch von Anfang an nicht und versucht seine Existenz zu annullieren. Für den Siebzehnjährigen wird der Traum von der ersten großen Liebe zu einem Albtraum.

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Seitenzahl: 326

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LIAM

IM BANN DER VIRTUELLEN WELT

Jens F. Simon

© 2020 Jens F. Simon

Illustration: S. Verlag JG

Verlag: S. Verlag JG, 35767 Breitscheid,

Alle Rechte vorbehalten

Vertrieb: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1.Auflage

ISBN: 978-3-753100-96-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig und wird sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich verfolgt. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALT

Prolog

Eine neue Erfahrung

Disco-Night

Das Mädchen Luna

Lunas Geheimnis

Die Auswanderung

Im « Sunrise »

Das Generationenschiff

Virtuelle Gefühle

Liebesgeflüster

Der Spiegel

Die neue Welt

Die Simulation einer Illusion

Flucht zurück

Der Spinner

Das Wissen um die Wirklichkeit

In letzter Minute

Ränkespiele

Das Hadronengehirn

Gespaltene Persönlichkeit

Das stoffliche Hologramm

Verliebt

Eifersucht

Die Erkundung

Merkwürdigkeiten

Schwankente Stabilität

Das Erwachen

Die Gefahr

Gefühle

Liams Vorschlag

Überwesen

Die Zukunft hat begonnen

Kepler 452b

Eden

Die Welt scheint so zu sein, wie du sie siehst, das glaubst du jedenfalls. Ein ganz normaler Tag beginnt, wie jeder Tag zuvor. Die Wochen und Monate vergehen und erscheinen in deinen Erinnerungen. Dann triffst du eine Person und die Welt, wie du sie kennst, gibt es schlagartig nicht mehr. Alles nur übersteigerte Fantasie, denkst du. Dann kommt es noch schlimmer. Deine Existenz wird infrage gestellt. Dein eigener Intellekt stellt sich gegen dich und du zweifelst vor Gott und fragst ihn: „Wer bin ich, was bin ich, warum bin ich!“

Prolog

Auf der Suche nach bewohnbaren Welten in den Tiefen des Alls wird im Jahre 2015 durch die US-Weltraum-Organisation NASA eine elektrisierende Neuigkeit verkündet: „ Die Erde hat  in einer anderen Galaxie einen Doppelgänger.“

Im Sternenbild des Schwans hat die NASA unter der Bezeichnung „Kepler 452b“ einen erdähnlichen Planeten entdeckt.

Der Chef des Forschungsteams sprach begeistert von einer „Erde 2.0“. Kepler 452b befindet sich etwa 1400 Lichtjahren von der Erde entfernt, ist aber nach vorläufigen Erkenntnissen, die uns am nächsten liegende lebensfreundliche Welt außerhalb unseres eigenen Sonnensystems.

Das in knapp 70 Millionen Kilometer von der Erde entfernt installierte Weltraumteleskops „Kepler“ entdeckte den erdähnlichen Planeten.

Auf die Frage eines Journalisten, ob man Kepler 452b anfliegen könnte, musste der Chef des SETI-Instituts im kalifornischen Mountain View kurz hell auflachen.

„Meine Damen und Herren von der Presse. Wir haben bisher wenig Erfahrung im Bau von bemannten Raumschiffen. Aber selbst, wenn es uns gelänge, einen Antrieb zu erfinden, der das Schiff auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen könnte, würde es noch Jahrzehnte dauern, bis dieses Schiff Kepler 452 b erreichen würde. Glauben Sie mir, das Wissen um die Existenz von Kepler 452b ist das eine, aber die Ausführung eines interstellaren Fluges ist ganz etwas anders. Dieses Projekt dürfte etwas für unsere Kinder und Kindeskinder sein.“

Eine neue Erfahrung

Der Sommerabend war lauwarm. Liam ging langsam den kleinen Trampelpfad entlang, den tagsüber die Bauern mit ihren Tieren benutzten. Er hätte auch die asphaltierte Straße nehmen können, aber der Pfad war der direkte Weg und führte über eine kleine Lichtung zu dem Elternhaus von Ben.

Der Mond war bereits aufgegangen, obwohl es noch nicht ganz dunkel war. Liam schaute auf seine Armbanduhr.

Es war gerade neunzehn Uhr geworden. Jetzt schlug auch bereits die Kirchenuhr. Er zählte automatisch jeden Schlag mit. Es waren genau sieben Schläge, was auch sonst.

Liam musste innerlich grinsen. Das Gartentor stand sperrangelweit offen, als er an dem alten Bauernhaus ankam. Ben hatte ihm erzählt, dass sein Elternhaus eines der ältesten Häuser überhaupt im Dorf war.

Liams Eltern waren vor neun Jahren zugezogen. Das Dorf hatte mittlerweile auch ein Neubaugebiet bekommen, trotzdem blieb es immer noch ein kleines Dorf mit seinen 312 Einwohnern. Er wusste nicht wirklich, warum seine Eltern sich hier niedergelassen hatten, schließlich lag das Dorf über fünfzehn Kilometer von der nächstgrößeren Stadt entfernt und ohne einen Wagen war man regelrecht aufgeschmissen.

Liam besuchte die zehnte Klasse der Leo-Sternberg-Realschule. Er war gerade 17 Jahre alt geworden, sah aber mindestens zwei Jahre älter aus. Seine Eltern hatten bestimmt, dass er nach den Sommerferien auf ein Gymnasium wechseln sollte, um dann in drei Jahren sein Abitur zu machen.

„Ohne Abitur kannst du heute deine weitere berufliche Zukunft an den Nagel hängen“, hatte sein Vater im gesagt.

Heute, das war das Jahr 1977.

„Wir haben über eine Million Arbeitslose und die geburtenstarken Jahrgänge drängen in den nächsten Jahren zusätzlich auf den Arbeitsmarkt.“

Sein Vater machte sich über ungelegte Eier sorgen, so Liams Meinung.

Er wäre viel lieber nach der zehnten Klasse von der Schule abgegangen, schließlich war ein guter Realschulabschluss auch etwas. Um auf das Gymnasium zu wechseln, benötigte er eine zweite Fremdsprache. Diese war aber bisher auf der Realschule ziemlich vernachlässigt worden.

Wie sollte das wohl funktionieren? Er schüttelte nur den Kopf. Als er jetzt die kleine, mit rundem Kopfsteinpflaster angelegte Zufahrt des Gehöfts entlang ging, hörte er laute Discomusik.

Sie kam aber nicht aus dem Wohnhaus, sondern von weiter rechts. Dort stand die große Scheune, in der die Heuballen für den Winter gestapelt wurden.

Liam kannte sich aus, da er in den vergangenen Jahren mehrmals beim Heueinbringen geholfen und sich so sein Taschengeld etwas aufgebessert hatte.

Ganz deutlich konnte er die Gruppe Baccara mit dem Lied „Yes Sir I Can Boogie“ hören. Sie rangierte seit Wochen in den Charts ganz oben und selbst im Radio spielten sie den Song fast täglich.

Silas, einer der Jungs vom Dorf, hatte ihm verraten, dass die Jugendfeuerwehr zu Bens Geburtstag eine ganz besondere Überraschung geplant hatte. Lautes Lachen drang ihm dumpf aus dem Inneren entgegen, als Liam auf das geschlossene Scheunentor zuging.

Wie es sich anhörte, hatten sich schon einige von Bens Feuerwehrkameraden eingefunden.

Die Geburtstagsparty würde also in der Scheune stattfinden. Das riesige, aus zwei Teilen bestehende Tor war geschlossen.

Gerade als er auf die rechte Torhälfte zuging, in der nochmals eine normale, kleinere Tür integriert war, öffnete diese sich und zwei Jungs kamen heraus.

Sie waren gerade dabei, sich eine Zigarette anzustecken. Natürlich war in der Scheune mit dem vielen trockenen Stroh das Rauchen verboten.

„Hallo“, grüßte Liam kurz, als sie ihn vorbeiließen. Sie nickten ihm nur zu.

Er kannte sie nicht. Sie gehörten wohl zur Feuerwehr. Ein Höllenlärm schallte ihm entgegen, als er nun durch die kleine Tür in die Scheune gelangte.

Liam blieb zunächst stehen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen.

Mitten in dem länglichen Raum standen zwei massive Holzböcke, auf denen etwa drei Meter lange Holzbohlen lagen. Auf ihnen stand die Musikanlage, zwei Plattenspieler und das Tapedeck. Die Front, - und Effektlautsprecher waren gleichmäßig im Raum verteilt. Ein dicker Subwoofer stand mitten zwischen den Böcken unter den Holzbohlen.

Direkt am Aufgang zum Heuboden standen mehrere Tische mit weißen Papiertischdecken, auf denen die Getränke und das Knabbergebäck platziert waren.

Es herrschte bereits eine ausgelassene Stimmung. Liams Blicke suchten Ben.

Er konnte ihn aber nirgends ausmachen, obwohl erst wenige Partygäste anwesend waren und er einen guten Überblick hatte.

Er stand etwas ratlos an der Scheunentür und blickte auf das Geschenk in seiner Hand. Es war nicht ganz billig gewesen, sein Geschenk für Ben. Liams Mutter hatte ihn deswegen auch gerügt.

„Wie kannst du nur für so einen Unsinn so viel Geld ausgeben“, hatte sie ihn angepflaumt. Liam musste zugeben, dass er auch selbst mit diesen neuartigen Spielen nicht viel anfangen konnte.

Ben hatte ihm erzählt, dass er sich einen funkelnagelneuen Heimcomputer zugelegt hatte, einen Commodore PET 2001.

Liam hatte ihn daraufhin ungläubig und etwas ratlos angeschaut. Was war, bitte schön ein Heimcomputer? Ben präsentierte ihm das Monstrum, als wäre es ein Schatz.

Es sah wirklich sehr utopisch aus und erinnerte Liam irgendwie an den Arbeitsplatz von Lt. Uhura, in der Fernsehserie ‚Raumschiff Enterprise‘, deren Ausstrahlung zurzeit wieder einmal wiederholt wurde. Der Commodore PET 2001 besaß links neben der riesigen Tastatur ein Laufwerk.

Das Computerspiel Zork bestand aus genau drei Datenkassetten, die dort eingesetzt werden konnten.

Liam hatte lange überlegt, ob er Ben damit überhaupt eine Freude machen konnte.

Nachdem dieser aber immer öfters von seinem Computer geschwärmt hatte, schien ihm solch ein Geschenk mehr als angebracht zu sein. Liam ging langsam weiter in den Raum hinein, als er unvermittelt eine Berührung an seiner Schulter spürte.

Hinter ihm stand Ben.

„Herzlichen Glückwunsch!“ Liam überreichte ihm das Päckchen und beobachtete ihn dabei, wie er mit leicht hochgezogenen Augenbrauen das Geschenkpapier entfernte.

„Man Liam, das ist mal ein Geschenk.“

Er schaute tatsächlich nicht nur überrascht, sondern mit beginnender Begeisterung auf die drei Einzelschachteln mit den Spielkassetten.

„Da hast du voll ins Schwarze getroffen. Vielen Dank!“

Ben legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter und zog ihm mit sich in Richtung Getränke.

„Darauf stoßen wir an!“

Ben fragte ihn erst gar nicht, was er trinken wollte, sondern füllte zwei Gläser mit Eiswürfel und goss Bacardi darüber. Dann drückte er ihm ein Glas in die Hand.

„Cheers!“

Liam nickte Ben zu und nippte lediglich am Glas. Er mochte den Alkohol nicht. Ihm war schon aufgefallen, dass unter seinen Freunden und Bekannten viel getrunken wurde.

Er versuchte sich dabei immer etwas herauszuhalten und war bereits mehrmals als Spielverderber oder Spaßbremse tituliert worden. Plötzlich war eine laute Feuerwehr Sirene, ein sogenanntes Martinshorn, von außerhalb der Scheune zu hören.

„Das ist bestimmt meine Staffel. Die wissen doch, dass sie die Sirene nur im Einsatz einsetzen dürfen. Die machen mir noch die gesamte Nachbarschaft rebellisch.“

Ben leerte sein Glas in einem Schluck und stürmte aus der Scheune. Liam blickte ihm neugierig hinterher.

Gerade als hinter Ben die kleine Tür im Scheunentor zufiel, wurde es auf dem Zwischenboden der Scheune laut.

Von dort oben, wo das Heu zum Trocknen ausgelegt war, hörte man laute Worte und dazwischen Frauengelächter herunterschallen. Liam erkannte mehrere Jungs und zwischen ihnen zwei junge Frauen. Sie kämpften sich durch die Strohballen hindurch auf die einzige Leiter zu, die nach unten führte. Zwei der Jungs trugen Feuerwehrjacken.

Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgte er, was nun geschah.

Die Jungs warfen, noch bevor sie an der Leiter herunterstiegen, mehrere Strohballen vom Heuboden herunter. Sie landeten etwas seitlich neben der Musikanlage. Sofort stürzten sich dort andere auf die Ballen und fingen an, sie auseinanderzureißen.

Mit einem Mal herrschte eine rege Betriebsamkeit in der Scheune. Von draußen kamen weitere Jungs herein. Sie trugen ebenfalls die blauen Feuerwehrmonturen und halfen das Stroh kreisförmig zu verteilen.

Die beiden jungen Frauen zogen Liams Blick wie magisch an. Sie waren nur spärlich bekleidet.

Sie trugen schwarze Leder Hotpants und darüber ein lila Top und sie waren tatsächlich barfuß.

Jetzt zogen sie sich einen langen, grauen Trenchcoat über, während einer der Jungs in Feuerwehrmontur die Musik ausschaltete.

Es wurde schlagartig ruhig. Liam stand immer noch am Getränketisch. Er konnte sich zunächst keinen Reim auf all das machen.

„Sag mal, was habt ihr eigentlich vor?“ Liam erkannte Jasper, er war etwa im gleichen Alter wie er und wohnte in der Nachbarschaft.

Jasper machte eine Lehre als Steinmetz, soviel wusste er von seiner Mutter. Sie war immer gut informiert, was so im Dorf geschah. Jasper holte gerade mehrere Flaschen Bier aus der Kiste unter dem Tisch hervor.

„Du wirst dich wundern, sag ich dir. Lass dich einfach überraschen und genieße die Aufführung. Ist eine Geburtstagsüberraschung von den Jungs für Ben!“

Liam nickte nur und beobachtete weiterhin die beiden jungen Frauen. Sie tuschelten miteinander und dazwischen hörte er immer wieder ein lautes Kichern.

Sie standen jetzt inmitten des Strohkreises und schienen auf etwas zu warten. Am Scheunentor wurde es laut und Liam konnte Bens Stimme hören.

Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Die Beleuchtung ging bis auf zwei Strahler aus, die auf den Strohkreis mit den Damen gerichtet waren. Ben kam gerade durch die Tür. Er schien etwas wütend zu sein und blieb kurz stehen, als Joe Cocker begann, „You can leave your head on“ zu trällern.

Jetzt betraten auch seine Kameraden die Scheune, die ihn draußen anscheinend noch so lange aufgehalten hatten, damit man im Inneren die Vorbereitungen abschließen konnte.

Alle Augen waren auf Ben gerichtet und auf den Strohkreis, wo jetzt zwei Frauen begannen, sich den Trenchcoat vom Leib zu reißen und sich weiter auszuziehen.

Der Striptease war im vollen Gange. Langsam entledigten sich die Damen zuerst ihrer Oberteile, gefolgt von den Hotpants.

Darunter trugen sie einen sehr aufreizenden Soft-BH, der mehr zeigte als er verhüllte und einen ebenfalls durchlöcherten String Tanga.

Sie bewegten ihre Körper provokativ lasziv im Rhythmus des Songs. Dann begannen sie sich gegenseitig zu streicheln.

Liam wusste in diesem Moment vor Verlegenheit nicht, wohin er schauen sollte.

Einerseits zogen die Tänzerinnen seinen Blick wie magisch an, anderseits schämte er sich dafür, dass sein Körper auf die Reize zu reagieren begann.

Aus den Augenwinkeln heraus versuchte er die anderen Jungs zu beobachten und atmete erleichtert auf, als er sah, dass diese ähnlich wie er reagierten. Er nahm einen großen Schluck aus dem Glas, das er immer noch in der Hand hielt und der Bacardi schoss wie glühende Lava durch seine Kehle und hinterließ ein starkes Brennen.

Ben stand etwa drei Meter vor dem Strohkreis und wirkte regelrecht erstarrt.

Er sagte etwas zu seinen beiden Kameraden, die neben ihm standen, was Liam nicht hören konnte, dazu war die Musik zu laut.

Eine der beiden Tänzerinnen löste ihren BH und streifte ihn unter lautem Grölen der Anwesenden langsam ab.

Mit wiegenden Schritten ging sie auf Ben zu. Liam bestaunte ihren makellosen Körper, und als sie Ben erreicht hatte, begann sie sich vor ihm zu rekeln und zu posieren.

Dabei berührten ihre Hände immer wieder wie zufällig Bens Körper. Mittlerweile hatte die zweite Tänzerin ebenfalls ihren BH ausgezogen und weit von sich geworfen. Er landete direkt vor Liam auf dem Boden.

Mit großen Augen beobachtete er, wie sie sich nun ebenfalls an Ben heranpirschte und sich mit ihrem fast nackten Körper an ihm zu reiben begann.

Es war das erste Mal, dass er den sonst so abgebrühten Ben in einer Lage sah, die ihn völlig überforderte.

Mit hochrotem Kopf versuchte er, den lasziven Berührungen der beiden Damen zu entgehen, was ihm aber nicht wirklich gelang.

Seine Kumpels schrien immer wieder dumme Ratschläge und Anzüglichkeiten.

Liam sah sich das Ganze noch ein paar Minuten an, ging dann zügig auf die Musikanlage zu und zog den Stecker.

Die sofort einsetzende Stille ließ alle erstarren. Die Tänzerinnen nutzten die Gunst der Stunde und zogen sich zurück.

„Spielverderber, Armleuchter“, hörte Liam die Kommentare einiger Jungs.

„Ihr habt euren Spaß gehabt, jetzt reicht es aber!“ Ben ging auf Liam zu, der immer noch neben der Musikanlage stand, und legte eine andere Platte auf.

„Nimm es ihnen nicht für Übel und danke nochmals.“

Liam wusste nicht so recht, ob er das Geschenk meinte oder dass er die Anlage ausgeschaltet hatte.

Sein Blick fiel auf die beiden jungen Frauen, die dabei waren, sich wieder anzuziehen.

„Eigentlich schade!“ In seinen Gedanken versuchte er sich vorzustellen, was wohl weiter geschehen wäre, wenn er nicht den Stecker gezogen hätte. Jetzt war es dafür zu spät.

Disco-Night

Die Diskothek Sunrise war der angesagteste Diskoschuppen in der ganzen Gegend. Ben hatte von seinen Eltern letzte Woche zu seinem achtzehnten Geburtstag einen alten Opel Kadett geschenkt bekommen. Den Führerschein hatte er schon ein Vierteljahr zuvor bestanden.

Ben hatte bereits vorher Fahrerfahrungen gesammelt, da er seit Jahren den Traktor seines Vaters fuhr, wenn er ihm auf dem Feld bei der Ernte half.

Sie fuhren durch das offenstehende Doppelflügeltor auf das Betriebsgelände der Diskothek. Langsam rollte Bens Wagen an dem hell erleuchteten Eingangsportal vorbei.

„Ist noch nicht viel los. Wir hätten ruhig auch eine Stunde später losfahren können!“

Silas schlechte Stimmung war ihnen bereits auf der ganzen Fahrt aufgefallen. Er saß auf dem Beifahrersitz, während Liam und Mika im Fond Platz genommen hatten.

Für Liam war es das erste Mal, dass er eine Diskothek besuchte und das auch nur, weil ihn der fünfzehnjährige Mika dazu überredet hatte. Zwischen ihnen beiden bestand ein besonderes Verhältnis.

Das heißt, es war wohl doch nur ein einseitiges Verhältnis.

Liam und Mika kannten sich bereits vom Kindergarten her und Mika war seit jeher ziemlich schüchtern und ängstlich. Sie hatten sich aus den Augen verloren, da sie auf verschiedene Schulen gewechselt waren und Liam dazu noch umgezogen war. Erst vor einigen Wochen hatten sie sich wieder getroffen und Mika hing seitdem an ihm, wie eine Klette.

Der Wagen wechselte von der asphaltierten Fläche auf Schotter. Auf dem Gelände, das dem Eigentümer der Diskothek Sunrise gehörte und auf dem ebenfalls ein Wohnhaus stand, das von ihm selbst auch bewohnt wurde, gab es einen Parkplatz, der für die Diskothekenbesucher reserviert war.

Ben bremste etwas hart und der Wagen rutschte auf dem Schotter und wäre fast in den einzigen anderen Wagen, der hier schon parkte, hineingeschlittert.

„Pass doch auf. Mir ist bereits schlecht!“

Silas Aufforderung wurde von Ben nur mit einem feinen Grinsen beantwortet.

Der Wagen war einen halben Meter vor dem anderen zum Halt gekommen.

„Sitzenbleiben, bis das Triebwerk zum Stillstand gekommen ist“, hörte Silas ihn noch sagen. Er wollte gerade die Wagentür öffnen, um auszusteigen.

Ben legte den Rückwärtsgang ein und gab nochmals Vollgas. Der Wagen schlingerte im Schotter und die Vorderräder drehten durch.

Eine ganze Anzahl kleinere Steine prasselten gegen die linke Seite des fremden PKW, dann drehte Ben mit einem gekonnten Handschlenker den Zündschlüssel herum und zog ihn aus dem Schloss.

„Endstation. Raus mit euch müden Kriegern. Lasst uns Party machen.“

Liam beobachtete erstaunt Ben. Er erschien ihm auf einmal total verändert.

Die Eingangstür war nur angelehnt, trotzdem ließ sie sich nur schwer aufziehen.

Der am oberen Türband befestigte Türschließer war defekt, sodass er bei jeder Bewegung des Türblattes versuchte, der Bewegung entgegenzuwirken. Demzufolge tat er auch nicht mehr das, wofür er konstruiert worden war, nämlich die Eingangstür selbsttätig wieder zu schließen.

„Silas, zieh die Tür hinter dir zu!“

Ben war als Erster eingetreten, gefolgt von Liam. Rechts neben der Eingangstür stand ein kleiner Tisch. Auf ihm befand sich ein brauner, verschließbarer Kassenbehälter und hinter dem Tisch saß Petra, die Tochter des Inhabers. Natürlich kostete der Eintritt Geld. Dafür bekam man aber auch einen Getränkebon.

Neben der Kasse konnte Liam ein ebenfalls braunes Kofferradio erkennen. Er zuckte sichtlich betroffen zusammen, als Ben die Tochter des Diskothekenbesitzers zu sich heranzog, in den Arm nahm und küsste.

Auch Mika und Silas klotzten nur und zeigten dabei einen recht dümmlichen Gesichtsausdruck.

Alle drei hatten augenscheinlich nicht gewusst, dass Ben eine Freundin hatte.

Es war still im Raum, da der DJ noch nicht anwesend war und selbst die Diskothekeninnenbeleuchtung, Discokugeln und Laserlicht waren noch nicht eingeschaltet. Der Raum wirkte kalt und ungemütlich.

„Heiko kommt etwas später“, sagte Petra gerade als Ben sie losließ.

„Dann mach wenigstens das Radio an, wenn der DJ schon zu spät kommt! Das hier ist doch eine Disco!“ Ben grinste Liam an, der immer noch starr neben dem Tisch stand und drückte auf einen Knopf am Radio.

„Es folgt die Zusammenfassung der Ereignisse um die Entführung. Am Montag, dem 5. September 1977 gegen 17:10 Uhr wurde Hanns Martin Schleyer in Köln von seinem Fahrer in einem dunklen Mercedes 450 SEL von der Arbeitgeberzentrale am Oberländer Ufer zu seiner Dienstwohnung chauffiert. Drei Polizisten folgten in einem hellen Mercedes 280 E. Die drei Personenschützer waren bewaffnet, Schleyer und sein Fahrer nicht. Der Anschlag spielte sich wie folgt ab: Die Täter fuhren mit einem Mercedes 300 D rückwärts aus einer Einfahrt direkt vor den Mercedes 450 SEL, dessen Fahrer noch rechtzeitig bremsen konnte.

Das Begleitfahrzeug fuhr jedoch auf Schleyers Wagen auf und schob diesen auf den Mercedes 300 D. Daraufhin eröffnete die RAF das Feuer auf den Fahrer, der mehrfach getroffen nach kurzer Zeit seinen schweren Verletzungen erlag. Einer der Terroristen sprang plötzlich auf die Motorhaube des Begleitfahrzeugs und feuerte aus einer polnischen Maschinenpistole PM-63 durch die Frontscheibe ins Wageninnere. Der Fahrer wurde 60 Mal in allen Körperbereichen getroffen und starb. Seinem Kollegen gelang es noch, den Fond des Fahrzeugs zu verlassen und mit seiner Dienstpistole dreimal zurückzuschießen. Daraufhin eröffnete der dritte Personenschützer aus der geöffneten Beifahrertür heraus das Feuer mit seiner Maschinenpistole, traf aber ebenfalls nicht. Beide Männer wurden daraufhin durch mehrere Schüsse der Terroristen tödlich getroffen.“

„Man, das kann man sich ja überhaupt nicht anhören.“ Petra schaltete das Radio aus.

„Der 05. September war doch letzten Montag!“

Mika blickte ziemlich erstaunt drein. Auch Liam war etwas blass geworden. Er hatte die Nachricht über den terroristischen Angriff und die Entführung überhaupt nicht mitbekommen.

„Ich war am letzen Wochenende in ‚Krieg der Sterne‘. Ich sage euch, das ist ein geiler Film. Den kannst du mit anderen Science-Fiction Filmen überhaupt nicht vergleichen.“

Silas schaute von einem zum anderen und sein Blick blieb dann auf Petra hängen.

„Nur eines habe ich nicht ganz verstanden, wieso im Vorspann Episode IV stand!“

„Wir gehen am Sonntag in ‚Bernhard und Bianca‘, nicht wahr?“ Petra lächelt Ben an und dieser schien jetzt tatsächlich etwas verlegen zu werden.

„Ähm, mal sehen“, wich er aus und nahm seinen Bon entgegen.

„Ich habe Durst!“ Liam folgte Ben in Richtung Bar Theke.

Hatte Silas eben tatsächlich den Anschlag der Terroristen mit dem Krieg der Sterne Kinofilm verglichen? Das eine war reine Fiktion, das andere tödliche Wirklichkeit.

Sag mal Silas, sonst geht‘s noch!“

Silas verstand jedoch nicht, was er wollte. Er grinste nur und Liam vernahm nur ein „Hä“ aus seinem Mund.

Als sie an der Theke ankamen, ging gerade die Standardbeleuchtung aus und mit dem ersten Song begannen die bunten Discobälle sich im Schein der Spotlights zu drehen.

„Seit 15 Wochen auf Platz 1 der deutschen Charts. Hier ist Baccara mit ‚Yes Sir I Can Boogie‘!“

Die Stimme des DJ durchdrang die eben noch vollkommene Stille, und bevor die Gruppe Baccara so richtig loslegen konnte, hörte man noch aus dem Mikrofon ein lautes Pfeifen und Fiepsen.

Liam hielt sich schnell die Ohren zu.

„Mister, Your eyes are full of hesitation. Sure makes me wonder, if you know what your looking for.”

Ein schwarzhaariges Mädchen drängte sich an ihm vorbei und Liams Blick fiel wie automatisch auf ihre Bluejeans, die sehr eng an ihren Oberschenkel saß und jede noch so verführerische Bewegung der Hüfte an den Po sichtbar weitergab.

Er schaute ihr immer noch versonnen hinterher, als ihn Mika mit der rechten Schulter anrempelte.

„Man, geh weiter, ich habe Durst!“

Liam ließ ihn an sich vorbeigehen, während seine Augen weiter dem schwarzhaarigen Mädchen folgten. Erst als sie von den Armen eines jungen Mannes umschlungen wurde, wendete er sich ab und ging weiter. Ben hatte bereits für alle Cola Bier bestellt, und als er jetzt den Bartresen erreichte, wurde ihm ein Glas zugeschoben.

„Auf die vielen Mädchen, die nur darauf warten, von uns verführt zu werden!“

Ben hob sein Glas und grinste. Silas begann zu kichern und Mika wurde rot. Nur Liam schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

Er hatte nicht wirklich zugehört. Sein Blick schweifte durch den riesigen Raum, vorbei an der noch leeren Tanzfläche, über die Tische hinweg und an den beiden Nischen vorbei.

Links, etwas höher als das normale Bodenniveau platziert, befand sich das DJ-Mischpult. Direkt davor standen zwei junge Frauen und lehnten sich lässig gegen das Pult.

Liams Blick wurde von ihnen wie magisch angezogen. Die Eine hatte lange, blonde und die Andere kurze schwarze Haare.

Dieses gegensätzliche Aussehen setzte sich ebenso in ihrer Kleidung fort. Während die Schwarzhaarige eine Bluse und Bluejeans trug, hatte die Blonde ein gelbes Kleid an.

Als sich sein Blick mit dem Blick der blonden Jungen Frau kreuzte, erschrak Liam und wandte sich schnell ab und schaute direkt in das Gesicht von Ben.

„Alles klar bei dir?“

Liam zuckte leicht zusammen, versuchte aber gleichzeitig einen alltäglichen Gesichtsausdruck zu bewahren, was ihm nur zum Teil gelang. Ihm war es unangenehm, sollte Ben bemerkt haben, dass er den beiden jungen Frauen nachschaute.

Er nickte nur hastig und blickte in eine andere Richtung.

„Lasst es euch nicht langweilig werden, ich schaue mich mal um! Sollten wir uns nicht mehr sehen, treffen wir uns um 23.30 Uhr an meinem Wagen!“

Liam schaute kurz hinter Ben her, dann schwenkte sein Blick wieder zum DJ-Pult. Die beiden jungen Frauen standen jedoch nicht mehr dort.

„Hast du bekannte Gesichter gesehen?“

Silas stand jetzt rechts von ihm und Mika links. Die beiden klebten wie Kletten an Liam. Er musste sie unbedingt loswerden. Aber wie?

Er entschied sich für eine Notlösung, schaute sich wie suchend um und marschierte dann mit dem Glas Cola Bier in der Hand auf die Toilettentür zu.

Er spürte noch den Blick der beiden in seinem Rücken, dann war er bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. Liam ließ sich Zeit und lehnte sich gegen die Außenwand mit dem einzigen Fenster im Raum.

Er wurde zwar mehrfach von den Leuten, die auf die Toilette kamen, eigenartig angeschaut, jedoch sprach ihn niemand dabei direkt an.

Nach zehn Minuten hatte er das Glas geleert und entschloss sich, den Toilettenraum wieder zu verlassen. Langsam öffnete er die Tür und blickte durch den Spalt in den Diskothekenraum. Er kam sich dabei schon recht blöd vor, aber es hatte funktioniert.

Er konnte Mika und Silas nicht mehr sehen. Dafür blieb sein Blick auf der Tanzfläche haften. Dort sah er die Blonde mit dem gelben Kleid und die Schwarzhaarige von vorhin tanzen.

Sie tanzten miteinander und schienen sich prächtig zu amüsieren. In Liams Leben war bisher nur wenig Platz für Mädchen gewesen.

Er kam jedoch zunehmend in ein Alter, wo man die neu einsetzenden Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr so einfach ignorieren konnte.

Wenn da nur nicht diese dumme Schüchternheit gewesen wäre. Die blonde, junge Frau gefiel ihm schon und je länger er sie beobachtete, umso mehr spürte er den Drang in sich, sie anzusprechen. Nachdem die beiden die Tanzfläche verlassen hatten, ging er ihnen nach.

Liam ließ die Blonde nicht mehr aus den Augen. Es war nicht einfach, da sich die Diskothek mittlerweile ziemlich stark gefüllt hatte und man in den Gängen nur noch durch Schieben und Drücken vorankam. Trotzdem schaffte er es.

Er wartete geduldig, bis sie endlich alleine war. Er hoffte, die Schwarzhaarige würde nicht gleich wieder zurückkommen.

Die beiden hingen wirklich wie Kletten beieinander. Er fasste allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte und schritt mit wackligen Knien auf sie zu. In seiner Hand hielt er immer noch das leere Glas.

Sie schien ihn überhaupt nicht bemerkt zu haben, denn als er schon vor ihr stand, blickte sie immer noch in eine andere Richtung.

In Liam kamen Zweifel auf. Er begann immer stärker zu transpirieren. Nur mit großer Mühe kam ein „Hallo“ über seine Lippen.

In seinem Kopf begann es zu rauschen, als sie langsam ihren Kopf in seine Richtung drehte.

Er versuchte noch schnell ein Lächeln aufzusetzen. Ihre Augen blitzten ihn regelrecht an, und obwohl sie kein Wort sprach, fühlte er sich bis auf die Seele durchschaut.

„Hast du Lust, mit mir zu tanzen“, kam es stockend aus seinem Mund.

Seine Hände umfassten krampfartig das leere Bierglas. Voller Erwartung starrte er sie an und bemerkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete.

Ihr Gesichtsausdruck blieb nichtssagend und es kam ihm tatsächlich so vor, als würde sie durch ihn hindurchblicken.

Dann fühlte er eine Berührung an seiner rechten Schulter. Vollkommen verblüfft und in einer unkontrollierten Bewegung drehte er sich um und schaute direkt in die Augen der Schwarzhaarigen.

„Lass sie in Ruhe, sie gehört zu mir. Du brauchst dich nicht zu bemühen, hast du verstanden?“

Liam blickte verstört zu der blonden, jungen Frau. Aber sie schien ihn immer noch nicht zu beachten.

Erst als die Schwarzhaarige auf sie zu trat, ihre Hand um ihren Kopf legte und sie ostentativ küsste, kam wieder etwas Farbe in sein Gesicht.

Vollkommen verdattert schaute er den beiden zu, wie sie jetzt ungeniert Zärtlichkeiten austauschten. Entmutigt wandte er sich ab und stolperte von dem schmalen Podest, auf dem er eben noch gestanden hatte.

Das Schicksal schien es überhaupt nicht gut mit ihm zu meinen. Langsam begann sich sein Körper wieder zu entspannen.

Er benötigte dringend etwas frische, kühle Luft. Er kam sich vor, wie ein Versager.

Als er draußen vor der Eingangstür der Diskothek stand, atmete Liam erst einmal tief durch.

Die Nacht war nicht ganz so dunkel, wie gewohnt. Der Vollmond in dem wolkenlosen Himmel spendete genug Helligkeit, um die nähere Umgebung mit einem weißlich grauen Schimmer auszuleuchten.

Ein Wagen fuhr mit aufheulendem Motor an ihm vorbei und der Splitt unter den Rädern spritzte nach allen Richtungen.

Liam sah dem Wagen nachdenklich hinterher, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Ein unterdrücktes Kichern, das aus einer Ecke seitlich neben dem Toilettenanbau kam, ließ ihn aufhorchen. Als er von dort ebenfalls leise Stimmen vernahm, ging er langsam darauf zu.

Sie lag weitgehend im Schatten und so konnte er das Pärchen erst wahrnahmen, als er fast vor ihm stand.

Voller Schrecken erkannte er Silas in den Armen eines Mädchens.

Schnell ging er zurück und hoffte nur, dass ihn Silas nicht erkannt hatte. Hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen? Blieb er der einzige junge Mann ohne Beziehung?

„Verdammt!“ Mit einem wütenden Schrei warf Liam das leere Bierglas gegen die Außenwand der Diskothek. Es gab einen lauten Knall, als das Glas in tausend Scherben zerbarst.

„Ist da wer?“ Als er Silas Stimme hörte, öffnete er schnell die Tür und verschwand wieder im Inneren der Diskothek.

Das Mädchen Luna

Direkt neben dem Eingang der Disco stand ein alter Flipper. Die Innenräume an sich waren an den Wänden hauptsächlich mit Holzpaneelen verblendet. In der Mitte des Raums befand sich die Tanzfläche. Sie war mit einem massiven und robusten Holzgeländer eingefasst.

Nur die Seite in Richtung Tresen war offen, von dort konnte man auch die Tanzfläche betreten. Der Boden der linken Seite vom Ausgang gesehen, war um zwei Stufen erhöht.

Hier waren Sitzplätze in Form von Nischen eingelassen, mit einem jeweils in der Mitte fest am Boden verschraubten Tisch.

Direkt gegenüber dem Eingang konnte man einen, mit offenem Holzfachwerk abgeteilten, zweiten Raum erkennen. Hier standen mehrere Tische mit Stühlen auf gleichem Bodenniveau. Es war noch früh, an diesem Freitag.

Meist füllte sich die Diskothek erst so gegen 23.00 Uhr. Petra lächelte ihn an, als sie ihm den Gutschein für ein Getränk gab, nachdem er bezahlt hatte.

Er ging langsam weiter und kam an der Tanzfläche vorbei. Sie lag noch im Dunkeln, da die Discostrahler noch nicht eingeschaltet waren. Ebenfalls waren die beiden Lasergeräte noch nicht in Betrieb.

Liam besuchte in der letzten Zeit öfters die Disco. Wenn man es genau nahm, fast jedes Wochenende. Seitdem Ben ihn das erste Mal hierher mitgenommen hatte, schien es ihm hier irgendwie zu gefallen.

Sehnsüchtig blickte er auf die Pärchen in den Nischen und auf der Tanzfläche. Er merkte immer mehr, wie ihm etwas fehlte. Es gab hier nur wenige Jungs, die wie er, sich alleine von einer Ecke in die andere drückten.

Die meisten hatten ihre Freundinnen dabei und das war etwas, was ihn zunehmend beunruhigte.

Immer stärker wurden Gefühle in ihm wach, die sich nicht mehr wirklich steuern ließen und die er zunächst nicht verstand. Es gab ihm jedes Mal einen Stich in der Brust, wenn er andere Jungs mit ihren Mädchen beobachtete.

Wenn sie sich in die dunklen Ecken und versteckten Winkeln zurückzogen oder sich ganz offen auf der Tanzfläche vergnügten.

Liam nippte an seinem zweiten Glas Cola Bier und lehnte lässig an einen der vier Holzpfosten, die die Eckbegrenzungen der Tanzfläche bildeten. Mittlerweile war es bereits nach zehn Uhr und der Raum füllte sich immer weiter.

Es war schon jetzt nicht mehr einfach, durch die schmalen Gänge zwischen den Tischen zu gehen, ohne mit jemandem zusammenzustoßen oder zumindest anzurempeln.

Liam mochte es nicht, wenn der Discoschuppen zu voll wurde. Er überlegte gerade, ob er sich nicht auf den Weg nach Hause machen sollte, als der DJ La Bionda mit ‚One for You, One for Me’ auflegte. Er schaute rein zufällig zum Eingang hin.

Dort saß Petra an dem kleinen Tisch, umringt von neuen Besuchern und gab die Eintrittskarten aus.

Die Eingangstür öffnete sich und eine blonde, junge Frau betrat den Raum. Sie trug schulterlanges, gelocktes Haar und zwei riesige silberne Kreolenohrringe zierten ihre kleinen Ohrläppchen.

Liams Blick wanderte von den Ringen zu den rehbraunen Augen, die von einem dichten, silbernen Lidschatten umrundet wurden. Dabei waren ihre Wimpern tiefschwarz, und die Augenbrauen hatten den gleichen Farbton wie die Iris ihrer Augen.

Er vergaß fast zu atmen und beobachtete ihr Eintreten sehr genau. Irgendwie wirkte sie auf ihn etwas unbeholfen, aber nicht schüchtern.

An der silbernen Jacke in Blouson-Form mit den langen Ärmeln und dem Stehkragen stand der durchgehende Reißverschluss halb offen, wobei sie ihre Hände in die seitlichen Einschubtaschen gesteckt hatte.

An Kragen, Bund und Armabschlüssen befanden sich sogenannte elastische Rippstrickbündchen. Je mehr sich sein Blick auf ihren Körper fixierte, umso mehr verloren sich seine Gedanken in eine unendliche Ferne.

Mehr unbewusst nahm er noch wahr, dass sie anscheinend nichts weiter unter der bis zum Nabel reichenden Jacke trug, denn er konnte zwischen dem Jacken, - und dem Hosenbund nackte Haut erkennen.

Die helle Bluejeans wurde von einem weißen Canvasgürtel gehalten.

Ihm kam es fast so vor, als schwebte diese überirdische Schönheit regelrecht über dem Boden.

Als Petra sie ansprach, erschienen für wenige Sekunden zwei kleine Fältchen auf ihrer Stirn, die aber sofort wieder verschwanden. Mit einer eleganten Armbewegung zog sie einen Geldschein aus der Jackentasche und legte ihn auf den Tisch.

Als sie das Wechselgeld entgegennahm, wusste sie zunächst nicht, wohin damit. Beim Weitergehen steckte sie dann die Münzen einfach in die enge Hosentasche.

Liams Blick folgte der jungen Frau wie elektrisiert. Sie schaute sich neugierig nach allen Seiten um, während sie sich langsam zwischen den Gästen hindurchbewegte.

Ihm kamen ihre Bewegungen geradewegs so vor, als würde sie es tunlich vermeiden wollen, mit irgendjemand oder mit irgendetwas in Berührung zu kommen.

Kurz bevor sie aus seinem Blickfeld verschwinden konnte, gab er sich einen Ruck.

Natürlich hatte er bereits die begehrlichen Blicke einiger anderer Jungs bemerkt, die ihr ebenso hinterschauten wie er. Sie war tatsächlich alleine, ohne Begleitung. „Wenn nicht jetzt, wenn dann?“

Er versuchte seine Gedanken und damit seine einsetzende Nervosität auszublenden und ging mit schneller wertenden Schritten auf die Stelle zu, an der er mit ihr zusammentreffen würde, wenn sie ihren eingeschlagenen Weg fortsetzte.

Dann verlor er sie aus den Augen. Es standen zu viele Leute zwischen ihm und ihr.

Schon längst hatte er das Glas, das er immer noch in seiner Hand gehalten hatte, irgendwo auf einen Tisch abgestellt, an dem er vorbeigekommen war. Zweimal stieß Liam bei dem Versuch, schneller zu werden, gegen andere Besucher und ignorierte ihre bösen Blicke. Er hatte irgendwie ein Gefühl in der Bauchgegend, dass er nicht aufgeben durfte.

Er musste ihre Bekanntschaft machen, koste es, was es wolle. Dann endlich hatte er den Schnittpunkt erreicht, an dem er eigentlich mit ihr hätte zusammentreffen müssen.

Er bewegte seinen Kopf ruckartig von links nach rechts und wieder zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er konnte sie jedoch nirgends ausmachen.

„Verflucht!“

Plötzlich spürte er eine Berührung an der Schulter. Liam zuckte kurz zusammen und drehte sich um. Vor ihm standen Mika und Silas.

„Was machst du den für ein betretenes Gesicht?“ Mika grinste.

„Er sieht aus, als hätte man ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen“, setzte Silas nach.

„Wie kommt ihr denn hierher?“

Liam besaß seit einigen Wochen ein Mofa. Es handelte sich dabei um ein Kleinkraftrad mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h. Man benötigte für ein Mofa keinen Führerschein, lediglich eine Mofa-Prüfbescheinigung und man musste mindestens 15 Jahre alt sein, um es zu erwerben. Das Mofa rangierte eine Fahrzeugklasse unterhalb des Mopeds. Jetzt war er mobil genug und war nicht mehr auf eine Mitfahrgelegenheit angewiesen.

„Dreimal darfst du raten!“ In Mikas Stimme lag ein aggressiver Unterton.

„Du hast dich ja in den letzten Wochen ziemlich rar gemacht. Bist nicht mehr auf dem neusten Stand, was?“

Liam hatte sich tatsächlich etwas von seinen einstigen Freunden zurückgezogen. Mika ging ihm sowieso schon länger auf den Senkel und mit Silas verband ihn nur eine sehr lockere Freundschaft. Ihm war es jetzt jedenfalls überhaupt nicht recht, dass sie hier auftauchten.

„Na dann viel Spaß noch!“

Liam nickte den beiden kurz zu und verschwand zwischen einigen anderen Discobesuchern, die gerade den Raum betreten hatten und an ihnen vorbeigingen.

Er stellte sich noch ihre verblüfften Gesichter vor und musste grinsen, dann konzentrierte er sich wieder auf die Suche.

Andy Gibb sang gerade „I Just Want to Be Your Everything”, als er sie wiedersah. Ihre silberne Jacke strahlte ihm regelrecht entgegen.

Plötzlich spürte er eine aufkommende Panik, die seine Gedanken fast vollständig zu übernehmen versuchte. Ein Schweißausbruch nach dem anderen schüttelte seinen Körper und ließ ihn leise aufstöhnen.

„Wie sollte er sie nur ansprechen?“ Seine Gedanken jagten nur so. Jetzt und hier war die Gelegenheit und er musste sie nutzen, bevor jemand anders es tat.

Sein Blick bohrte sich regelrecht in ihre rehbraunen Augen mit den silbernen Liedschatten und er begann, sich bereits in ihnen zu verlieren.

Alles in ihm drängte danach, endlich Kontakt herzustellen, während seine Schüchternheit immer noch einen starken Widerstand bildete.

Seine innere Zerrissenheit ließ ihn fast wahnsinnig werden. Sie stand jetzt nur noch drei Meter vor ihm.

Eigentlich müsste sie ihn bemerken. Liam blieb stehen. Sie wirkte auf einmal nicht mehr so erhaben auf ihn, eher zurückhaltend und unsicher.

Er gab sich einen Ruck und sprang über seinen Schatten. Mit hochrotem Kopf trat er in ihr Blickfeld.

„Hallo! Hast du Lust zu tanzen?“

Er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden, so sehr faszinierten ihn ihre Gesichtszüge.

Jetzt bildeten sich kurz zwei kleine Fältchen auf ihrer Stirn, während Liam starr vor Angst nur dastand und innerlich zitterte.

„Wird sie ja sagen?“ Der Gedanke stand noch in seinem Geist, als sie bereits antwortete: „Warum nicht. Ich habe schon viel von dieser Art Musik gehört, aber die Bewegungen sind mir fremd. Du kannst mir bestimmt zeigen, wie das geht!“

Sie blickte zuerst Liam an, dann wanderte ihr Blick hinüber zur Tanzfläche. Das innere Zittern legte sich etwas, als sie gemeinsam zur Tanzfläche gingen.

Die Gruppe ABBA trällerte gerade „Dancing Queen“, als sie den metallischen Bodenbelag betraten.

Sofort setzte bei Liam erneut die Angst ein. Er hatte noch nie mit einem Mädchen getanzt. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Zwei rehbraune Augen blickten ihn erwartungsvoll an.

Er hatte sich jetzt so weit vorgewagt, das letzte Stück würde er auch noch meistern. Verstohlen schaute er den anderen Paaren auf die Füße und begann sofort sie nachzuahmen.

Dabei kam im zugute, dass er vor zwei Jahren auf Druck seiner Mutter einen Tanzkurs besucht hatte.

Zwar hatte er ihn nach dem dritten Abend bereits wieder abgebrochen, aber die Schritte des Foxtrotts waren in seinem Gedächtnis hängen geblieben.

Liam kombinierte einfach diese Schritte mit dem, was er so bei den anderen Paaren sah.

Der Rhythmus schien auch gut zu dem Song von ABBA zu passen, jedenfalls wurde er von Minute zu Minute sicherer.

Seine Partnerin passte sich relativ schnell seinen Bewegungen an und es schien ihr ebenfalls Spaß zu machen.

„Ich wusste überhaupt nicht, wie toll sich das anfühlt. Ich mochte diese alten Songs schon als kleines Kind.“

Liam verstand nur einen Teil von dem, was sie sagte. Die Beschallung zur Tanzfläche hin war extrem laut. Dazu kamen noch die Lichteffekte der Lichtorgeln, die an verschiedenen Stellen über und seitlich der Tanzfläche angebracht waren.

Als der DJ „Fly Like An Eagle“ auf den Plattenteller legte, kam Liam vollständig aus dem Rhythmus.

„Lass uns etwas trinken, ich bekomme Durst. In Ordnung?“ Jetzt kam es darauf an, ob sie ihn tatsächlich zum Bartresen begleiten würde oder nicht. Aber das Glück schien heute Abend auf Liams Seite zu stehen.

„Ja in Ordnung“, hörte er ihre leise Stimme und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben als vollwertiger Mensch, als sie ihm folgte.

Kurz kam sie mit ihrem schulterlangen, gelockten Haar in die Nähe seines Gesichts.

Ein angenehmer Orangenblütenduft stieg ihm in die Nase und wühlte ihn innerlich noch mehr auf.

„Was möchtest du trinken?“

Er versuchte seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben, was aber nicht ganz gelang.

Ihre rehbraunen Augen blickten ihn fragend an. Gerade so, als wüsste sie tatsächlich nicht, was sie wollte.

„Hallo Ben, zwei Cola Bier“, rief er etwas zu laut quer über den Tresen. Ben stand am anderen Ende und gab ihm mit der Hand ein Zeichen, dass er verstanden hatte.

Nachdem er bezahlt hatte, gab Liam ihr das Glas Cola Bier in die Hand und lächelte sie schüchtern an.

„Ich heiße Liam!“

Er nahm sein Glas vom Tresen und stieß vorsichtig gegen das ihre. Sie schaute etwas verblüfft auf den dunklen Schaum im Glas, begann aber sofort wieder zu lächeln.

„Luna, du kannst mich Luna nennen.“

Sie führte das halbe Liter Glas mit beiden Händen vorsichtig zum Mund, schaute nochmals auf den sich langsam auflösenden, dunklen Bierschaum und nippte am Glas.

Sie kannte den bitteren Geschmack von Bier, aber zusammen mit Cola hatte sie es noch nicht getrunken. Tatsächlich schmeckte die Mischung eher etwas herb als bitter und das war gar nicht so unangenehm.

Sie nahm sofort einen richtigen Schluck hinterher.

Liam beobachtet sie und musste grinsen, als dabei etwas von dem braunen Bierschaum auf ihrer Oberlippe und sogar an der Nasenspitze hängen blieb.

„Darf ich?“ Mit einem Papiertaschentuch wichte er vorsichtig den Schaum, der tatsächlich die gleiche Farbe hatte, wie Lunas Augen, von ihrer Nase und Oberlippe. Sie blickte ihn dabei zunächst etwas erschrocken an und machte einen Schritt zurück.

„Du hattest Bierschaum im Gesicht!“

Liam zeigte ihr entschuldigend das Taschentuch mit dem braunen Fleck.

Sie lächelte ihn zaghaft an, während er das Taschentuch einsteckte, und griff sich reflexartig an die Nase. Jetzt mussten sie beide lächeln.

„War sie nur schüchtern oder spielte sie ihm etwas vor?“ Der Gedanke machte ihm Angst.

Als sie ihm jetzt direkt in die Augen schaute, war er es jedoch, der verschämt den Blick senkte.

Als er wieder aufblickte, war es schon zu spät, um noch zu reagieren. Mika und Silas standen laut grölend neben ihnen.

„Na ihr zwei Hübschen, was geht ab?“

Silas roch stark nach Alkohol, als er leicht schwankend neben Liam stand und sich an seiner Schulter abstützte. Er hielt ein großes Glas mit einer hellen Flüssigkeit in der Hand.

Mika setzte gerade ein Glas Cola Bier an und Liam bemerkte, wie er beim Trinken über den Glasrand hinweg Lunas Ausschnitt beäugte. Er ließ sich dabei viel Zeit.

Luna blinzelte mehrmals mit ihren langen und tiefschwarzen Wimpern zuerst in seine Richtung. Anscheinend wusste sie nicht so recht, was sie von den beiden zu halten hatte.

„He, was schaut ihr beiden so betreten? Lasst uns einen draufmachen!“

Als Silas mit dem Glas ansetzte, um mit dem Bierglas von Luna anzustoßen, fand Liam seine Handlungsfähigkeit zurück.

Silas, Mika, lasst uns gefälligst in Ruhe. Ihr seid ja beide betrunken.“

Unwillig schüttelte er Silas Arm von seiner Schulter, ging mit einem schnellen Schritt auf Luna zu und dirigierte sie mit ausgestrecktem Arm von den beiden weg. Nicht gerade zimperlich begann er sich zusammen mit ihr durch die anderen Discobesucher hindurchzuquetschen.

Als es wieder etwas lichter wurde und weniger Leute in seinem Weg standen, bemerkte er, dass er fast den Ausgang erreicht hatte.

Er blieb spontan stehen und drehte sich zu ihr um.

„Es ist Zeit, ich muss jetzt gehen“, vernahm er ihre Stimme, als David Soul anfing zu singen.

Sein „Don't Give Up On Us“ klang sehr melodramatisch.