Licht in den Wolken - Iny Lorentz - E-Book
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Iny Lorentz

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Beschreibung

Eine junge Frau in gefährlichen Zeiten kämpft um die Liebe - Band 2 der Spiegel-Bestseller-Trilogie von Iny Lorentz Der zweite Teil der Berlin-Trilogie »Licht in den Wolken« handelt von einer tragischen Liebesgeschichte im 19. Jahrhundert zur prekären Zeit des Deutsch-Französischen Krieges. Liebe und Krieg, Ränkespiele und wahre Freundschaft - ein historischer Roman voller schicksalhafter Wendungen und dramatischer Spannung. Auf einem Internat für höhere Töchter lernt Rieke, Tochter eines verarmten Offiziers, 1864 Gunda von Hartung kennen. Während eines Ferienbesuchs bei deren Familie trifft sie auch auf Gundas Bruder Theo. Der verhält sich dem selbstbewussten Mädchen gegenüber anfangs äußerst schroff, doch als Riekes Vater im Kampf schwer verwundet wird, steht er ihr selbstlos zur Seite. Noch bevor die beiden einander allerdings ihre Gefühle gestehen können, kommt es zu einem folgenschweren Missverständnis. Theo tritt in die Armee ein und zieht mit in den Deutsch-Französischen Krieg. Wie geht die Liebesgeschichte aus? Wird Rieke ihn jemals wiedersehen? »Üppig, sinnlich und voller Abenteuer!« FÜR SIE Mit ihrer Berlin-Trilogie um die Fabrikanten-Familie von Hartung lässt die Spiegel-Bestseller-Autorin Iny Lorentz das 19. Jahrhundert in Deutschland lebendig werden und verknüpft geschickt politische Wirrnisse mit persönlichen Schicksalen. Die historische Familien-Saga besteht aus den Romanen - Band 1: »Tage des Sturms« (1846–1849) - Band 2: »Licht in den Wolken« (1864–1870)  - Band 3: »Glanz der Ferne« (1897–1900)

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Seitenzahl: 754

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Iny Lorentz

Licht in den Wolken

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Auf einem Internat für höhere Töchter lernt Rieke, Tochter eines verarmten Offiziers, 1864 Gunda von Hartung kennen. Während eines Ferienbesuchs bei deren Familie trifft sie auch auf Gundas Bruder Theo. Der verhält sich dem selbstbewussten Mädchen gegenüber anfangs äußerst schroff, doch als Riekes Vater im Kampf schwer verwundet wird, steht er ihr selbstlos zur Seite. Noch bevor die beiden einander allerdings ihre Gefühle gestehen können, kommt es zu einem folgenschweren Missverständnis. Theo tritt in die Armee ein und zieht mit in den Deutsch-Französischen Krieg. Wird Rieke ihn jemals wiedersehen?

 

Der zweite Band der Spiegel-Bestseller-Trilogie von Iny Lorentz nach Tage des Sturms.

Inhaltsübersicht

Die Mädchenschule1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelGottes Wille1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelDie Hartungs1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelHinterlist1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDas Verhängnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDer Vater1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelDie Entführung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelMissverständnisse1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDer eigene Wille1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelFeuer und Rauch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelLiebe und Tod1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelHistorischer ÜberblickGlossarPersonenDas Institut der Schwestern SchmellingDie Gantzows und ihre VerwandtenDie HartungsDie Familie Dobritz und ihre BekanntenWeitere PersonenLeseprobe »Glanz der Ferne«
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Erster Teil

Die Mädchenschule

1.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fuhr Rieke mit der Eisenbahn und kam aus dem Staunen kaum heraus. Die kleine Garnisonstadt, in der ihr Vater stationiert war, blieb so schnell hinter dem Zug zurück, dass es ihr wie ein Wunder erschien. Statt der grauen Häuser sah sie nach kurzer Zeit Felder, auf denen Knechte und Mägde arbeiteten, Wiesen mit grasenden Kühen und immer wieder dunkle Wälder. Bei deren Anblick gaukelte ihre Phantasie ihr vor, es könnten Räuber darin hausen.

Mit leuchtenden Augen wandte sie sich an ihren Bruder. »Ich hätte niemals gedacht, dass die Eisenbahn so geschwind fahren würde.«

Emil von Gantzow, der als Sekondeleutnant in demselben Infanterieregiment diente, in dem sein Vater Major war, lächelte über die Begeisterung seiner jüngeren Schwester. »Die Eisenbahn ist nun einmal die schnellste und bequemste Möglichkeit, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Da können weder Reiter noch Kutschen mithalten.«

»Wenn Mama und ich im letzten Jahr, als euer Regiment an seinen neuen Standort versetzt worden ist, die Eisenbahn hätten nehmen können, wären wir nicht zwei Wochen lang auf einem Fuhrwerk durchgeschüttelt worden.« Rieke schnaubte leise, denn jene Fahrt war alles andere als bequem gewesen.

»Ich glaube nicht, dass Mama jemals in einen Eisenbahnwaggon einsteigen würde«, gab Emil zu bedenken.

»Ganz gewiss nicht! Deswegen hätte ich die Höhere-Töchter-Schule der Schwestern Schmelling beinahe nicht besuchen dürfen, obwohl Großtante Ophelia die Kosten dafür tragen will. Ich darf nur hinfahren, weil du mich begleitest.« Rieke schenkte ihrem um acht Jahre älteren Bruder ein dankbares Lächeln und sagte sich, wie froh sie sein durfte, dass es ihn gab.

»Vater hat um Urlaub für mich eingegeben, damit ich dich zur Schule bringen kann.«

»Das hat Papa getan? Wie sonderbar! Die meiste Zeit kümmert er sich doch nicht um mich.« Über Riekes Miene huschte ein Schatten, dann aber lachte sie leise auf. »Gewiss wollte er Großtante Ophelia nicht verärgern, denn die wäre sonst gekränkt gewesen. Weißt du, was Vater am letzten Sonntag zu mir gesagt hat? Ich solle auf der Schule fleißig lernen, um einmal die treusorgende Ehefrau eines preußischen Offiziers werden zu können.«

Nun lachte auch Emil. »Da du als Mädchen kein Soldat werden kannst, ist es in seinen Augen das Beste für dich.«

Rieke senkte betrübt den Kopf. Ihr Vater hatte der Mutter nicht verziehen, dass sie statt eines zweiten Sohnes ein Mädchen geboren hatte, und ihr nicht, dass sie eines war. Die Frau eines Offiziers zu werden war jedoch das Letzte, was sie sich ersehnte. Sie hatte tagtäglich die Eltern vor Augen und wusste, dass die Mutter ohne die Erlaubnis des Vaters nicht einmal zu hüsteln wagte. Auch hatte sie trotz ihrer Jugend gelernt, was es hieß, vom Sold eines niederrangigen Offiziers eine Familie ernähren zu müssen. Den Vater kümmerten diese beengten Verhältnisse wenig, denn er aß meist im Offizierskasino und verbrauchte auch sonst viel Geld, so dass für die Mutter, die alte Mulle und sie oft nur Kartoffeln und Kohl zu Mittag geblieben waren.

Auch aus dem Grund war Rieke ihrer Großtante Ophelia von Gentzsch von Herzen dankbar, dass diese es ihr ermöglichte, in den nächsten vier Jahren die Schule für höhere Töchter der Schwestern Schmelling besuchen zu dürfen. Da sie nur die Ferien zu Hause verbringen würde, blieb mehr Geld für ihre Mutter und das alte Dienstmädchen. Sie selbst konnte in dem Internat ebenfalls mit besserer Kost rechnen. Vor allem aber kam sie dem Vater nicht mehr tagtäglich unter die Augen und war vor seiner zynischen Verachtung und seinen Schlägen sicher.

»Vater sagte letztens, er erwarte von Tante Ophelia, dass sie dir nach dem Abschluss deiner Schule eine Mitgift ausschreibt, die hoch genug ist, einen Offizier dazu zu bewegen, dich zu heiraten.«

Emil fand es zwar eigenartig, dieses Thema mit einem Mädchen zu besprechen, das gerade einmal vierzehn Jahre alt war. Andererseits war Rieke für ihr Alter sehr verständig und – der Meinung des Vaters nach – für ihr Geschlecht zu aufsässig. Nicht zuletzt deshalb hatte er oft genug mit ansehen müssen, wie der Ledergürtel des Vaters auf dem Hinterteil seiner Schwester getanzt hatte.

»Wenigstens hast du von nun an die meiste Zeit deine Ruhe vor ihm«, sagte er mitleidig. »Aber vielleicht wird sich Vaters Laune doch bald wieder heben. Noch immer kränkt es ihn, dass er es bisher nur zum Major gebracht hat, während sein Vater und sein Großvater im selben Alter bereits den Rang eines Obersts und sein Urgroßvater den eines Generals unter Friedrich dem Großen eingenommen hatten.«

»Du meinst, Vater wird einen höheren Rang bekommen?« Rieke hoffte, dass es so kam, denn die Enttäuschung, nicht so befördert worden zu sein, wie er es sich ersehnte, hatte ihren Vater noch bitterer werden lassen.

»Vater glaubt, dass es bald Krieg geben wird. Diesen will er nutzen, um zu avancieren.«

»Krieg? Weshalb denn?«, fragte Rieke verwundert.

»Noch ist es nicht beschlossen, doch in Offizierskreisen sehnt man ihn herbei. Der Dänenkönig will nämlich seinen schleswigschen, holsteinischen und lauenburgischen Untertanen eine Verfassung aufzwingen, die sie zu Dänen machen soll.«

»Aber wenn sie zu Dänemark gehören, sind sie es doch!«

»Falsch, Rieke! Die Bewohner Schleswigs und Holsteins sind zum überwiegenden Teil deutschen Blutes. Beide Länder sind mit der dänischen Krone nur durch Personalunion verbunden, und Lauenburg kam erst durch den Wiener Kongress zu Dänemark. Zudem gehören Lauenburg und Holstein zum Deutschen Bund.«

Emil erklärte seiner Schwester die Spannungen, die zwischen den Mitgliedern das Deutschen Bundes und Dänemark herrschten, und schloss mit den Worten, dass der dänische König seine deutschen Untertanen in Schleswig und Holstein sogar zwingen wolle, ihrer Sprache zu entsagen und Dänisch zu sprechen.

»Aber letztens habe ich in einer Zeitung, die Vater zu Hause liegen gelassen hat, gelesen, dass viele Politiker in Berlin verlangen, die in Westpreußen und Posen lebenden Polen müssten in Zukunft die deutsche Sprache benutzen. Selbst der König soll dies begrüßen. Warum also soll dem König von Dänemark verboten werden, was der König von Preußen als sein Recht ansieht?«, fragte Rieke, da sie die eigenartigen Wirren in der Politik nicht verstand.

Emil wusste nicht mehr über diese Angelegenheit als das, was beim Militär darüber gesprochen wurde, betonte aber, dass Schleswig und Holstein das geschriebene Recht besäßen, so zu leben, wie sie wollten, und der dänische König nicht daran rühren dürfe.

»Außerdem«, fuhr er mit erhobenem Zeigefinger fort, »hat ein früherer dänischer König den beiden Ländern das Privileg erteilt, auf ewig ungeteilt zu bleiben. Daran darf auch Friedrich VII. nicht rütteln.«

Rieke sah ihren Bruder nachdenklich an. »Und warum rüttelt dann König Wilhelm am Recht der Polen, so zu leben, wie sie wollen?«

»Anders als für die Schleswiger und Holsteiner gibt es kein geschriebenes Recht für die Polen. Ihr Reich ist untergegangen und gehört nun dem russischen Zaren, dem Kaiser von Österreich und dem König von Preußen.« Emil hoffte, seine Schwester würde sich mit dieser Erklärung zufriedengeben, doch die schüttelte rebellisch den Kopf.

»Ich begreife es trotzdem nicht! Weshalb sollen die Polen oder ein anderes Volk weniger Rechte haben als die Schleswiger und Holsteiner?«

»Ich gebe auf!«, stöhnte Emil. Ihm war nicht entgangen, dass mehrere Mitreisende zu ihnen herschauten. Ihren Mienen nach gefiel ihnen das, was Rieke gesagt hatte, ganz und gar nicht.

»Ich würde der Göre eine Ohrfeige versetzen, damit sie begreift, wer hier das Sagen hat«, meinte ein dicklicher Mann.

»Da hörst du es! Sei also in Zukunft bitte still und sage nie mehr etwas dergleichen«, mahnte Emil seine Schwester.

»Aber ich …«, begann sie, wurde von ihm aber sofort unterbrochen.

»Ich sage es ungern ein zweites Mal!«

»Man sollte den Frauenzimmern verbieten, Zeitungen und Journale zu lesen!«, rief der Dicke empört aus. »Schlimm genug, dass sie Romane lesen, anstatt ihre Zeit sinnvoll mit Nähen, Stricken und Sticken zu verbringen, wie es sich gehört. Aber wenn sie von Politik reden, von der sie nichts verstehen, gebührt ihnen die Rute!«

Rieke begriff, dass sie nicht nur sich, sondern auch ihren Bruder in eine unangenehme Lage gebracht hatte, und empfand nun keine Freude mehr an der Bahnfahrt. Du musst dich beherrschen, auch wenn du mit Emil sprichst, befahl sie sich selbst. Bei ihrem Vater hatte sie es sich doch auch angewöhnt, den Mund zu halten, um ihn nicht zu reizen und noch mehr Schläge zu bekommen.

Zu ihrer Erleichterung verließ der Dicke beim nächsten Halt den Zug. Dafür nahmen neue Passagiere Platz. Zwei junge Frauen sahen verstohlen zu dem schlanken, gutaussehenden Leutnant hin und gönnten dem schmalen Ding an seiner Seite keinen zweiten Blick. Emil beachtete sie jedoch nicht, sondern beugte sich zu Rieke hin und fasste nach ihren Händen.

»Du musst mir versprechen, in der Schule kein Wort über Politik und dergleichen fallenzulassen. Auch wirst du keine Kritik am König, seinen Ministern und deren Handlungen üben! Hast du verstanden?«

Emil klang so streng, dass Rieke ihn erschrocken ansah. Da lächelte er und strich ihr mit der Rechten über die Wange.

»Es geht mir doch nur um dich! Wenn du deine Lehrerinnen und die Inhaberinnen des Instituts mit solchen Äußerungen wie eben verärgerst, kannst du zur Strafe von der Schule verwiesen werden. Dies wäre nicht nur eine Kränkung für Tante Ophelia, der du den Besuch des Instituts verdankst, sondern würde auch Vaters Zorn erwecken. Gegen die Schläge, die er dir dann versetzen würde, sind die, die du bereits erhalten hast, ein Nichts! Das solltest du dir immer vor Augen halten.«

Bei dieser Warnung begann Rieke zu zittern. »Das darf niemals geschehen«, flüsterte sie mit bleichen Lippen.

»Dann bezähme dein vorlautes Mundwerk, Schwesterchen! Es bedarf nur eines unbedachten Wortes, und du musst das vornehme Institut verlassen«, wiederholte Emil.

Rieke nickte. Ein Mädchen, das auf diese Weise Schande über die Familie brachte, würde nicht einmal dazu taugen, die treusorgende Ehefrau eines Offiziers zu werden. Auch wenn es ihr im tiefsten Herzen widerstrebte, gezwungen zu sein, ein Leben wie ihre Mutter zu führen, würde ihr höchstwahrscheinlich nichts anderes übrigbleiben, als einmal dem Leutnant oder Hauptmann, den ihr Vater für sie bestimmen würde, vor den Traualtar zu folgen.

Das Leben ist ungerecht, fand Rieke. Wäre sie ein Junge, würde der Vater sie persönlich zur Kadettenanstalt in Potsdam bringen und stolz auf sie sein. Als Mädchen hätte sie ohne Tante Ophelias Großzügigkeit zu Hause leben und dort lernen müssen, was die treusorgende Ehefrau eines Offiziers können sollte. Sie hasste diesen Ausdruck, der auch ihrer Mutter immer wieder über die Lippen kam. Sklavin des Ehemanns wäre passender, dachte sie, denn etwas anderes war ihre Mutter nicht.

Da die Geschwister ihren Gedanken nachhingen, erstarb das Gespräch und wurde erst wiederaufgenommen, als der Zug sich der Zielstation näherte. Nun blickte Rieke wieder zum Fenster hinaus. Die Gleise führten an einem Fluss entlang, und sie entdeckte ein Stück weiter schäumende Stromschnellen.

»Schau, Emil!«, rief sie.

Ihr Bruder tat ihr den Gefallen und stand für eine Weile ebenso wie sie im Bann des tosenden Wassers, das sich seinen Weg zwischen grau aufragenden Felsen bahnte.

»Diese Stromschnellen sollte man nicht mit einem Kahn befahren«, meinte er. »Dort wird jedes Boot zerschmettert, und selbst der beste Schwimmer wird von diesen Strudeln in die Tiefe gezogen.«

Rieke schauderte es, und sie wechselte rasch das Thema. »Was meinst du? Ob noch andere Schülerinnen der Schwestern Schmelling in diesem Zug mitfahren?«

»Wenn sie es tun, müssen sie gewiss nicht in der zweiten Klasse reisen.« Emil dachte daran, dass ihr Vater sie in der dritten Klasse hatte fahren lassen wollen. Um Rieke zu ersparen, zwischen allem möglichen Volk eingekeilt zu werden, hatte er den Fehlbetrag zu den teureren Fahrkarten aus eigener Tasche bezahlt.

»Du meinst, die benutzen alle die erste Klasse?«, fragte Rieke erstaunt. In ihrer Stimme schwang kein Neid mit, denn ihr war klar, dass ihr Vater, der weder Vermögen besaß noch Aussicht auf ein Erbe hatte, für solche Extras kein Geld ausgab. Sie schob diesen Gedanken rasch beiseite und richtete ihr Augenmerk auf das Städtchen, in das der Zug nun einfuhr.

»Wir sind gleich da! Wir sollten unser Gepäck an uns nehmen«, sagte sie zu Emil.

Dieser lächelte angesichts der Ungeduld seiner Schwester. »Es wird noch ein paar Minuten dauern, bis der Zug hält. Bleib lieber sitzen, sonst reißt dich der Ruck, mit dem er bremst, von den Beinen. Wir haben genug Zeit zum Aussteigen.«

»Und was tun wir dann?«

»Wir besorgen uns eine Droschke und lassen uns zu dem Institut der Schwestern Schmelling bringen. Sobald du dort aufgenommen bist, fahre ich zum Schwan. Da heute kein Zug mehr in Richtung Heimat fährt, werde ich dort übernachten und morgen die Rückreise antreten. Vergiss aber nicht, was ich dir vorhin eingeschärft habe!«

Rieke schüttelte den Kopf. »Hab keine Sorge! Ich werde auf das achtgeben, was ich sage.«

»Das wird auch gut sein!« Emil lächelte und stand nun doch auf, um seine Reisetasche und die seiner Schwester an sich zu nehmen. Riekes Gepäckstück war klein und leicht. Eigentlich hätte sie mehr Sachen benötigt, dachte er, doch anders als bei seinem Eintritt in die Kadettenanstalt hatte der Vater sich als knausrig erwiesen.

2.

Da die aussteigenden Passagiere der ersten Klasse Vorrang hatten, dauerte es eine gewisse Zeit, bis auch Rieke und Emil den Bahnsteig verlassen konnten. Als sie den Vorplatz erreichten, standen dort nur noch zwei Droschken. Eine Frau mittleren Alters in der strengen Kleidung einer Gouvernante strebte mit einem Mädchen auf die ihnen am nächsten stehende zu. Daher wählte Emil die andere. Der Kutscher sah ihn und Rieke grinsend an.

»Sie bringen wohl das Fräulein Schwester zur Höhere-Töchter-Schule, was?«

»So ist es«, antwortete Emil aufgeräumt. »Wenn das geschehen ist, darfst du mich zum Schwan fahren.«

»Mach ich gerne! Hat ’n gutes Bier.« Dem Grinsen des Kutschers nach würde er das Bier nach der Fahrt wohl auch probieren.

Unterdessen verließen drei weitere Personen den Bahnhof. Die ältere Frau schien ihrer Kleidung nach ebenfalls eine Gouvernante zu sein. Bei ihr waren ein etwa sechzehn Jahre altes Mädchen und ein junger Mann im weißen Waffenrock eines österreichischen Offiziers. Dieser sah, dass die zweite Gouvernante gerade den Droschkenkutscher ansprach, und winkte diesem herrisch zu.

»Einen Wagen für Graf und Komtesse Hollenberg!«

Der Kutscher sah die Frau an, dann den jungen Offizier und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Es tut mir leid, aber Sie werden warten müssen, bis eine der anderen Droschken zurückkommt«, sagte er zu der Gouvernante, die schon im Einsteigen begriffen war, und lenkte sein Gefährt zu dem Österreicher.

Die Frau sah ihm verdattert nach, während Rieke den Kopf schüttelte. »Ein Kavalier ist der Herr nicht gerade.«

»Weil er ein Graf ist, glaubt er, etwas Besseres zu sein und überall Vorrang zu haben«, antwortete Emil und reichte dem Kutscher die Reisetaschen. Unterdessen stiegen der Offizier, die Komtesse Hollenberg und ihre Gouvernante in die andere Droschke ein und fuhren los.

Rieke sah ihnen kurz nach und wandte sich dann der zurückgelassenen Frau und dem Mädchen zu, die wie verloren auf dem nun leeren Bahnhofsplatz standen. Auf dem Gesicht der Frau las sie Hilflosigkeit, während deren Schützling die Lippen fest zusammenpresste, als müsse sie Worte zurückhalten, die sich nicht ziemten.

»Können wir die beiden nicht mitnehmen?«, fragte Rieke ihren Bruder.

Emil folgte ihrem Blick und nickte. »Warte noch!«, befahl er dem Droschkenkutscher und trat auf die Gouvernante zu. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Emil von Gantzow mein Name. Sind Sie und die junge Dame zur Höhere-Töchter-Schule der Schwestern Schmelling unterwegs?«

Während die Frau ihn aus großen Augen ansah, nickte das Mädchen. »Das sind wir!«

»Dann erlauben Sie mir, dass ich Ihnen einen Platz in meiner Droschke anbiete«, sagte Emil und wies einladend auf das Fahrzeug, in das Rieke eben stieg.

Die Gouvernante knickste erleichtert. »Nehmen Sie unseren besten Dank entgegen, mein Herr! Es wäre mir unlieb gewesen, hier warten zu müssen. Fräulein Gundas Eltern haben mir die Aufgabe übertragen, ihre Tochter ins Internat zu bringen, doch dieser Herr hat mir eben …«

»Das war kein Herr, sondern ein Rüpel«, rief Rieke dazwischen und fing sich dafür einen tadelnden Blick ihres Bruders ein.

»Rieke, ich muss doch bitten! Keine junge Dame wie du bezeichnet einen Offizier Seiner Majestät, Kaiser Franz Joseph, als Rüpel, selbst wenn es der Wahrheit entspricht.«

»Jawohl, Herr Leutnant von Gantzow!« Rieke tat so, als wollte sie salutieren, und setzte sich dann gegen die Fahrtrichtung.

Als die Gouvernante das sah, wehrte sie erschrocken ab. »Aber nicht doch, gnädiges Fräulein, Fräulein Gunda und ich können sehr wohl diese Sitze einnehmen.«

»Jetzt sitze ich hier!« Rieke lächelte und sah sich Gunda genauer an. Diese war etwas kleiner als sie, hatte ein fein gezeichnetes Gesicht, weißblonde Haare und große blaue Augen. Ihr Kleid war einem Mädchen ihres Alters angemessen, aber aus bestem Tuch und von einer exzellenten Näherin gefertigt.

Im Gegenzug musterte Gunda das Mädchen, das ebenso wie sie eine Schülerin im Institut der Schwestern Schmelling werden würde. Rieke war schlaksig, hatte ein längliches Gesicht mit einer schmalen, leicht gebogenen Nase und grauen Augen unter dunklen Wimpern, welche einen Kontrast zu der blonden Haarsträhne bildeten, die unter dem einfachen Strohhut hervorlugte. Obwohl sie schlicht gekleidet war, sah man ihr die Abkunft aus adeligen Kreisen an. Sie wirkte für ihr Alter erstaunlich ernst, und Gunda fragte sich, ob dieses Mädchen eine Freundin werden könnte. Mit einem Lächeln wandte sie sich an Rieke.

»Du kommst wohl heuer ebenfalls zum ersten Mal hierher?«

Rieke nickte. »So ist es.«

»Bist du auch neugierig darauf, wie es in der Schule sein wird?«, fragte Gunda weiter.

Schlechter als zu Hause bei einem stets missgelaunten Vater gewiss nicht, dachte Rieke und zuckte mit den Schultern. »Man muss es nehmen, wie es kommt. Macht man sich zu viele Gedanken, wird man nur enttäuscht.«

Es klang bitter und ein wenig abweisend, dachte Gunda. Dabei wünschte sie sich dringend eine Freundin in der Schule. Dies war doppelt wichtig, denn sie wusste, dass ihre um zwei Jahre ältere Cousine Bettina ebenfalls als Schülerin im Institut eingeschrieben war. Zwischen ihrer und deren Familie gab es immer wieder Ärger.

Da Gundas Gedanken sich mit ihren Verwandten beschäftigten und Rieke schwieg, versandete das Gespräch, noch bevor es richtig begonnen hatte. Nach einer Weile kamen ihnen die ersten leeren Droschken entgegen, als letzte die, die der österreichische Offizier Gunda und deren Begleiterin vor der Nase weggeschnappt hatte. Die beiden Droschkenkutscher hoben kurz die Peitsche zum Gruß, dann fuhr ihre Droschke auf den Vorplatz der Schule ein.

Die beiden Mädchen erblickten ein großes, mit seinen dunklen Klinkermauern streng wirkendes Gebäude mit winzigen Fenstern. Eine mehrstufige Freitreppe führte zum Eingang hinauf, dessen zweiflügelige Tür weit offen stand. Mehrere Dienstmädchen schafften dort das Gepäck der bereits angekommenen Schülerinnen hinein.

Die Droschke hielt an. »Glaubst du, du kommst allein zurecht?«, fragte Emil, der bereit war, den Kutscher wegzuschicken und zu Fuß zum Schwan zu gehen, falls Rieke ihn doch noch benötigen würde.

»Wenn Sie erlauben, werde ich mich um Ihre Schwester kümmern«, bot Gundas Gouvernante an.

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen!« Emil lächelte und blickte seine Schwester fragend an.

Diese überlegte kurz und sagte sich dann, dass sie den Rest des Schuljahrs ohne ihn auskommen musste.

»Du solltest nur kurz aussteigen und den Schwestern Schmelling sagen, dass du mich begleitet hast, dann kannst du fahren«, erklärte sie.

»Du wartest, bis ich wiederkomme!«, erklärte Emil dem Kutscher und stieg aus.

Ein Dienstmädchen kam heran, um Riekes Reisetasche und Gundas Koffer zu übernehmen. Sie knickste eifrig und riskierte einen Seitenblick auf den schmucken, jungen Offizier. Emil achtete jedoch nicht auf sie, sondern hob zuerst Rieke und dann Gunda aus der Kutsche. Wenig später stand auch die Gouvernante auf festem Boden, wirkte aber ein wenig besorgt.

»Bedauerlicherweise ist keine Droschke hiergeblieben, mit der ich zu dem Gasthaus fahren könnte, in dem meine Herrschaft ein Zimmer für mich bestellt hat. Könnten Sie so gut sein, mir eine zu schicken, wenn Sie den Schwan erreicht haben?«, bat sie Emil. Bevor dieser etwas sagen konnte, mischte sich das Dienstmädchen ein.

»Die Droschken kommen in einer Stunde zurück, um die Begleitung der jungen Damen abzuholen.«

Auf diese Auskunft hin drehte Emil sich zu dem Droschkenkutscher um. »Sag mir, was du für diese Fahrt bekommst. In einer Stunde bist du wieder hier, um mich und diese Dame abzuholen.«

»Das geht doch nicht, Herr Offizier. Ich kann doch nicht mit einem Herrn alleine in einer Droschke fahren«, wandte die Gouvernante ein.

Rieke fand diese Haltung äußerst pedantisch und fragte sich, ob Gunda genauso war. Unterdessen erklärte ihr Bruder lächelnd, dass es sich sehr wohl schicken würde, da sie ja beide einen Schützling hier abgeliefert hätten.

»Der Herr Leutnant hat recht!«, stimmte Gunda ihm zu. »Papa und Mama werden es gewiss gutheißen, wenn er Sie zu Ihrem Quartier begleitet.«

Ein Mädchen, das zur Gouvernante höflich Sie sagte, musste ebenfalls pedantisch sein, sagte Rieke sich und trat mit ihrem Bruder ins Haus. Gunda und deren Gouvernante folgten ihnen auf dem Fuß.

Im Vorraum stand etliches an Gepäck herum, und sie mussten sich den Weg zwischen Koffern und Reisetaschen hindurch bahnen. Es ging durch eine Tür in einen kleinen Saal, der die Schülerinnen und ihre Begleiter kaum zu fassen vermochte. Ein Teil der Mädchen war von Verwandten gebracht worden, andere wie Gunda von ihren Gouvernanten. Rieke zählte außer Gunda und ihr selbst noch etwa dreißig Schülerinnen. Einige, die von ihrem Alter her heuer zum ersten Mal an diesem Ort waren, standen scheu herum, während jene, die älteren Jahrgängen angehörten, einander fröhlich begrüßten und sofort von ihren Erlebnissen in den Ferien berichteten. Da es dabei nicht immer leise zuging, hüstelte die Frau, die hinter einem Katheder saß und die Schülerinnen in die Liste eintrug, immer wieder mahnend.

Eine Gruppe fiel Rieke besonders auf. Sie hatte sich um den österreichischen Offizier von Hollenberg versammelt und bewunderte ihn sichtlich. Die Mädchen mussten mindestens zwei Jahre älter sein als sie und Gunda, die genau in diesem Moment »Bettina!« flüsterte. Es klang nicht gerade freundlich, und so fragte Rieke sich, wer diese Bettina sein mochte.

Die Frau am Katheder wurde eben mit der zuletzt angekommenen Schülerin fertig und sah den Neuankömmlingen auffordernd entgegen. »Das sind wohl beides neue Schülerinnen?«

Emil wechselte einen kurzen Blick mit Gundas Gouvernante und trat, als diese einen Schritt zurückwich, auf das Katheder zu.

»Guten Tag!«, grüßte er. »Mein Name ist Emil von Gantzow, und ich begleite meine Schwester hierher.«

»Dann bist du Friederike von Gantzow!«, sagte die Frau zu Rieke, die ihrem Bruder gefolgt war.

»Die bin ich«, antwortete Rieke mit einem Knicks.

»Ich bin Fräulein Paschke und für die Schülerinnen des ersten Jahrgangs verantwortlich. Ich werde euch eure Betten zuweisen und euch mit den Regeln unserer Schule vertraut machen.«

Während sie redete, trug Helene Paschke Riekes Namen in die Liste ein und wandte sich dann Gunda und deren Gouvernante zu, die höflich gewartet hatten, bis sie an der Reihe waren.

»Da die übrigen neuen Schülerinnen bereits anwesend sind, musst du Gunda von Hartung aus Berlin sein«, erklärte sie.

Während Gunda bejahte, hörte Rieke, wie eines der Mädchen bei dem österreichischen Offizier abschätzig »Die Tochter eines Webers!« flüsterte.

Ob auch Gunda es gehört hatte, wusste sie nicht. Sie empfand diesen Ausspruch als gemein. Ein einfacher Weber würde niemals das Schulgeld für dieses Institut aufbringen, zumal die Schwestern Schmelling nur Mädchen aus Adelskreisen als Zöglinge aufnahmen. Rieke hielt die Sprecherin daher für Bettina, wurde aber kurz darauf eines Besseren belehrt, da ein anderes Mädchen sie mit Rodegard anredete. Wie es aussah, würde Gunda von Hartung hier keinen guten Stand haben. Rieke ärgerte sich darüber, denn das Mädchen war ihr sympathisch. Aber auch dann, wenn sie dies nicht gewesen wäre, hielt sie es für widerwärtig, eine neue Schülerin so zu empfangen.

3.

Kurz bevor die Stunde zu Ende war, welche die Schwestern Schmelling ihren Schülerinnen für den Abschied zubilligten, erschienen die Damen selbst. Beide waren überdurchschnittlich groß. Während Klothilde schlank war bis zur Magerkeit, wirkte ihre Schwester Jolanthe recht wuchtig. Die Kleidung der beiden war aus gutem, braunem Kattun gefertigt, aber völlig ohne Verzierungen. Auf der Nase der Dünnen saß eine Nickelbrille, und Jolanthe hielt einen Gehstock in der Hand. Die Blicke der beiden Frauen schweiften abschätzend über die Schülerinnen, die mucksmäuschenstill geworden waren.

»Sind alle erschienen, Fräulein Paschke?«, fragte Jolanthe.

Die Frau hinter dem Katheder nickte. »Das sind sie, Frau Schmelling.«

»Sehr gut!«, befand Klothilde und rückte ihre Brille zurecht. »Zweiunddreißig, so wie es bei uns üblich ist, acht in jeder Jahrgangsstufe.«

Es war eine geringe Zahl für ein solches Institut, doch genau dies zeichnete die Schule der Schwestern Schmelling aus. Die Familien der Mädchen nahmen das höhere Schuldgeld in Kauf, weil sie wussten, dass ihren Töchtern hier die bestmögliche Ausbildung zuteilwurde.

Jolanthe Schmelling hielt nun eine Begrüßungsansprache, in der sie erklärte, dass die Zöglinge in ihrem Institut zu verantwortungsvollen Gefährtinnen ihrer Ehemänner und zu sorgsamen Müttern erzogen würden. Rieke fühlte sich an die Ermahnungen ihrer Mutter erinnert und fragte sich, ob sie vom Regen in die Traufe geraten war.

Mehrere ältere Schülerinnen ließen die Rede mit gelangweiltem Spott über sich ergehen, während die neuen Schülerinnen ihr aufmerksam folgten.

Schließlich kam Jolanthe Schmelling zum Ende ihres Vortrags und gesellte sich mit ihrer Schwester zu den Schülerinnen, die von Familienangehörigen begleitet wurden. Um die anderen wie Gunda von Hartung kümmerte sich Helene Paschke. Wie es aussah, schätzten die Besitzerinnen des Institutes es nicht, wenn die Verwandten der Mädchen ihnen nicht die Achtung entgegenbrachten, selbst zu kommen, sondern Gouvernanten oder anderes Dienstpersonal mitschickten.

Rieke war daher froh, dass Emil nicht, wie er eigentlich beabsichtigt hatte, gleich mit der Droschke zum Schwan gefahren war. Eben sprach Klothilde Schmelling ihn an und lächelte ihr anschließend zu.

»Willkommen in unserem Institut, Friederike!«

Rieke knickste höflich. »Ich danke Ihnen, gnädige Frau!«

Die Anrede war eigentlich zu hoch gegriffen, doch auf Klothildes Miene trat ein erfreuter Zug.

»Brauchst du mich noch, Rieke?«, fragte Emil.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein! Ich bin hier gewiss in sicherer Hut.«

»Das bist du«, sagte Klothilde Schmelling und nickte nachdrücklich.

»Dann erlauben Sie mir, dass ich mich verabschiede!« Emil verbeugte sich vor der Frau und strich seiner Schwester über die Wange. »Mach’s gut und gib auf dich acht!«

»Auf Wiedersehen«, flüsterte Rieke und fühlte sich mit einem Mal so beklommen, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Da Jolanthe Schmelling noch immer mit dem österreichischen Leutnant sprach, deutete Emil nur einen Gruß in ihre Richtung an und ging nach draußen, wo seine Droschke bereits auf ihn wartete. Er trat zu der Kutsche, half Gundas Gouvernante hinein und stieg dann selbst in den Wagenkasten.

»Du kannst losfahren!«, sagte er zu dem Droschkenkutscher, während Leutnant Hollenberg, der kurz hinter ihm ins Freie gekommen war, eine Handbewegung machte, als wolle er sie zurückhalten. Doch da schwang der Droschkenkutscher seine Peitsche über die Ohren seiner Pferde und trieb sie damit an.

Rieke winkte ihrem Bruder und Gunda ihrer Gouvernante nach, danach kehrten sie in die Halle zurück, in der Helene Paschke die neu aufgenommenen Schülerinnen um sich versammelte.

»Wie ihr alle gehört habt, bin ich für euch verantwortlich und werde euch als Erstes mit den hier geltenden Regeln vertraut machen.«

Es folgten etliche Punkte, damit beginnend, dass sie höflich zu den Lehrerinnen zu sein und diesen keine Widerrede zu geben hätten, und endend mit dem Gebot, sich gottgefällig und sittsam zu benehmen.

Danach hob Helene Paschke den rechten Zeigefinger und forderte ihre Schützlinge auf, ihr zu folgen. »Ich führe euch jetzt in den Raum, in dem ihr schlafen werdet.«

Der Schlafsaal entpuppte sich als gerade mal groß genug für acht schmale Betten und ebenso viele noch schmälere Schränke.

»Das Institut hat euren Familien mitgeteilt, was sich in eurem Gepäck befinden muss und was ihr zusätzlich bei euch haben dürft. All dies müsst ihr in das untere Fach des euch zugeteilten Schranks legen. In den beiden anderen Fächern stehen für euch in zweifacher Ausfertigung die hier gebräuchliche Schulkleidung, Nachthemden, Strümpfe und ein Hut zur Verfügung.«

Helene Paschke öffnete einen Schrank und wies auf die entsprechenden Kleidungsstücke. Danach musterte sie die Koffer und Reisetaschen der Schülerinnen. Schon auf Anhieb war zu sehen, dass mindestens die Hälfte von ihnen mehr mitgebracht hatte, als in das Schrankfach passte.

»Da ihr später einmal die Arbeit von Zimmermädchen und anderem Dienstpersonal überwachen müsst, werdet ihr lernen, was diese zu tun haben. Öffnet nun eure Taschen und Koffer und breitet das, was ihr mitgebracht habt, auf euren Betten aus. Diese wurden alphabetisch zugeordnet. Erika von Ahlsfeld!«

Das genannte Mädchen trat auf das erste Bett zu und stellte seine Reisetasche darauf. Diese war ziemlich groß, und so wunderte sich niemand, dass nicht alles in den Schrank passte.

Helene Paschke befahl dem Mädchen, das meiste wieder einzupacken. »Deine Reisetasche wird später von dem Dienstmädchen auf den Speicher gebracht und dir bei deiner Abreise in die Ferien wieder übergeben«, erklärte sie der Schülerin. Anschließend rief sie das nächste Mädchen auf.

Kurz darauf kam Rieke an die Reihe. Ihr Gepäck war klein und füllte das untere Fach nicht einmal aus. Da die Lehrerin bisher bei jeder Schülerin etwas bemängelt hatte, wartete Rieke auf das, was sie zu hören bekommen würde.

Doch da wandte sich Helene Paschke bereits Gunda zu und erklärte: »Du bekommst das nächste Bett!«

Gunda nickte und öffnete ihren Koffer. Ihre Sachen waren von ausgezeichneter Qualität und verrieten Rieke, dass Geld in ihrer Familie wohl das geringste Problem darstellte.

Nach Gunda erhielten die übrigen Schülerinnen ihre Betten und Schränke zugeteilt. Helene Paschke erklärte ihnen, dass in einer halben Stunde zum Abendessen gerufen werde und sie sich bis dahin umgezogen haben müssten.

Einige wirkten wie verschreckte Schafe, während sie Hemden, Kleider und Strümpfe aus den Schränken zogen. Ihre Schuhe durften sie behalten, doch auch für deren Beschaffung hatten die Schwestern Schmelling strenge Anweisungen gegeben.

»Wenn ihr so weit seid, wascht ihr euch Gesicht und Hände. Das Badezimmer ist am Ende des Flurs«, wies Helene Paschke die Mädchen noch an, dann verließ sie den Raum.

Rieke sah ihr kopfschüttelnd nach. »Das ist ja noch schlimmer als in einer Kaserne.«

»Es ist ein sehr vornehmes Institut, und sie nehmen weniger als ein Viertel derer, die sich um einen Platz bewerben«, erklärte ihr Erika von Ahlsfeld.

»Woher weißt du das?«, fragte eine Schülerin.

»Meine älteste Schwester hat dieses Institut ebenfalls besucht. Da sie bedauerlicherweise vier Jahre älter ist als ich, ist sie in diesem Sommer abgegangen. Sonst hätte sie mir helfen können, mich zurechtzufinden.«

»Auf jeden Fall heißt es hier: Auf Order parieren!«, meinte Rieke nicht ohne Spott. Gewohnt, den Launen ihres Vaters zu folgen, um keine Schläge zu erhalten, rechnete sie damit, auch hier zurechtzukommen. Einigen war jedoch deutlich anzusehen, dass sie es sich anders vorgestellt hatten, und zu diesen gehörte auch Gunda.

Als Rieke den Speisesaal betrat, war dieser gerade groß genug für vier Tische, an denen alle zweiunddreißig Schülerinnen Platz hatten, sowie für einen weiteren Tisch für die vier Lehrerinnen, die bei den Mahlzeiten die Aufsicht führten. Da die Kleider der Mädchen sich nur durch ihre Größe, nicht aber in Farbe und Schnitt unterschieden, fühlte Rieke sich erneut an eine Kaserne erinnert. Auch Soldaten trugen Uniform, und etwas anderes waren die Einheitskleider, auf denen die Schwestern Schmelling bestanden, ihrer Ansicht nach nicht.

Helene Paschke führte die Neuen an ihren Tisch und zählte ihnen auf, wie sie sich bei den Mahlzeiten verhalten sollten. Vor allem hatten sie den Lehrerinnen und den älteren Schülerinnen zu gehorchen und ihnen keine Widerrede zu geben. Rieke entging nicht, dass mehrere Schülerinnen des dritten Jahrgangs bei diesen Worten erwartungsvoll grinsten. Rodegard zählte dazu, die Österreicherin Hollenberg sowie ein weiteres Mädchen, das sie instinktiv für Bettina hielt. Außerdem vernahm Rieke leise Bemerkungen, die Gunda galten.

»Eine Schande, dass so eine hier sein darf!«, »Webertochter!«, »Geschmeiß!« waren noch die harmloseren Ausdrücke.

Obwohl Fräulein Paschke sie gehört haben musste, schritt diese nicht ein, sondern dozierte weiter, dass die Schülerinnen Disziplin und Entsagung lernen müssten, um einmal ihrem Geschlecht und ihrem Rang Ehre zu erweisen. Disziplin hieß für die Neuen, bei Tisch zu schweigen.

Als Gunda von den Sticheleien am Nebentisch gereizt etwas sagen wollte, fuhr ihr Helene Paschke sogleich über den Mund. »Sei still!«

Verwundert über diese harsche Reaktion sah Rieke die Lehrerin an. Diese warf einen kurzen Blick zu der Gruppe um Rodegard und der Komtesse Hollenberg und lächelte, als die Mädchen zufrieden nickten. Wie es aussah, hatte Fräulein Paschke sich von diesen beeinflussen lassen und würde Gunda auch weiterhin schlecht behandeln. Rieke ahnte längst, worum es den anderen ging. Jedes Mädchen erhielt einen Spitznamen, und so wollten Rodegard, Bettina und Franziska von Hollenberg für Gunda die abschätzige Bezeichnung »Webertochter« durchsetzen.

Da den Mädchen der jüngsten Klasse bei Tisch verboten war, ohne Aufforderung zu sprechen, war Gunda diesen infamen Angriffen hilflos ausgeliefert. Rieke sah, wie dieser die Tränen kamen, und ärgerte sich über die Lehrerin, die genüsslich ihre Suppe schlürfte und den älteren Schülerinnen freie Hand ließ, ihre Schnäbel an Gunda zu wetzen.

4.

Die erste Nacht verging für die meisten Mädchen viel zu schnell. Da Rieke gewöhnt war, nicht zu trödeln, wurde sie als Erste fertig und konnte bald mit dem Frühstück beginnen. Zu ihrem Ärger bemerkte sie, dass nun auch einige Schülerinnen des nächstälteren Jahrgangs damit begannen, Gunda »Webertochter« zu nennen. Die Saat, die Bettina und Rodegard gestreut hatten, ging auf.

Bettina von Dobritz bemerkte Riekes ärgerlichen Blick und musterte sie von oben herab. »Und? Wie sollen wir dich nennen?«

»Erika von Ahlsfeld haben wir Heidekraut getauft«, mischte sich Rodegard von Predow ein.

»Und wie heißt du?«, fragte Rieke.

»Das ist eine Frechheit! Weißt du nicht, dass eine Neue einer älteren Schülerin keine Frage stellen darf, es sei denn, sie sagt ›bitte‹?«, erklärte Franziska in ihrem weich gefärbten wienerischen Dialekt, der ihrer Bemerkung trotzdem nicht die Schärfe nahm.

»Also sag bitte!«, drängte Bettina.

»Warum sollte ich?«, antwortete Rieke. »So wichtig sind mir eure Schulnamen nicht, als dass ich darum bitten würde, sie zu erfahren.«

»Du bist frech! Weißt du, was wir hier mit frechen kleinen Mädchen machen«, zischte Rodegard und versetzte Rieke eine Ohrfeige.

Obwohl das Mädchen einen halben Kopf größer war, schlug Rieke zurück. Im ersten Augenblick starrte Rodegard sie verdattert an, dann färbte ihr Gesicht sich puterrot.

»Das hast du nicht umsonst getan!«, schrie sie und holte weit aus.

Rieke duckte sich unter der Ohrfeige weg, so dass Rodegards Schlag ins Leere traf. Bevor sie selbst zuschlagen konnte, griff Fräulein Paschke ein.

»Was soll das?«

»Die Neue hat Rodegard eine freche Antwort gegeben und sie geschlagen!«, erklärte Bettina von Dobritz rasch.

»Sie hat mich zuerst geschlagen!«, stieß Rieke aufgebracht aus.

»So ist es! Ich habe es gesehen!« Gunda trat neben sie und funkelte die größeren Mädchen wütend an.

Bettina von Dobritz musterte sie mit einem höhnischen Blick. »Das Wort einer Webertochter gilt hier gar nichts!«

»Und was bist du Besseres?«, fragte Gunda wütend. »Dein Vater lässt ebenfalls Tuche fertigen wie der meine, und deine Mutter ist die Schwester meines Vaters. Wieso erhebst du dich also über mich, zumal wir Hartungs vor euch Dobritzens nobilitiert worden sind?«

Bettina zuckte wie unter einem Schlag zusammen. »Du bist eine Lügnerin!«, schrie sie und schlug mit aller Kraft zu.

Da Gunda nicht darauf vorbereitet war, traf sie diese voll im Gesicht. Blut trat aus der Nase und vermischte sich mit den Tränen, die Gunda über die Wangen liefen.

»Du hinterhältiges Biest!«, schrie Rieke und wollte sich auf Bettina stürzen.

Doch da hielt Helene Paschke sie fest.

»Seid still jetzt! Und zwar alle! Ich dulde weder Streit noch Prügeleien. Ihr beide«, ihr Zeigefinger deutete auf Rieke und Gunda, »werdet jetzt Fräulein Rodegard und Fräulein Bettina um Verzeihung bitten und dann zusehen, dass die Blutung gestillt wird. In einer halben Stunde habt ihr im Klassenraum zu sein, und zwar ohne Blutflecken auf dem Kleid!«

Rieke empörte es, dass Gunda und sie sich entschuldigen sollten, obwohl die anderen angefangen hatten. Der eisige Blick der Lehrerin zeigte jedoch unmissverständlich, dass es noch schlimmere Konsequenzen nach sich ziehen würde, wenn sie sich weigerten. Da Emil sie davor gewarnt hatte, von der Schule verwiesen zu werden, deutete sie einen Knicks an.

»Ich bitte Rodegard um Verzeihung, dass ich sie geschlagen habe«, sagte sie, wobei sie insgeheim bedauerte, sie nicht härter getroffen zu haben.

Gunda fiel es noch schwerer, sich zu entschuldigen, da sie im Gegensatz zu Rieke nicht die Befriedigung besaß, ihrer Gegnerin zumindest eine Ohrfeige versetzt zu haben. Doch auch sie murmelte etwas, das als Bitte um Verzeihung aufgefasst werden konnte, und ging dann, von Rieke gefolgt, zu den Baderäumen, um ihr blutiges Gesicht abzuwaschen und ihre Nase mit kaltem Wasser zu kühlen.

Als die beiden gegangen waren, wollten Rodegard, Bettina und Franziska sich an den Frühstückstisch setzen.

Ein scharfes Wort der Lehrerin hielt sie jedoch zurück. »Hiergeblieben! Auch wenn die jüngeren Schülerinnen euch zu gehorchen haben, habt ihr nicht das Recht, sie zu züchtigen. Muss ein Mädchen körperlich bestraft werden, so geschieht das durch eine der Patroninnen. Habt ihr das verstanden?«

Die drei nickten, doch Bettinas und Rodegards Mienen machten wenig Hehl daraus, dass diese Sache noch nicht ausgestanden war.

5.

Rieke und Gunda kamen früh genug in den Klassenraum, um Fräulein Paschkes Zorn zu entgehen. Auch wenn Gundas Nase leicht angeschwollen war, blutete sie nicht mehr. Ihre Lippen zuckten jedoch, und Rieke war klar, dass sie Bettina allen Warnungen der Lehrerin zum Trotz am liebsten mit den Fingernägeln durchs Gesicht gefahren wäre.

Waren die beiden tatsächlich Cousinen?, fragte sie sich. Dann musste es eine arg ungute Verwandtschaft sein.

»Die Neuen links aufstellen!«, befahl Fräulein Paschke.

Zusammen mit Erika und den fünf anderen gehorchten Rieke und Gunda. Rieke musterte den Klassenraum. Vorne stand das Katheder der Lehrerin, an der Wand dahinter hing ein Bild von König Wilhelm, während sich auf der anderen Seite drei Reihen mit je vier Bänken befanden, also mehr, als für eine Klasse notwendig waren. Sie waren für jenen Unterricht gedacht, die die Schülerinnen der ersten drei Jahrgangsstufen gemeinsam bekamen. Für getrennte Unterrichtsstunden, so erklärte Fräulein Paschke, standen andere Räumlichkeiten für die fortgeschrittenen Klassen zur Verfügung. Die Schülerinnen der Abschlussklasse wurden stets in einem eigenen Zimmer unterrichtet, da bei ihnen auch Themen angesprochen wurden, für die man die anderen Mädchen noch für zu jung hielt.

Unterdessen nahmen die Schülerinnen der beiden älteren Jahrgänge Platz. Auch wenn Rieke bislang nur einen Teil der Mädchen kannte, merkte sie rasch, dass die Sitzordnung einer gewissen Hierarchie entsprach. In der vordersten Bank zur Rechten der Lehrerin saßen Franziska von Hollenberg und eine weitere Schülerin aus einem gräflichen Geschlecht. Die Bank dahinter war für Rodegard aus dem freiherrlichen Haus derer von Predow reserviert, zu der sich nun Bettina von Dobritz gesellte. Ihre restlichen Klassenkameradinnen tuschelten und bedachten sie mit scheelen Blicken. In ihren zwei Jahren im Institut hatte Bettina so getan, als entstamme auch sie altem märkischem Adel. Nun aber war Gundas Ausspruch in der Welt, dass Bettinas Vater erst nach deren Vater in den Adelsstand erhoben worden sei und sie selbst damit eigentlich Vorrang vor ihr hätte. Zu protestieren wagte jedoch keine.

Nachdem die Älteren ihre Plätze eingenommen hatten, wies Fräulein Paschke auch den neuen Schülerinnen ihre Bänke zu. Sie tat dies von vorne nach hinten. Für die letzte Bank bestimmte sie Rieke und Gunda. Während Gunda sich ärgerte, weil ihre Cousine bei der Lehrerin um so viel angesehener war als sie, dachte Rieke, dass es der passende Platz für sie war. Als Major der preußischen Armee hätte ihr Vater niemals die Gebühr aufbringen können, die von den Schwestern Schmelling für die Aufnahme in ihrem Institut gefordert wurde. Sie war nur deswegen hier, weil Großtante Ophelia von Gentzsch das Schuldgeld für sie aufbrachte. Nach dem, was sie bislang hier erlebt hatte, wusste Rieke allerdings nicht mehr, ob sie ihr dafür dankbar sein sollte. Das Leben mit einem ständig missgestimmten Vater war nicht leicht, doch der Zusammenstoß mit den älteren Mädchen hatte ihr gezeigt, dass auch die nächsten Jahre kein Zuckerschlecken für sie werden würden.

»Wir Gantzows sind noch nie vor einem Feind zurückgewichen«, murmelte sie und fing sich damit eine Rüge Fräulein Paschkes ein.

»Friederike, unsere Schülerinnen sprechen während der Schulstunden nur, wenn sie gefragt werden! Stehe auf und sage, dass du das verstanden hast!«

»Ich habe es verstanden, Fräulein Paschke!« Rieke beschloss, wenn es notwendig war, sich wie ein Zweig zu biegen. Sie musste die Schule durchstehen, wenn sie nicht den Zorn des Vaters über sich bringen und Frau von Gentzschs Enttäuschung zu spüren bekommen wollte.

Die Lehrerin rief nun die neuen Schülerinnen einzeln auf, um sie vorzustellen. Da dies bankweise geschah, kamen Rieke und Gunda als Letzte an die Reihe und hörten zunächst zu, was die sechs anderen zu berichten hatten. Drei von ihnen, darunter Erika von Ahlsfeld, entstammten alten Adelsgeschlechtern, die drei anderen kamen aus Familien, die erst in diesem Jahrhundert nobilitiert worden waren. Der Stolz, den sie bisher darüber gefühlt haben mochten, verging ihnen angesichts der überheblichen Blicke jener Mädchen, die ihre Ahnen wie Franziska von Hollenberg teilweise bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückverfolgen konnten.

Schließlich richtete Helene Paschke ihren Blick auf die letzte Bank. Die beiden Mädchen sahen sich kurz an, dann stand Gunda auf und erklärte, die Tochter des Tuchfabrikanten Friedrich von Hartung zu sein, dessen Vater 1851 im Namen Seiner Majestät, König Friedrich Wilhelm IV., in den Adelsstand erhoben worden war.

Etliche Schülerinnen sahen erneut zu Bettina hin, die den Worten der Neuen nach ebenfalls die Tochter eines vor kurzem erst in den Adelsstand erhobenen Tuchfabrikanten sein sollte. Fräulein Paschke ärgerte sich über Bettinas Vorspiegelung alten Adels und nahm sich vor, diese in Zukunft nicht mehr mit der Nachsicht zu behandeln, die sie bislang geübt hatte.

Bettina saß mit hochrotem Kopf da und wünschte ihre Cousine Gunda zum Mond. Seit sie wusste, dass diese ebenfalls in ihr Internat kommen würde, hatte sie sich ausgemalt, wie sie die Jüngere piesacken konnte. Nun aber hatte eine einzige Bemerkung Gundas genügt, um ihren Stand in der Schule zu erschüttern. Dafür würde ihre Cousine bezahlen, sagte sie sich, und spann erste Rachepläne.

»Und nun du, Friederike«, forderte die Lehrerin.

Rieke stand auf und wusste zunächst nicht, wie sie beginnen sollte.

»Soweit ich erfahren habe, beginnt der Stammbaum deiner Familie mit Joachim von Gantzow, der von Kurfürst Albrecht Achilles die gleichnamige Herrschaft als Lehen erhielt«, erklärte Fräulein Paschke, um zu zeigen, dass sie sich sehr wohl für die Herkunft ihrer Schülerinnen interessierte, auch wenn ihr Bettina von Dobritz’ neueres Adelspatent entgangen war.

Rieke hätte beinahe aufgelacht, denn ihre Ahnen hatten das namensgebende Besitztum bereits nach wenigen Generationen wieder verloren. Seitdem suchten die Männer ihr Auskommen als Offiziere in den Heeren der Kurfürsten von Brandenburg und späteren Königen in und von Preußen, während die Mädchen in Offizierskreisen verheiratet wurden. Trotzdem wollte sie diese Aussage nicht so stehen lassen, wie Fräulein Paschke sie in den Raum gestellt hat.

»Für den Namen derer von Gantzow ist dies richtig«, antwortete sie mit beherrschter Stimme. »Joachims Vater Albrecht von Rogendorf war jedoch einer der fränkischen Ritter, die im Auftrag der ersten Hohenzollern in die Mark Brandenburg kamen, um ihre Herrschaft im ihnen von Kaiser Sigismund verliehenen Kurfürstentum zu sichern.«

»Deine Familie ist noch älter, als es uns bekannt war?«, fragte die Lehrerin verwundert.

Rieke nickte. »Albrechts Ahne Rudolf von Rogendorf begleitete Kaiser Friedrich Barbarossa auf dessen Kreuzzug, und der erste nachgewiesene Ahnherr unserer Familie, Lorenz von Rogendorf, war als Paladin bei der Krönung des Kaisers Otto III. zugegen.«

Rieke entnahm den Mienen von Bettina, Rodegard und Franziska von Hollenberg, dass sie ihnen damit endgültig den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. Weder die Grafentochter Franziska noch das Freifräulein Rodegard von Predow konnten mit Ahnen aufwarten, die bereits im zehnten Jahrhundert zum Adel des Reiches gezählt hatten.

Unwillkürlich blickte sie zu ihrer Banknachbarin hin und sah diese zufrieden grinsen.

»Denen hast du es gezeigt«, wisperte Gunda.

»Nun, das ist erstaunlich«, fand die Lehrerin, zuckte dann aber zusammen, als Franziska von Hollenberg leise zischte. Bislang hatte diese die längste Ahnenreihe unter allen Schülerinnen besessen und wollte sich nicht einfach zurückstufen lassen.

»Das muss natürlich überprüft werden«, sagte sie daher.

»Es ist Ihnen unbenommen, die Genealogie derer von Gantzow und Rogendorf nachzuforschen. Lorenz von Rogendorfs Teilnahme am Italienzug Ottos III. ist sowohl in den Annalen des Klosters St. Gallen wie auch in denen des Klosters Reichenau verzeichnet. Auch sonst ist der Stammbaum meiner Familie lückenlos aufgelistet«, erklärte Rieke.

Ihre Lehrerin verzog bei dem belehrenden Ton das Gesicht und forderte sie auf, sich wieder zu setzen.

»So eine Angeberin!«, fauchte Rodegard von Predow ungeachtet Fräulein Paschkes Anweisung, dass die Schülerinnen nur reden sollten, wenn sie gefragt wurden.

6.

Kaum war der Unterricht zu Ende, zupfte Gunda Rieke am Ärmel. »Du bist diesen arroganten Biestern ordentlich in die Parade gefahren. Aber jetzt müssen wir beide achtgeben, denn sie werden es dir heimzahlen wollen – und mir auch!«

»Nur weil der Adel meiner Familie älter ist als der ihre? Dabei ist der Stammbaum das Einzige, was uns von der damaligen Größe geblieben ist!« Rieke lachte leise und wies auf Bettina, die eben das Klassenzimmer verließ. »Ist sie wirklich deine Base?«

»Bedauerlicherweise, ja. Wir haben keinen Kontakt zu ihrer Familie, obwohl ihre Mutter meine Tante ist. Aber ich habe noch eine weitere Tante, nämlich Tante Gertrud. Die ist ganz anders als Tante Luise.« Gunda machte eine wegwerfende Handbewegung und sah zur offenen Gartentür hinaus. »Bis zum Mittagessen haben wir noch ein bisschen Zeit. Wir sollten sie nützen und uns draußen ein wenig umsehen.«

Riekes Familie hatte in kleineren Wohnungen in Garnisonsstädten gelebt und nie einen Garten besessen. Daher war auch sie gespannt auf das, was sie draußen vorfinden würden. Als sie ins Freie traten, sahen sie, dass ein Teil des Gartens zum Gemüseanbau genutzt wurde. Rieke konnte sich an den Salat- und Kohlrabibeeten kaum sattsehen, denn bei ihr zu Hause hatte es solche Genüsse nur selten gegeben.

»Glaubst du, es fällt auf, wenn wir uns einen Kohlrabi holen und ihn verzehren?«, fragte sie Gunda.

Diese wunderte sich. »Vielleicht haben sie sie abgezählt«, antwortete sie und ging tiefer in den Garten hinein.

Eine große Trauerweide zog sie magisch an. Nun entdeckten sie auch den Fluss, an dessen Ufer sie stand. Hier, gut hundert Schritte vom Internat entfernt, waren sie endlich allein.

»Da ist ein Kahn!«, rief Gunda und kletterte hinein, bevor ihre Begleiterin etwas sagen konnte.

Rieke drehte sich um und stellte fest, dass das mit einer Leine an einem Pfosten festgebundene Boot durch die bis ins Wasser hängenden Zweige der Weide gegen die Sicht vom Haus her geschützt war. Daher folgte sie Gunda.

Wenig später saßen sie in dem leicht schaukelnden Kahn und sahen einander an.

»Ich danke dir, dass du mir gegen Bettina geholfen hast«, sagte Gunda.

»Ich mag so aufgeblasene Leute nicht. Sie macht sich lächerlich, wenn sie versucht, Franziska und Rodegard von Predow nachzuahmen.«

»Wir müssen irgendwie auch mit den Predows verwandt sein, aber wie, das weiß ich nicht.« Gunda seufzte, da sie fand, dass Verwandte einander helfen und sich nicht gegenseitig das Leben schwermachen sollten.

»Wie lange können wir hierbleiben? Wenn wir das Mittagessen versäumen, wird Fräulein Paschke uns tadeln.« Rieke sah auf das ruhig fließende Wasser und dachte daran, dass es wenig mehr als eine Viertelmeile entfernt mit schäumender Wucht durch die Stromschnellen raste. War das jetzt flussaufwärts oder flussabwärts?, fragte sie sich, wusste aber keine Antwort darauf.

»Wir sollten zurückgehen!« Noch während Rieke es sagte, sah sie, wie ein Arm zwischen den dicht belaubten Zweigen des Weidenbaums hindurchgriff und den Knoten löste, mit dem der Kahn am Ufer festgebunden worden war. Einen Augenblick später gab die Hand dem Boot einen Stoß, der es in den Fluss hineintrieb.

»He, was soll das?«, rief Rieke empört und sprang auf. Da schwankte der Kahn, und sie stürzte auf Gunda.

»Was ist los?«, fragte diese, sah dann, wie das Boot vom Fluss erfasst und mitgezogen wurde, und stieß einen erschreckten Ruf aus.

»Bei Gott, der Kahn hat sich gelöst! Was machen wir jetzt?«

»Er hat sich nicht von selbst gelöst! Jemand hat ihn losgebunden. Wir müssen zusehen, dass wir ihn wieder ans Ufer steuern«, rief Rieke und suchte nach den Rudern. Doch die fehlten.

Von den beiden ungesehen, schob Bettina die Zweige der Trauerweide auseinander und sah dem treibenden Kahn hinterher. Sie hatte nicht erwartet, so schnell ihre Revanche zu bekommen. Jetzt saß die verhasste Cousine mit dem anderen Mädchen in dem Boot und würde das Mittagessen und wahrscheinlich auch die nächste Unterrichtsstunde versäumen. Fräulein Paschke würde es nicht bei einem Verweis bewenden lassen, sondern die beiden zu den Schwestern Schmelling bringen. Dies zog eine Strafe nach sich, die die Ältere und Kräftigere der beiden Patroninnen mit der Rute vollziehen würde. Möglicherweise wurden die beiden sogar der Schule verwiesen.

Zufrieden, weil sie Gunda und deren neue Freundin nicht aus den Augen gelassen hatte, kehrte Bettina ins Haus zurück und kam gerade noch rechtzeitig in den Speisesaal, bevor Helene Paschke kontrollierte, ob alle pünktlich bei Tisch erschienen. Riekes und Gundas Plätze blieben leer.

»Weiß eine von euch, wo Friederike und Gunda stecken?«, fragte die Lehrerin streng.

Bettina hielt wohlweislich den Mund, während Rodegard spöttisch rief, dass sie sich wohl im Haus verlaufen hätten. Bei diesen Worten lachten die meisten und waren gleichzeitig froh, dass nicht sie es waren, die Fräulein Paschke erzürnten.

7.

Die Strömung zog den Kahn in die Mitte des Flusses hinein, und schon bald blieben Schule und Garten hinter den beiden Mädchen zurück. Während Rieke überlegte, wer so gemein gewesen sein konnte, das Boot loszubinden, sah Gunda voller Angst auf das Wasser.

»Was sollen wir nur tun? Wir haben keine Ruder, und der Fluss fließt rasch.«

Rieke kniff die Augen zusammen und starrte auf das Ufer. Es war weniger als zehn Schritte entfernt, schien aber unerreichbar.

»Vielleicht wird der Kahn bei einer Flussbiegung so weit ans Ufer getrieben, dass wir uns an ins Wasser reichenden Zweigen festhalten und ans Ufer ziehen können«, meinte sie und fragte sich erneut, ob die Stromschnellen nun flussauf- oder flussabwärts lagen.

Das Boot schwamm an ein paar Häusern vorbei, und dann sahen sie nur noch grüne, bewaldete Hügel um sich herum. Als Rieke in der Ferne ein Rauschen hörte, stellten sich ihr die Nackenhaare auf.

»Die Stromschnellen! Wenn wir dort hineingeraten, sind wir verloren!«, stieß sie entsetzt aus.

Gunda hatte vom Zug aus die Stromschnellen ebenfalls gesehen und wurde bleich. »Bei Gott, was sollen wir nur tun?«

»Nicht die Nerven verlieren«, erwiderte Rieke und sah zum Ufer hin. Wie tief der Fluss war, konnte sie nicht sagen, aber sie konnten sicher sein, dass sie sterben würden, wenn es ihnen nicht ganz schnell gelang, festen Boden zu erreichen. Kurz entschlossen versetzte sie Gunda einen Klaps.

»Wir müssen den Kahn verlassen, sonst zieht uns die Strömung in die Stromschnellen!«

»Ich kann nicht schwimmen!«, wehrte Gunda ab.

»Aber ich kann es! Emil hat es mich an einer einsamen Stelle gelehrt. Wir müssen die Kleider ablegen. Behalten wir sie an, saugen sie sich voll Wasser und ziehen uns auf den Grund.«

Während Rieke ihr Kleid abstreifte, zögerte Gunda und starrte ihre Freundin ängstlich an.

»Mach schon!«, befahl Rieke ihr.

Daraufhin gehorchte Gunda. Als deren Kleid neben das Riekes fiel, fasste diese ihre Hand.

»Wir springen gemeinsam ins Wasser! Klammere dich nicht an mich, sonst behinderst du mich! Ich halte dich fest und ziehe dich.«

Rieke stieg auf den Rand des Kahns, fasste nach Gundas Hand und sprang ins Wasser.

Es war kalt und tief, und für einen Augenblick verlor sie die Orientierung. Dann aber kam sie wieder hoch und strebte dem Ufer zu, ohne ihre Freundin loszulassen. Die Strömung zerrte an ihnen und wollte sie mit sich reißen, doch Rieke gab nicht auf. Mit zusammengebissenen Zähnen schwamm sie weiter, bis sie einen Zweig entdeckte, der sich ihr entgegenzustrecken schien. Sie ergriff ihn und zog sich und Gunda auf das Ufer zu.

Während Rieke erleichtert aufatmete, hustete und würgte Gunda Wasser, öffnete dann die Augen und sah Rieke verwundert an. »Wir leben noch?«

»Das tun wir! Und wir sollten schnell das Ufer hochklettern, um aus dem kalten Wasser zu kommen.«

So leicht, wie Rieke es sich vorgestellt hatte, war es jedoch nicht. Das Ufer ragte steil auf, und sie fanden keinen Halt. Bald spürten beide, wie ihre Kräfte nachließen.

Gunda kamen die Tränen, doch als sie alles verloren glaubte, erschienen Leute am Ufer. Arme wurden ihnen entgegengestreckt, und man zog sie hoch. Kurz darauf lagen beide im Gras, zu erschöpft, um noch den Kopf heben zu können, und sahen ihre Retter dankbar an. Es waren Gutsknechte, die ihren Kahn treiben gesehen hatten und herbeigeeilt waren, um ihnen zu helfen.

Einer der Männer brachte eine Pferdedecke und legte sie über die tropfnassen Mädchen. »Nicht, dass ihr euch noch den Tod holt!«

»Die Gela müsste eigentlich schon beim Gut sein. Sie ist gleich losgerannt, um Bescheid zu sagen. Es wird bald jemand kommen, der euch zur Schule zurückbringen wird«, erklärte ein anderer Knecht.

»Möge Gott es euch vergelten, dass ihr uns aus dem Wasser geholt habt!«, rief Gunda voller Dankbarkeit.

»War ja nicht schwer! Wenn ihr nicht so beherzt gewesen wärt, hätten auch wir nichts tun können. Ins Wasser wäre keiner von uns gegangen. Erst im letzten Jahr ist ein Student aus Berlin in den Stromschnellen ersoffen.«

»Hatte ein wenig gebechert und wollte schwimmen gehen. Hätte länger leben können, wenn er gescheiter gewesen wär!«, setzte ein weiterer Knecht hinzu.

»Die Stromschnellen sehen gefährlich aus«, sagte Rieke.

»Sie sehen nicht nur so aus, sie sind es auch«, erwiderte der Knecht, der ihnen die Decke gebracht hatte.

Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatten, spürten die Mädchen die Kälte ihrer klammen Hemden auf der Haut. Nun wurde ihnen auch bewusst, wie knapp sie dem Verhängnis entkommen waren. Während Gunda leise ein Dankgebet sprach, dachte Rieke an die Hand, die die Leine gelöst hatte, und spürte einen mit Verachtung gepaarten Hass in sich aufsteigen. Irgendwann, schwor sie sich, würde sie herausfinden, wer es gewesen war, und dann Gnade Gott dieser Person!

Ein leichter Wagen kam heran, und darauf saß ein Mann, der sich durch seine vornehme Kleidung stark von den Knechten unterschied. Er hielt vor den Mädchen an, stieg ab und musterte sie kopfschüttelnd.

»Wie seid ihr zwei nur darauf gekommen, eine Kahnpartie auf dem Fluss zu unternehmen?«, fragte er.

Gunda wollte etwas darauf antworten, doch da fasste Rieke nach ihrer Hand.

»Die Leine, mit der der Kahn am Ufer festgebunden war, hat sich gelöst«, sagte sie ausweichend. Da sie keine Beweise hatte, wollte sie niemanden beschuldigen.

»Man kann nicht genug achtgeben!«, erwiderte der Herr und forderte die Knechte auf, die Mädchen in den Wagen zu haben.

»Ich bringe euch zum Institut der Schmelling-Schwestern. Die beiden werden sicherlich erleichtert sein, euch in Sicherheit zu wissen.« Kaum saßen die Mädchen, in frische Decken gewickelt, hinter ihm, trieb er die Pferde an.

8.

Eine gute halbe Stunde später fuhr der Wagen vor der Mädchenschule vor. Obwohl noch Unterricht war, eilten die anderen Mädchen an die Fenster, um zuzusehen, wie Rieke und Gunda jeweils in eine Decke gehüllt vom Wagen stiegen. Der Reitknecht des Herrn klopfte an die Tür, und eines der Dienstmädchen machte auf. Bevor diese etwas sagen konnte, eilte Klothilde Schmelling herbei.

»Gott zum Gruß, Herr Baron! Wie steht das werte Befinden?«

Der Herr hob beschwichtigend die Hand. »Mein Befinden tut jetzt nichts zur Sache, sondern das der beiden jungen Damen. Meine Knechte haben sie kurz vor den Stromschnellen aus dem Fluss gefischt. Sie waren auf einem Kahn, dessen Leine sich gelöst hatte. Sie sollten Ihren Bediensteten beibringen, besser achtzugeben! Beinahe hätten die Stromschnellen zwei weitere Opfer gefordert.«

Klothilde Schmelling zuckte zusammen, funkelte dann aber Rieke und Gunda zornig an. »Wie seid ihr auf diesen Kahn geraten?«

»Wenn ein Boot am Ufer liegt, verlockt es einen, hineinzusteigen. Ihr solltet also weniger den Mädchen die Leviten lesen als vielmehr dem, der den Kahn festgebunden hat. Auch sollten die beiden Mädchen rasch aus ihren nassen Hemden herauskommen, sonst erkälten sie sich noch«, warf der Baron ein und wandte sich zum Gehen.

Klothilde Schmelling musterte Rieke und Gunda dennoch mit zornigen Blicken und scheuchte sie ins Haus. »Wie könnt ihr nur so herumlaufen? Schämt ihr euch nicht?«, schalt sie die beiden.

Rieke schüttelte rebellisch den Kopf. »Nein, Frau Direktor! Dafür freuen wir uns zu sehr, noch am Leben zu sein.«

An dieser Antwort hatte Klothilde Schmelling zu kauen. Sie entgegnete jedoch nichts, sondern forderte das Dienstmädchen auf, die beiden Mädchen in den Baderaum zu bringen und dafür zu sorgen, dass die Wanne mit warmem Wasser gefüllt wurde.

»Nicht, dass sie uns noch krank werden«, brummte sie noch und wandte sich dann ab.

Rieke und Gunda folgten dem Dienstmädchen und steckten kurz darauf bis zu den Hälsen im warmen Wasser. Nach der Kälte im Fluss und dem klammen Hemd war es eine schiere Wohltat. Da sie nun alles überstanden hatten, zwinkerte Rieke Gunda zu. »Das war ein Abenteuer!«

»Ich hätte gerne darauf verzichtet«, erwiderte Gunda mit einem tiefen Seufzer, fasste dann aber nach Riekes Hand. »Wärst du nicht gewesen, wäre ich jetzt tot. Es tut mir leid, dass du meinetwegen in Gefahr geraten bist.«