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Steampunk war gestern – Coalpunk ist angesagt! Willkommen in Rußstadt, in der die Schornsteinfeger die Superstars sind Cleo und ihre Schwester Gwynnie leben in einer von Kohle dominierten Welt. Rauch verschleiert den Himmel, das Atmen fällt schwer und die Hoffnung auf lichtere Tage liegt in weiter Ferne – willkommen in Rußstadt. Während Gwynnie heimlich umweltfreundliche Techniken erforscht, ist es Cleos größter Traum, den hochgeachteten Beruf der Schornsteinfegerin zu erlernen. Doch wie soll sie es als einfache Fabrikarbeiterin aus dem Volk in diese Elite schaffen? Nachdem ein schrecklicher Brand in einem Haus der unteren Schicht ausbricht und Cleo verbotenerweise zur Hilfe eilt, erhält sie überraschend die Chance, Schornsteinfegerin zu werden. Doch handelt es sich dabei tatsächlich um die Erfüllung ihrer sehnlichsten Träume – oder ist Cleo nur ein Zahnrad in einem perfiden Plan? Band 2 und 3 der Trilogie folgen im Herbst 2025
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2025
Brenne wild und lichterloh
Höllenheiß und himmelhoch
Irgendwann verglühn wir sowieso
»Lichterloh« – Versengold
Prolog
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Epilog
Danksagung
Leseprobe
Die Nacht schweigt, wenn der Teufel in der Nähe ist. Denn wenn man ganz still ist, scheint es, als würde er gar nicht existieren. Wie ein Kind, das sich beim Versteckspiel die Augen zuhält, in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. Bloß keinen Mucks machen.
Dabei ist der Teufel immer da, auch wenn man das Dunkel der Nacht nicht von ihm unterscheiden kann. Leise huscht er durch die Gassen und in die Häuser, legt sich auf die Betten und die Menschen darin. Ein ständiger Begleiter, schon fast lieb gewonnen und doch brandgefährlich. Vollkommen unsichtbar, bis der Schein einer riesigen Lampe ihn erhellt. Rot leuchtend, um alle vor ihm zu warnen.
Der Teufel dieser Stadt ist der Ruß. Der den Himmel verdunkelt, sodass es immer grau ist, der sich durch einen einzelnen Funken entzünden kann und der den Tod mit einem simplen Atemzug bringt. So wabert er beständig um die Menschen von Rußstadt herum, während sie selbst ihn immer weiter nähren, mit jedem Stück Kohle, das sie verbrennen. So wie es ist, ist es doch gut, sagen sie und werfen ein Stück Kohle in die Glut. So ist es schon immer gewesen, sagen sie, und werfen ein zweites Stück Kohle hinterher. Und so wird es auch immer bleiben, sagen sie und mit dem dritten Stück Kohle vernebelt der Ruß ihnen die Sicht.
Und wenn alles immer voller Ruß war, vergisst man, wie der klare Himmel aussieht. Wenn alles immer voller Ruß ist, sieht man das Elend ringsum nicht. Wenn alles immer voller Ruß sein wird, gibt man sich dem irgendwann hin. Und so wirft man ein letztes Stück Kohle in die Glut, wo es zischt und raucht und rußt und brennt. Lichterloh.
Cleo erwachte von dem vertrauten Klappern der Kohlerutsche vor ihrem Fenster. Sie lauschte, wie die kleinen Briketts durch das Metallrohr polterten und schließlich gegen die kleine Glocke stießen, die am Ende der Rutsche angebracht war. Mit dem feinen Läuten sprang sie aus dem Bett.
Die Glocke schwang noch leise hin und her, als Cleo bei ihr ankam. So weit entfernt von den anderen Häusern der Stadt sollte es eigentlich keine Kohlediebe geben, aber sie wollte das Risiko nicht eingehen. Diese zwielichtigen Gestalten, die sich in den dunklen Gassen versteckten und dort wie Geier darauf warteten, dass die Kohle in den Rutschen ihr Ziel erreicht hatte, um sie blitzschnell an sich zu nehmen, bevor der eigentliche Besitzer die Chance dazu hatte. Und da ein Tag ohne Kohle auch einen Tag ohne Heizung, Essen oder Arbeit bedeutete und die meisten Menschen nicht das Geld hatten, sich Ersatz zu kaufen, war das eine Katastrophe.
Cleo begutachtete die heutige Ausbeute. Es lagen viele kleine, unförmige Klumpen im Kohleeimer, einige waren längst zu Staub zerfallen. Sie seufzte und sah die lange Kohlerutsche hinab, die bis hinunter in die Stadt führte und sich dort verästelte, um jedes Haus täglich mit Kohle zu versorgen. Der Signalturm, in dem sie lebte, befand sich weit draußen, ganz am Ende der Lieferstrecke, an einem Berghang, wo wegen der dichten Felslandschaft sonst keine Häuser standen. Nicht nur, dass die besten Kohlestücke bereits unterwegs verteilt worden waren – ihre hatten eine so lange Reise hinter sich, dass sie immer mehr in Einzelteile zerfallen waren.
Cleo hörte ein Surren und sah hoch. Die Lampe, die sich oben im Turm befand, leuchtete in einem grellen Gelb. Akzeptable Luftverhältnisse. Doch das Geräusch verriet, dass ihre Schwester Gwynnie im Begriff war, die Farbe der Lampe zu ändern. Nur wenige Wimpernschläge später nahm die Lampe ein dunkles Orange an. Cleo verzog das Gesicht. Das bedeutete, dass der Rußgehalt der Luft sich um einiges verschlechtert hatte. Vorsicht war geboten. Die Menschen durften nur kleine Feuer für das Allernötigste entzünden. Selbst hier, in der etwas erhöhten Lage des Signalturms, sah Cleo den Ruß durch die Luft wabern und alles grau färben. In den engen Gassen der Viertel musste es noch schlimmer sein. Sie ging wieder hinein und zog sich um, bevor sie die Leiter erklomm, die hoch zur Signallampe führte.
Gwynnie studierte die Messgeräte, die überall auf der Plattform aufgebaut waren und die Rußwerte von mehreren Orten der Stadt anzeigten. Cleo verstand nur im Ansatz, wie man sie deutete, ihre Schwester jedoch war eine Meisterin darin. Sie hatte diesen Beruf von ihrem Vater erlernt. Cleo war damals noch zu klein gewesen.
Gwynnies Augen wurden von ihrer großen, runden Schutzbrille mit aufgesetzter Lupe verdeckt, dessen Lederband sich in ihrem zotteligen dunkelblonden Flechtzopf verheddert hatte. Sie wandte sich von den Messgeräten ab und hielt den Blick nun auf die Lampe selbst fixiert, während sie an einer Kurbel drehte, um genau den richtigen Farbgrad zu erwischen, welcher den Mittelwert der gesamten Rußbelastung der Stadt darstellte. Nicht, dass es jemandem auffallen würde, wenn sie danebenlag, aber das bedeutete nicht, dass Gwynnie sich Nachlässigkeit erlauben konnte.
»Ist es wieder schlimmer geworden?«, fragte Cleo. Ihre Schwester sah auf und schob sich die Brille mit der rechten Hand hoch. Sie trug einen Handschuh aus verziertem Kunstleder und Metall, der nur die vier Finger der Hand bedeckte. Daumen und Handfläche lagen frei. So war nicht zu erkennen, dass Gwynnie an dieser Hand alle oberen Fingerglieder fehlten. Eine Verletzung, die sie bei dem Brand vor acht Jahren erlitten hatte, in welchem ihre Eltern gestorben waren. Cleo hatte damals die große Brandnarbe auf der rechten Seite ihres Kopfes davongetragen. Sie war sieben Jahre alt gewesen und die zwölfjährige Gwynnie hatte sie aus den Flammen gerettet. Dass sie überlebt hatte, kam einem Wunder gleich, und die Narbe war der Beweis dafür. Deswegen hatte Cleo sich die schwarzen Haare kurz geschnitten und die wenigen, die auf der rechten Seite noch wuchsen, komplett abrasiert, um die Narbe stolz der Welt zu zeigen.
»Es war zu erwarten heute«, murmelte Gwynnie. »Alle Schornsteinfeger sind mit ihrem Fest beschäftigt. Keiner kontrolliert die möglichen Gefahrenherde. Und weil das alle wissen, verfeuern sie die Kohle ohne Rücksicht auf den Rußgehalt.«
Cleo trat zu ihrer Schwester an den Rand des Signalturms, von dem sie einen guten Blick über die ganze Stadt hatte. Auf den Berghängen gegenüber, auf der anderen Seite der Stadt, standen die Villen der reichen Industriellen mit ihren Luftfiltern, die lebten, als gäbe es keinen Ruß. Ein Stückchen darunter, ebenfalls erhöht, befanden sich die ihrerseits prunkvollen Häuser der Schornsteinfeger. Von dort ging es immer tiefer, die Gebäude standen enger, wurden einfacher und in den unteren Vierteln drängten sich die Häuser dann dicht an dicht, von allen Seiten eingegrenzt durch zerklüftete Felsvorhänge, die größtenteils unbebaubar waren. Im Zentrum der unteren Viertel erhob sich der riesige Schlot der Kohlefabrik, von der die Kohle an die Häuser der Stadt geliefert wurde. Aus den Abertausenden Schornsteinen der Häuser quollen hohe Rauchsäulen – doch keine war beeindruckender als die der Kohlefabrik.
Gwynnie deutete auf die zahlreichen Wimpel und Banner in den Straßen, welche die Schornsteinfegerparade ankündigten. »Sie feiern sich, während anderswo die Menschen mit ihrem Leben spielen. Obwohl sie gerade diese Menschen beschützen sollten. Hör nur.«
Cleo spitzte die Ohren. Weit entfernt konnte sie ein mehrstimmiges, schrilles Klappern hören. »Die Warnsysteme.«
Gwynnie nickte. »Sie schlagen schon an.«
Die Rußwarnsysteme waren vor vielen Jahren in den Straßen installiert worden. Kleine, metallische Vögel, die ein ohrenbetäubendes Klappern von sich gaben, wenn der Rußgehalt der Luft zu sehr stieg.
Jetzt erst fiel Gwynnie der Eimer in Cleos Hand auf. Sie rümpfte die Nase. »Wieder der Dreck vom Dreck, was?«
Cleo grinste und hob den Eimer, als befände sich darin eine seltene Delikatesse. »Nur das Beste für uns.«
Gwynnie erwiderte ihr Lächeln und deutete nach unten. »Dann wollen wir mal.«
*
Überall in ihrem Haus befanden sich Maschinen, wie in jedem Gebäude Rußstadts. Da war der Ofen, der für Wärme sorgte. Der Herd, die Waschtrommel und eine Vielzahl von Lampen. Alle mit einem Anschluss zu einem eigenen Schornstein für den Abzug des Rauches. Jeder, der hier hereinkam, würde es für ein normales Haus halten. Doch der Unterschied war, dass die Schwestern den Kohleantrieb aller Maschinen ausgebaut hatten. Ihr Licht brannte durch kleine Windräder, welche auch die Waschtrommel antrieben, und sogar der Herd kam vollkommen ohne Kohle aus. Gwynnies neueste Erfindung war eine kleine Zelle, welche das Sonnenlicht in Energie umwandelte, doch da der Ruß so dicht war, konnte sie sie bisher nicht ausprobieren.
Gwynnie legte einige der Kohlestücke in kleine Apparaturen, zündete sie an und beförderte sie mit einer Kurbel hoch in ein paar der Schornsteine hinein. Schon nach Kurzem taten die Vorrichtungen ihren Dienst, die Kohle begann zu glimmen und erzeugte eine Rauchwolke, die beeindruckend in den Himmel stieg. Cleo verteilte währenddessen ein wenig Ruß auf dem Boden vor den Maschinen. Ihre Schwester glaubte, dass es den Industriellen nicht gefallen würde, dass die beiden keine Kohle nutzten. Wenn sie kohlefreie Mechaniken wollen würden, sagte Gwynnie immer, dann würden sie solche Geräte bauen lassen und nicht jeden Tag Kohlerationen an die Bevölkerung verteilen. Deshalb wahrten sie den Schein, damit niemand misstrauisch wurde.
Cleo hängte sich ihre Werkzeugtasche um. »Ich muss los. Wird ein wenig später heute.«
Ihre Schwester runzelte die Stirn. »Du willst nach der Arbeit aber nicht noch zur Parade, oder?«
Cleo zuckte zusammen. »Mumpitz«, antwortete sie schnell. »Der Schneidermeister hat mich um Hilfe gebeten.«
Gwynnie grinste und verdrehte theatralisch die Augen. »Natürlich, wer sonst?« Sie griff in den Eimer und steckte Cleo ein paar Kohlestücke zu. »Könnten dir vielleicht nützlich sein.« Kohle funktionierte wunderbar, wenn man jemanden bestechen musste, viel besser als Geld. Und bestechen musste man öfter als ihr lieb war.
*
Als sich die Haustür hinter ihr schloss, griff Cleo kurz in die Innenseite ihrer Jacke und fühlte nach dem dünnen Heft, das sie dort verborgen hatte. Das Schornsteinfegersammelheft. Gwynnie wusste weder, dass Cleo eines besaß, noch dass sich darin bereits einige Daumenabdrücke von Schornsteinfegern befanden. Ihre Schwester hatte nichts für diese »Angeber ohne Ruß im Gesicht« übrig. Weswegen sie ihr nicht erzählte, dass sie eigentlich doch gerne der Parade beiwohnen wollte.
Sie schnappte sich ihr Rad und lud die Tasche auf. Ihr Blick fiel auf die verkohlte Häuserruine, die einsam an dem unwegsamen Berghang unweit des Turmes stand. Die Brücke dorthin war vollkommen verbrannt, nicht mehr als ein Gerippe war übrig, was ein Erreichen des Hauses unmöglich machte. Die Menschen, die dort gelebt hatten, hatten den Schornsteinfegern Zutritt verweigert, sodass ihre Kohlemaschinen nicht gewartet und ihre Schornsteine nicht gekehrt werden konnten. Und so war dort eines Tages ein Brand ausgebrochen und alle Bewohner waren lichterloh verbrannt, weswegen man das Haus Ruine Lichterloh nannte. Seit diesem Tag galt die Regel, dass Schornsteinfegern der Zutritt zu einem Haus nicht verwehrt werden durfte, sollten sie dort eine Gefährdung vermuten.
Cleo wandte schnell den Blick ab und schwang sich auf das Rad. Dann raste sie mit voller Geschwindigkeit den Hang hinab, immer tiefer hinein in das Herz von Rußstadt.
Das Rad sauste wie ein Blitz an den Häusern vorbei. Durch das reiche Silberviertel, über das Messingviertel, das nach einem Brand vor ein paar Jahrzehnten fast komplett aus neueren Gebäuden bestand, bis zum sehr tiefen Bleiviertel, wo viele Arbeiter wohnten und die Gassen immer enger und die Häuser kleiner wurden. Es war waghalsig. Würde Cleo das nicht jeden Tag machen, hätte sie sicherlich berechtigte Angst, mit einer Mauer zu kollidieren. Ab und zu ließ sie ihre Klingel schellen, doch immer schaffte sie es, den Menschen auszuweichen, die ihren Weg kreuzten. Schließlich wurde die Landschaft flacher und Cleos Fahrt verlangsamte sich, als der Schwung des Gefälles nachließ. Sie betätigte einen kleinen Schalter am Lenker, der einen winzigen Motor einschaltete. Er war von außen weder zu sehen noch zu hören und sorgte dafür, dass das Rad schnell vorankam, obwohl Cleo nicht stärker in die Pedale trat. Eigentlich wurden Autos oder motorbetriebene Räder nur von Reichen genutzt, die sich zusätzliche Kohlevorräte leisten konnten. Niemand sonst würde die wertvolle Kohle für so etwas verschwenden. Cleos Mechanismus durfte somit nicht auffallen, sonst würde er Fragen aufwerfen und es könnte herauskommen, dass er mit einem kleinen Akku betrieben wurde, den Cleo am Turm mit Windkraft auflud.
Einige Menschen auf der Straße schwenkten feierlich Fahnen mit dem Symbol der Schornsteinfeger – einem Zylinder, verkreuzt mit Leiter und Besen. Andere trugen Girlanden, Hüte und ihre feierlichste Kleidung. Obwohl die Parade erst am Nachmittag stattfand, waren die Menschen bereits in Festlaune.
Je tiefer Cleo kam, desto mehr Ruß waberte durch die Luft, der alles in ein so trübes Grau färbte, dass man denken könnte, die Nacht sei bereits hereingebrochen. Er legte sich auf die Kleidung der Menschen, die Stühle und Tische, die draußen standen, und auch auf Cleos Rad. Wegwischen hatte keinen Sinn, das hatten die Menschen hier längst verstanden. Cleo wusste jedoch, dass es noch schlimmer ging. Hier konnte sie immerhin noch mehrere Meter weit sehen. Es gab Zeiten und Orte, da konnte man die Hand nicht vor Augen erkennen.
Schallender Husten erklang immerzu aus vielen Mündern, weil der Ruß auch die Atemwege der Menschen verklebte. Einen Schutzschal trug man hier nur während einer Rußwarnung oder in Gebieten mit besonders hoher Rußbelastung, nicht aber im Alltag auf den Straßen.
Somit sorgte es für einen kleinen Tumult, als ein Mann durch die Gasse hetzte, der seinen Schutzschal um den Mund gebunden hatte. »Der reiche Schnösel hat sich wohl verirrt«, flüsterte eine Frau, gefolgt von allgemeinem Gelächter und dem Ruf: »Geh doch zurück in dein oberes Viertel!«
Ein schrilles Pfeifen ertönte und Cleo drehte sich um. Hinter ihr schlängelte sich eine Straßenbahn durch die engen Gassen, eine Rauchwolke stieg aus dem Schornstein der Lok. Cleo fuhr zur Seite und ließ sie passieren, bevor sie ihr folgte. Die Bahnen, welche die erstaunliche Fähigkeit besaßen, auch bergauf fahren zu können, bedienten die Strecken, die zu den großen Fabriken führten, und verkehrten immer zu den Schichtwechselzeiten. Genau wie jetzt. Diese Bahn verkündete auf ihrer Anzeigetafel, dass sie dasselbe Ziel hatte wie Cleo: Das Maschinenwerk.
Es stand im Herzen des Fabrikviertels, im unteren Teil der Stadt, und war umgeben von weiteren seiner Art, doch war diese Fabrik bei Weitem die größte. Ihre Schlote waren so hoch, dass sie im Ruß des Himmels verschwanden, und die Außenfassade des Gebäudes war ein beeindruckendes Zusammenspiel aus Metallen sämtlicher Farben und Formen. Eisen, Kupfer, Zinn und Messing.
Eine Schar von Arbeitern strömte bereits hinein, als Cleo ankam. Schnell stellte sie ihr Rad in einer Seitengasse ab und bedeckte es mit einer beschwerten Plane, an deren Enden sich zahlreiche Schlösser befanden, um es Dieben nicht so leicht zu machen. Cleo schlüpfte in ihren Fabrikanzug, schnappte sich ihre Tasche und reihte sich in den Strom der Arbeiter ein.
Alle Bewohner Rußstadts waren nach dem Abschluss der Schule verpflichtet, eine Arbeit zu ergreifen. Wer nicht das Glück hatte, in einer Gilde wie die der Hausbauer, Künstler oder Bäcker aufgenommen zu werden, für den blieben nur die Fabriken. Der Betrieb des Signalturms bot nur Arbeit für eine Person, also hatte auch Cleo keine andere Wahl. Da ihr das Werkeln an Maschinen allerdings sogar Spaß bereitete, hatte sie es zumindest nicht ganz so schlecht getroffen.
*
Das mächtige Tor führte in eine weitläufige Eingangshalle, unter deren hoher Decke ein großes Bild der Gildenvorsteherin prangte: Richardis Stahlstein, eine kleine, drahtige Frau mit verbitterten Zügen. Ihr gehörten alle Fabriken in der Stadt, die kohlebetriebene Alltagsgeräte herstellten und immer neue, verbesserte Systeme auf den Markt brachten. Unter ihrem Bild prangte das Motto von Rußstadt: »Kohle ist Leben.«
Mehrere Gänge führten zu den Werkhallen, in denen sich die verschiedenen Stationen und Gewerke befanden. Cleo reihte sich in den Strom der Arbeiter ein, die sich in die Halle schoben, wo die Haushaltsgeräte gefertigt wurden.
Mehrere Fließbänder waren hier verteilt und boten Arbeitsplätze für Hunderte von Menschen. Männer, Frauen und Kinder. Manche waren so alt, dass sie Cleos Großeltern hätten sein können. Manche waren noch jünger als sie.
Ihr Platz befand sich am Schraubband, umringt von Kisten mit Muttern, Metallverbindungsstücken, Schrauben und sonstigen Teilen, die sie in hoher Geschwindigkeit an den vorbeifahrenden Geräten anbringen musste. Heute waren es, wie Cleo beim Blick auf das ratternde Band feststellte, Teekocher mit eingebautem Kohleofen. Die Frau neben Cleo, Marita, inspizierte den ersten Kocher blitzschnell. »Schon wieder ein neuer. Hatten wir nicht erst letzte Woche einen?«
Cleo, die sich gerade ihren Rußschutzschal über Mund und Nase zog, brauchte nur einen kurzen Blick, um zu erkennen, dass sie recht hatte. Der Teekocher unterschied sich kaum merklich von dem Vorgängermodell. Die Schraublöcher waren weiter auseinandergesetzt, der Henkel, das Teil, das sie während ihrer Schicht an Hunderte Teekocher anschrauben würde, war breiter. Und mit der ersten eingedrehten Schraube fiel ihr auf, dass auch das Gewinde sich leicht unterschied. Wer nicht tagtäglich an diesen Maschinen arbeitete, würde es sicher nicht einmal bemerken. Und doch spürte Cleo einen Kloß im Hals. Wenn neue Geräte kamen, bedeutete das, dass alte nicht mehr hergestellt wurden. Und dass diese älteren Modelle immer weniger gewartet werden konnten, bis die Nutzer bei der kleinsten Fehlfunktion gezwungen waren, die Maschinen komplett zu ersetzen.
»Ich freue mich so, dass heute die Parade ist«, verkündete Marita und hustete. Auch der Schal konnte nur wenig gegen die Unmengen von Ruß ausrichten, die sich in einer Fabrikhalle voller kohlebetriebener Maschinen ansammelten.
»Wieso das?«, fragte Cleo erstaunt.
Marita grinste, soweit Cleo das unter ihrem Schal erkennen konnte. »Du etwa nicht? Nur ein halber Tag Arbeit, Mädchen. Das ist genug Grund zur Freude.«
Da musste Cleo ihr recht geben. Heute schlossen die Arbeitsstätten und Schulen früher, da alle Bewohner Rußstadts der Parade beiwohnen sollten, um Zeuge zu sein, wie die Schornsteinfeger ihre neuen Lehrlinge feierlich in ihrer Gilde begrüßten. Deshalb durfte man nicht zu laut verkünden, dass man plante, stattdessen auf der faulen Haut zu liegen. Dies konnte durchaus Konsequenzen nach sich ziehen, denn immerhin wurde heute den Schornsteinfegern, den Beschützern der Stadt, Respekt gezollt.
Cleo schnappte sich den nächsten Teekocher, doch rutschte ab, als sie die Schraube eindrehte. Mit einem hellen Klang landete die Schraube auf dem Boden. Schnell tauchte Cleo hinab, um sie aufzuheben. »Lass sie doch liegen!«, rief Marita, doch Cleo hörte nicht auf sie. Zum einen, weil es nicht gerne gesehen war, dass Teile auf dem Boden liegen blieben, zum anderen aber, weil viele Arbeiter sich eben nicht an diese Anweisung hielten.
So lagen unten bereits zahlreiche Schrauben – viele verdreht, abgebrochen oder mit kaputtem Gewinde. Aber sie bemerkte auch einige, die noch perfekt intakt und offenbar nur aus Bequemlichkeit liegen gelassen worden waren. Zu ihrem Entzücken fand sie sogar ein paar Schrauben, die zu dem Teekessel gehörten, der gestern noch gefertigt worden war. Blitzschnell sammelte Cleo so viele Schrauben ein, wie sie finden konnte – kaputte sowie intakte. Beim Aufrichten ließ sie die in ihrer linken Tasche verschwinden. Dort befand sich ein Loch, an das sie einen kleinen Beutel genäht hatte. In diesen steckte sie die Schrauben und presste die Seiten des Loches zusammen, sodass es sich durch von außen unsichtbare Druckknöpfe schloss.
*
Sie arbeitete noch einige Stunden konzentriert, bis ein lauter Gong ertönte und die Fließbänder stehen blieben. Alle in der Werkhalle traten zurück und zogen sich die Rußschutzschals vom Gesicht. Fröhliches Geplapper kam auf, als sie zum Ausgang strömten. Schichtende. Cleo reihte sich in die Menschenmenge ein. Marita hatte sie schnell verloren.
Während sie die Fließbänder passierte, ließ Cleo ihren Blick hin- und herhuschen auf der Suche nach einzelnen Schrauben oder anderen Materialien. Immer wenn die Aufseherin auf der Brücke über ihnen wegsah, ließ sie blitzschnell ein paar Muttern, Schrauben, Nägel oder Drähte in ihre Tasche gleiten.
Am Ausgang befand sich ein großer Eimer, in den die Arbeiter Materialien warfen, die während ihrer Schicht kaputtgegangen waren. Auch ihre Taschen mussten sie nach außen stülpen, da es verboten war, Materialien zu entwenden, auch defekte. Bisher hatte noch niemand den doppelten Boden von Cleos Tasche entdeckt.
Das Gute an der Parade war, dass auch die Aufseher in Feierlaune waren und sie die Arbeiter so schnell wie möglich nach draußen lotsen wollten. Somit nahmen sie es mit der Kontrolle der Taschen heute nicht so genau und sie schenkten den Vorbeigehenden weniger Aufmerksamkeit. Cleo beschloss, diesen Vorteil zu nutzen. Als sie am Eimer mit den kaputten Materialien vorbeiging, drehte sie den Aufsehern kurz den Rücken zu und griff tief hinein. Blitzschnell erfühlte sie Teile von Geräten, deren Produktion gerade heute eingestellt worden war. Ein Vorrat mit leichten Mängeln, die sie würde reparieren können. Damit sie diese Geräte auch noch instand setzen konnte, wenn niemand mehr Ersatzteile herstellte. Schnell ließ sie ihre volle Hand in der Tasche verschwinden und ging weiter. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Niemand hatte etwas bemerkt. Sehnsuchtsvoll warf sie einen Blick auf den Eimer zurück. Sie hätte gerne mehr genommen. Der Inhalt des Eimers landete später auf der angrenzenden Deponie, wo auch die Schornsteinfeger die ausrangierten Geräte hinbrachten, die sie konfiszieren mussten. Cleo war der Zugang natürlich verboten, wie allen, die nicht explizit dort arbeiteten. Aber immer wenn sie einen Blick darauf erhaschen konnte, sah es aus wie der Schrauberhimmel. Hunderte von Maschinen, Ersatzteilen und Verbindungselementen, die mit etwas Arbeit wieder funktionieren und somit ziemlich vielen Menschen den Alltag erleichtern könnten, statt dort darauf zu warten, für eine Neuverarbeitung eingeschmolzen zu werden. Doch ein Einbruch in den Hof war undenkbar und würde sie mehr als nur die Arbeit kosten.
Während die meisten Arbeiter sich sofort auf den Weg zur Parade gemacht hatten, lenkte Cleo ihr Rad wenig später in eine Straße mit Kopfsteinpflaster und stieg ab. In der Händlergasse reihten sich die verschiedensten Handwerksbetriebe aneinander. Sie schob ihr Rad vorbei an Buchbindern und Schmieden, Barbieren und Glasbläsern, Tischlern und Spielzeugbauern, Krämern und Drogisten. Jedes Schaufenster, jedes Schild war herrlich verspielt und alle Läden waren gut besucht. Die Händlergasse befand sich auf der Grenze zwischen Zinnviertel und Eisenviertel und war der einzige Ort in den unteren Vierteln, wo die Waren von etwas höherer Qualität waren. Wenn man etwas Besonderes suchte, war dies die beste Adresse. Allerdings war es nicht günstig – vielen blieb die Schönheit dieser Waren verwehrt und sie mussten sich mit billiger Gefertigtem begnügen.
Eine junge Frau, nur ein paar Jahre älter als Cleo, trat aus der Bäckerei. Sie war von oben bis unten mit Mehl bestäubt und trug scheinbar mühelos zwei riesige, schwere Säcke. Den Muskeln an ihren Armen nach zu urteilen tat sie dies öfter. Sie nickte Cleo freundlich zu, bevor sie die Säcke abstellte und wieder in die Bäckerei zurückkehrte.
Viele der Menschen winkten ihr zu, einige öffneten ihre Fensterläden im ersten Stock, um sie mit Namen zu grüßen.
Cleo musste abrupt stehen bleiben, als ein paar Kinder aus einer der schmalen Gassen zwischen den Häusern rannten, durch die eine erwachsene Person kaum hindurchpasste. Diese Gassen sollten dafür sorgen, dass ein Feuer nicht von Haus zu Haus springen konnte, doch die Kinder nutzten sie auch oft zum Versteckspiel.
»Achtung!«, rief Cleo und die Kinder blieben erschrocken stehen.
Eines von ihnen, ein Mädchen mit Ruß im Gesicht und einer kleinen Brandnarbe am Hals, zog sich die Kapuze über den Kopf und hielt Cleo einen Stock wie ein Schwert entgegen. »Wir sind Kohlediebe! Gib uns deine Kohle und niemand wird verletzt!«
Cleo setzte ein gespielt verängstigtes Gesicht auf. »Oh, bitte tut mir nichts!« Sie griff in ihre Tasche und reichte allen ein kleines Stück Kohle, welches sie mit großen Augen betrachteten. Dann rannten sie johlend davon, wohl um ihren neu gewonnenen Reichtum gegen Süßigkeiten einzutauschen, und riefen »Die mächtigen Kohlediebe haben gesiegt!«. Cleo sah ihnen grinsend nach und ging weiter am Schuhladen vorbei.
»Na, noch gar nicht bei der Parade, Cleo?«, fragte die Schusterin, während sie einige Paare in ihre Auslage legte.
Cleo schüttelte den Kopf. »Nein, der Schneider braucht noch meine Hilfe.«
Das Gesicht der Schusterin verdunkelte sich. »Na endlich, ich höre Cornelius schon den ganzen Morgen fluchen.«
Cleo lachte, beschleunigte aber ihren Schritt. Der Schneider Cornelius Knopfgarn war bekannt für seine Wutausbrüche. Besser, sie beeilte sich, bevor es noch schlimmer wurde.
Schon als sie sich der Schneiderei näherte, hörte sie Gebrüll und dumpfe Geräusche, als würde jemand auf etwas einhämmern. Schnell stellte sie ihr Fahrrad vor dem Haus ab, griff sich ihre Tasche, in der sich neben dem Fabrikanzug und den entwendeten Ersatzteilen auch ihr Werkzeug befand, und ging hinein.
Ihre Ankunft wurde durch ein kleines Glöckchen angekündigt, welches bei dem Lärm im hinteren Teil des Hauses kaum zu hören war. Unflätige Flüche in Hülle und Fülle flogen ihr entgegen, bei denen jeder Industrielle sicherlich in Ohnmacht gefallen wäre. Es schepperte und knallte, bevor ein Schraubenschlüssel, gefolgt von einem »Vermaledeiter Schrotthaufen!«, quer durch den Laden flog. Die Anzahl an verbogenen Gegenständen auf dem Boden bewies, dass der Verursacher des Lärms ungewöhnlich weit werfen konnte und es schon eine ganze Weile lang tat.
Direkt neben dem Eingang saß ein Jugendlicher in Cleos Alter an einer kohlebetriebenen Nähmaschine und nähte seelenruhig an einem goldenen Kleid. Eine grau gewellte Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Er sah auf und seine hellblauen Augen strahlten sie durch die Gläser der Brille mit dem dicken Stahlrahmen an. »Cleo Silberdreh, was für eine Freude, dich zu sehen.«
»Valentin Nadelstich, immer wieder ein Vergnügen.« Sie lachten und umarmten sich.
Valentin war Cleos bester Freund seit frühester Kindheit. Cornelius war sein Onkel und hatte Valentin nach der Schule direkt als Lehrling in seiner Schneiderei angestellt. Seine Familie war außerordentlich froh darüber gewesen, dass er so Zugang in die Schneidergilde erhielt und ihm eine Arbeit in den Fabriken erspart blieb. Was definitiv nichts für den sanften Valentin gewesen wäre.
»Was ist denn los?«, fragte Cleo und nickte in Richtung des Lärms.
Valentin seufzte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Irgendwas stimmt mit dem Bügelautomaten nicht und Cornelius arbeitet sich schon seit gestern Abend lautstark daran ab.«
Das klang wirklich nicht gut. »Dann mach ich mich mal lieber ans Werk.«
Valentin hob das Kleidungsstück kurz an, an dem er nähte. »Ich würde ja mitkommen, aber ich muss dieses Kleid unbedingt fertig bekommen. Ernestine Klangholz fiel sehr kurzfristig ein, dass sie noch etwas für einen Empfang heute braucht.« Valentin zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Cleo wusste, dass er die Wahrheit sagte, aber auch, dass es ihm recht willkommen war, um ihr nicht beistehen zu müssen. Sie konnte es ihm nicht verübeln.
Während sie sich in den hinteren Bereich des Ladens begab, hielt sie ihre Tasche schützend vors Gesicht, um nicht von irgendeinem herumfliegenden Gegenstand getroffen zu werden.
»Meister Knopfgarn?«, rief sie laut, um das Gezeter des Schneiders zu übertönen. »Sie haben nach mir geschickt. Kann ich Ihnen helfen?« Sofort hörte das Gebrüll auf und Cleo ließ langsam die Tasche sinken.
Cornelius Knopfgarn hielt ein Eisenrohr in der Hand und hatte kurz zuvor wohl noch auf den großen Bügelautomaten eingeprügelt, der vor sich hin qualmte. Dellen und Beulen zeugten davon, dass er schon einige Schläge eingesteckt hatte. Der Schneider ließ das Rohr scheppernd fallen. »Cleo! Ein Glück, dass du da bist. Wurde auch langsam Zeit!« Er packte Cleo an der Hand und zog sie so schnell zu dem Automaten, dass sie drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. »Das ist das Problem!«
Cleo runzelte die Stirn. »Was genau?«
Der Schneider fuhr sich mit den Händen durchs Haar, das bereits zu Berge stand. »Na alles! Er glättet nicht, aber frisst Unmengen an Kohle und raucht wie der Riesenschlot. Dabei ist er heiß wie Höllenfeuer.« Zum Beweis hielt er seinen Unterarm hoch, der mit einem Verband umwickelt war. Eine Verbrennung, die sicher zu einer Narbe werden würde, wie sie fast jeder in Rußstadt zuhauf hatte. Eine leichte Berührung mit einem heißen Kessel oder glimmender Kohle reichte aus, nur ein kleiner Rußbrand und es war geschehen. »Wenn er nicht arbeitet, verliere ich Kundschaft«, fuhr Cornelius fort. »Und noch schlimmer – wenn er weiter so qualmt, kommen die Schornsteinfeger und konfiszieren ihn. Einen neuen kann ich mir nicht leisten! Bitte, Cleo, du musst das irgendwie hinkriegen, bevor sie mit ihrer Parade fertig sind!«
Cleo betrachtete den Automaten. Er war schon sehr alt und hatte seine besten Tage längst hinter sich. Cornelius hatte recht damit, dass der Automat eine Gefahr darstellte. Nicht nur trug er erheblich zur Rußbelastung des Viertels bei – wenn er zu heiß wurde und Feuer fing, konnte dieses sich ausbreiten, und falls es dann noch auf brennbaren Ruß traf, konnte die ganze Händlergasse in Flammen aufgehen. Das war auch der Grund, warum die Schornsteinfeger Geräte regelmäßig warteten. Jedoch neigten sie auch dazu, alte Maschinen einfach aus dem Verkehr zu ziehen, wenn sie nicht mehr funktionierten, eben auch, weil Ersatzteile nicht mehr hergestellt wurden. Was gerade bei diesem Exemplar schon längst der Fall war. Darauf, dass die Menschen die Geräte zum Leben brauchten und nicht das Geld für neue hatten, konnten sie zum Schutze der Stadt keine Rücksicht nehmen. Deshalb riefen die Menschen Cleo, um schrottreife Geräte zu reparieren. Das war auch der Grund, warum sie die ausrangierten Teile aus der Fabrik sammelte. Bis jetzt hatte sie noch alles reparieren können. »Ich schau mal, was ich tun kann«, sagte sie und lächelte Cornelius zu.
Mit seiner Hilfe nahm sie die Kohlen heraus und sorgte mit Wasser dafür, dass der Automat ein wenig abkühlte. Dann begann Cleo, ihn zu untersuchen. Schnell hatte sie das Problem gefunden: Zwischen Ofen und Bügelvorrichtung fehlte eine Schraube. Wahrscheinlich war sie verrostet, in die Kohlen gefallen und dort verglüht. Dadurch hatte sich jedoch die gesamte Mechanik verschoben.
Cleo öffnete ihre Werkzeugtasche. »Das krieg ich schon hin.« Sie hatte genug Maschinen gesehen, um zu wissen, welche Arten von Schrauben es gab und wann welche benutzt worden waren. Von diesen hier hatte sie allerdings keine mehr in ihrem Fundus. Aber es war nicht das erste Mal, dass sie improvisieren und Ersatzteile selbst herstellen musste. Entweder aus alten Schrauben oder aus Metallrohlingen, die sie ebenfalls ab und zu aus der Fabrik mitgehen ließ. Schleifwerkzeuge und Lötkolben lagen schnell bereit und Cleo machte sich an die Arbeit. Die Schraube sollte nicht nur perfekt in die Fassung passen, im besten Fall sollte sie auch widerstandsfähiger als die letzte sein. Es war millimetergenaue Arbeit, nur eine Abweichung und sie müsste von vorne beginnen. Noch dazu kam, dass die Schraube exakt so aussehen musste wie das Original. Sogar die Farbe und das Alter musste sie imitieren, weswegen sie sie am Ende mit rostroter Farbe einsprühte und einige raue Kanten einschliff. Denn wenn der kontrollierende Schornsteinfeger bei der nächsten Überprüfung eine perfekte, neue Schraube in dem alten Automaten entdeckte, würde er wissen, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Und das Recht, Maschinen zu reparieren, war allein Schornsteinfegern vorbehalten. Dann würde wahrscheinlich nicht nur der Bügelautomat einkassiert werden, sondern auch Cornelius seine Schneiderei verlieren und schließlich herauskommen, dass Cleo ihm geholfen hatte. Das durfte sie nicht riskieren.
Cleo hielt die Schraubennachbildung prüfend ins Licht. »Probieren wir es aus.« Sie führte das Metallstück in die Fassung ein und drehte es fest – die Schraube passte perfekt. Cleo machte einen Schritt zurück und nickte Cornelius zu.
Skeptisch füllte dieser ein paar Stücke Kohle in den Ofen, hängte ein Hemd oben in die Bügelvorrichtung und schloss die Klappe. Dann betätigte er den Starthebel. Es ruckelte leise. Schließlich setzte sich die Maschine sanft in Bewegung, ohne dass sie Rauch ausstieß, wo keiner sein sollte. Ein Lächeln breitete sich auf Cornelius’ Gesicht aus. Mit einem feinen Klingeln öffnete sich die Klappe und ein perfekt geglättetes, noch dampfendes Hemd kam zum Vorschein. Cornelius umarmte Cleo stürmisch. »Er funktioniert! Cleo Silberdreh, du Maschinenflüsterin, du Wunderwerkerin, du bist ein Segen! Sei dir gewiss, dass du auf Lebzeit jegliche Kleidung umsonst von mir bekommst, was immer du und deine Schwester braucht.«
Cleo löste sich von ihm. »Schon gut.« Auch sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Gwynnie und sie nahmen keine Bezahlung in Kohle an, da sie eh keine Verwendung dafür hatten, und die wenigen Taler, die die Menschen besaßen, wollten sie ihnen nicht abnehmen. Viel sinnvoller waren andere Dinge für sie – wie neue Kleidung, Bücher oder auch Dienstleistungen.
Als sie nach vorne zu Valentin ging, stimmte Cornelius hinten gerade ein Liedchen an, das die Kunst des Bügelns lobpreiste.
Valentin grinste sie an. »Machst du deinem Namen wieder alle Ehre?« Offenbar war er fertig mit seiner Arbeit, denn er verstaute bereits die Nadeln. Das Kleid lag ordentlich gefaltet in einer Schachtel.
Cleo stemmte die Hände in die Hüften. »Ich muss ihn ja schließlich verteidigen.«
Eine ihrer ersten Arbeiten war eine sensible Standuhr gewesen, die mit verzwirbelten Silberdrähten arbeitete. Ein seltenes und schwieriges Material, mit dem selbst die meisten Schornsteinfeger nicht umgehen konnten. Die Uhr hatte seit Jahrzehnten stillgestanden, weil niemand wusste, wie man sie reparierte. Da der Besitzer längst keine Hoffnung mehr gehabt hatte, dass die Uhr jemals wieder funktionierte, hatte er zugelassen, dass die damals zwölfjährige Cleo sich daran versuchte. Zur Überraschung aller hatte sie die Uhr zum Laufen bekommen, woraufhin der Besitzer ihr den Namen Silberdreh gegeben hatte. Eigentlich durfte Cleo keinen eigenen Nachnamen tragen, dies war den Mitgliedern der Gilden vorbehalten, und simple Arbeiter gehörten keiner an. Doch der Uhrbesitzer war stur gewesen und hatte nicht akzeptiert, dass so eine begabte Handwerkerin nicht die Ehre eines eigenen Namens genoss. Und da er aus dem Silberviertel stammte und somit bessergestellt war als Cleo, wollte sie nicht widersprechen.
Mit der Zeit hatte der Name die Runde gemacht und die Menschen, denen sie half, nannten sie so. Eine Art Erkennungssymbol, ein Zeichen dafür, dass sie vertrauenswürdig waren und Cleo nicht verpfeifen würden. Denn auf offizieller Seite musste Cleo natürlich weiterhin angeben, keinen Nachnamen zu haben.
Valentin verschloss die Schachtel mit einem Deckel. »Ich mache mich mal lieber auf den Weg, das Kleid auszuliefern.« Cleo horchte auf. Ernestine Klangholz wohnte im Kupferviertel, welches auf der anderen Seite von Rußstadt lag. Um dorthin zu gelangen, mussten sie am Schlotplatz vorbei, direkt bei der Kohlefabrik, wo in wenigen Minuten die Parade beginnen würde. Sie zögerte und berührte das Heft in ihrer Tasche. Sie hatte Gwynnie gesagt, dass sie nicht zur Parade gehen würde, und wollte nicht als Lügnerin gelten. Aber wenn sie nur zufällig daran vorbeikam …
»Ich kann dich hinbringen!«, bot sie an. »Mit dem Rad sind wir schneller.«
Valentin war nicht überzeugt. »Das kommt mir ziemlich gefährlich vor. Ich glaube, ich laufe lieber.«
Cleo schnaubte. »Gefährlich? Ich bitte dich! Ich kenne diese Straßen wie meine Werkzeugtasche und weiß ganz genau, wie ich hier fahren muss. Dir passiert nichts. Versprochen. Und willst du wirklich den halben Tag nur wegen eines Kleides durch die Stadt laufen?«
Valentin überlegte, dann nickte er und lächelte. »Na schön.«
Valentins Griff um ihren Bauch war so fest, dass Cleo befürchtete, er würde sie zerquetschen. »Oh, das war ein Fehler«, jammerte er, während sie durch die Straßen jagten.
Cleo sah nach hinten. Zwischen ihnen hatte Valentin die Schachtel eingeklemmt und den Kopf darauf abgelegt, die Augen hielt er fest geschlossen. Sie lachte bei seinem kalkweißen Anblick und führte eine waghalsige Kurve aus, was er mit einem leisen Winseln quittierte.
»Was hast du denn?«, rief sie, um ihn zu ärgern. »Macht doch Spaß!«
»Ich hasse dich so, so sehr«, wimmerte er.
Als sie sich dem Schlotplatz näherten, schaltete Cleo den Motor aus und drosselte die Geschwindigkeit, was Valentin ein erleichtertes Seufzen entlockte. Hier waren zu viele Menschen, um schnell zu fahren. Und viel zu viele Schornsteinfeger und Industrielle, die ihre verbotene Technikspielerei entdecken konnten.
Valentin hob endlich den Kopf und seine Züge entglitten ihm, als er bemerkte, warum Cleo langsamer geworden war. »Der Schlotplatz?« Dann trat die Erkenntnis in seinen Blick. »War das die ganze Zeit dein Plan, bei der Parade anzuhalten?«
Cleo stoppte das Fahrrad und stieg ab. »Nur ganz kurz!« Valentin kletterte ebenfalls vom Rad, wobei er seinen wunden Hintern rieb. »Ich muss das Kleid ausliefern, wir haben keine Zeit!«
»Gerade wolltest du noch den ganzen Weg zu Fuß laufen, die Ausrede gilt also nicht.« Cleo winkte ihn zu sich. »Komm schon, so was Aufregendes passiert nur einmal im Jahr.« Valentin zögerte. Aber dann gab er sich einen Ruck. »Na gut, wenn es nicht zu lange dauert.« Er zögerte. »Ich schätze, deine Schwester soll nichts davon wissen, was?«
Zur Bestätigung zuckte Cleo nur mit den Schultern, doch Valentin verstand es auch so.
*
Die Kohlefabrik befand sich im Gegensatz zu den anderen Fabriken in der Mitte von Rußstadt, im nach ihr benannten Kohleviertel. Der Schlotplatz war so das Zentrum der Stadt, ein Versammlungsort und Treffpunkt, genutzt für Veranstaltungen, Verkündungen, Feste oder eben die Parade. Manche Menschen pilgerten sogar täglich hierher und dankten in der kleinen, angrenzenden Kapelle den Industriellen für die Kohle, die ihr Leben erhellte, und den Schornsteinfegern, dass die sie beschützten.
Heute stand eine Bühne mitten auf dem Platz, wo das große Banner der Schornsteinfegergilde hing und ein Mikrofon stand. Direkt dahinter erhob sich der riesige Schlot, der so hoch in den Himmel ragte, dass er in den Rauchwolken verschwand, die er selbst erzeugt hatte.
Ein schwarzer Teppich führte zur Bühne und ein gleichfarbiges Band hielt die Menschenmassen zurück, die sich an den Seiten, flankiert von kleineren Bannern, versammelt hatten. Die meisten waren dunkel gekleidet und schwenkten ihre Fähnchen und Zylinder. Eine Kluft wie die der Schornsteinfeger zu tragen, war bei Strafe verboten, aber heute wurde es geduldet, da die Menschen es zu ihren Ehren taten.
Cleo und Valentin schoben sich durch die Menge, bis sie eine Lücke fanden, durch die sie noch etwas sehen konnten.
Das Geräusch eines Horns erklang, das Zeichen, dass die Parade begann. Sie waren gerade noch rechtzeitig gekommen. Das Tuscheln schwoll an und alle reckten die Hälse, um zu einer Tribüne zu blicken, die von Schutzleuten umgeben war. Hier saßen die Industriellen, um in sicherer Entfernung von der gewöhnlichen Bevölkerung dem Geschehen beiwohnen zu können.
In der ersten Reihe saßen die vier mächtigsten Industriellen, die alle Gilden unter sich vereinten und somit Rußstadt regierten.
Die kleine Richardis Stahlstein mit dunkler Miene und verkniffenem Mund, die allen Maschinenfabriken und sonstigen mechanischen Gewerken vorstand. Der rundliche Balthasar Brauchgut, Vorsteher der Gebrauchsgütergilde, verantwortlich für die Lebensmittelversorgung und weitere Dienstleistungen, die zum täglichen Nutzen gehörten. Ihm unterstellt waren etwa Bauern, Musiker oder auch Schneider wie Valentin. Amaury Neumach mit seinem überheblichen, schleimigen Grinsen im Gesicht, zu dessen Bereichen Bau- und Sicherheitsangelegenheiten gehörten und der verantwortlich war für die Alarm- und Rußwarnsysteme. Auch Gwynnie mit dem Signalturm gehörte streng genommen zu ihm.
Und schließlich Toska Liebkind, die Besitzerin der Kohlefabrik, die für die Kohleversorgung zuständig und somit wohl die einflussreichste Industrielle der Stadt war. Ihr war nur eine einzige weitere Gilde unterstellt: die der Schornsteinfeger.
Liebkind stand nun auf und schritt den Weg zur Bühne entlang. Ein Raunen ging durch die Menge. Ihr ausladendes Kleid war blütenweiß. Niemand in Rußstadt trug Weiß, da man sofort den Ruß darauf sah. Auch bei Liebkind würde es nicht lange dauern. Die Tatsache, dass sie die Farbe dennoch gewählt hatte, symbolisierte ihre Überlegenheit und ihren absurden Reichtum. Dieses Kleid war nur für die wenigen Minuten ihres Auftrittes bestimmt. Cleo verstand plötzlich, warum Gwynnie die Reichen nicht leiden konnte.
»Was gäbe ich dafür, einmal etwas Weißes zu nähen«, seufzte Valentin. Ein Zischen umgab die Industrielle, während sie zur Bühne ging und den Menschen zuwinkte, wobei sie konsequent über sie hinwegblickte.
Links und rechts waren kleine Ventilatoren in ihren Kragen eingearbeitet, Luftfilter, welche die Luft rund um Liebkinds Gesicht reinigten, damit sie keinen Ruß einatmete. Kein Vergleich zu den Rußschutzschals. Die schmutzige Luft wurde wie aus einem Auspuff unter ihrem Kleid hinausgepustet, sodass sie eine Spur aus Ruß und Rauch hinterließ, was ihren Auftritt noch beeindruckender machte. Die Königin des Riesenschlots rauchte selber wie einer.
Schließlich erreichte sie die Tribüne und stellte sich hinter das Mikrofon. »Verehrtes Volk von Rußstadt«, ergriff sie das Wort. »Es ist mir eine große Ehre, die alljährliche Parade der Schornsteinfeger zu eröffnen. Heute wollen wir die Menschen ehren, ohne die ein Leben in unserer fortschrittlichen Stadt nicht gefahrenfrei möglich wäre. Die Menschen, die jeden Tag ihr Leben riskieren, um uns zu beschützen, damit wir weiterhin die Kohle benutzen können, die unser Leben so lebenswert macht. Denn Kohle ist Licht. Kohle ist Leben. Ohne Kohle würde es kalt und dunkel werden und wir würden im Elend versinken. Wenn wir ihnen nicht vertrauen, kann die Kohle, die unser Leben erhellt, auch das Ende jenes Lebens bedeuten. Wie es einst den Lichterlohen geschah.« Sie deutete auf die verbrannte Ruine am Berghang, direkt neben dem Signalturm, die wie ein Mahnmal selbst von hier aus zu sehen war. »Drum öffnet stets eure Türen, sollte einer von ihnen anklopfen. Denn jeder weiß, dass ihr Besuch Glück bringt.«
Es war eine Floskel, die man sich in Rußstadt zurief. Wenn die Schornsteinfeger ein Haus besuchten, hatten die Bewohner daraufhin Glück. Das Glück, nicht zu verbrennen, sagte Gwynnie immer abfällig. Doch die meisten Menschen klammerten sich an diese Hoffnung, dass der Besuch etwas Gutes verhieß.
Liebkind breitete die Arme aus. »Und somit applaudiert bitte aus voller Kraft für unsere Schornsteinfeger.«
Jubel und Applaus brandeten auf, als eine große Gruppe schwarz gekleideter Männer und Frauen den Teppich entlangmarschierten und sich seitlich davon zum Spalier aufstellten. Cleo betrachtete sie mit Staunen. Alle Schornsteinfeger der Stadt waren hier versammelt. Sie trugen ihre traditionelle Kluft: ein schwarzer Anzug mit glänzenden Knöpfen und ebenso glänzender Gürtelschnalle, ein helles, kunstvoll gebundenes Rußschutztuch, dazu Zylinder und schwarze Schuhe. Über ihren Schultern lag die lange Kehrleine mit dem sternförmigen Besen. Auch wenn sie alle ähnlich aussahen, gab es doch Unterschiede, welche die jeweiligen Familien kennzeichneten.
Da war Susa Frostbruch, deren Knöpfe silberblau glänzten und deren Gewicht an der Kehrleine gezackt wie ein Eiszapfen war. Der gut aussehende Quentin Feuerstatt mit seinem edlen, engen Anzug mit tiefem Ausschnitt und den breiten Schultern, bei dem einige der Mädchen wild anfingen zu kreischen und der ihnen Luftküsse zuwarf. Ganz hinten erkannte Cleo Dustin Sottje, ein noch sehr junger Schornsteinfeger, dessen Anzug bessere Tage gesehen hatte und nicht so modern war wie die der anderen.
»Wenn ich groß bin, will ich auch Schornsteinfeger werden«, hörte Cleo einen kleinen Jungen sagen. Ein törichter Traum, wurde der Beruf des Schornsteinfegers für gewöhnlich doch nur vererbt. Diese Ehre war ihnen so heilig, dass sie sogar ihre Nachnamen an ihre Kinder weitergaben. Und doch konnte sie den Wunsch des Jungen gut nachvollziehen. Wer wünschte sich nicht ein besseres Leben, so wie die Schornsteinfeger es führten?
Als alle Schornsteinfeger sich aufgestellt hatten, schritt ein Mann mit einem beeindruckenden rußgrauen Schnurrbart zwischen ihnen hindurch. Während er die weiter hinten stehenden Schornsteinfeger keines Blickes würdigte, nickte er den vorderen, ehrenvolleren Mitgliedern freundlich zu. Elois Kammkehrer war der Vorsitzende der Schornsteinfegergilde und somit der Angesehenste von ihnen.
Er betrat die Bühne und begrüßte Toska Liebkind mit einem Handkuss. Dann richtete er das Wort an die versammelte Menge: »Ich freue mich über ein weiteres Jahr, in welchem wir uns in den Dienst der Menschen von Rußstadt stellen dürfen. Ihnen zu helfen, ist unser größter Lohn.« Er deutete auf das Ende des Spaliers. »Und es freut mich noch mehr, nun die neue Generation von Schornsteinfegern willkommen zu heißen. Junge Menschen, die ihre Lehre beginnen werden, um euch fortan ebenfalls dienen zu können.« Alle drehten die Köpfe. Am Ende des Teppichs postierten sich drei Jugendliche in Cleos Alter. Ein kleines Nachwuchsjahr für eine so große Stadt. Obwohl sie alle eine traditionelle Schornsteinfegerkluft trugen, die zu ihrer Familie passte, war doch ein entscheidendes Detail anders: Sie trugen statt eines Zylinders eine schwarze Kappe. Dies zeichnete sie als Lehrlinge aus. Einen Zylinder würden sie erst als ausgebildete Schornsteinfeger nach ihrer Abschlussprüfung erhalten.
Kammkehrer räusperte sich. »Als Erstes begrüße ich Emilia Essenbrand.«
Ein hochgewachsenes Mädchen mit langem blondem Pferdeschwanz und kerzengerader Haltung schritt durch das Spalier. Sie lächelte zwei ebenso großen und blonden Schornsteinfegern, ihren Vätern, zu. Doch diese schüttelten mit finsterer Miene den Kopf und sofort verschwand Emilias Lächeln. Akkurat schritt sie weiter nach vorne. Die Essenbrands legten extrem viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild und arbeiteten immer korrekt, schnell und nach Vorschrift.
»Als Nächstes Leander Glanzruß«, fuhr Kammkehrer fort. Wieder ging ein Raunen durch die Menge und das Seufzen einiger kleiner Mädchen erklang, als ein Junge lässig den Gang entlangstolzierte. Er grinste breit und sein Selbstbewusstsein strahlte über den ganzen Platz hinweg. Verstärkt wurde dies durch seine hellroten Haare, die unter seiner Kappe hervorlugten und sanft im Wind wippten. Sie wirkten im Kontrast zu all dem Schwarz wie wildes Feuer.
Leander nickte seinem Vater zu, der ganz vorne bei der Tribüne stand, ebenso selbstbewusst und stolz. Die Glanzruß waren als die besten Schornsteinfeger weit und breit bekannt und man war sich sicher, dass sie als Nächstes die Führung der Gilde übernehmen würden. Bei den einfachen Menschen waren sie jedoch gefürchtet, denn sie gehörten zu den Schornsteinfegern, die die Regeln gerne zu streng auslegten, Geräte scheinbar willkürlich konfiszierten und dabei auch zu rauen Mitteln griffen.
»Als Letztes Tamino Sottje.« Nun folgte ein eher betretenes Schweigen, als ein kleiner, schüchterner Junge mit schwarzen Locken über den Teppich schlurfte. Obwohl die Sottjes per Tradition zu den Schornsteinfegern gehörten, waren sie unter ihnen nicht besonders angesehen, was sich auch in Taminos Auftritt widerspiegelte. Er lief schnell, wohl um es rasch hinter sich zu bringen, und so kam es, dass er über seine eigenen Füße stolperte und hinfiel. Selbst aus dieser Entfernung hörte Cleo Leander Glanzruß auflachen. Dustin eilte zu seinem Bruder und half ihm auf. Schnell lief Tamino weiter und stellte sich neben Leander und Emilia.
Elois holte nun drei kleine Anstecker heraus und befestigte sie am Kragen der Lehrlinge. Dieses zeichnete sie als offizielle Schornsteinfeger von Rußstadt aus und verlieh ihnen auch große Macht: Wer einen Anstecker trug, durfte Häuser betreten, Maschinen warten und alles tun, was Schornsteinfeger taten. Weswegen es wichtig war, sie nicht zu verlieren und dafür zu sorgen, dass sie nicht in die falschen Hände gerieten.
»Möget ihr der Stadt gute Dienste leisten. Kehret gründlich und gewissenhaft.« Alle Schornsteinfeger wiederholten den letzten Satz im Chor, er war das Motto der Gilde. Die drei Jugendlichen strahlten, alle auf ihre Weise. Emilia erhaben, Leander voller Selbstvertrauen und Tamino schüchtern.
»Unsere Schornsteinfeger sind stark und würdig ihres Faches«, fuhr Elois fort. »Doch unsere Stadt ist groß und die Gefahr der Rußbrände allgegenwärtig. Somit sind wir immer auf der Suche nach neuen, fähigen Schornsteinfegern.«
Er hielt ein schwarzes Heft hoch wie das in Cleos Brusttasche. »Wer den Segen aller Schornsteinfeger einholt, hat die Chance, sich zu beweisen, um unser wundervolles Rußstadt zu schützen. Und jetzt wünsche ich euch noch einen wundervollen Feiertag. Möge eure Kohle lange und ergiebig brennen.«
Mit dem Ende der Zeremonie kam Bewegung in die Menschen. Cleo sah, wie Kinder und Jugendliche ihre schwarzen Hefte zückten und auf die Schornsteinfeger zuliefen. Es war eine Geschichte, die immer wieder erzählt wurde, ein Traum, der stets aufs Neue angefacht wurde: Wer den Daumenabdruck jedes Schornsteinfegers sammelte, konnte selber einer werden. Gwynnie sagte, dass dies nur ein Trick der Industriellen war, um die Menschen gefügig zu halten. Wenn sie die Hoffnung hatten, aus ihrem schlechten Leben ausbrechen und zu einem reichen, hoch angesehenen Schornsteinfeger werden zu können, akzeptierten sie diese eher. Immerhin könnten sie eines Tages selbst zu ihnen gehören. Da es für die einfachen Leute kaum Möglichkeiten gab, ihr Leben zu verbessern, griffen alle nach diesem Strohhalm. Noch nie war es einer Person aus dem gewöhnlichen Volk gelungen, Schornsteinfeger zu werden. Und doch blieb in Cleo immer die leise Hoffnung, dass es stimmen könnte. Ihre Hand fuhr zu dem Heft. Einige Kinder liefen auf Quentin Feuerstatt zu und er drückte ihnen seinen rußigen Daumen auf die Seiten. Cleo zögerte. Seiner fehlte ihr auch noch.
Valentin tippte sie an. »Lass uns gehen.« Cleo biss sich auf die Lippe. Es war albern. Nicht einmal Valentin hatte sie erzählt, dass sie die Abdrücke sammelte. Sie sollte einfach los und mit ihm das Kleid ausliefern. Andererseits war das hier Quentin Feuerstatt und wer wusste schon, wann er wieder seine Abdrücke verteilte.
»Ich komme gleich!«, sagte sie und drückte ihm das Rad in die Hand.
Valentin runzelte die Stirn. »Wie du meinst …« Sicher ahnte er etwas, doch besaß den Anstand, nichts zu sagen. Stattdessen drehte er sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Cleo wartete, bis er verschwunden war. Dann hechtete sie zu der Traube von Kindern, zog ihr Heft hervor und blätterte zu der Seite von Quentin Feuerstatt. Gerade wollte er sich abwenden, als Cleo es ihm direkt unter die Nase hielt. Er sah sie überrascht an. Verrußt! Sie wollte wirklich nicht bei einem Schornsteinfeger als aufdringlich auffallen. Doch dann grinste Feuerstatt, rieb seinen Daumen an der Jacke und drückte seinen rußigen Abdruck in das vorgesehene Feld in ihrem Heft. Er zwinkerte ihr zu und schritt von dannen. Cleos Herz klopfte wie wild und sie musste furchtbar rot angelaufen sein. Erleichterung machte sich in ihr breit. Geschafft. Schnell klappte sie das Heft zu und steckte es zurück in ihre Tasche. Als sie aufblickte, bemerkte sie, wie Leander Glanzruß, der noch immer auf der Tribüne stand, sie beobachtete, sein Gesicht abschätzig verzogen. Er sah auf sie herab, ein Mädchen aus dem Volk mit dem Schmutz der Fabrik im Gesicht, das nach dem Beruf gierte, der ihm einfach so in die Wiege gelegt worden war. Wohl wissend, dass sie niemals eine Schornsteinfegerin sein würde. Beschämt drehte Cleo sich um und lief zurück zu Valentin.
Die Straßen waren wie leer gefegt, als Cleo und Valentin schweigend zum Kupferviertel fuhren. Die meisten Menschen waren auf dem Schlotplatz geblieben, wo nun das traditionelle Fest der Schornsteinfeger begann. Nur in wenigen Fenstern war Leben zu sehen.