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Alex Mondo, 28, ist eine anerkannte Fotografin in der internationalen Kunstszene. In ihren Arbeiten dokumentiert sie ihre sexuellen Begegnungen mit wechselnden Männern - ein Umstand, der einer festen Bindung im Weg ist. In Rom sucht Alex verzweifelt nach starken Motiven für die Biennale, die schon in wenigen Wochen eröffnet wird. Tom Weiss, 31, ist kreativer Kopf bei einer Werbeagentur in Hamburg. Nach außen lebt er den Traum des Alpha-Mannes: Karriere, Geld, Frauen. Doch hinter der Fassade verbirgt sich ein Mensch, der unter der Profanität und Inhaltsleere seines Lebens leidet, der sich insgeheim nach Liebe und Verbindlichkeit sehnt. Bei einem Geschäftsessen in Rom begegnen sich die beiden. Sie verbringen die Nacht miteinander, und Tom verliebt sich. Als auch bei Alex unerwartet Gefühle ins Spiel kommen, ergreift sie die Flucht. Kurz darauf fotografiert sie den Kellner Giulio, der sie zu einer der besten Motivserien ihrer Laufbahn inspiriert und so die Biennale für sie retten kann. Doch genau diese Bilder, Alex' existenzielle Art, ihre Kunst zu leben, führen zum Streit mit Tom. Bei der Biennale in Venedig schließlich kommt es zur Entscheidung: Lieben, sich lieben lassen - oder das Lieben lassen? Ein Roman über Liebe, Lust und Einsamkeit, über Sehnsüchte, die Angst vor den eigenen Emotionen und echter Bindung. Geistreich und emotional, sexy und düster, schillernd und tief zugleich: das Debüt eines starken literarischen Duos.
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Seitenzahl: 261
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Ariane Sommer
Roman Libbertz
Roman
ARS VIVENDI
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage September 2015)
© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur
kick.management GmbH, Köln und Berlin.
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: FYFF GmbH, Nürnberg unter Verwendung eines Bildes von © Space Images/gettyimages
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
Printed in Germany
eISBN 978-3-86913-605-9
Inhalt
1. Er
2. Sie
3. Er
4. Sie
5. Er
6. Sie
7. Er
8. Sie
9. Er
10. Sie
11. Er
12. Sie
13. Er
14. Sie
15. Er
16. Sie
17. Er
18. Sie
19. Er
20. Sie
21. Er
22. Sie
23. Er
24. Sie
25. Er
26. Sie
27. Er
28. Sie
29. Er
30. Sie
31. Er
32. Sie
33. Er
34. Sie
35. Er
36. Sie
37. Er
38. Sie
39. Er
40. Sie
41. Er
42. Sie
43. Er
44. Sie
45. Er
46. Sie
47. Er
48. Sie
49. Er
50. Sie
51. Er
52. Sie
53. Er
54. Sie
55. Er
56. Sie
57. Er
58. Sie
59. Er
60. Sie
61. Er
62. Sie
63. Er
64. Sie
65. Er
66. Sie
67. Er
68. Sie
69. Er
70. Sie
71. Er
72. Sie
73. Er
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76. Sie
77. Er
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79. Er
80. Sie
81. Er
82. Sie
83. Er
84. Sie
85. Er
86. Sie
87. Er
88. Sie
89. Er
90. Sie
91. Er
92. Sie
93. Er
94. Sie
95. Er
96. Sie
97. Er
98. Sie
99. Er
100. Sie
101. Er
102. Sie
103. Er
104. Sie
105. Er
106. Sie
107. Er
108. Sie
109. Er
110. Sie
111. Er
112. Sie
113. Er
114. Sie
Dank
Die Autoren
Für Euch, meine Lieben, Klaus, Hannelore und Fabian.
Für Clay, den Mann, den ich liebe.
für dich,
sarah,
mein mensch,
für dich,
uschi,
und dich,
lutz.
»Liebe ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht zu erhalten.«
B.B.
Er
Augen auf. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen begrüßt mich die Welt. Alleine liege ich in meinem Bett. Wozu sein Glück bei anderen suchen? Glück kommt in kleinen Dosen: Du freust dich, du lachst, und dann fallen deine Mundwinkel wieder zu Boden.
Hamburg, meine Heimatstadt, 6:30 Uhr. Jetzt aber hoch, Zähne putzen, den doppelten Espresso in Unterhose zu mir nehmen, duschen und anziehen. Raus in den Alltag. Zeit zum Geldverdienen.
Sie
An manchen Tagen fühle ich mich wie ein Vogel, dem die Flügel versagen, der mit unglaublicher Geschwindigkeit auf die Erde zurast. In Nächten wie der vergangenen fühlt sich Fallen an wie Fliegen, zumindest kurz. Das erste Licht des Morgens streift seine geschlossenen Lider, sein verschwitztes Haar. Zeit zu gehen. Sachte ziehe ich die Decke über seine nackten Schultern und sammle auf Zehenspitzen meine Sachen ein. Während ich mein Kleid überziehe, verhallen die Liebesschwüre der Nacht in meinem Kopf, ebenso wie sein Name. Ich habe, wofür ich gekommen bin, und verlasse die Wohnung, ohne mich umzudrehen.
Er
Du musst nicht der Beste sein, sei einfach glücklich. Mit vierzehn Jahren habe ich mir diesen Satz in Großbuchstaben an die Wand meines Kinderzimmers geschrieben, und trotzdem bin ich immer der Erste in der Firma.
Vor mir mein mit Chrom eingefasster Schreibtisch in der Mitte meines 47 Quadratmeter großen Büros, und meine Anzugärmel darauf. Mein signiertes Stierkampfplakat der spanischen Torerolegende José Tomás, meine gläserne Vitrine mit unzähligen abgegriffenen Bildbänden und die deckenhohen Glasscheiben, die mich von der Legebatterie der Zulieferer trennen.
Drei Dinge über Werbeagenturen:
Du buckelst dich krumm. Du bist oben und lässt nur noch andere für dich buckeln. Du wechselst im richtigen Augenblick die Agentur oder wirst einfach entlassen.
Irgendwann waren da meine zwei guten Einfälle. Jetzt bin ich hier und auch Audi, dein Auto ist von mir. Nicht gerade genial, das weiß ich selbst, aber simpel, einigermaßen einprägsam oder einfach egal, denn es hat gegriffen.
Nebenher synchronisiere ich jede zweite, dritte Woche Werbespots für große Industrieunternehmen. Sechs Jahre sind es nun schon fast, die ich als sogenannter Kreativer bei Planservice Ideas arbeite. Gewünscht habe ich mir das alles allerdings nie. Gut, ich muss mir kein Bein mehr ausreißen, um mich teuer zu kleiden, einen roten Mercedes 280er SL zu fahren oder eine 160-Quadratmeter-Wohnung zu unterhalten. Doch Geld, so habe ich feststellen müssen, erfüllt zwar so einige nie geträumte Träume, aber lässt dich rasend schnell zu bequem werden, deine wirklichen Sehnsüchte zu stillen.
Das silberne Apple-Laptop fährt hoch. Ich kaue am Nagel meines Zeigefingers, eine Angewohnheit, die ich mir nicht abgewöhnen kann. Wie das Wichsen.
E-Mail-Eingang: 76 Spammails. Spam, komisches Wort, ursprünglich die Dosenfleischmarke der Amis während des Zweiten Weltkriegs, heute Geschütze im Konsumkrieg. Nein, ich brauche mit meinen 31 Jahren kein Viagra. Löschen. Nein, mein Penis ist nicht zu klein, 18,5 Zentimeter, um genau zu sein. Löschen. Nein, ich will jetzt keinen Sexchat mit Chantal aus meiner Nähe. Ich habe keinen Bock auf Sex. Löschen. Mein Blackberry vibriert.
Das Meeting für die neue LaMain-Kampagne ist in drei Stunden.
Sie
Auf der Straße vertreibt die Sonne die letzten Splitter der Nacht aus meinen Augen. Für jetzt. Obwohl ich seit Tagen nicht geschlafen habe, fühle ich mich so beschwingt, als hätte die Erdanziehung keine Macht mehr über mich und ich könnte einfach mit einer weit ausgreifenden Bewegung der Arme abheben. Die Fensterläden eines der rostfarbenen Häuser neben mir werden aufgestoßen, und ein kleines Mädchen blinzelt verschlafen in die Außenwelt, reibt sich fröstelnd die Arme, der Mai zeigt sich morgens noch von seiner kühlen Seite.
Eine einsame Vespa knattert an mir vorbei, als ich den Tiber überquere, und im dunklen Wasser leuchtet golden der Petersdom. Kurz stelle ich mir vor hineinzuspringen, Gott zu besuchen, er ist bestimmt schon wach, so laut, wie ich ihn gerufen habe letzte Nacht.
Meine Absätze knallen auf den Asphalt, schlagen im Takt mit dem Herzschlag der Ewigen. In jedem Ort pocht unterschwellig ein Gedanke, ein Gefühl. In New York ist es Erfolg, in Shanghai Veränderung, in Paris die Liebe, und hier in Rom ist es Sex. Mit den Fingerkuppen streiche ich über die Hülle der Leica M9 in meiner Handtasche. Die Technologie ist nicht ganz so ausgefeilt wie die der Japaner, aber sie liegt gut in der Hand, und sie ist intimer, leiser als die Nikon mit ihrem klick, klick, klick.
Fotografie ist Schattenkomposition. Vielleicht fühle ich mich deswegen zur Kamera hingezogen. Still wie eine Spinne, die in ihrem Netz hockt und auf Insekten wartet, öffnet sie ihr Auge, schnappt im Bruchteil einer Sekunde zu und zieht sich dann wieder zurück in den ihr eigenen Zustand der Blindheit.
In Gedanken spiele ich mit meiner Beute, sein Lächeln gehört jetzt mir. Ich werde es den anderen Stücken meiner Sammlung hinzufügen, bis ich den perfekten Mann geschaffen habe.
An einem Zeitungskiosk in der Via Giuseppe Zanardelli kaufe ich Postkarten und schlendere anschließend auf die Piazza Navona, fast frei von Touristen, der frühe Morgen die einzige Tageszeit, an der sie erträglich ist, und ich kann das Wasser in Berninis Vierströmebrunnen plätschern hören.
An einem der gerade erst aufgestellten Tische vor dem Barocco setze ich mich und bestelle Caffè Corretto con Grappa, ein Schokoladen-Cornetto dazu, und reihe die Postkarten vor mir auf. Donnerstag ist Muttertag, und wie jeden Donnerstag schreibe ich an meine Mütter in Shanghai, Buenos Aires, Berlin und Paris.
Meine neueste Mutter, Elisabetta Masina, werde ich nach dem Frühstück besuchen. Es gibt immer ein Altenheim, das sich über freiwillige Helfer freut.
Klappernd stellt der Kellner das Espresso-Grappa-Gemisch vor mir ab. Es brennt in meiner Kehle, ein Gefühl, das ich mag, weil es mich ins Jetzt zwingt.
Heute Mittag das Telefonat mit meinem Galeristen Frank Adler in New York. Wann die Prints für die Ausstellung fertig sind. Wann er die Motive zu sehen bekommt. Ich weiß es nicht. Seit Monaten bin ich auf der Suche, fotografiere wie besessen, aber nichts ist dabei, das gut genug ist, und die Zeit wird knapp.
Letzte Nacht gab es einen Moment, in dem es sich angefühlt hat, als bewegte ich mich am Rand von etwas, als wäre ich einer Enthüllung nahe. Aber als ich dann versucht habe, genauer hinzusehen, und die Kamera wieder ansetzte, war es weg. Ich weiß, dass Frank fluchen wird, wenn er auflegt, und mein Hochgefühl fängt langsam an, sich aufzulösen. Versager, Versager,Versager, spricht es in einer Endlosschleife in meinem Kopf.
Das Cornetto ist inzwischen auf ein Häufchen Krumen und Fetzen zusammengeschrumpft, und ich schubse es in Richtung einer ramponiert aussehenden Taube, die sich erschreckt und davonfliegt. Durch meine Sonnenbrille starre ich die Menschen um mich herum an. Bin ich die Einzige mit einem Geheimnis? Welche Dunkelheit verbirgt sich hinter ihren Augen?
Das iPhone brummt. Bjorn, der schöne, traurige Schwede aus Paris, dessen himmelgrauen Regen-auf-der-Seine-Blick ich in meine letzte Serie S’Oublier gesetzt hatte. Ich traf ihn bei einem Spaziergang auf dem Friedhof. Père Lachaise, Oscar Wildes Grab. Am selben Abend: Umarmung, Schwitzen, Erlösung. Als er in mich eindrang, stellte ich mir nordschwedische Bäume vor, gewaltige urzeitliche Ungetüme, welche die Erde mit ihren Wurzeln spalten, und ich schrie.
Vive la France – und danke, Oscar.
Wann ich wieder nach Paris komme?, blinken mich die elektronischen Schriftzeichen fragend an. Nicht absehbar, ich drücke »Send«. Paris war gestern, Rom ist heute, und wer weiß, was morgen ist.
Meine Faust schließt sich um die gezackte Schneide des Messers, das vor mir liegt, und lässt los, bevor die Haut nachgibt. Ich muss in den nächsten Tagen noch oft auf den Auslöser drücken. Ein aufdringliches »Bella bionda!« lässt mich aufschrecken, eine Gruppe italienischer Studenten läuft lachend an mir vorbei.
Demonstrativ versenke ich meinen Blick in die trüben Espressoreste meiner Tasse, mir ist nicht danach. Aufgeregtes Geschnatter auf Deutsch und Englisch übertönt das Murmeln des Springbrunnens, das Oval der Piazza füllt sich mit Rucksackträgern, die sich gegenseitig mit immer gleichem Grinsen vor unterschiedlichen alten Gemäuern ablichten, um zu beweisen, dass sie hier gewesen sind. Bin ich so anders als sie? Ich nutze die Messerklinge als Spiegel, ziehe mir die Lippen rot nach, wische mit Spucke auf dem Zipfel einer Serviette die verlaufene Wimperntusche unter meinen Augen weg und werfe ein paar Euros auf den Tisch.
Er
Wie immer habe ich gar nichts. Das Wunderbare an Werbung und Text ist aber: Jede noch so große Aufgabe kann in Sekunden erledigt sein. Auf dem Weg quer durch das mit mehr als vierzig Angestellten übervolle, durch kleine weiße Stellwände aufgeteilte Großraumbüro in Richtung Toilette spüre ich die ehrfürchtigen Blicke der Zulieferer. Süßlicher Schweißgeruch dringt an meine Nase. Klotür, englisch abgekürzt 4u2p, auf. Ich ziehe den Wasserhahn nach oben und klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht. Mir muss etwas einfallen, und das schnell.
Drei Dinge über Ideen:
Sie kommen nie zur richtigen Zeit. Sie sind nie so großartig, wie du im ersten Moment denkst. Jemand hat sie immer schon vor dir gehabt.
Als ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, sehe ich plötzlich einen dunklen Schatten neben mir und zucke zusammen. Erst jetzt erkenne ich sein bärtiges Gesicht. Es ist Obi-Wan Kenobi, der weißhaarige Jedi-Ritter aus dem Science-Fiction-Märchen Star Wars mit seinem beigen Leinengewand und der braunen Kutte. Er ist einfach aufgetaucht. Aus dem Nichts. Das geht schon seit Jahren so.
»So sehen wir uns wieder, Tom«, sagt er.
»Was willst du hier? Ich kann jetzt nicht. Ich habe tausend Sachen im Kopf. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss was liefern.«
»Du bist wie dein Vater.«
»Du weißt, dass mein Vater tot ist.«
»Ich weiß, mein Junge, aber sag mir, womit hast du die Zeit verschwendet? Zeit ist so ein kostbares Gut.«
»So ein Mädchen vorgestern.«
»Bewegte es dich?«
»Natürlich nicht. Du bist mir gerade keine Hilfe. Ich muss verdammt noch mal nachdenken.«
»Du brauchst nicht mehr zu denken. Es liegt bereits vor dir.«
Wie erschienen, so verschwindet Ben Kenobi wieder. Auch das macht er immer so.
Okay, erster Versuch: LaMain produziert Mode für Teenager. Ich bin schon lange kein Jugendlicher mehr. LaMain, das muss sein! Nein, oh Gott!
Zweiter Versuch: LaMain, da pass ich rein. Nein, zu unsexy!
Dritter Versuch: Ich denke an die achtzehnjährige Gaby von vorletzter Nacht. Wenige Worte, ein Nicken, der Champagner brachte sie in Stimmung. Ich machte ihr Komplimente, ihre Finger spielten mit meinem Yazbukey-Ring, und das weiße Top betonte ihre silikonisierten Brüste. Ich zwang ihr einen weiteren Drink auf, und noch einen. Dann kamen wir endlich in ihrer Wohnung an. Sie taumelte ein wenig und kickte ihre roten Stöckelschuhe achtlos gegen die Wand. Ihre schwarz lackierten Zehennägel erregten mich. Ich schmiss sie auf die Couch. LaMain, somegasexy kann Mode sein! Perfekt, geht doch.
Hände abtrocknen. Für einen weiteren Moment betrachte ich mich im Spiegel. Die schwarzen Haare, die graugrünen Augen, die Augenringe, die schmale Nase, meine Nasenlöcher. Halt! Ist der Abstand zwischen meinen Nasenflügeln etwa geschrumpft? Kann das sein? Was ist, wenn sie vollständig zuwachsen? Wäre ich bereits tot, wenn sie mich nicht gerettet hätten, als ich mich irgendwann verschluckt habe? Wie würden andere Menschen auf mich reagieren, wenn ich derart entstellt wäre? Scheißhysteriepeitschende Fantasie!
Ich zerknülle das Papierhandtuch, versenke es im Mülleimer und verlasse die Toilette in Richtung Konferenzsaal.
Natürlich bin ich bereits zu spät. Das frisch verlegte Parkett knarrt unter meinen schwarzen Lederschuhen, als ich den lichtdurchfluteten Raum betrete. Wie erwartet haben sie bereits ohne mich angefangen. Zehn Männer an einem langen weißen Tisch, alle im Anzug. Zwei mit grauen Haaren, die Auftraggeber. In unserer heutigen Gesellschaft haben die Statussymbole der Achtzigerjahre immer noch nicht ausgedient, Maßanzüge, Rolex, nur der damals gut genährte Bauch ist mittlerweile dem durchtrainierten gewichen. Ich setze mich auf den freien Platz und versuche mich hart daran, dem zehnfachen Blabla mit interessiertem Gesicht zu begegnen. Jeder will sich auf beste Art positionieren, profilieren, sein Ego zeigen und, abgesehen vom Kunden, der Inhaber des größten Schwanzes sein. Business as usual. Endlich bin ich an der Reihe.
Ich stehe auf, schlendere so langsam wie möglich zum Chalkboard, Retro ist ja gerade wieder angesagt, schnappe mir eine rote Kreide und schreibe meinen Satz. Nur von Atemgeräuschen durchbrochene Stille. Dann nicken die beiden Grauhaarigen zufrieden, ich schüttle ihnen die Hände und bin für heute befreit. Nie wollte ich den größten Schwanz haben, aber immer den schönsten.
Mit meinen Rossetti-Schuhen auf dem Schreibtisch genehmige ich mir wenig später noch einen Espresso lungo mit extra Milch und zünde mir eine Zigarette an. Vor Kurzem habe ich zu einer Marke gewechselt, die keine Zusatzstoffe oder Brandbeschleuniger enthält. Aufgrund der großen Aussagekraft über den Charakter will die Wahl der Kaffee- oder Zigarettenmarke heutzutage gut überlegt sein. Ich rauche Natural American Spirit, meide Starbucks, greife manchmal zu Afri-Zigaretten, mag die Balzac Coffee Company und habe tatsächlich zu viel Zeit, mich ernsthaft mit diesem Scheiß auseinanderzusetzen. Mein Magen brummt. Ich sehe nach draußen. Es regnet gegen die Scheiben. Ich mag den Regen.
»Komm, wir gehen zum Italiener an der Ecke, was essen.«
»Okay, aber nur, wenn das keinen Haken hat.«
Bernd, dessen Eintreten ich gedankenversunken nicht bemerkt habe, lächelt. Bernd Osterkamp, der Mittvierziger mit der Vorderglatze, den Sommersprossen und der Nickelbrille, der hinter vorgehaltener Hand »Werber von der schmächtigen Gestalt« genannt wird, ist der Creative Director der Firma und mein Chef. Auf dem kurzen Fußmarsch über die mit frischen Graffiti übersäte Leverkusenstraße beginnt er, wie gewohnt, ohne Punkt und Komma auf mich einzureden. Ich stelle währenddessen in Gedanken meinen Einkaufszettel zusammen. Den YSL-Gürtel mit Comicschrift-Schnalle, Tomaten, Mozzarella, Rotwein und Zigaretten. Wird Zuhören und gleichzeitig Denken auch Multitasking genannt?
In der komplett in Rotbraun gehaltenen L’Osteria, einer Untermarke der Vapiano-Gruppe, ergattern wir einen der letzten freien Tische und lassen uns von einer mehr als lethargischen Kellnerin eine Flasche Rosé Champagner bringen. Anschließend stoßen wir, er freudig, ich mit gespielter Freude, an. Ich hasse Champagner, nicht nur, weil ich davon jedes Mal Sodbrennen bekomme, sondern weil der überteuerte Traubensprudel einfach proletenhaft ist. Da meine Idee aber, wie er sich ausdrückt, »so unglaublich gezündet« hat, meint er, es sei angebracht. Markenfetischismus, sich produzieren und Übertreibungen waren schon immer seins. Da fällt mir ein, ich muss noch meinen Mercedes aus der Reparatur holen.
Bernd stürzt das erste Glas wie Wasser und fragt mich: »Und was machen die Frauen so?«
»Immer noch der alte voyeuristische Bock, wie?«, weiche ich aus.
Er lacht. Was hätte ich auch zu antworten? Dass es mir schon lange nicht mehr um schnellen Sex geht, weil das immer nur Selbstbewusstseinspolitur ist, dass ich mir manchmal wirklich wünsche, Nina wäre noch da, dass ich mich alleine bestens fühle und mich trotzdem jederzeit wieder fallen lassen würde, es aber scheinbar niemanden mehr für mich gibt? Oder dass jeder vögeln kann, es nur Fortpflanzungstrieb ist, ich aber kein Tier mehr sein will?
Die Bläschen in meinem Champagnerglas blubbern nur noch spärlich. Ich nehme einen Schluck. Dann beugt sich Bernd ein Stück über den Tisch.
»Okay, Tom«, sagt er. Tom bin ich, eigentlich Thomas, und jetzt kommt der Haken. In gewohnt hastigen Worten breitet Bernd wieder einmal eine geschäftsbedrohende Zwangslage vor mir aus, an deren Ende es ihm, wie so oft, gelingt, mir ein Ja aus den Rippen zu leiern. Ich bin gezwungen, morgen nach Rom zu fliegen, da ein ach so wichtiger Kunde eine ach so riesengroße Kampagne vorhat und ach so viel Wert auf meine Talente gelegt wird. Im Klartext: Ich muss bei einem Abendessen morgen Abend ein Arschloch auslecken. Ach, was für eine Scheiße, aber Chef ist Chef. Wir verlassen das Lokal durch eine Tür, über der Kein Ausgang steht. Wir haben nichts gegessen.
Sie
Altenheime sind furchtbar, egal ob armselig oder luxuriös. Summende Lichtröhren beleuchten Menschen, die in Rollstühlen auf Linoleumgängen geparkt sind wie verlassene Wagen am Straßenrand. Manche von ihnen sind ausgemergelt, starren mit offenen Mündern an die Decke, rissige Erde, die vergeblich auf Regen wartet. Es riecht nach Urin und Babypuder. Reflexartig schließt sich meine Faust um den silbernen Anhänger an meinem Hals. So werde ich nicht enden. Selbstmord wundert mich nicht. Mich überrascht lediglich, dass nicht mehr Menschen ihn begehen.
Ich laufe an einer Frau vorbei, die in unregelmäßigen Abständen mit der flachen Hand auf ihren Schoß klatscht, als gäbe es dort ein Ungeziefer zu töten, und bin froh, als ich die Tür von Zimmer 121 hinter mir zuziehen kann.
»Figlia mia«, begrüßt mich die kleine Frau im Schaukelstuhl mit brüchiger Stimme.
»Hallo Elli, wie geht es dir?«
Ich beuge mich zu ihr, umarme ihre frotteebemantelten, gekrümmten Schultern und küsse ihre Wangen.
Sie sieht mich verunsichert an. »Ist denn heute schon Donnerstag?«
Ich nicke.
»Ich werde immer vergesslicher. Heute Morgen habe ich sogar vergessen, wo ich meine Brille hingelegt habe, dabei wollte ich so gerne wissen, wie meine Geschichte ausgeht.« Betrübt zeigt sie auf ein Buch, das auf dem Beistelltisch liegt. Eine italienische Übersetzung von Hemingways Wem die Stunde schlägt.
»Liest du mir vor?«, fragt sie. Liest du mir vor? Das Echo meiner eigenen kindlichen Stimme in meinem Kopf, dann die Erinnerung an meinen Vater, wie er Grimms Märchen quer durch den Raum gegen die Wand schleudert und anschließend aus dem Zimmer stürmt. Das war, als er anfing, an mir vorbeizusehen, wenn er mit mir sprach. Er, dessen Augen sonst immer so gestrahlt hatten, als ob ich etwas ganz Neues und Wunderbares wäre, sobald sie mich sahen, obwohl er mich doch schon elf Jahre hatte. Ich führte es auf meinen Körper zurück, der sich zu verändern begann, und hasste ihn dafür.
Ohne Vorwarnung kam mein Vater oft wochenlang nicht nach Hause, nur um dann plötzlich irgendwann ebenso unangekündigt von einem Aufenthalt in Indien, Südamerika oder England wieder aufzutauchen, mit glanzlosen Augen und Staub an den Schuhen. Kurz fühlt sich der Mittag an wie schwarze Nacht.
Ich ziehe meine Mundwinkel nach oben und drücke beruhigend Ellis Hand. »Vergessen ist manchmal gar nicht so schlecht, Elli. Die Brille finden wir schon, und die Geschichte lese ich dir zu Ende vor.«
Sie lächelt zurück, zwinkert verschwörerisch und zieht einen Flachmann unter ihrem Kissen hervor. Aus kleinen Frühstückshoniggläsern trinken wir Grappa auf ihr Wohl und auf das ihres Sohnes, der sie zweimal im Jahr besuchen kommt, und ich beginne zu lesen.
Zwei Stunden und eine feste Umarmung später mache ich mich auf den Weg nach Hause. Wenige Minuten Fußmarsch vom Heim entfernt biege ich in die Via Bocca di Leone ein und überquere den Markt. Gesprächsfetzen, Gelächter, ein bittersüßes Bouquet aus Erdbeeren, Artischocken, Blumen und Räucherschinken, Händler, die ein schnatterndes, gestikulierendes, stets halb empörtes Spektakel aus dem Verkauf machen. Vorbei an Frauen, die mit erfahrenen Fingern zum Bersten pralle Trauben und Tomaten betasten, vorbei am Kartoffelmann mit den erdigen Händen und dem sonoren Bariton, vorbei an einem Tisch, drapiert mit in der Sonne glänzenden Fischen, an dem eine Frau auf eine große Forelle zeigt, die in einer Plastikwanne schwimmt.
Der Händler zieht das zappelnde, sich windende Tier aus dem Wasser, ein Schlag, ein Zucken, dann nichts mehr. Rot-blauer Darm quillt beim Aufschlitzen aus den silbrigen Schuppen, schnell sehe ich weg und laufe weiter, bis ich leicht außer Atem vor der grauen Barockfassade des ehemaligen Palazzos ankomme, dessen oberstes Stockwerk ich bezogen habe. Die Miete ist teuer, aber es leuchtet ein, einen hohen Preis zahlen zu müssen, um im Maul des Löwen zu wohnen.
Auf den Marmorstufen vor dem Eingang sitzt Matteo, der Hausmeister, vor sich eine silberne Thermoskanne und einen Teller dampfender Brote. Es duftet nach frisch geröstetem Kaffee und geschmolzenem Käse.
»Panino?« Er streckt mir den Teller entgegen. Ich nicke und setze mich neben ihn auf die sonnengewärmte Treppe. Er ist die eine Hälfte des Palazzoinstandhaltungsteams, repariert undichte Leitungen und verstopfte Rohre, gebietet bröckelndem Putz Einhalt und dreisten Mäusen im Keller.
Die andere Hälfte, seine Frau Maria, putzt die zwei Etagen, die von den Besitzern, einem Paar, das es vorzieht, auf seinem Anwesen bei Florenz zu leben, an Reisende wie mich vermietet werden, und den Rest des Hauses.
Soweit ich weiß, steht die Etage unter mir im Augenblick leer, ebenso wie die Familienetagen, die, wie mir Matteo erzählt hat, höchstens zweimal im Jahr genutzt werden.
Matteos Tomaten-Mozzarella-Panini sind die besten der Stadt, und das nicht nur, weil ich voreingenommen bin. Wie jeden Tag um die Mittagszeit bereitet er sie in der kleinen Küche der Angestelltenwohnung im Parterre zu und setzt sich, was ihm Maria verboten hat, ihn aber nicht kümmert, zum Essen vor das Gebäude.
Als er mich vor ein paar Wochen zum ersten Mal eines probieren ließ, wurde ich durch den Geschmack des knusprigen Brotes und des geschmolzenen Käses an etwas erinnert, das ich schon lange vergessen hatte. Das Lachen meines Vaters, sich endlos streckende, sonnendurchflutete Nachmittage auf den Stufen vor unserem Haus um die Ecke von Central Park West, er und ich, auf unseren Knien jeweils ein Teller mit Grilled Cheese Sandwiches. Er hat nicht mehr viel gelacht in seinen letzten Monaten.
»Wieder nicht geschlafen?« Matteo mustert mich von der Seite, sieht das, was zweifellos Augenringe sind, und die Knitterfalten in meinem Kleid.
»Ich habe gearbeitet.« Dass ich an Schlaflosigkeit leide, ist gar nicht so schlecht. Es ermöglicht mir, nachts zu arbeiten.
»Uffa«, sagt er, schüttelt den Kopf, reißt ein Stück von seinem Panino und fragt nicht weiter. Schweigend kauen wir und beobachten das Treiben auf der Straße.
»Ausgezeichnet. Das beste Panino, das ich je gegessen habe«, sage ich nach einer Weile. Die Enden seines Schnurrbarts wandern nach oben, das Lächeln so breit, als hörte er das Lob zum ersten Mal von mir.
»Weißt du, die Hauptzutat für ein gutes Panino ist Stolz. Du musst gute Zutaten nehmen, es mit Stolz zubereiten. Das Ciabatta und der Mozzarella sind wichtig. Und gutes Olivenöl. Und der Knoblauch, mit dem du es einreibst, muss das richtige Alter haben. Dann echte Tomaten, nicht dieses Plastikgemüse, das sie im Supermarkt anbieten. Und das Messer, mit dem du es schneidest, soll scharf sein, aber nicht gezackt. Das sind die Grundbausteine, dann hast du ein gutes Panino.« Er hält inne, streicht sich ein paar Krumen von den Lippen. »Ein gutes Panino ist einfach. Aber ein großartiges Panino braucht mehr. Du musst fühlen, was in dem Panino vor sich geht, spüren, wie viel Hitze es braucht, darfst nicht zu viel Druck ausüben. Aber auch nicht zu wenig.«
Ich muss lächeln. »Das klingt fast wie beim Fotografieren.«
»Fotografieren? Ich dachte immer, es ist wie lieben.« Er sieht mich nachdenklich an. »Zeigst du mir deine Arbeit irgendwann?«
»Vielleicht.«
Das Schnappen des Schlosses in der Wohnungstür begrüßt mich, und der kühle Blick einer Büste im Foyer. Die Etage ist voll von Marmorgesichtern, antiken Gobelins, schnörkeligen Rahmen mit alter Kunst und wuchtigen Möbeln, die in den großen Räumen mit den hohen Decken fast zierlich wirken. Ich lebe nicht gern im Hotel, und eine Wohnung zu mieten gibt mir ein wenig das Gefühl von zu Hause.
New York ist mein Zuhause, wenn ich überhaupt eines habe, Heimat ist verschiebbar. Das einzig Konstante in meinem Leben ist seit Jahren die E-Mail-Adresse. Ich ziehe neue, fremde Orte vor, wo die Menschen nichts von mir und meiner Geschichte wissen, meine Gedanken nicht ahnen und die Vergangenheit mit den darin enthaltenen Menschen wie ein Traum scheint, weil einen kein Stein, kein Baum, keine Straßenecke daran erinnert. Mein Leben ist ein ständiges Hallo und Adieu im gleichen Atemzug, und ich rede mir ein, dass es Teil meiner Arbeit ist.
Als ich mich aus dem Kleid schäle, klingelt das Telefon. Frank Adler, von Adler 212, nur ein dünner Film Contenance über der Hysterie, die in seiner Stimme schwingt. Ob ich denn schon eine Idee hätte, wann alle Prints für die Biennale fertig wären. Nur noch fünf Wochen bis zur Eröffnung. Der Katalog müsse gedruckt werden, ich müsse mir die Räumlichkeiten im zentralen Ausstellungspavillon ansehen, bevor meine Bilder aufgehängt würden. Ich hätte ja keine Ahnung, unter welchen Druck ihn das Büro von Jakob Edelstein setze.
Abwesend spiele ich mit dem Anhänger an meinem Hals, bis ich auf eine in der Kette verfangene Haarsträhne stoße. Während ich versuche, sie zu lösen, erinnere ich mich, wie sich die Finger des Mannes, den ich vor ein paar Stunden in seinem Bett zurückgelassen habe, schmerzhaft zu einer Faust um mein Haar geschlossen hatten. Meine Kopfhaut brennt immer noch.
Ich mag Jakob Edelstein. Der Kurator der 56. Biennale ist keiner von denen, die ein Stück unbearbeitetes Holz in der Mitte eines 60-Quadratmeter-Raumes ausstellen und dazu einen dreißigseitigen Essay verfassen.
Vor neun Monaten besuchte er mich in New York, wo ich Editionen all meiner Serien aufbewahre. Lange stand er vor einem Bild mit dem Titel Unhinged, das während meines letzten Aufenthalts in Shanghai entstanden ist. Eine Hand, meine, fast bis zum Anschlag in einen Mund geschoben, nicht meiner, dessen Kiefer so gedehnt ist, dass er ohne Zusammenhang zum Rest des Schädels scheint. Meine Finger das Einzige zwischen ihm und der Leere, die sich irgendwann in seiner Mundhöhle breitmachen würde, aber vielleicht auch der Grund dafür.
»Die meisten Fotografen arbeiten mit Licht, sie fotografieren die Schatten«, sagte Edelstein. Ich fotografiere in Schwarz-Weiß, aber wir wussten beide, dass er nicht die Abstufungen von Rauchgrau bis Nachtschwarz meinte.
»Adler hat recht mit Ihnen. Sie haben viel Aufsehen erregt während der Armory Show.«
Er lächelte, und es hatte nichts Anzügliches. Die New York Armory Show, meine erste Soloausstellung. Für jemanden, der eine international anerkannte Galerie führt, war Frank ein Risiko damit eingegangen, nur meine Arbeiten und keine der anderen, prominenteren Künstler, die er vertrat, auszustellen. Er hatte bewusst eine Auswahl meiner verstörendsten Motive zusammengestellt.
»Chaim …«, setzte Edelstein an.
»… bedeutet Leben«, unterbrach ich ihn.
»Ja, das auch.«
Chaim, mein zentrales Ausstellungsstück auf der Armory Show, die auf zwei mal drei Meter gezogene Aufnahme eines frisch aufgeschnittenen Handgelenkes, mein einziges Selbstporträt. Melodrama war schon immer meins, und die Linse, die ich dafür benutzt hatte, konnte ich danach wegwerfen. Seitdem dokumentiere ich keine Ablebensversuche mehr, man sollte nichts anfangen, das man nicht zu Ende bringen will.
»Das erbarmungslose Fleisch«, zitierte Edelstein die Überschrift eines mir wohl bekannten New York Times-Artikels zu meinen Arbeiten.
»Mondos Werke sind weniger Bild als Schrei. Sie heben die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem auf, ohne Rücksicht auf den Betrachter.«
Er trat ein paar Schritte zurück von Unhinged, und ich erinnere mich, wie unbehaglich ich mich in dem Moment fühlte.
»Sie sind in eine ganz andere Richtung gegangen als Ihr Vater.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich.
»Es gibt Bilder, die von der Kunst handeln, die Bezug auf die Kunst nehmen und die von der Kunst leihen, und dann gibt es Bilder, die sind Kunst. Die Gefühle, die solche Bilder in dem Betrachter wecken, die Erfahrungen, die sie wiedergeben, sind verstörend, oft so sehr, dass man sich wünscht, man hätte sie nicht gesehen.«
Edelstein hielt inne und sah mich ruhig aus seinen blassblauen Augen an.
»Kennen Sie Caravaggios Gemälde Der ungläubige Thomas?«
Ich nickte. In dem Bild ergreift Jesus das Handgelenk von Thomas und führt dessen Zeigefinger in die offene Wunde in seiner Seite, während zwei weitere Jünger, über Thomas’ Schultern gebeugt, das Geschehen verfolgen.
»Caravaggio eröffnet uns Ansichten, die uns zu Zeugen, Komplizen und Tätern machen. So wie Jesus Thomas vertraut und sich aufs Intimste von ihm berühren lässt, vertrauen wir dem Bild und lassen uns von ihm berühren.«
Edelstein hat komplett neue Werke verlangt. Insgesamt sechs Bilder, großformatig, zwei mal drei Meter, sollen gezeigt werden in einem Raum, der durch zwei eigens für mich errichtete Wände zu einer abgeschlossenen Box wird, die nur durch eine enge Tür begehbar ist.
Die Biennale. Endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Zu wissen, dass ich um meiner Arbeit willen ausgestellt werde, nicht nur wegen meines Nachnamens. Nicht mal zwei Wochen bis zum Abgabetermin, und ich habe nichts zustande gebracht in den letzten Monaten, kein einziges Motiv, mit dem ich zufrieden bin.
»Also, was meinst du, wann bekomme ich etwas zu sehen?«, reißt Frank mich aus meinen Gedanken.
»In den nächsten Tagen.«
Das ist verdammt wenig Zeit, und mir wird schlecht, wenn ich an die Möglichkeit denke, dass ich nichts finden werde, dass ich im Notfall auf Bilder zurückgreifen muss, die nicht gut genug sind.
Geräusche der Erleichterung befreien sich aus seiner Kehle. »Und vergiss bitte nicht den Termin morgen Abend. Hör dir einfach an, was die zu sagen haben. Das Angebot ist phänomenal.«
Jedem zweiten amerikanischen Galeristen geht es darum, Geld zu verdienen, egal, wie reich er ist. Im Fall von Frank Adler, der in zweiter Generation die New Yorker Galerie mit Dependancen in London, Berlin und Tokio betreibt, sehr reich. Er hat eine Facebook-Seite und jongliert mit seinen zwei Blackberrys wie ein Börsenmakler.
»Außerdem«, fährt er fort, »ist der Interessent der Hauptsponsor der diesjährigen Biennale.« Und gut mit Jakob Edelstein befreundet, das lässt er unausgesprochen. Seine Stimme klingt, als ob er auf einem hohen Turm steht, schwindlig von der Aussicht.
Die Kunstszene ist eine Welt für sich, eine Sekte mit fast schon mafiösen Verstrickungen. All das und das Geld interessieren mich nicht. Dank des Nachlasses meines Vaters könnte ich die Nutzlosigkeit in Person sein, aber Bilder zu machen ist wie ein Zwang, und meine Bilder wollen gesehen werden.