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Wenn die Nordsee braust und die Gefühle Wellen schlagen - eine Liebesgeschichte in Husum zum Mitfühlen! Tierärztin Hanna ist in ihrer Ehe schon lange nicht mehr glücklich. Ihr Mann Ben ist so mit sich und seinem Job beschäftigt, dass er ihre Hilferufe, um die Ehe zu retten, nicht wahrnimmt. Zeit für Hanna, die Reißleine zu ziehen! Um Abstand zu gewinnen, verlässt sie schweren Herzens das gemeinsame Haus. Doch Ben interessiert das nur wenig. Verletzt von seiner Reaktion wendet sich Hanna von ihm ab. Als sie den Konditor Oliver kennenlernt, fühlt sie sich zum ersten Mal seit Langem verstanden und auch ihr Kollege Helge findet Gefallen an ihr. Trotzdem spürt sie, dass ihr etwas Grundlegendes fehlt. Als sich dann noch herausstellt, dass sie von Ben schwanger ist, steht Hanna vor einem Dilemma: Welcher der drei Männer ist nur der Richtige für sie?
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Liebesrezept auf Friesisch
Anni Deckner
Entgeistert sah ich meinen Friseur an. In Sachen Haarkunst vertraute ich Hugo seit Jahren blind, aber der Gang zur Kasse hielt immer eine unangenehme Überraschung bereit. Heute hatte er den Bogen weit überspannt. Mit einem süffisanten Lächeln verlangte er fünfundneunzig Euro für Schneiden und Föhnen. Zugegeben, meine langen Haare in einen Kurzhaarschnitt zu verwandeln, hatte dann doch mehr Zeit beansprucht, als ich angenommen hatte. Mit Engelszungen hatte Hugo versucht, mir mein Vorhaben auszureden. Etwas zu aufdringlich hatte er sich erkundigt, ob die Veränderung mit einer Lebenskrise zu tun habe, weil das bei den meisten seiner Kundinnen der Fall sei. Ich gehörte aber nicht zu den Frauen, die den Besuch beim Friseur dazu nutzten, ihre Sorgen abzuladen. Wenngleich er gar nicht mal unrecht hatte.
Vor fünf Jahren hatte meine Freundin mir den Tipp gegeben, es bei Hugo auf einen Versuch ankommen zu lassen, und das hatte ich nie bereut. Nelly war selbst eine begeisterte Meisterin ihres Faches. Ihre Eltern waren damals entsetzt gewesen, dass sie nach dem Abi eine Friseurlehre angetreten hatte. Sie weigerte sich leider strikt, meine Haare zu waschen oder zu schneiden. Sie hatte die Befürchtung, dass unsere Freundschaft davon Schaden nehmen würde. Dabei hätte ich ihr meine Haare blind anvertraut. Aber Nelly blieb bei ihrer Ansicht.
Der Ursprung dieser Entscheidung lag Jahre zurück. In ihrem ersten Ausbildungsjahr hatte ich mich bereitwillig für einen Probeschnitt geopfert. Nelly war ganz in ihrem Element gewesen, das Ergebnis aber leider niederschmetternd. Wie ein gerupftes Huhn hatte ich damals ausgesehen. Vor lauter Wut war ich meiner Freundin an die Gurgel gesprungen. Wenn ihre Ausbilderin nicht dazwischengegangen wäre … Seitdem weigerte Nelly sich, mir die Haare zu stylen. Damals wäre unsere Freundschaft fast zerbrochen. Ich bezeichnete den Streit als Jugendsünde. Nelly dagegen hatten sich die Erinnerungen an jenen Tag fest in ihr Hirn eingebrannt, und nun scheute sie das Risiko. Sie war eine begnadete Künstlerin ihres Fachs, aber von meinem Kopf ließ sie die Finger.
Für Hugo nahm ich selbst den weiten Weg von Nordfriesland nach Hamburg auf mich. Riesengroß waren meine Ansprüche an mein Aussehen zwar nicht, aber bei den Haaren war ich zu keinem Kompromiss bereit. Hugos Salon war immer ein kostspieliges Vergnügen, doch heute war ich fassungslos angesichts dieser Summe.
»Meine liebe Hanna, du bist meine Traumkundin«, säuselte er, während ich ihn erschrocken anstarrte. »Deine Haare sehen aus, als ob ein Fachmann am Werk gewesen wäre.« Dabei zwinkerte er mir freundschaftlich zu. Und wieder schaffte er es, mich um seinen beringten Finger zu wickeln. Ohne Murren beglich ich den schwindelerregend hohen Betrag.
Leider gehörte ich zu der Generation, die schon zu D-Mark-Zeiten gelebt hatte. In Gedanken rechnete ich mir aus, wie die Summe in der ehemaligen Währung ausgefallen wäre. Wie immer stimmte mich das Ergebnis nicht gerade glücklich, und ich ermahnte mich, den inneren Rechenschieber in Zukunft ruhen zu lassen. Aber ich wusste es natürlich besser: Selbst, wenn der Sargdeckel über mir zuginge, würde ich die Beerdigungskosten noch in D-Mark ausrechnen.
Wie gut, dass es bis dahin noch etwas dauern würde. Vor dem Hinausgehen warf ich einen Blick in den Spiegel an der Garderobe. Ich war mit meinen fünfundvierzig Lenzen ausgezeichnet in Schuss. Mit der Kurzhaarfrisur wirkte ich mindestens um die gewünschten zehn Jahre jünger. Die Entscheidung, mich von der langen Mähne zu trennen, war goldrichtig gewesen. Prüfend trat ich näher an den Spiegel heran. Waren dort neue Falten entstanden? Ich blinzelte meinem Ebenbild aufmunternd zu. Meine grünen Augen strahlten mir entgegen. Nein, ich musste mich geirrt haben. Ich sah frisch aus, wie immer. Na ja, fast immer! Morgens nach dem Aufstehen zählte nicht.
Beschwingt trat ich auf die Straße. Am Himmel zeigten sich wenige Schleierwolken und ließen ihn lebendig wirken. Es war ein herrlicher Frühsommertag, selbst Hamburg erschien mir freundlich. Großstädte erzeugten bei einem Landei wie mir üblicherweise Unbehagen. Ich lebte und liebte in Schobüll. Das Studium zur Tierärztin war damals der einzige Grund für mich gewesen, meiner Heimat für eine Weile den Rücken zu kehren.
Inzwischen führte ich im Anbau unseres Bungalows eine Praxis für Kleintiere. Außerdem kümmerte ich mich um die nordfriesischen Haus- und Hoftiere. Anfangs hatte ich mich ausschließlich auf die kleinen Schätze spezialisiert, aber nach und nach waren die Landwirte mit ihren Tieren dazugekommen. Sie hatten um Unterstützung gebeten, und da die Tierärzte in der Gegend rar waren, half ich ihnen gern. Ich liebte meinen Beruf, fast so sehr wie meine Heimat.
Vor zwei Jahren hatte ich einem Kollegen eine Praxisbeteiligung angeboten, die er sofort angenommen hatte. Er erfreute sich immenser Beliebtheit bei meinen tierischen Patienten, daher erlaubte ich mir ab und zu einen freien Tag, wie heute. Noch besser als bei den Fellnasen kam Helge bei ihren Besitzerinnen an. Die Damenwelt in Nordfriesland schien in den letzten Jahren ein Herz für Hunde und Katzen entwickelt zu haben. Anders vermochte ich mir den Ansturm auf meine Praxis nicht zu erklären. Seit Helge mit mir zusammenarbeitete, hatte sich die Zahl der Patientenakten verdoppelt. Auch die Tierarzthelferinnen benetzten ihre Lippen, sobald er den Raum betrat. Mir war aufgefallen, dass Katrin nur noch Blusen mit tiefem Ausschnitt trug, um ihr Dekolleté besser zur Geltung zu bringen, obwohl sie glücklich verheiratet war. Ein Stubentiger, der die erste Impfung erhalten sollte, war sogar mal auf der Flucht vor dem Tierarzt in ihren Ausschnitt gesprungen. Katrin war rot angelaufen, erst recht, als Helge kurzerhand nach dem Katzenbaby in seinem Versteck gegriffen und dabei die Oberweite seiner Helferin berührt hatte.
Zugegeben, er war attraktiv, alleinstehend und sexy, das sagten jedenfalls alle Mädels in der Praxis. Er hatte dichtes dunkles Haar, mit leicht grauen Schläfen. Die Blicke aus seinen braunen Augen wirkten auf meine Mädels wie Magie. Mit seiner bedachten und ausgeglichenen Art eroberte er alle im Sturm. Das kam nicht nur unseren ängstlichen Patienten zugute. Dank ihm hatte sich auch die allgemeine Stimmung in der Praxis verbessert. Ein Räuspern von ihm genügte, und das Geschnatter der Mädels verstummte. Sofort war ihm ihre volle Aufmerksamkeit sicher.
Die größten Sorgen bereitete mir aber Peggy, die Auszubildende. Mit ihren siebzehn Jahren schmolz sie regelrecht dahin, wenn sie Dr. Helge Petersen bei den Untersuchungen unterstützte. Ich quittierte die Reaktionen der Mädels regelmäßig mit Augenrollen und verkniff mir ein Seufzen. Es tat besonders Peggy nicht gut, sich so von ihm ablenken zu lassen.
Gleichzeitig fragte ich mich, wie es möglich war, dass Helge die meisten Frauen in seinen Bann zog, selbst aber überzeugter Single war. Da war doch etwas faul. Ich nahm mir vor, ihm bei Gelegenheit auf den Zahn zu fühlen.
Ich stieg ins Auto und quälte mich durch Hamburgs Baustellenverkehr. Ich war erleichtert, als ich endlich die A 23 erreichte und Vollgas geben konnte. Hin und wieder riskierte ich einen Blick in den Rückspiegel. Die ungewohnt kurzen Haare gefielen mir immer besser. Der Weg nach Hamburg hatte sich wieder mal gelohnt.
Über die Freisprechanlage rief ich meinen Mann Ben an. Ich lauschte dem Klingelzeichen und wartete, bis er endlich ranging.
»Hanna, was ist los?« Seine Stimme klang ungeduldig. Er war ein vielbeschäftigter Anwalt und hasste unangemeldete Telefongespräche, was ich aber ignorierte.
»Liebling, ich bin in einer Stunde zu Hause. Soll ich uns was kochen? Oder gehen wir zum Italiener?«
Mein Mann schwieg.
»Hallo, bist du noch dran?«
»Ich bin noch dran, aber ich habe heute einen Auswärtstermin, es könnte spät werden.«
Enttäuscht zog ich eine Flunsch. Wozu hatte ich eine Vertretung in der Praxis, wenn Ben nie Zeit für mich hatte? Dann hätte ich mir den Nachmittag nicht freizunehmen brauchen. Zumal bei einem Landwirt eine komplizierte Geburt eines Kälbchens bevorstand und er auf meine Hilfe hoffte. Helge fehlte die Erfahrung mit Großtieren, und er weigerte sich, diese Aufgaben zu übernehmen.
»Weißt du, wann du in etwa fertig sein wirst? Dann könnte ich Vorbereitungen treffen für unser Abendessen.« Hoffnungsvoll lauschte ich den Atemzügen meines Mannes. Offenbar überlegte er.
»Ich denke, es wird etwas später, vor zwanzig Uhr werde ich nicht zu Hause sein.«
Ich triumphierte innerlich.
»Das passt doch super, dann fahre ich jetzt nach Nordstrand und schaue mir die kalbende Kuh an. Vielleicht gibt sie sich Mühe, und das Kleine kommt rechtzeitig«, sagte ich zuversichtlich. »Dann können wir danach zusammen zu Abend essen.«
»Könnte klappen«, meinte Ben träge. »Aber ich weiß nicht, ob mein Mandant mich nicht noch zum Essen einlädt.«
»Dann trinken wir eben danach ein Glas Wein zusammen. Ich zünde den Kamin an, und wir machen es uns gemütlich«, schlug ich vor. Doch meine Hoffnung auf einen Abend zu zweit löste sich langsam in Luft auf.
»Gute Idee«, erwiderte Ben.
Ich war gespannt, wie er die neue Frisur fand, verriet ihm aber nichts. Ich unterbrach die Verbindung und wählte die Nummer des Landwirts. Trotzdem blieben meine Gedanken für einen Moment bei Ben hängen. Wir führten eine sogenannte gute Ehe. Wir teilten Tisch und Bett, wie es von einem verheirateten Paar erwartet wurde. Ich hatte wenig Grund, unsere Beziehung zu hinterfragen. Wenn nur dieses Gefühl nicht wäre, dass da mehr sein müsste …
Birger Hermanns war erleichtert, meine Stimme zu hören. Er hatte die letzten Stunden im Stall verbracht und seiner Kuh Sieglinde beigestanden. Aber das Kalb hatte keine Lust, auf die Welt zu kommen.
In Schobüll angelangt, wechselte ich die Kleidung und verließ das Haus in Gummistiefeln und Jeans. Drüben in der Praxis herrschte Hochbetrieb. Zahlreiche Autos parkten vor der Tür. Die Überlegung, kurz reinzuschauen, verwarf ich zugunsten Sieglindes. Birger hatte besorgt geklungen, ich beschloss, mich besser zu beeilen. Mit gemischten Gefühlen fuhr ich über den Nordstrander Damm. Was wäre, wenn ich nicht rechtzeitig eintraf? Das Vertrauen der Landwirte war mir wichtig und machte mich stolz auf meine Arbeit. Ich wusste genau, was zu tun war, dennoch war mir die große Verantwortung bewusst. Warum hatte Birger nicht den ansässigen Tierarzt hinzugezogen? Die Antwort darauf kannte ich nur zu gut. Er vertraute ihm nicht. Viele Landwirte der Halbinsel dachten ebenso. Aber mir vertrauten sie, ich konnte mich vor Arbeit kaum retten.
Hin und wieder riskierte ich einen Blick über die Salzwiesen, die den Hindenburgdamm säumten. Die Schafe hatten zum größten Teil alle ihre Lämmer geboren, und es wimmelte nur so vor kleinen Lämmchen. Bei manchen war meine helfende Hand im Spiel gewesen. Ein Glücksgefühl überkam mich beim Anblick dieser Wollwunder. Sie waren auf eine Art ein Teil von mir, wenngleich sie nicht mir gehörten.
Birgers Hof lag im Elisabeth-Sophien-Koog. Ich fuhr mit meinem Jeep die schmale Straße entlang und hielt Ausschau nach der Einfahrt zum Hermanns-Hof. Ich lenkte den Wagen am Wohnhaus vorbei und blieb unmittelbar vor dem Scheunentor stehen. Noch bevor ich einen Fuß auf die Erde gesetzt hatte, stürmte Birger auf mich zu.
»Gut, dass du da bist! Ich glaube, Sieglinde schafft es nicht allein.« Schweißperlen schimmerten auf seiner Stirn. Wie immer, wenn etwas ungewöhnlich verlief, war er in Sorge um seine Tiere.
»Nun bin ich ja da.« Beruhigend legte ich die Hand auf seinen Arm. »Ich schau mir die Dame mal an.«
Mit meinem Koffer begab ich mich leise in den Stall. Sieglinde lag im sauberen Stroh und schnaufte verzweifelt, sie hatte eindeutig Schmerzen. Ich horchte den bebenden Körper ab. Dann legte ich die Hände auf ihren prallen Bauch. Das Tier ertrug eine Wehe nach der anderen, doch der Geburtskanal war nur wenig geöffnet.
»Sieht nicht gut aus, Birger«, sagte ich mitleidig, »aber wir schauen mal. Besorgst du mir einen Strick?«
Er wurde blass. »Du willst es holen?«
»Es bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen handeln, sonst verlieren wir das Muttertier. Voraussichtlich auch das Kalb. Also los.«
Das Tier hatte zwar Wehen, aber nicht genug Kontraktionen, um die Geburt allein zu schaffen. Ich untersuchte den Geburtskanal. Wir hatten Glück, das Kalb lag richtig herum, und es war nicht mit weiteren Problemen zu rechnen. Ich öffnete die Fruchtblase. Nachdem das Fruchtwasser abgegangen war, kamen die Vorderbeine zum Vorschein, wenig später die Nase des Tieres.
»Sieht gut aus, Birger, wir legen die Schnur um die Beine.«
Gemeinsam holten wir das neue Leben auf die Welt. Ein kleiner Bulle. Sieglinde leckte es fürsorglich, wir halfen dabei und rieben es mit sauberem Stroh trocken. Erst als das Kalb auf wackligen Beinen die Box erkundete, war ich sicher, es geschafft zu haben. Auch wenn ich schon viele solcher Ereignisse erlebt hatte, rührte mich der Anblick der neugeborenen Tiere jedes Mal. Birger, der mich kannte, reichte mir schmunzelnd ein Taschentuch. Ich fluchte leise.
»Ich bin zu alt, zu emotional und zu weich für diesen Job.«
»Quatsch«, meinte Birger, »du bist die beste Tierärztin in ganz Nordfriesland.«
»Jetzt ist aber gut. Hol lieber den Tee aus der Küche, sonst bewerfe ich dich mit der Nachgeburt.« Ich lachte. Sein Gesichtsausdruck war zu köstlich.
»Komm doch mit rein, Britta hat bestimmt einen Kuchen gebacken.«
»Dann ziehe ich mich aber erst um.«
Eine Landtierärztin benötigte immer einen Vorrat an Wechselklamotten im Auto. Mit der Fernbedienung öffnete ich den Kofferraum, setzte mich auf die Laderampe und befreite meine Füße von den Gummistiefeln. Nachdem ich mich umgezogen hatte, fuhr ich mit den Fingern durch die neue Kurzhaarfrisur und lief zum Wohnhaus.
Birger erwartete mich an der Tür. »Ich hatte recht!«, rief er mir zu und grinste. »Britta hat Kuchen gebacken, und der Tee ist auch schon fertig.«
»Wunderbar, ich liebe frischen Kuchen.« Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Dabei wurde mir bewusst, dass ich heute Morgen zuletzt etwas gegessen hatte.
Britta empfing mich in der Küche mit einem warmherzigen Lächeln. »Du hast meine Sieglinde gerettet. Ich bin unglaublich erleichtert, sie ist meine Lieblingskuh.«
»Weiß ich doch, Britta, ich bin auch froh, dass sie es geschafft hat.«
Die verliebten Blicke von Britta und Birger machten mich ein bisschen neidisch auf das Glück der beiden. Sie teilten Arbeit und Freizeit miteinander. Ben und ich hatten dagegen zu wenig Zeit füreinander. Der Gedanke an meine Ehe versetzte mir einen Stich. Zugegeben, unsere Berufe waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Ben war stets in perfekt sitzenden Anzügen unterwegs, ich dagegen meist in Gummistiefeln und Blaumann. In der Anfangszeit unserer Beziehung hatten wir angenommen, dass genau diese Gegensätze uns zueinander hinzogen. Aber inzwischen hatte ich meine Zweifel daran. Während Ben mit Mandanten noble Restaurants besuchte, hing ich mit beiden Armen im Geburtskanal einer Kuh oder kastrierte Ferkel. Alles Themen, die nicht unbedingt für einen Smalltalk mit Bens Geschäftsleuten geeignet waren. Daher kam es auch selten vor, dass ich bei einer seiner zahlreichen Verhandlungen dabei war. Aber wenn doch, gab Ben mir vorher genaue Anweisungen, wie ich mich in Gespräche einzubringen hatte. Von kastrierten Ferkeln oder Katzen wollte niemand etwas hören.
Auf die Frage, ob ich ebenfalls Anwältin sei, antwortete ich dann bescheiden: »Nein, ich bin Tierärztin, weil ich Tiere über alles liebe.«
Das war nicht gelogen, und meistens folgten keine weiteren Fragen.
»Setz dich doch«, forderte Britta mich nun auf. »Ich hoffe, du magst Apfelkuchen.«
»Ich bin verrückt danach.« Ich hielt ihr meinen Teller hin, damit sie mir das erste Stück drauflegen konnte. Ich wartete nicht auf eine Aufforderung, sondern verschlang den Kuchen, als ob es meine letzte Mahlzeit wäre. »Wie läuft es mit den Ziegen?«, erkundigte ich mich mit vollem Mund.
Birger war vor einigen Wochen in die Ziegenzucht eingestiegen und hatte große Pläne damit. Britta wirkte abrupt befangen.
»Na ja, er ist hier auf Nordstrand der Ziegenpeter, aber eigentlich ist es mein Projekt. Ich habe draußen im Anbau eine Seifenküche eingerichtet und möchte einen Hofladen eröffnen, sobald wir genügend Erträge erzielt haben. Zusätzlich will ich Ziegenkäse anbieten.«
»Hört sich spannend an«, meinte ich. »Dazu die Schafswolle und die Produkte, die daraus entstehen … Strickt deine Mutter die Wollsocken?«
»Ja klar, sie ist fleißig dabei, damit zur Eröffnung des Ladens genug da ist.« Britta strahlte. »Ich werde schon beweisen, dass ich auf der richtigen Spur bin.« Während sie sprach, legte sie ein weiteres Stück Kuchen auf meinen Teller. »Leider rückt unser Wunschurlaub dadurch in weite Ferne. Es ist schwierig, eine Vertretung für den Hof zu finden.«
Birger nahm liebevoll die Hand seiner Frau. »Das ist leider so, wenn man sein Leben mit Tieren teilt.«
Hungrig verschlang ich auch das zweite Stück Kuchen und pickte gedankenverloren die Krümel von meinem Teller. Ben und ich waren schon lange nicht mehr zusammen weggefahren. Das Glück der beiden Landwirte war für mich kaum auszuhalten. Daher beschloss ich, den Rückzug anzutreten.
»Ich muss leider los, vielen Dank für den Kuchen.« Ich stand auf und reichte ihnen zum Abschied die Hand. Britta zog mich kurz in die Arme. Ein warmes Gefühl von Freundschaft erfüllte mich.
»Vielen Dank, Hanna«, sagte Birger, als er mich zur Tür begleitete.
»Dafür bin ich da, die Rechnung kommt.« Schmunzelnd bemerkte ich, wie er zusammenzuckte. »Keine Sorge, ich werde euch nicht gleich ruinieren.«
Wenn ich mit Ben den Feierabend genießen wollte, musste ich mich beeilen. Sonst schlief er womöglich auf dem Sofa ein, bevor ich die Weinflasche geöffnet hatte.
War es möglich, Glück festzuhalten? Es einzufrieren oder gar zu konservieren? Das klang verlockend. Die Liebe meines Lebens fest verschlossen in einem von Omas Einmachgläsern. Sobald ich unsicher wäre, würde ich mir das Glas anschauen und mich zufrieden zurücklehnen, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Diese Vorstellung zauberte mir automatisch ein Lächeln aufs Gesicht. Ich brauchte diese Sicherheit. Und zwar jetzt! Leider hatte ich vergessen, die Einmachgläser rechtzeitig zu füllen. Warum war ich nur so chaotisch?
Bei meinen Eltern sah das alles immer so leicht aus. Ihre Liebe zueinander lag sicher verpackt in ihren Seelen, in einem luftdicht verschlossenen Gefäß, das sogar Unwetter und Stürme überstand. Ich überlegte, ob ich ihnen bald mal wieder einen Besuch abstatten sollte. Ich hätte mich rechtzeitig nach dem Rezept ihrer Liebe erkundigen sollen. Ich fürchtete, dass es für Ben und mich schon zu spät war. Abgestandenes oder Verdorbenes war nicht mehr zu konservieren. Die Erkenntnis versetzte mir einen schmerzhaften Stich.
Ich rannte durch die leeren Straßen Husums. Inzwischen war es weit nach Mitternacht. Die Nachtluft war kühl und schmerzte in der Lunge. Meine langen Beine bewegten sich wie ferngesteuert. Wohin trugen sie mich? Eile war mein Lebenselixier. Ich liebte die Geschwindigkeit. Wenn ich an Häuserreihen vorbeisauste, ohne meine Umgebung richtig wahrzunehmen. Das brauchte ich auch nicht, denn hier war mein Zuhause. Ich kannte jeden Stein und jeden Menschen, der mir begegnete. Ich grüßte alle mit einem freundlich-unverbindlichen Lächeln, ohne mich unnötig mit einem Gespräch aufzuhalten. Zugegeben, an manchen Tagen hätte ich durchaus Zeit für einen Plausch vor dem Supermarkt oder nach dem Einkauf auf dem Wochenmarkt. Aber ich zog es vor, mich zu beeilen.
Diese Angewohnheit hatte ich, seit ich das Licht der Welt erblickt hatte. Schon bei meiner Geburt hatte ich den Turbogang eingelegt und galt damals als das schnellste Baby der Station, obwohl ich in einem Taxi geboren worden war und nicht im Kreißsaal. Meine Mutter war so glücklich gewesen, mich in die Arme zu schließen, obwohl Papa es nicht geschafft hatte, dabei zu sein, dass sie ein Jahr später meinem Bruder das Leben schenkte. Was beim ersten Mal so glattgegangen war, konnte getrost wiederholt werden, dachte sie sich. Doch sie hatte nicht mit Finns Sturheit gerechnet. Er dachte nicht daran, seine sichere Unterkunft zu verlassen, und bescherte unserer Mutter eine Geburt, die sie nie vergessen sollte.
Finn hatte es auch seitdem selten eilig. Selbst wenn er sprach, vermittelte er den Eindruck, dass seine Zuhörer ihn bei der Wortfindung unterstützen mussten. Seine Worte schlichen nur so über seine Lippen, nichts und niemand war dazu in der Lage, ihn zur Eile zu bewegen. Er war inzwischen nach Dänemark ausgewandert. Die Mentalität der dänischen Landsleute war der seinen ähnlich, daher fühlte er sich im Königreich enorm wohl. Ich hatte ihn leider seit zwei Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Irgendwie fehlte er mir. Mutti hatte oft den Wunsch geäußert, dass wir unser Temperament etwas unter uns aufteilen sollten. Es gab eben doch Situationen, in denen mir etwas Besonnenheit guttun würde.
Nur bei der Familienplanung hatte ich auch ganz von selbst einen kühlen Kopf bewahrt. Die Aussicht, eine Schlafmütze wie meinen Bruder zu bekommen oder ein Kind, das mit einem Duracell-Hasen konkurrierte, hatte mich dazu bewogen, auf Mutterglück zu verzichten. Die Vorstellung machte mir Angst. Ich war ein temperametvolles Kind gewesen, und meine Mutter hatte mit mir alle Hände voll zu tun gehabt. Ich glaubte nicht, dass mein Nervenkostüm ausreichend wäre. Eine Schlafmütze wie mein Bruder hätte mir den letzten Nerv geraubt. Da meine biologische Uhr mit fünfundvierzig ohnehin so gut wie abgelaufen war, brauchte ich diese Entscheidung auch nicht mehr zu bedauern oder zu hinterfragen.
Ich war schon immer anders als die meisten Kinder in meinem Umfeld gewesen. In Situationen, wo andere lachten, heulte ich, bei traurigen Anlässen kam es vor, dass ich sie lustig fand. Anstatt Muscheln am Strand zu sammeln, um sie später abzukochen, wie die meisten Kinder, hatte ich die Schalentiere zurück ins Meer geworfen. Ich wusste damals nicht, dass sie ihr Haus zu diesem Zeitpunkt längst verlassen hatten oder nicht mehr lebten. Wenn Nachbarskinder mit Wonne durch Regenpfützen stapften, holte ich eine Gießkanne, um erneut Wasser hineinzugeben. Ich fand es faszinierender, etwas zu tun, was sonst niemand tat. Gänzlich hatte ich diese Gewohnheiten auch als Erwachsene nie abgelegt. Ben hatte mal gesagt, dass er sich aus diesem Grund in mich verliebt hatte.
So war es auch in diesem Moment. Ich benutzte nicht den Bürgersteig. Ich lief mitten auf der Straße. Zugegeben, am Tag war das ein gefährliches Unterfangen. Aber in der Nacht fuhren kaum Autos durch Husum. Ich liebte es einfach, gegen den Strom zu schwimmen. Bevorzugt mit meinem Mann. Aber in letzter Zeit schwammen wir eher voneinander weg. Hätte ich mir doch nur rechtzeitig das Rezept der konservierten Liebe geben lassen …
Ich überquerte den Marktplatz mit dem Tine-Brunnen, dem Wahrzeichen der Stadt Husum. Wie gewohnt wurde ich von der ehemaligen Fischersfrau aus Bronze ignoriert. Sie hielt ihren Blick weiterhin auf das Meer gerichtet, um Ausschau nach ihren Lieben auf See zu halten. Ich setzte mich für einen Augenblick zu ihren Füßen auf die Mauer des Brunnens. Die Glocke der Marienkirche schlug zweimal. Zwei Uhr in der Früh. Ob Ben mich wenigstens vermisste? Vermutlich schlief er in seinem Bett wie ein Baby. Es trieb mich zur Weißglut, wenn er nach einem Streit mühelos einschlief und dachte, dass unsere Meinungsverschiedenheiten sich unterdessen in Luft auflösten. Dabei wurden sie nur konserviert. Inzwischen lebten wir inmitten eingelegter und eingefrorener Streitigkeiten, die unausgesprochen ihr Dasein in luftdicht verschlossenen Behältern fristeten. Verwunderlich, dass wir dafür die nötige Rezeptur gefunden hatten.
Ich hatte den ganzen Abend auf Ben gewartet, aber er war nicht gekommen. Er hatte mir nicht einmal eine Nachricht geschickt, dass er sich verspätete. Ich hasste es, auf ihn zu warten, dennoch tat ich es.
»Guten Morgen, schon so früh unterwegs?«
Ich zuckte heftig zusammen. Auf eine Begegnung war ich nicht vorbereitet. Verstohlen versuchte ich, die verlaufene Wimperntusche unter den Lidern wegzuwischen.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Ein Mann, ich schätzte ihn auf höchstens dreißig, sah mich aufgeschlossen an. Für gewöhnlich war ich nicht kontaktscheu, aber hier auf dem Marktplatz zur nächtlichen Stunde war das anders.
»Was geht Sie das an? Habe ich nicht das gleiche Recht wie Sie, hier zu sein?« Um meine Worte zu unterstreichen, funkelte ich ihn wütend an. Anscheinend mit Erfolg. Er hob beschwichtigend die Hände und wich von mir zurück.
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte er betroffen. »Du siehst nur so traurig aus, da dachte ich, du brauchst ein Ohr zum Vollquatschen.«
»Du meinst, deins ist dafür wie geschaffen?«, blaffte ich ihn an. Er ließ die Arme sinken und mich nicht aus den Augen.
»Ich würde es zumindest versuchen«, entgegnete er schmunzelnd.
Meine Wut verrauchte wie Feuer unter einer Wasserfontäne. Resigniert zuckte ich die Schultern.
»Das glaube ich zwar nicht, aber wenn du einen Kaffee dabeihättest, würde ich nicht Nein sagen.«
Ein warmes Lachen ertönte.
»Klar, die Kaffeemaschine habe ich immer dabei.« Er veranschaulichte seine Worte, indem er einen übergroßen Rucksack von seinen Schultern nahm und grinste. Ich lachte auf.
»Einen Versuch war es wert.«
Ich war nicht verwundert, als er sich mit einer silbernen Thermoskanne in der Hand zu mir setzte. Wenig später umklammerte ich einen Becher mit dampfendem Kaffee. Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer. Ich liebte es spontan und originell. Mit einem Fremden am Tine-Brunnen zu hocken und Kaffee zu trinken war für den heutigen Tag mein Highlight. Von Bratkartoffeln und Puschenkino hatte ich genug.
Bevor ich den Becher zum Mund führte, untersuchte ich im Licht der Straßenlaterne, ob er benutzt war oder es Sabberspuren gab. Das konnte ich nämlich nicht ausstehen. Beruhigt nahm ich dann den ersten Schluck.
»Der weckt ja Tote auf«, meinte ich anerkennend. Während mancher nach heißem Wasser verlangte, um den Wachmacher zu verdünnen, gab ich gern einen extra Löffel Kaffeepulver in den Filter.
»Na ja, ich finde, Kaffee muss so schmecken«, sagte der Fremde lässig.
Zum ersten Mal schaute ich ihn mir genauer an. Er trug die Haare schulterlang. Gelegentlich strich er sich die Mähne mit der Hand aus dem Gesicht. Beim Lächeln verzog er die Lippen schräg nach links und ließ dabei weiße Zähne aufblitzen. Dünne Fältchen umspielten seine Augen, deren Farbe in der Dunkelheit nicht auszumachen war. Aber das Glitzern darin war deutlich zu erkennen. Außerdem verrieten mir seine Augen, dass er Humor hatte. Ein gewisser Schalk schwang darin mit. Er wartete offenkundig auf eine Reaktion von mir. Ich versuchte es fürs Erste mit einem Lächeln.
»Schmeckt er dir nicht?«, fragte er.
»Doch, doch«, versicherte ich. »Bei mir muss er auch stark sein und schwarz wie die Füße meiner Großmutter.«
»Na, dann sind wir uns zumindest darüber einig.« Er schmunzelte. Sein Zeigefinger wies auf den Becher. »Aber ich hätte schon auch gern einen Schluck, damit ich die Nacht rumkriege.«
Wortlos reichte ich ihm den Kaffee. Er rückte näher an mich heran und trank. Dann gab er mir den Becher zurück. Ich starrte auf meine Turnschuhe.
Immer noch ohne ihn anzusehen, fragte ich: »Was treibt dich durch die Nacht? Kannst du nicht schlafen?«
»Oh, ich könnte durchaus noch eine Runde pennen, aber mein Job ruft mich.«
»Es ist dein Job, einsame Frauen anzusprechen und sie mit Kaffee zu versorgen?« Neugierig sah ich zu ihm auf. Er war mindestens zwei Köpfe größer als ich.
»Normalerweise eher nicht.« Er grinste mich an. »Ich habe in der Krämerstraße eine kleine Backstube.«
Ich riss erstaunt die Augen auf. »Du bist Bäcker?«
»So ähnlich. Ich bin Zuckerbäcker. Torten, Trüffel und Kuchen gehören zu meinen Leidenschaften. Aber ich biete seit Neuestem an zwei Tagen der Woche auch frische Brötchen an.«
Ich setzte mich aufrecht hin.
»Du könntest mir also ein zuckersüßes Liebesrezept besorgen?« Hoffnungsvoll blinzelte ich ihn an. Dann wurde ich unter seinem neugierigen Blick rot. Hatte ich den Eindruck erweckt, mit ihm zu flirten? Meine Wangen brannten wie Feuer. Doch er reagierte gelassen.
»Das haben schon andere vor mir probiert, aber ich glaube, die Liebe lässt sich nicht in ein Rezept zwängen. Sie ist einzigartig, und jeder gibt die Zutaten dafür selbst hinein.«
Sein Blick verunsicherte mich. Für ihn schienen meine Probleme mit der Liebe etwas völlig Normales zu sein.
»Hmm«, gab ich von mir. »Aber was ist, wenn man sich mit den Zutaten vertan hat und nur noch eine ungenießbare Masse zurückbleibt?«
Er lachte leise. »Ich entsorge meine misslungenen Versuche und fange von vorn an. Bei der Liebe ist es nach meinem Dafürhalten nicht anders. Nichts bleibt für immer.«
Was sich aus seinem Mund so unkompliziert anhörte, war für mich nicht leicht umzusetzen. Zwanzig Jahre Ehe auf den Müll werfen? Meine Situation schien mir zu verzwickt, als dass ich mit einem Fremden, dessen Namen ich nicht mal kannte, darüber diskutieren wollte. Ich rückte ein Stück von ihm ab.
»Wenn das nur so leicht wäre.« Ich seufzte.
»Es ist nicht leicht, immerhin haben die Zutaten Geld gekostet. Aber wenn nichts mehr zu retten ist? Was soll ich sonst tun?«
»Na ja, ob dein Süßkram in den Abfalleimer wandert oder meine Ehe, ist doch ein riesiger Unterschied.« Ärger klang in meiner Stimme mit, aber ich widerstand dem Impuls, aufzustehen und mich zu verabschieden. Ich blieb wie angewurzelt sitzen.
»Oliver Hansen.« Er reichte mir die Hand zum Friedensangebot. Entschlossen ergriff ich sie. Dabei spürte ich seine angenehme Wärme.
»Hanna Martensen. Freut mich irgendwie doch, dich getroffen zu haben«, sagte ich versöhnlich. Ein Grinsen huschte über Olivers Gesicht, er wurde aber gleich wieder ernst.
»Ich freue mich auch und bin sicher, dass hier war kein Zufall.«
Ich leerte den Becher in einem Zug und reichte ihn seinem Besitzer zurück.
»Danke für den Kaffee, Oliver. Ich muss los.« Schnell sprang ich auf, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Während Oliver den Becher in seinem Rucksack verstaute, fragte er nebenbei: »Worüber habt ihr gestritten, dein Mann und du? Zahnpastatube nicht verschlossen?«
»Quatsch«, zischte ich. Aber was sollte ich ihm sagen – dass ich über zwei Stunden mit der geöffneten Weinflasche auf Ben gewartet hatte, er es aber nicht für nötig gehalten hatte, mir Bescheid zu geben, und sein Handy ausgeschaltet gewesen war? »Ich glaube, das geht dich nichts an. Aber danke für den Versuch, meine Ehe zu therapieren.«
»Immer wieder gern. Darf ich dich einladen, mich in die Backstube zu begleiten? Ich muss nämlich wirklich los.« Er warf einen Blick auf die Kirchturmuhr. Hastig schüttelte ich den Kopf.
»Nein, lieber nicht, ich muss auch nach Hause. Tschüss, Oliver.« Ich gab ihm zum Abschied die Hand und schenkte ihm sogar ein Lächeln.
»Schade«, meinte er. »Aber mein Angebot steht, wenn dir danach ist … Komm gern vorbei. War wirklich schön, dich kennenzulernen.« Er lächelte mich ehrlich an und versüßte mir damit den erwachenden Tag.
Es hatte zu regnen angefangen, sodass ich meine kurzen blonden Haare unter der Kapuze der Sommerjacke verbarg. Aber der Regen störte mich gar nicht, ich war wie beseelt von dem Treffen mit Oliver. Lag es eventuell daran, dass er mich den Ehealltag mit meinem Mann hatte vergessen lassen? Oder war es sein hinreißendes Lächeln? Während ich durch die Innenstadt lief, wanderten meine Gedanken wieder zu Ben. War unsere Ehe wirklich nicht mehr zu retten, oder hatten wir noch eine Chance, die es nicht zu verpassen galt? Woran erkannte ich, ob es Sinn hatte, zu kämpfen? Die Fragen häuften sich in meinem Kopf und brannten mir auf der Seele.
Mein Auto stand in der oberen Neustadt. Ich beeilte mich, denn diese Straße war nachts kein Ort für einsame Frauen. Doch ich hatte keine Angst. Beim Auto angekommen, rutschte ich in den Sitz und fuhr nach Hause. Wir lebten in Schobüll, dem kleinen Nordseeort direkt am Meer. Damals, nach unserer Hochzeit, hatten wir unser Kapital zusammengelegt, um uns diesen Traum zu erfüllen, und es bisher nie bereut. Aber was würde aus unserem Haus werden, wenn wir unsere Probleme nicht in den Griff bekamen? Ich verwarf den Gedanken blitzschnell und konzentrierte mich auf die nächtliche Fahrbahn.
Als ich Schobüll erreichte, lag die Nordsee dunkel und geheimnisvoll zu meiner Linken. Rechts befand sich der ehemals wunderschöne Wald, der vor einigen Jahren dem Sturmtief Christian zum Opfer gefallen war. Die Schobüller Gemeinde war zutiefst traurig über die kläglichen Überreste nach dem Sturm gewesen. Ben und mir war es nicht anders ergangen. Inzwischen hatte man neue Bäume gepflanzt, die aber Jahre brauchen würden, um zu dem Wald heranzuwachsen, der hier früher einmal gestanden hatte. Ein Erholungsort für Einheimische und Touristen.
Unser Haus im Halebüller Weg lag im Dunkeln. Ben hatte alle Lichter gelöscht. Ich war verwirrt, dass selbst der Bewegungsmelder nicht aufleuchtete, als ich den gepflasterten Weg zur Haustür entlangschlich. Vorsichtig tastete ich mich durch die Finsternis. Der Schein der Straßenlaternen reichte nicht bis zu unserem Grundstück. Ich zitterte leicht, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte. Mit beiden Händen führte ich ihn in den Zylinder. Aber er passte nicht. Was war denn hier los?
In meiner Verzweiflung drückte ich den Klingelknopf. Mir wäre es lieber gewesen, nicht sofort auf Ben zu treffen, aber mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu wecken. Ich war nicht sonderlich scharf darauf, den Rest der Nacht in der Gartenlaube zu verbringen. Ein Heulkrampf kündigte sich an, als ich merkte, dass die Klingel abgeschaltet war. Ein merkwürdig piepsiges Geräusch entwich meiner Kehle. Das war doch nicht Bens Ernst? Er sperrte mich aus? Das war unser beider Haus, und er hatte kein Recht, mir den Eintritt zu verweigern. Tränen flossen über mein Gesicht, und ein lautes Schluchzen hallte von den Wänden des Anbaus wider. Ben hatte mich heute Abend versetzt und wie bestellt und nicht abgeholt auf ihn warten lassen. Mir stand es zu, sauer zu sein, und das war ich auch. Aber selbst, wenn er auch wütend auf mich war, hatte er nicht das Recht, mich auszusperren. Was war nur mit uns los? Warum waren wir nicht mehr glücklich miteinander?
Ein leises Knacken ließ mich herumfahren. War ich nicht allein auf dem Grundstück?
Ich zitterte wie Espenlaub. Ganz in meiner Nähe hörte ich einen Menschen atmen. Hatte nun meine letzte Stunde geschlagen? Wie ungerecht, es gab doch noch einiges zu klären! Ich hob meine Fäuste und war bereit zu kämpfen, wenn nicht um meine Ehe, dann ums Überleben. Ich bemerkte einen Schatten dicht vor mir. Ich nahm alle Kraft zusammen und wappnete mich. Ich würde mich nicht vor meinem Zuhause in die Knie zwingen lassen. Ich würde dem mutmaßlichen Einbrecher die Augen auskratzen. Mein Herz schlug wild in der Brust, es überschlug sich regelrecht. Da vernahm ich eine Stimme. Bens Stimme!
»Hanna, Liebling, ich bin es«, flüsterte er. Warum sprach er im Flüsterton mit mir? War es doch nur jemand, der sich verstellte, um mich zu täuschen und zu überwältigen? Ich behielt meine Körperhaltung bei, jeden Moment zur Verteidigung bereit. Wenn es nur nicht so stockfinster wäre!
»Das glaube ich nicht. Mein Mann liegt im Bett und schläft«, konterte ich angriffsbereit. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dem Einbrecher so etwas Wichtiges verraten zu haben. Ich war allein. Das schwache Geschlecht, ohne männlichen Schutz. Ein willkommenes Opfer in der Nacht.
Aus dem Augenwinkel entdeckte ich die Gartenharke, die Ben nicht zurück in den Schuppen gebracht hatte. Typisch. Ich beugte mich vor und griff danach. Sofort fuchtelte ich damit durch die Luft.
»Verpiss dich, du Penner! Ich bin durchaus in der Lage, mich zur Wehr zu setzen! Leg dich nicht mit mir an!«, rief ich in die Nacht. Meine Stimme hörte sich rau an. Doch ich war entschlossen, ihn zur Flucht zu zwingen.
»Hanna, zum Teufel, mach nicht so einen Aufstand! Wer, wenn nicht ich, sollte hier stehen?«
Ben! Ich ließ die Harke sinken. Es war wirklich mein Mann. Er war zur Stelle, wenn ich ihn am dringendsten brauchte.
»Ben?«
»Baby, beruhige dich.«
Ich weinte vor Erleichterung und fiel meinem Mann in die Arme. Inhalierte seinen Duft, schmiegte mich an ihn und fühlte eine Geborgenheit wie schon lange nicht mehr.
»Warum ist es so dunkel? Ich dachte …« Ich brach erneut in Tränen aus. Tränen der Befreiung, der Freude und nicht zuletzt der Hoffnung auf eine lange glückliche Ehe.
Bens bärenstarke Arme hielten mich umschlungen. Auch er schien überwältigt. Denn er ließ mich nicht los, wie es für gewöhnlich der Fall war. Ich lag sicher geschützt in den Armen meines Mannes. Sein Brustkorb hob und senkte sich so schnell, als ob er einen Marathonlauf hinter sich hätte.
»Ich habe dich gesucht, als ich einen Anruf von der Sicherheitsfirma erhielt. Die Alarmanlage ist ausgefallen und hat alles lahmgelegt, was mit Strom versorgt wird. Eine Störung im System, sie wird jeden Moment behoben werden.«
Ich kicherte erleichtert. Eine Störung im System. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass auch wir nur eine Systemstörung hatten, die in diesen Minuten repariert wurde. Ben hielt mich in den Armen und sah mir tief in die Augen.
»Hanna, bist du betrunken?«
Ich stellte mein Kichern ein.
»Ein bisschen«, meinte ich, »trunken vor Glück.« Ich suchte seine Lippen und küsste den Mann, den ich über alles liebte.
»Jetzt übertreib nicht schon wieder, Hanna, wir sind seit zwanzig Jahren verheiratet«, raunte er mir ins Ohr. Dann wanderten seine Lippen an meine Halsbeuge. Ich spürte seinen heißen Atem und bekam weiche Knie, wie schon lange nicht mehr. Ich wünschte, die Dunkelheit würde uns für immer umgeben.