Light and Flame – Eine Liebe im Schatten - Jennifer L. Armentrout - E-Book

Light and Flame – Eine Liebe im Schatten E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Kolis, der falsche König der Götter, ist ins Iliseeum zurückgekehrt und droht nicht nur die Welt der Götter, sondern auch die der Sterblichen in ewige Dunkelheit zur stürzen. Seraphena Mierel, die einst sterbliche Prinzessin, die die Macht der Primarin des Lebens in sich erstarken fühlt, ist die Einzige, die Kolis aufhalten kann. Doch dazu braucht sie die Hilfe von Nyktos, dem Primar des Todes – dem Mann, den sie heiraten, verführen und töten sollte. Doch inzwischen liegen die Dinge anders: Sera will nicht mehr nur der Form halber Nyktos Gemahlin sein, sie hat sich unsterblich in ihren Gatten verliebt. Doch Nyktos hat von Seras Mission erfahren und sein Vertrauen in sie ist erschüttert. Als Kolis Angriffe sich verstärken, muss Sera kämpfen – nicht nur um ihr eigenes Überleben und das der Welten, sondern auch um Nyktos' Liebe ...

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DASBUCH

Die Lippen, die heißen Atem über meine Haut geschickt, aber auch die kalte, brutale Wahrheit gesprochen hatten, waren staunend geöffnet, und in seinen geweiteten, silbernen Augen tanzte der Äther, die Essenz der Götter. Ehrfurcht und Verwunderung ließen das harte Gesicht mit den hohen, breiten Wangenknochen, der geraden Nase und dem gemeißelten Kinn weicher wirken. Seine gewellten rotbraunen Haare fielen ihm auf die Wangen, während er sich auf ein Knie sinken ließ, die linke Hand flach auf den Boden des Thronsaales legte und die rechte auf seine Brust presste. Nyktos verbeugte sich vor mir.

Eigentlich hatte Seraphena Mierel eine klare Mission, als sie an den Hof von Nyktos, dem Primar des Todes, gezogen ist: »Bring ihn dazu, sich in dich zu verlieben. Werde zu seiner größten Schwäche. Und zu seinem Untergang.« Aber dann kommt alles ganz anders. Statt Nyktos zu töten, verliebt sich Sera unsterblich in ihn. Als dieser jedoch Seras Intrige entdeckt, ist ihr Leben so gut wie verwirkt – trüge sie nicht die Glut des Lebens in sich. Diese uralte göttliche Macht ist die einzige Waffe im Kampf gegen den verräterischen Primar Kolis, doch Sera braucht Nyktos’ Hilfe, um diese Macht aushalten zu können. Und nicht nur seine Hilfe, sondern auch seine Liebe – sonst wird sie wirklich sterben. Doch kann Nyktos überhaupt noch etwas für Sera empfinden?

DIEAUTORIN

Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Wicked-Saga und der Blood and Ash-Reihe eine riesige Fangemeinde erobert. Crown and Bones, der dritte Band der Blood and Ash-Reihe, stand auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

JENNIFER L.

ARMENTROUT

LIGHT

AND

FLAME

EINE LIEBE IM SCHATTEN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Sonja Rebernik-Heidegger

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

A LIGHTINTHEFLAME

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 10/2023

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2022 by Jennifer L. Armentrout

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Hang Le

Covergestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30516-1V003

www.heyne.de

Für meine Leserinnen und Leser –

ohne euch wäre das alles nicht möglich. Danke.

1

»DUBISTDIEERBIN, DIEüber das Meer und das Land, den Himmel und die Königreiche herrschen wird. Eine Königin anstelle eines Königs. Du bist die Primarin des Lebens«, hauchte Nyktos, der Ascher, der Gesegnete, der Wächter der Seelen, der Primar des einfachen Mannes und des Todes. Die Lippen, die heißen Atem über meine Haut geschickt, aber auch die kalte, brutale Wahrheit gesprochen hatten, waren staunend geöffnet, und in seinen geweiteten, silbernen Augen tanzte der Äther, die Essenz der Götter. Ehrfurcht und Verwunderung ließen das harte Gesicht mit den hohen, breiten Wangenknochen, der geraden Nase und dem gemeißelten Kinn weicher wirken.

Seine gewellten rotbraunen Haare fielen ihm auf die Wangen, während er sich auf ein Knie sinken ließ, die linke Hand flach auf den Boden des Thronsaales legte und die rechte auf seine Brust presste.

Nyktos verbeugte sich vor mir.

Ich wich erschrocken zurück. »Was machst du da?«

»Der Primar des Lebens ist das mächtigste Wesen in allen Welten. Mächtiger als alle anderen Primare und Götter«, erklärte Sir Holland, der allerdings nicht mehr derselbe Mann war, den ich einst gekannt hatte. Der ehemalige Ritter der königlichen Wache von Lasania war nicht einmal ein Sterblicher. Aber er war auch kein Gott. Er war ein Arae, ein verfluchter Schicksalsgeist, der die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft kannte und keinem Primar unterstand.

Die Schicksalsgeister waren genauso Furcht einflößend wie die Primare – und ich hatte diesen Mann unzählige Male im Kampf in den Hintern getreten.

»Er zollt dir den Respekt, den du verdienst, Sera«, fügte Holland hinzu, nachdem ich nicht aufhören konnte, Nyktos anzustarren.

»Ich bin aber nicht die Primarin des Lebens.« Das war doch offensichtlich, oder?

»Du trägst die einzige verbliebene Glut des Lebens in dir«, sagte Nyktos, und seine tiefe, sanfte Stimme schickte einen Schauer nach dem anderen durch meinen Körper. »Du bist also in jeglicher Hinsicht die Primarin des Lebens.«

»Er hat recht.« Die Göttin Penellaphe trat näher und hielt unter der offenen Decke inne. Der Sternenhimmel warf einen sanften Schimmer auf ihre warme hellbraune Haut. »Es abzustreiten ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.«

»Aber ich bin doch bloß eine Sterbliche …« Die Luft, die ich einatmete, hielt sich nicht in meiner Lunge, und Nyktos kniete immer noch vor mir. »Kannst du bitte aufstehen oder dich hinsetzen? Alles, außer vor mir zu knien? Das ist einfach schräg.«

Nyktos neigte den Kopf, und noch mehr Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. »Aber du bist die wahre Primarin des Lebens, genau wie mein Vater es einst war. Wie Holland schon sagte: Ich zolle dir Respekt.«

»Aber ich verd…« Ich brach ab, mein Herz klopfte und meine Brust zog sich zusammen. Der Äther in seinen Augen schien wie erstarrt. »Kannst du einfach damit aufhören? Bitte.«

Der Primar erhob sich in einer einzigen fließenden Bewegung, und die göttliche Essenz in seinen Augen leuchtete so intensiv, dass es beinahe wehtat, ihn anzusehen. Er ragte vor mir auf, und sein Blick schien Schicht für Schicht meines Wesens abzutragen, bis er sah und spürte, was ich empfand.

Ich erstarrte, und meine Haut prickelte. »Ich hoffe für dich, dass du nicht gerade meinen Gefühlen nachspürst.«

Nyktos hob eine dunkle Augenbraue. »Dein anklagender Ton ist unnötig.«

»Wobei du mit dieser Antwort nicht ausschließt, es tatsächlich getan zu haben«, erwiderte ich, und Penellaphe riss entsetzt die Augen auf.

»Nein.« Er senkte die Stimme, aber sie hallte dennoch wie ein Donnergrollen durch meinen Körper. »Da hast du recht.«

»Dann hör auf damit«, zischte ich. »Das ist unhöflich.«

Nyktos öffnete den Mund und wollte vermutlich anmerken, dass ich die Letzte war, die sich über unhöfliches Verhalten beschweren durfte.

»Du warst nie nur eine Sterbliche, Seraphena«, mischte sich Holland ein, genau wie er es in der Vergangenheit Dutzende Male getan hatte, wenn ich mich in irgendetwas verrannt hatte und nicht mit dem Schimpfen aufhören konnte. »Du bist die Chance auf eine Zukunft für uns alle.«

Er hatte so etwas Ähnliches auch schon während unseres Trainings zu mir gesagt, aber jetzt hatte es eine vollkommen neue Bedeutung. »Aber ich habe die Auslese doch noch gar nicht abgeschlossen, und Ihr habt gerade gesagt, dass ich …« Ich schloss die Augen und ließ den Satz unvollendet.

Jeder hier wusste, was er gesagt hatte.

Einatmen. Mein sterblicher Körper und meine Seele würden mit der Macht der Glut nicht zurechtkommen, wenn ich erst in die Auslese eintrat. Die einzige Möglichkeit, doch zu überleben, war bar jeder Hoffnung. Luft anhalten. Denn ich brauchte dazu das Blut des Primars, zu dem ein Funken dieser Glut des Lebens einst gehört hatte. Blut – und den puren Willen der Liebe.

Wobei wir von der Liebe des Primars sprachen, den zu töten ich mein ganzes Leben lang geplant hatte. Und dabei spielte es keine Rolle, dass ich es für die einzige Möglichkeit gehalten hatte, mein Königreich zu retten.

Ich hätte gern über diese Ironie des Schicksals gelacht, wenn es nicht bedeutet hätte, dass ich sterben würde, und das vermutlich schon in weniger als fünf Monaten, nämlich noch vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Ich würde sterben und die letzte Glut des Lebens mit mir nehmen. Die sterbliche Welt würde es zuerst und am härtesten treffen, aber irgendwann würde sich die Fäulnis auch auf die Schattenwelt ausbreiten und das gesamte Iliseeum vernichten.

Ich ließ die Luft langsam entweichen, wie Holland es mir vor vielen Jahren beigebracht hatte, als alles zu schwer und zu viel geworden war und mir das Gewicht, das auf meinen Schultern lastete, die Luft geraubt hatte. Die Aussicht, dass ich bald sterben würde, war nichts Neues für mich. Im Grunde hatte ich es immer schon gewusst. Ganz egal, ob ich mein angebliches Schicksal erfüllt oder versagt hätte, ich hätte nicht überlebt.

Trotzdem war es jetzt anders.

Weil ich endlich gesehen hatte, wie es war, nicht nur ein Mittel zum Zweck zu sein. Eine Waffe, die man benutzte und danach achtlos liegen ließ. Weil ich einen Blick auf die Wirklichkeit erhascht hatte. Weil ich endlich eigenständig gewesen war, kein aus Blut erschaffener Geist. Keine Lügnerin. Kein Ungeheuer, das erbarmungslos tötete.

Obwohl ich tief in meinem Inneren genau das war, und das war Nyktos genauso klar wie mir. Diese Wahrheit ließ sich nicht verleugnen – genauso wenig wie alles andere.

Meine Lunge brannte, und vor meinen Augen tanzten Sterne. Die Atemübungen funktionierten nicht. Meine Hände begannen zu zittern, Panik stieg in mir hoch. Ich bekam keine Luft mehr.

Im nächsten Moment strichen warme Fingerspitzen über meine Wange. Ich öffnete die Augen und blickte in ein Gesicht, so fein gemeißelt, dass ich schon bei unserer ersten Begegnung hätte wissen müssen, dass er mehr war als ein Gott. Nyktos’ Berührung ließ mich zusammenzucken, aber nicht nur, weil sie warm und nicht eiskalt war wie zu der Zeit, bevor er mein Blut in sich aufgenommen hatte, sondern auch, weil ich es immer noch nicht gewöhnt war, berührt zu werden. Mein ganzes bisheriges Leben lang war es äußerst selten vorgekommen, dass ich die Haut eines anderen auf meiner gespürt hatte.

Aber Nyktos berührte mich. Nach allem, was passiert war, berührte er mich.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er leise.

Meine Zunge war schwer, und ich brachte kein Wort heraus, was allerdings weniger mit meiner zusammengeschnürten Brust zu tun hatte, sondern vielmehr mit seiner Sorge. Ich wollte sie nicht. Nicht jetzt. Es war in so vieler Hinsicht falsch.

Nyktos trat näher und senkte den Kopf, bis unsere Lippen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Er legte die Hand in meinen Nacken, und ein Schaudern durchfuhr mich. Sein Daumen ruhte auf meiner wild pochenden Halsschlagader. Er drückte meinen Kopf nach hinten, als wollte er mich küssen. Wie in seinem Arbeitszimmer, bevor wir uns mit Holland und Penellaphe getroffen hatten. Aber dazu würde es nie wieder kommen. Das hatte er mir selbst gesagt.

»Atme«, flüsterte Nyktos.

Es war, als hätte er der Luft befohlen, in meinen Körper zu dringen, und im nächsten Moment breitete sich der Geschmack frischer Zitrone in meinem Mund aus. Die Sterne vor meinen Augen verschwanden, meine Lunge dehnte sich. Das Zittern in meinen Händen blieb, während sein Daumen weiter über meine Halsschlagader strich, die jetzt aus ganz anderen Gründen pochte. Er war mir so nahe, dass die Erinnerung unaufhaltsam in mir hochstieg. Ich spürte seinen Mund an meinem Hals, seine Hände auf meiner nackten Haut. Die schmerzhafte Lust, als er mich biss und sich an mir nährte. Wie er sich in mir bewegte und eine Wonne in mir auslöste, die ich niemals vergessen würde und die mein Blut selbst jetzt noch wärmte.

Ich war die erste Frau in Nyktos’ Leben gewesen.

Und er würde der letzte Mann in meinem sein, ganz egal, was noch passierte.

Trauer packte mich, kühlte mein erhitztes Blut und legte sich auf meine Brust. Wenigstens hatte ich nicht mehr das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Sie hat manchmal Schwierigkeiten, ihren Herzschlag zu verlangsamen und Luft zu holen«, erklärte Holland leise – und unnötigerweise.

»Das ist mir schon aufgefallen.« Nyktos’ Daumen strich noch immer so leicht wie eine Feder über meinen Hals, während ich innerlich zusammenzuckte. Er dachte vermutlich … nur die Götter wussten, was er dachte.

Ich wollte es jedenfalls lieber nicht wissen.

Mit glühenden Wangen wich ich vor Nyktos’ Berührung zurück und stieß an den Rand des Podiums. Seine Hand schwebte einen Moment lang in der Luft, dann krümmten sich seine Finger, und er ließ sie sinken, während ich mich zum Podium umdrehte und mich auf die betörend schönen Thronstühle aus Schattenstein konzentrierte, deren Lehnen riesige, ausgebreitete Flügelpaare darstellten, die sich an den Spitzen berührten. Ich wischte mir die schweißnassen Hände an meiner blutverschmierten Hose trocken.

»Und ihr seid sicher, dass niemand sonst weiß, was sie ist?«, fragte Nyktos.

»Abgesehen von deinem Vater hat auch Embris von der Prophezeiung erfahren«, antwortete Penellaphe und meinte damit den Primar der Weisheit, Loyalität und Pflicht. Ich wandte mich wieder zu den anderen um. Das hier war wichtig, ich durfte es nicht aufgrund meines persönlichen kleinen Nervenzusammenbruches verpassen. »Genau wie Kolis. Mehr wissen die beiden allerdings nicht.«

Der Äther in Nyktos’ Augen erwachte erneut, als Penellaphe den Primar Kolis erwähnte, den die Sterblichen als den Primar des Lebens und den König der Götter kannten. Ein Irrglaube, dem auch ich bis vor Kurzem verfallen war. Denn in Wirklichkeit war Kolis der wahre Primar des Todes. Derjenige, der Götter an die Mauer um das Haus des Haides genagelt hatte, nur um Nyktos daran zu erinnern, wie leicht das Leben eines jeden Wesens ausgelöscht werden konnte. Zumindest ging ich davon aus. Und es war durchaus logisch, denn Nyktos’ Vater war der wahre Primar des Lebens gewesen, und Kolis hatte Eythos’ Glut gestohlen.

Ich unterdrückte ein Schaudern und dachte an die Prophezeiung, von der uns Penellaphe vorhin erzählt hatte. Der Teil mit der Verzweiflung goldener Kronen konnte auf meinen Vorfahren König Roderick hindeuten. Und auf den Pakt, den er eingegangen war und mit dem alles angefangen hatte. Andererseits waren Prophezeiungen lediglich Möglichkeiten, und … »Prophezeiungen sind doch vollkommen nutzlos, verdammt«, murmelte ich.

Penellaphe sah mich an und hob eine Augenbraue.

Ich verzog das Gesicht. »Tut mir leid. Das klang brutaler als beabsichtigt.«

»Mich würde zwar interessieren, welche Wirkung du mit dieser Aussage beabsichtigt hast«, überlegte Nyktos, und ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Aber ich kann nicht behaupten, dass ich dir widerspreche.«

Ich wandte den Blick ab.

»Ich verstehe, was du meinst«, meinte Penellaphe nachdenklich. »Prophezeiungen können oft verwirrend sein, selbst für diejenigen, die sie machen. Und manchmal kennt man nur einen Teil einer Prophezeiung – den Anfang oder das Ende –, während irgendwo jemand existiert, dem der andere Teil offenbart wurde. Es gab allerdings Visionen, die wahr wurden, sowohl im Iliseeum als auch in der sterblichen Welt. Seit der Auslöschung der Götter der Weissagung und dem Dahinscheiden des letzten Orakels glaubt jedoch kaum noch jemand daran.«

»Die Götter der Weissagung?« Der Begriff war mir unbekannt. Ich hatte lediglich von den Orakeln gehört. Außerordentliche Sterbliche, die lange vor meiner Zeit gelebt hatten und mit den Göttern reden konnten, ohne sie eigens anzurufen.

»Die Götter der Weissagung sahen, was anderen verborgen blieb, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft«, erklärte Penellaphe. »Ihre Heimat war der Berg Lotho und sie dienten an Embris’ Hof. Die Orakel konnten mit ihnen kommunizieren, und sie waren die einzigen Götter, denen die Arae gänzlich wohlwollend gegenüberstanden.«

»Sie waren nicht die Einzigen«, korrigierte Holland leise, und Penellaphes errötende Wangen lenkten mich einen Moment lang ab. Da lief auf alle Fälle etwas zwischen den beiden.

»Penellaphes Mutter war eine Göttin der Weissagung«, fuhr Holland fort. »Deshalb konnte sie Prophezeiungen empfangen. Nur diese Götter und die Orakel nahmen die Visionen in sich auf, von denen die Urältesten – also die ersten Primare – träumten.«

»Leider verfüge ich nicht über ihre anderen Fähigkeiten und sehe nicht, was verborgen ist«, fuhr Penellaphe fort. »Und ich habe auch keine anderen Prophezeiungen empfangen.«

»Nachdem Kolis die Glut des Lebens gestohlen hatte, waren die Konsequenzen weithin zu spüren. Hunderte Götter starben in der Welle der freigesetzten Energie«, erklärte Nyktos. »Die Götter der Weissagung hat es am schlimmsten getroffen. Sie wurden ausgelöscht, und seitdem wurde kein Sterblicher mehr als Orakel geboren.«

Tiefe Traurigkeit zeigte sich in Penellaphes Gesicht. »Womit auch die anderen Visionen für immer verloren sind – und damit die Träume der Urältesten.«

»Die Träume der Urältesten?« Ich hob die Augenbrauen.

»Prophezeiungen sind nichts anderes als Träume«, erklärte Penellaphe.

Ich presste die Lippen aufeinander. Die meisten Urältesten waren bereits nach Arcadia übergetreten. »Ähm, das wusste ich gar nicht.«

»Ich glaube nicht, dass diese Information dazu beiträgt, Seras Meinung bezüglich Prophezeiungen zu ändern«, meinte Holland ironisch lächelnd.

Nyktos stieß ein trockenes Lachen aus.

»Nein, vermutlich nicht.« Penellaphe lächelte, aber es verblasste schnell. »Viele Götter und Sterbliche haben noch nie eine Prophezeiung gehört, früher waren sie weiter verbreitet.«

»Weißt du, welcher Urälteste den Traum hatte, den du als Prophezeiung empfangen hast?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, davon erfährt der Empfänger nichts.«

Nein, natürlich nicht. Wobei es ohnehin keine Rolle spielte, nachdem die Urältesten vor Ewigkeiten nach Arcadia übergetreten waren. »Lassen wir die Prophezeiungen mal beiseite. Bele ist aufgestiegen, nachdem ich sie ins Leben zurückgeholt habe.« Bele war keine Primarin, zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Aber ihre braunen Augen waren nun silbern wie die Augen der Primare, und die Götter in der Schattenwelt glaubten, dass sie mächtiger war als vorher, wobei niemand wusste, wie mächtig genau. »Und das haben die anderen gespürt, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Penellaphe. »Es war nicht so stark, wie wenn ein Primar nach Arcadia übertritt und die Schicksalsgeister einen anderen Primar ernennen, um an dessen Platz zu treten, aber jeder Gott und auch jeder Primar hat den Energiestoß gespürt. Vor allem Hanan.« Sie runzelte besorgt die Stirn. Als Primar der Jagd und göttlichen Gerechtigkeit stand Hanan dem Hof vor, dem Bele entstammte. »Er weiß, dass ein Gott oder eine Göttin aufgestiegen ist, die nun die Macht hat, ihn zu stürzen.«

»Aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern.« Nyktos verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein«, stimmte Penellaphe ihm leise zu.

»Nur diejenigen, die dabei waren, als du Bele zurückgeholt hast, wissen, dass du für ihren Aufstieg verantwortlich bist.« Nyktos sah mich an. »Weder Hanan noch die anderen Primare haben eine Ahnung, was genau mein Vater getan hat, als er die Glut des Lebens in der Mierel-Blutlinie bewahrte.«

Mir drehte sich der Magen um, als ich an die andere Offenbarung dachte, die mir vorhin gemacht worden war und die sogar ein noch schlimmerer Schock gewesen war als die Sache mit der Primarin des Lebens. Wie sollte ich jemals damit klarkommen, dass ich bereits unzählige Leben gelebt hatte, an die ich mich allesamt nicht erinnern konnte? Und dass ich einmal Sotoria gewesen war, das Mädchen, das Kolis geliebt hatte und von dem er immer noch besessen war? Das Mädchen, mit dem alles angefangen hatte?

Ich hatte gedacht, die Geschichte der Sterblichen, die derart erschrak, als ihr plötzlich ein Wesen aus dem Iliseeum gegenüberstand, dass sie über die Klippen des Kummers in den Tod stürzte, wäre nur eine abenteuerliche Legende. Aber es hatte sich wirklich so zugetragen. Und Kolis war derjenige gewesen, der Sotoria diesen Riesenschreck eingejagt hatte.

Trotzdem verstand ich nicht, wie ich Sotoria sein konnte. Ich lief niemals vor irgendjemandem oder irgendetwas fort – na ja, außer vor Schlangen. Ich war eine Kämpferin, eine …

»Du bist eine Kriegerin, Seraphena«, hatte Holland zu mir gesagt. »Das warst du schon immer. Und auch Sotoria musste lernen, eine zu sein.«

Oh Götter.

Ich presste mir die Finger an die Schläfen. Mir war klar, dass Eythos und Keella, die Primarin der Wiedergeburt, nur das Beste im Sinn gehabt hatten, als sie Sotorias Seele einfingen, bevor sie ins Tal der Tränen übertrat, damit Kolis sie nicht wieder ins Leben zurückholen konnte. Womit ein Kreislauf der Wiedergeburten begann, der letztlich in meiner Geburt mündete. Trotzdem war Eythos’ und Keellas Entscheidung eine weitere Missachtung dessen gewesen, was Sotoria wollte. Ihr wurde erneut eine wichtige Entscheidung abgenommen. Wobei das alles Sotoria betraf und nicht mich. Wir mochten dieselbe Seele besitzen, aber ich war nicht sie.

Du bist ein leeres Gefäß – wenn nicht ausgerechnet die Glut des Lebens in dir glimmen würde.

Nyktos’ Worte waren hart gewesen, aber es stimmte. Von Geburt an war ich nicht mehr als eine leere Leinwand, die sich in alles verwandeln konnte, was der Primar des Todes begehrte. Und die meine Mutter für ihre Zwecke benutzen konnte.

Ich setzte mich auf den Rand des Podiums und kämpfte gegen den Druck an, der sich wieder auf meine Brust legen wollte. »Ich habe Kolis vor nicht allzu langer Zeit gesehen.«

Nyktos’ Kopf fuhr zu mir herum.

Ich räusperte mich. Ich wusste nicht mehr, ob ich ihm bereits davon erzählt hatte oder nicht. »Ich war im Sonnentempel, als Kolis zum Ritual erschienen ist. Ich stand ganz hinten, und mein Gesicht hat im Verborgenden gelegen, aber ich könnte schwören, dass er mir direkt in die Augen gesehen hat.« Ich schluckte schwer. »Sehe ich aus wie sie? Wie Sotoria?«

Penellaphe legte eine Hand auf den Kragen ihres Kleides. »Wenn du aussehen würdest wie sie, und Kolis hätte dich gesehen, hätte er dich auf der Stelle mitgenommen.«

Ich stieß entsetzt den Atem aus, und er bildete eine Wolke in der eisigen Luft, die sich plötzlich ausbreitete. Mein Blick schoss zu Nyktos.

Seine Haut schien dünner, und dunkle Schatten bildeten sich darunter. Ich dachte daran, wie er sich mir in seiner wahren Gestalt gezeigt hatte. Seine Haut war tiefschwarz und von silbern leuchtendem Äther durchzogen gewesen, und seine Flügel hatten jenen der Draken geglichen, auch wenn sie aus reinstem Äther bestanden hatten.

Offenbar stand er wieder kurz davor, den Primar heraushängen zu lassen. »Sotoria hat ihm nie gehört. Und Seraphena tut es genauso wenig.«

Seraphena.

Ich konnte die Leute, die mich mit meinem vollen Namen ansprachen, an einer Hand abzählen, und niemand sagte es so wie er. Aus seinem Mund klang es wie ein Gebet.

»Ich weiß nicht, wie Sotoria als Sterbliche aussah«, erklärte Holland. »Ich habe ihr Schicksal nicht verfolgt, bis Eythos kam und fragte, was gegen den Verrat seines Bruders getan werden konnte. Ich weiß nur, dass sie nicht jedes Mal in derselben Gestalt wiedergeboren wurde. Es wäre allerdings möglich, dass Kolis Spuren von Äther in dir wahrgenommen und dich für ein Kind einer Sterblichen und eines Gottes hielt – eine Gottheit oder eine Göttin, die kurz vor der Auslese steht.«

Ich nickte langsam und zwang mich, die Sache mit Sotoria erst einmal beiseitezulassen. Das musste ich. Es war einfach zu viel. »Trotzdem hat das, was ich getan habe, bereits allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Wir können nicht so tun, als wäre nichts passiert.«

»Ich weiß«, bemerkte Nyktos kühl. »Ich gehe davon aus, dass ich in nächster Zeit einigen unerwünschten Besuch bekommen werde.«

»Als seine Gemahlin wirst du einem gewissen Schutz unterstehen«, meinte Penellaphe, dann wandte sie sich an Nyktos. »Aber bis es so weit ist, kann jeder Primar und auch jeder Gott zur Gefahr werden. Und du kannst vermutlich nicht mit der Unterstützung der anderen Primare rechnen, wenn du dich rächst.« Penellaphe sah mich an und verzog mitfühlend das Gesicht. »Die Höfe verfolgen eine überaus archaische Politik.«

Das war eine Art, es auszudrücken. Man konnte sie genauso gut als mörderisch bezeichnen.

»Aber eine Krönung birgt ebenfalls Risiken«, fuhr Penellaphe fort. »Die meisten Götter und die Primare aller neun Höfe – einschließlich deines eigenen – würden zur Zeremonie erscheinen. Natürlich verbietet die Tradition jegliche … Konflikte bei solchen Zusammenkünften. Aber du weißt, dass einige ihre Möglichkeiten gern ausreizen.«

»Was du nicht sagst«, murmelte Nyktos.

»Kolis kommt normalerweise nicht zu solchen Festlichkeiten.«

»Er weiß, dass etwas im Busch ist. Er hat bereits seine Dakkai und Draken geschickt, wie ihr sicher wisst.« Nyktos warf Holland einen bösen Blick zu, und der Arae hob eine Augenbraue. »Kolis war seit dem Verrat an meinem Vater nicht mehr in der Schattenwelt, was natürlich nicht bedeutet, dass er nicht herkommen kann. Aber ich schätze, selbst wenn du wüsstest, ob es ihm möglich ist, die Schattenwelt zu betreten«, meinte er an Holland gewandt, »dürftest du es uns nicht sagen.«

»Das stimmt leider«, bestätigte Holland, und ich fragte mich, ob etwas zu wissen und nicht sagen zu dürfen frustrierender war, als nichts zu wissen.

Vermutlich nicht, wenn man bedachte, wie sehr es mich nervte, wenn ich im Dunkeln tappte.

Die Temperatur war zwar wieder gestiegen, dennoch lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, als ich daran dachte, was möglicherweise bevorstand. »Was würde denn passieren, wenn Kolis in die Schattenwelt käme?«

»Kolis kann unberechenbar sein, aber er ist kein Narr«, antwortete Nyktos. »Falls er die Schattenwelt betreten kann und zur Krönung kommt, wird er vor den anderen Primaren und Göttern nichts riskieren. Er hält sich für den rechtmäßigen König der Götter und möchte diese Fassade aufrechterhalten, auch wenn es die anderen Primare besser wissen.«

»Aber falls er …«, begann ich.

»Ich werde nicht zulassen, dass er dir auch nur ein Haar krümmt«, schwor Nyktos, und seine Augen loderten.

Mein Herz machte einen Satz. Das klang zwar nett, aber er sagte es nur, weil ich die Glut des Lebens in mir trug. Und weil er anständig war. Er beschützte die Leute, die unter seinem Dach lebten. Er war ein guter Kerl. »Danke, aber ich mache mir keine Sorgen um mich.«

Nyktos biss die Zähne zusammen. »Natürlich nicht.«

Ich ignorierte ihn. »Was wird Kolis tun, wenn ihm klar wird, dass du jemanden beschützt, der die Glut des Lebens in sich trägt?«, wollte ich wissen. »Oder dass ich Sotorias Seele in mir habe? Was wird er mit der Schattenwelt anstellen? Mit allen, die hier leben? Ich will wissen, was dich meine Anwesenheit hier kosten wird.«

»Deine Anwesenheit kostet mich gar nichts.« Die Schatten unter Nyktos’ Haut wurden dunkler.

»Blödsinn«, zischte ich, und das Silber in seinen Augen wurde zu Eisen. »Mich muss niemand vor der Wahrheit in Schutz nehmen. Ich werde sicher nicht vor lauter Schreck über die nächstbeste Klippe stürzen.«

Holland seufzte.

»Das ist gut zu wissen«, erwiderte Nyktos trocken. »Aber ich befürchte eher, dass du in die andere Richtung läufst.«

Ich reckte das Kinn vor. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Blödsinn«, äffte er mich nach, und meine Augen wurden schmal. Er hatte recht. Ich wusste genau, was er damit gemeint hatte.

Aber egal.

»Kolis weiß bereits, dass etwas oder jemand hier in der Schattenwelt ist, der die Macht besitzt, Leben zu erschaffen«, mischte sich Penellaphe ein und achtete nicht auf den zornerfüllten Blick, den Nyktos ihr zuwarf. »Aber Nyktos hat recht. Kolis ist kein Narr. Die Dakkai waren eine Warnung. Seine Art, Nyktos zu zeigen, dass er Bescheid weiß.«

»Aber sie kamen erst, nachdem ich Gemma zurückgeholt habe«, erklärte ich. Gemma hatte zu den drittgeborenen Töchtern und Söhnen gehört, die während eines Rituals an den Primar des Lebens und seinen Hof übergeben wurden. Diese Tradition wurde in sämtlichen Königreichen der sterblichen Welt hochgeschätzt, aber es war eine Ehre, die sich unter Kolis’ Herrschaft zu einem Albtraum entwickelt hatte.

Gemma war unter den Glücklichen gewesen, die Nyktos mit Hilfe von Göttern wie Bele und einigen anderen aus Kolis’ Gefangenschaft befreien konnte und die daraufhin Zuflucht in der Schattenwelt gefunden hatten. Er gab ihnen Schutz. So etwas wie Frieden.

Dinge, die meine bloße Existenz nun bedrohte.

Gemma hatte nicht viel über ihre Zeit an Kolis’ Hof erzählt, aber ich wusste auch so, dass es auf keinen Fall erfreulich war, als sein Liebling zu gelten. Was auch immer ihr angetan worden war, es war so grauenhaft gewesen, dass sie in Panik geraten war, als sie einen der Götter aus Kolis’ Gefolge in Lethe entdeckt hatte. Sie hatte solche Angst gehabt, wieder zurückgebracht zu werden, dass sie in die sterbenden Wälder gerannt war, wo jeden der sichere Tod erwartete.

»Auf die Sache mit Bele hat er nicht reagiert«, fuhr ich fort. »Zumindest, soweit ich weiß.«

»Vermutlich nur deshalb, weil es ihn kalt erwischt hat«, überlegte Penellaphe. »So etwas hätte er sicher nicht erwartet. Und sonst auch niemand.« Sie wandte sich an Nyktos. »Er hat dich also noch nicht zu sich bestellt?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«, wollte ich wissen.

Nyktos nickte. »Ich kann eine Antwort auf eine solche Einladung bloß hinauszögern. Ablehnen kann ich sie nicht.«

»Er scheint vorsichtig zu sein«, meinte Penellaphe. »Aber er ist sicher auch neugierig, was genau ihr in der Schattenwelt versteckt und wie es möglich sein kann, dass die Glut des Lebens noch existiert. Außerdem macht er sich wohl bereits Gedanken, wie er sich diese unbekannte Quelle der Macht zunutze machen kann.«

»Wie sie ihm bei diesem verzerrten Ideal des Lebens behilflich sein kann, das er seiner Meinung nach erschafft«, fuhr Holland fort.

»Du weißt also, was er mit den Auserwählten macht, die verschwunden sind?« Nyktos sah ihn scharf an. »Du weißt von diesen Wiederkehrern?«

»Ich weiß, dass diese sogenannten Wiederkehrer nicht die einzige Verhöhnung des Lebens sind, die er erschaffen konnte.« Hollands dunkle Augen richteten sich auf Nyktos. »Und du hast es ebenfalls schon gesehen. Du weißt, was Götter aus seinem Hof in der sterblichen Welt angerichtet haben.«

Nyktos runzelte die Stirn, dann sah er mich an. »Die Schneiderin.«

Ich brauchte einen Moment, ehe ich die Verbindung zu der Schneiderin meiner Mutter herstellte. »Andreia Joanis?« Kurz bevor ich sie tot aufgefunden hatte, hatte ich den Gott Madis in der Nähe ihres Hauses im steinernen Viertel gesehen. Andreias Adern waren dunkel unter der Haut hervorgetreten, als wären sie voller Tinte, und ihre Augen … ihre Augen waren verkohlt gewesen. Nyktos war Madis in jener Nacht gefolgt und ebenfalls in Andreias Haus gelandet. Er hatte zuerst gedacht, sie wäre tot. »Sie hat sich plötzlich aufgerichtet und den Mund aufgerissen. Sie hatte vier Fangzähne. Das habe ich noch nie gesehen.«

Holland stieß einen kurzen, gutturalen Laut aus. Ein Wort in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Dann wandte er den Kopf ab und spuckte aus.

Ich hob die Augenbrauen. »Wie war das?«

»Craven?« Nyktos’ Augen wurden schmal. Offenbar hatte er Holland verstanden.

Der Schicksalsgeist nickte. »Sterbliche verwandeln sich in diese Wesen, die auch Hungernde genannt werden, wenn ihnen die Lebenskraft – also ihr Blut – gestohlen und das Fehlen nicht ausgeglichen wird. Es spielt keine Rolle, wer der Sterbliche davor war. Körper und Geist verfaulen, und die Opfer verwandeln sich in gewissenlose Kreaturen, die von einem unstillbaren Hunger nach Blut getrieben werden.«

»Aber es ist seit Ewigkeiten verboten, Sterbliche zu töten, indem man ihnen alles Blut nimmt.«

»Und das ist der Grund dafür«, erwiderte Holland. »Es geht um das Gleichgewicht.«

Ich warf die Hände hoch. »Wie um alles in der Welt kann es das Gleichgewicht aufrechterhalten, wenn Sterbliche in derartige Ungeheuer verwandelt werden?«

»Das Gleichgewicht verlangt, dass das genommene Leben weiterexistiert. Es soll die Götter daran erinnern, dass ihre Unfähigkeit zur Selbstkontrolle Konsequenzen nach sich zieht. Wenn der Primar des Lebens einem Sterblichen das Leben zurückgibt, kommt dasselbe Prinzip zur Anwendung.« Er sah mich an, und sein Blick schien bis in mein Innerstes zu dringen. »In diesem Fall muss im Gegenzug ein anderes Leben gegeben werden.«

Ich keuchte, und mein Magen zog sich zusammen. »In der Nacht, als ich Lady Marisol zurückgeholt habe, ist der König von Lasania im Schlaf gestorben.« Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass mein Entschluss etwas damit zu tun gehabt hatte. »Gute Götter, habe ich etwa meinen Stiefvater getötet?«

»Nein«, zischte Nyktos und durchbohrte den Schicksalsgeist mit seinem Blick. »Das hast du nicht.«

Ich starrte ihn an. Wie konnte er sich da so sicher sein? Es hatte nämlich auf alle Fälle so geklungen.

»Es war ja keine Absicht«, meinte Holland beschwichtigend. »Aber Marisols Zeit war gekommen. Du bist eingeschritten und hast das Gleichgewicht durcheinandergebracht. Das musste geradegerückt werden.«

»Aber von wem?«, wollte ich wissen. »Wer entscheidet, wie das Gleichgewicht wieder hergestellt wird?«

Holland sah mich an.

Ich erstarrte. »Ihr?«

»Nicht er im Speziellen«, antwortete Nyktos. »Die Arae. Sie sind der Reinigungstrupp des Schicksals.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Oder wie ich mich fühlen sollte – ich meine, außer dass ich ein schlechtes Gewissen hätte haben sollen. Denn auch wenn König Ernald nicht der beste Anführer gewesen war, war er kein schlechter Mann gewesen. Aber stattdessen spürte ich bloß flüchtiges Entsetzen und eine kaum merkliche Scham. Etwa so wie nach einem meiner Morde, wenn ich wusste, ich würde schon bald nicht mehr darüber nachdenken.

Und das irritierte mich.

Ich irritierte mich.

Aber das war im Moment nicht von Belang. Viel wichtiger war, dass Marisol nicht die Einzige war, die ich zurückgeholt hatte. »Was passiert, wenn ich einen Gott zurückhole? Verlangt das Gleichgewicht dann den Tod eines anderen Gottes?«

»Glücklicherweise nicht«, antwortete Nyktos. »Diese Regel trifft seit jeher nur auf Sterbliche zu.«

»Das ist ungerecht«, murmelte ich. Ich war erleichtert, dass ich keinen Gott auf dem Gewissen hatte. Aber ich hatte einen namenlosen, gesichtslosen Sterblichen in den Tod geschickt, als ich Gemma zurückgeholt hatte. »Außerdem wäre es nett gewesen, das zu wissen.«

Holland sah mich an. »Hätte es denn etwas an deinen Entscheidungen geändert?«

Ich klappte den Mund zu. Diese Frage konnte ich nicht beantworten.

»Außerdem weißt du es jetzt. Manche Dinge lernt man auf schmerzhafte Art.« Er verzog die Lippen zu einem traurigen, gutmütigen Lächeln, das dankenswerterweise sofort verblasste. »Wie auch immer, hättet ihr diese Andreia nicht getötet, hätte sie früher oder später das Haus verlassen und wäre über den erstbesten Sterblichen hergefallen, dem sie begegnet wäre. Egal, ob Mann, Frau oder Kind.«

»Hat Madis ihr das angetan?«, fragte Nyktos.

»Ich glaube, dass Madis versucht hat … etwas wieder geradezubiegen, was eine von Kolis’ Schöpfungen hinterlassen hat.« Holland tippte sich ans Kinn. »Mehr kann ich dazu nicht sagen. Erstens, weil ich kaum etwas weiß, und zweitens, weil allein das schon als Einmischen gesehen werden würde.«

»Und die Grenze, auf der er sich hier bewegt, ist ohnehin schon sehr schmal«, erinnerte Penellaphe uns, aber vor allem Nyktos, dessen Zorn auf den Schicksalsgeist größer und größer wurde. »Das, was Kolis treibt, ist im Moment nicht unsere größte Sorge, und eure sollte es auch nicht sein.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr diesbezüglich zustimmen konnte.

»Du wolltest wissen, was Kolis tun würde, um an die Glut des Lebens zu kommen. Er würde einen Weg finden, um sie an sich zu reißen. Vielleicht würde er nicht die grausamsten ihm zur Verfügung stehenden Methoden anwenden …« Ihre leuchtend blauen Augen verdunkelten sich und wirkten mit einem Mal gehetzt. »… aber falls er jemals dahinterkommen sollte, wer du einst warst, wird er vor nichts zurückschrecken, um dich zu bekommen.«

»Penellaphe«, warnte Nyktos.

»Das ist die Wahrheit«, erwiderte sie und sah ihn an. »Das kannst und solltest du nicht vor ihr verbergen.«

»Du hast keine Ahnung, was ich kann, wenn es nötig sein sollte.«

»Das ist wahr.« Ihre Stimme klang nun sanfter. »Aber du weißt genau, wozu Kolis fähig ist. Und ich weiß es auch. Er würde die Schattenwelt niederbrennen, um seine Graeca zu bekommen.«

In der alten Sprache der Primare bedeutete Graeca Leben. Aber Aios hatte mir erklärt, dass es auch Liebe heißen konnte.

Gemma war die Erste, die in meiner Gegenwart dieses Wort gebraucht hatte. Sie hatte erzählt, dass Kolis während ihrer Zeit bei ihm oft von seiner Graeca gesprochen hatte. Gemma glaubte, dass es irgendetwas damit zu tun hatte, was er mit den verschwundenen Auserwählten tat, die nach einiger Zeit seltsam verändert, kalt, leblos und hungrig zurückkehrten.

Ich konnte gerade noch ein Schaudern unterdrücken. »Und was würde Kolis mit Nyktos anstellen, wenn der versucht, mich vor ihm zu beschützen?«

»Darüber mach dir mal keine Gedanken«, zischte Nyktos.

»Echt jetzt?«, rief ich. »Wir reden hier von dem Mann, der deine Mutter und deinen Vater umgebracht hat. Von einem Mann, der Götter an deine Mauer geschlagen hat, um dich daran zu erinnern, wie vergänglich das Leben ist.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Der Äther in seinen Augen loderte auf. »Was auch immer Kolis tun oder nicht tun wird, spielt keine Rolle. Ich komme mit ihm klar.«

Frustriert schüttelte ich den Kopf. »Er wird dich töten …«

»Nein, das wird er nicht«, unterbrach mich Holland. »Wie schon gesagt, es muss immer ein Gleichgewicht herrschen. Überall. Sogar unter den Primaren. Das Leben kann nicht ohne den Tod existieren, und beides sollte nicht in einer Person vereint sein.«

»Moment.« Ich legte die Hände auf die Knie. »Ihr meint, in einer Person wie dem Primar des Lebens und des Todes? Ist das denn möglich? Denn ihr habt gesagt, es sollte nicht sein. Nicht, dass es nicht sein kann.«

»Alles ist möglich«, antwortete Holland. »Sogar das Unmögliche.«

Ich hatte Mühe, nicht die Geduld zu verlieren. »Das war jetzt eine unglaublich aufschlussreiche Antwort. Ich danke Euch.«

Holland lachte.

»Er will damit sagen«, mischte sich Nyktos ein, »dass ein solches Wesen – ein Primar des Lebens und des Todes –, nicht vorgesehen ist. Es wäre undenkbar, dass beide Funken in einem Individuum existieren. Aber falls es jemals dazu kommen würde, würde dieses Wesen über die absolute Macht verfügen, könnte Welten zerstören und im selben Atemzug neue erschaffen.«

»Ein solches Wesen wäre nicht aufzuhalten«, fügte Holland hinzu. »Es gäbe kein Gleichgewicht mehr. Weshalb die Schicksalsgeister vor langer Zeit dafür gesorgt haben, dass eine derartige Macht geteilt werden muss und mit dem Verschwinden einer Glut alles zusammenbricht. Es wäre nicht wie Fäulnis – ein langsames Dahinsterben –, sondern plötzlich und absolut. Kolis kann keinen anderen Primar aufsteigen lassen, um den Platz eines Gefallenen einzunehmen. Wenn er Nyktos tötet, verdammt er sich selbst. Zumindest das ist ihm klar.«

Ja, gut. Abgesehen davon, dass ich praktisch genau das mit Bele gemacht hatte. Ich hatte sie in eine Position gebracht, in der sie Hanan ersetzen konnte, falls er fallen sollte.

Trotzdem war es eine Erleichterung, dass Kolis Nyktos nicht töten konnte. Wobei andererseits niemand sagen konnte, was Kolis tun oder nicht tun würde. Er schien mir nicht gerade der Vernünftigste zu sein.

Frustration machte sich in mir breit. »Was will Kolis eigentlich? Welches Ziel verfolgt er mit seinen Schöpfungen?«

Holland schnaubte. »Das ist eine gute Frage.«

»Eine, auf die Ihr die Antwort kennt, sie uns aber nicht verraten dürft?«, erwiderte ich.

»Nein, ich weiß es tatsächlich nicht«, antwortete er. »Die Schicksalsgeister wissen nicht, was in den Köpfen anderer vor sich geht.«

Was mal wieder keine große Hilfe war.

»Er will alles beherrschen – das Iliseeum und die sterbliche Welt«, meinte Nyktos. »Die Höfe des Iliseeums würden in der sterblichen Welt den Platz der Königreiche einnehmen. Es gäbe nur ihn und seine Speichellecker, und die Sterblichen würden an ihren rechtmäßigen Platz verbannt – das glaubt er zumindest. Ich schätze, diese Verhöhnungen des Lebens sollen dazu dienen, diesen Plan umzusetzen.«

Das hieß, Kolis erschuf eine Armee aus Sterblichen, die von unstillbarem Hunger getrieben wurden? »Das darf doch nicht wahr sein.«

Holland öffnete den Mund.

»Wenn Ihr jetzt sagt, dass alles möglich ist, selbst das Unmögliche, schreie ich!«, warnte ich ihn, und der Schicksalsgeist klappte den Mund wieder zu. »Die Sterblichen würden sich wehren, selbst diejenigen, die den Göttern loyal gegenüberstehen. Er müsste gegen eine gesamte Welt antreten, und am Ende wäre nichts mehr übrig, über das er herrschen kann.«

»Es würde sicher nicht leicht sein und in einem Gemetzel enden, das nicht einmal ich mir vorstellen kann«, stimmte Nyktos mir zu. »Er würde über ein Königreich aus Knochen regieren.«

»Aber wird ihn das Wissen darum aufhalten?«, fragte Penellaphe leise.

Bis jetzt hatte es das nicht.

Aber im Fall meines Todes würde Kolis seinen Plan nicht in die Tat umsetzen können. Er würde tatsächlich über ein Königreich aus Knochen regieren.

Unfähig, noch eine Sekunde länger still zu sitzen, stand ich auf und wollte nach meinem Dolch aus Schattenstein greifen, den Nyktos mir wiedergegeben hatte, um im nächsten Moment zu erkennen, dass ich ihn in seinem Arbeitszimmer liegen gelassen hatte. Ich wandte mich an Holland. »Wie lange hätte die sterbliche Welt noch Zeit?«, fragte ich und schluckte schwer. »Wenn ich erst einmal tot bin.«

»Du wirst nicht sterben«, erklärte Nyktos, als hätte er die Befugnis, darüber zu entscheiden.

Aber die hatte er nicht.

»Doch, das wird sie«, widersprach Holland leise. »Ohne die Liebe desjenigen, der sie aufsteigen lässt, wird sie sterben. Liebe kann man nicht verleugnen. Liebe muss anerkannt werden.« Er sah Nyktos an. »Und du hast …«

»Wir haben dich auch beim ersten Mal schon verstanden«, zischte ich, während sich der Primar durch die Haare fuhr.

»Nein, das habt ihr nicht«, erwiderte Holland. »Denn du hast keine Ahnung, warum er dich in diesem Zustand, in dem er sich gerade befindet, nicht retten kann.« Er betrachtete Nyktos mit schief gelegtem Kopf. »Nicht wahr?«

Die Spannung war beinahe greifbar, während der Primar den Blick des Arae standhielt. »Nein, das hat sie nicht.«

Nyktos Gesicht war unergründlich. Langsam stieg Unbehagen in mir hoch. »Wovon redet ihr?«

Ein Muskel pochte an Nyktos’ Schläfe. »Ich kann nicht lieben«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wobei er sich immer noch an Holland wandte. »Ich habe dafür gesorgt, dass niemals jemand diese Schwäche ausnutzen kann.«

»Und wie hast du das angestellt?«

»Maia«, sagte er und meinte damit die Primarin der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit. »Sie hat meine Kardia entfernt.«

Penellaphe schnappte nach Luft, und ihre Augen wurden groß. »Bei allen Göttern«, flüsterte sie. »Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der das getan hat.«

Offenbar hatte ich etwas versäumt, und ich war das ständige Nachfragen langsam leid. »Was ist diese Kardia?«

»Die Kardia ist ein Teil der Seele – ein Funken –, den alle Lebewesen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod in sich tragen. Sie erlaubt ihnen, Liebe zu empfinden, die nicht an die Familie geknüpft ist. Unumstößliche, selbstlose Liebe.« Penellaphe schluckte. »Es muss unerträglich schmerzhaft gewesen sein, sich diesen Teil der Seele entfernen zu lassen, um am Ende tatsächlich unfähig zu sein, Liebe zu empfinden.«

2

»ESWARKAUMDERREDEWert«, murmelte Nyktos kaum hörbar, der ganz offensichtlich nicht über das Thema sprechen wollte.

Ich war fassungslos.

Ich hatte gedacht, Nyktos würde sich nicht erlauben, jemanden zu lieben. Dass er Liebe für eine Schwäche hielt. Eine Waffe, die gegen ihn eingesetzt werden konnte – genau wie ich sie einsetzen wollte. Aber ich hatte nicht gewusst, dass er tatsächlich nicht fähig war, Liebe zu empfinden.

Ich war entsetzt, dass er sich selbst so etwas angetan hatte, obwohl ich den Grund verstand, denn immerhin hatte er einiges durchgemacht. Was ich nicht verstand, war, dass er …

»Aber du empfindest so unglaublich viel für andere.« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Das weiß ich. Wie …?«

»Etwas für jemanden zu empfinden und ihn zu lieben sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge«, erklärte Nyktos. »Ich bin nicht unfähig, etwas für andere zu empfinden. Die Kardia hat einfach keinen Einfluss mehr auf mich. Was meiner Meinung nach bei allen Primaren der Fall sein sollte.«

»Ja, vor allem bei Kolis wäre es nicht schlecht«, murmelte ich und strich mit der Hand über meine Brust. Die Glut in meinem Inneren ruhte, aber mein Herz brach für Nyktos. Ich warf Holland einen Blick zu, der schweigend neben uns stand, und wurde wütend. »Und Ihr konntet mir nicht einmal einen winzig kleinen Hinweis geben, dass die Vorbereitung auf meine bevorstehende Aufgabe eigentlich zwecklos war? Obwohl Ihr dabei wart?«

»Nein«, erwiderte Holland leise.

Das war mir natürlich klar. Es gab immerhin Regeln. Trotzdem war es sehr ärgerlich. Ich räusperte mich. »Also, zurück zu meiner Frage. Wie lange hat die sterbliche Welt, wenn ich erst mal tot bin?«

»Das ist schwierig zu sagen«, antwortete Holland. »Du weißt, dass die Fäulnis, die über die sterbliche Welt zieht, die Schattenwelt zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist. Sie wird sich auch über das restliche Iliseeum ausbreiten, aber dort wird es wesentlich länger dauern, bis die Auswirkungen katastrophal werden. Ich schätze, die sterbliche Welt hat noch … ein Jahr? Oder vielleicht zwei oder drei, wenn die Sterblichen Glück haben. Auf jeden Fall wird es nicht einfach, solche Veränderungen zu überleben.«

Vielleicht wollte es auch niemand überleben.

Ich dachte an die Coupers, die tot im Bett gelegen hatten, als ich in ihr Haus getreten war. Alle zusammen, so wie sie es in ihrem Leben als Familie schon Hunderte Male getan hatten. Sie hatten wochenlanges Hungern hinter sich, und Hunderttausende würde dasselbe Schicksal ereilen, wenn es irgendwann keine Pflanzen mehr gab. Und keine Tiere. Hunger und Krankheiten würden schreckliche Ausmaße annehmen, und das würde zu Kriegen und noch mehr Gewalt führen.

Voller Angst dachte ich an das Volk von Lasania – an meine Stiefschwester Ezra, Marisol und die Schwestern der Barmherzigkeit, die alles in ihrer Macht Stehende taten, um Kinder davor zu bewahren, dem Abschaum der Gesellschaft zum Opfer zu fallen. Dann dachte ich an die Familie Massey und alle anderen hart arbeitenden Männer und Frauen in ganz Lasania. So viele, die nicht die geringste Chance haben würden.

»Können wir sie nicht warnen?«, fragte ich Holland. »Dann kann Ezra vielleicht …«

»Königin Ezmeria hat bereits damit begonnen, einige sehr dringende Veränderungen in Lasania herbeizuführen«, unterbrach mich Holland.

Ich schnappte nach Luft. »Königin?«

Ein leises, liebevolles Lächeln umspielte seine Lippen, als er nickte.

»Sie hat also geheiratet?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Marisol?«

»Ja. Sie hat den Thron nicht lange nach deinem Verschwinden in die Schattenwelt bestiegen.«

Ich schloss erleichtert die Augen. Ezra hatte getan, worum ich sie gebeten hatte. Sie hatte meiner Mutter den Thron streitig gemacht. Bei den Göttern, ich hätte so gern Mutters Gesicht gesehen. Ich stieß ein ersticktes Lachen aus und öffnete die Augen. Nyktos betrachtete mich mit diesem typischen eindringlichen Blick. »Wie hat sie es angestellt? Hat meine …?« Ich brach ab. Das spielte im Moment keine Rolle. »Ich muss sie warnen.«

»Davon muss ich dringend abraten«, meinte Nyktos.

»Dich hat niemand gefragt«, zischte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte.

Er wirkte gänzlich unbeeindruckt von meiner Antwort und betrachtete mich einfach weiter.

»Manchmal ist es besser, wenn man erst gar nicht weiß, dass es keinen Ausweg gibt«, meinte Penellaphe.

»Hast du nicht vorhin gesagt, dass Wissen Macht ist?«, merkte ich an.

»Ja, manchmal. Aber manchmal führt es lediglich zu Unheil und Schmerz.«

»Und Angst.« Hollands Stimme klang leise und tröstend, so wie damals, als ich von meiner ersten Stunde bei den Herrinnen des Jadesteins zurückgekehrt war. Mein Herz zog sich zusammen. »Die Wahrheit hilft ihnen nicht. Sie verursacht bloß Panik.«

Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt hatte, dann, dass die Wahrheit die Möglichkeit barg, sich zu entscheiden. Und ich kannte die Wahrheit über sehr viele Dinge, was bedeutete, dass ich jede Menge Entscheidungen treffen musste. Sollte ich mich verstecken und beschützen lassen? Sollte ich nicht weiter darüber nachdenken, was aus der sterblichen Welt und irgendwann auch aus dem Iliseeum werden würde? Sollte ich mein Leben ohne weiteren Sinn absitzen, bis ich irgendwann starb?

Oder sollte ich mich wehren?

Ich warf Holland einen Blick zu. Er musterte mich so eindringlich, als wollte er mir gleich einen Dolch zuwerfen, um damit zu trainieren.

»Da ist noch etwas«, meinte Penellaphe. »Eine Möglichkeit, wie ich dir helfen könnte. Zumindest vorübergehend.« Sie schluckte. »Falls irgendjemand dahinterkommt, was du in dir trägst, könnte derjenige versuchen, dich zu entführen. Und ich rede hier nicht nur von Kolis. Dagegen könnte ich dich schützen.«

»Wirklich?«

»Du meinst mit einem Zauber?«, vermutete Nyktos und neigte den Kopf. »Ich kenne nichts, um so etwas zu verhindern.«

»Nein, natürlich nicht. Du bist immerhin der Primar des Todes.« Penellaphe lächelte. »Aber ich bin die Göttin der Loyalität und Pflicht. Und die Göttin der Weisheit.«

»Was bedeutet«, begann Nyktos, und ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus, »dass du mehr weißt als ich und ich verdammt noch mal die Klappe halten soll?«

Penellaphes Augen funkelten im Licht der Sterne. »Ganz genau.«

Schon wenige Minuten später saß ich auf dem Podium, und der Mann, den ich vorhin mit Penellaphe gesehen hatte, malte etwas auf meine Haut.

Er saß neben mir und hatte den Kopf über meinen Arm gebeugt, auf den er mit dicker schwarzer Tinte eine Abfolge von unbekannten Buchstaben schrieb. Seine blonde Löwenmähne fiel ihm ins Gesicht und verbarg es vor meinen Blicken. Er hatte auf der rechten Seite angefangen, wo die Buchstaben bereits in drei Zeilen um mein Handgelenk und weiter nach oben verliefen.

Wenn ich mich zurücklehnte, sahen die Buchstaben beinahe aus wie Ketten, die sich um meine Handgelenke wickelten.

»Verblasst die Tinte irgendwann?«, fragte ich.

»Ja, sobald ich fertig bin«, antwortete der Mann, und die federleichte Berührung des Pinsels kitzelte sanft. Ich wusste lediglich, dass er ein Viktor war, ein im Prinzip sterbliches Wesen, das geboren wurde, um Überbringer großer Veränderungen zu beschützen. »Aber die Primare und einige der mächtigeren Götter spüren den Zauber.«

Wo wir gerade von Primaren sprachen …

Mein Blick huschte zu Nyktos, der direkt hinter dem Mann stand. So nahe, dass dieser mit Sicherheit Nyktos’ Atem im Genick spürte.

»Und wie funktioniert dieser Zauber?«, fragte er.

»Er verhindert, dass sie gegen ihren Willen von dem Ort fortgebracht wird, an dem der Zauber auf sie übertragen wurde«, erklärte der Viktor und neigte den Kopf, um eine weitere Zeile fertigzustellen. Das sonnengebräunte, wettergegerbte Gesicht war auf schroffe Art durchaus attraktiv. »Wenn es jemand trotzdem versucht, wehrt sich der Zauber.«

Ich hob eine Augenbraue. »Wie denn?«

»Er sendet einen Energiestoß aus, der genauso schmerzhaft ist wie ein Ätherblitz, der dich direkt in die Brust trifft«, antwortete er. »Selbst ein Primar würde auf seinem Hintern landen. Und zwar so oft, wie er aufsteht und es wieder versucht.«

»Nett.«

Seine leuchtend blauen Augen fanden meine, und er grinste.

»Und woher kennst du den Zauber?«, hakte Nyktos nach.

»Ich habe einmal einem Gott aus den Thyia-Ebenen dabei zugesehen«, erzählte der Viktor und meinte damit wohl jemanden aus dem Hof der Primarin Keella. »Aber ich hatte keine Ahnung, was die Zeichen mit der Sterblichen anstellten. Penellaphe hingegen wusste, was die Buchstaben bedeuteten und wie sie funktionierten. Jeder ist ein Schutzsymbol, das seine Kraft aus der göttlichen Essenz zieht.«

Ich fragte mich, ob es ein ähnlicher Zauber war wie jener, den Nyktos angewandt hatte, um meine Familie nach meinem Fortgehen zu beschützen.

Da kam mir noch ein Gedanke: Vielleicht war es jemand wie dieser Mann hier, ein Viktor, der meiner Familie verraten hatte, wie man einen Primar tötet. Immerhin sollte kein Sterblicher je von solchen Dingen erfahren. Es wäre logisch gewesen, wenn jemand aus meiner Familie von einem Viktor angeleitet worden wäre, der um seine Bestimmung wusste.

»Der Zauber bewahrt dich nur davor, von hier fortgebracht zu werden.« Er ließ meinen rechten Arm sinken und griff nach dem linken. »Und er kann aufgelöst werden, wenn du deine Einwilligung erteilst.«

Ich nickte, und mein Blick wanderte von Nyktos zu Holland, der einige Meter abseits stand und uns den Rücken zugewandt hatte, als wisse er nicht, was hier vor sich ging, obwohl der Zauber vermutlich der Grund war, warum er und Penellaphe diesen Mann überhaupt mitgenommen hatten.

»Danke, Ward«, sagte ich, denn ich konnte mich erinnern, dass Penellaphe ihn vorhin so genannt hatte.

»Ward ist eigentlich mein Familienname«, erwiderte er. »Mein Vorname ist Vikter.«

Ich lachte kurz auf. »Du bist ein Viktor namens Vikter?«

»Er ist der Viktor«, erklärte Penellaphe und setzte sich neben mich auf das Podium. »Der erste.«

»Oh.« Ich biss mir auf die Lippen. »Dann wurden sie also nach dir benannt?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Er ist nicht gerade begeistert davon.«

Vikter lächelte. »Es ist etwas schwierig, wenn sich mehrere Viktor gleichzeitig auf dem Berg Lotho aufhalten und jemand deinen Namen ruft«, erklärte er, und Nyktos grinste. »Die anderen brauchen immer eine Weile, bis sie vergessen haben, zu wem sie wurden, und sich wieder daran erinnern, wer sie vor der Wiedergeburt waren.«

»Die anderen?« Ich sah zu, wie er den Pinsel in das Tintenfass tauchte, das auf seinem Knie stand. Keine Ahnung, warum es nicht abstürzte. »Erinnerst du dich denn an die Leben, die du bereits gelebt hast?«

»Ich erinnere mich an alles.«

»Weil er der Erste war«, fügte Penellaphe hinzu. »Ehe den Schicksalsgeistern klar wurde, dass es besser wäre, die Viktor würden sich nicht an alle Einzelheiten aus ihren früheren Leben erinnern.«

Ich starrte Vikter fassungslos an. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, Dutzende oder Hunderte Leben zu leben und sich an jedes einzelne zu erinnern. An alle Erfahrungen und sämtliche Leute, die man kennengelernt, geliebt und verloren hatte.

Offensichtlich hatte ich alles vergessen.

Ich versuchte, tief Luft zu holen, aber es klappte nicht.

Nyktos trat neben Vikter, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, und ich war mir sicher, dass ich gerade meine Gefühle projiziert hatte.

Ich räusperte mich. »Wie bist du zum Viktor geworden?«

Vikter lachte rau. »Das ist eine lange, komplizierte Geschichte und keinesfalls so interessant, wie man annehmen würde.«

»Vikter ist viel zu bescheiden«, mischte Penellaphe sich ein. »Er hat einer sehr wichtigen Person das Leben gerettet und dafür einen unverschämt hohen Preis bezahlt. Die Schicksalsgeister haben beschlossen, ihn dafür zu belohnen, und mit der Zeit haben sie erkannt, dass sie damit eine Möglichkeit gefunden hatten, nützlich einzugreifen, ohne das Gleichgewicht ins Wanken zu bringen.«

Vikter sagte nichts, und ich fragte mich, ob er es tatsächlich als Belohnung empfand. Klar war er praktisch unsterblich, aber ständig zu leben und zu sterben bedeutete auch endlosen Verlust.

»So.« Vikter ließ meinen zweiten Arm sinken. Die Schriftzeichen waren wunderschön, aber ihr Anblick erinnerte mich derart an Fesseln, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. »Fertig.«

Sobald er das Wort ausgesprochen hatte, breitete sich ein starkes Prickeln über meine Haut aus. Licht blitzte auf, und ich schnappte nach Luft, als ein Schimmer über meine Handgelenke glitt und jeden Buchstaben nacheinander zum Leuchten brachte, bis die ganze Inschrift glühte. Das Licht flammte zweimal auf, dann verblasste es.

Die Tinte war von meinen Armen verschwunden.

Ich sah zuerst Vikter an, dann Nyktos. Unsere Blicke trafen sich. »Ich kann es nicht sehen. Aber ich … ich kann es spüren.«

»Perfekt.« Vikter erhob sich.

»Danke«, sagte ich und berührte meinen Arm. Er fühlte sich an wie immer.

»Ja.« Nyktos trat an die Stelle, an der Vikter gesessen hatte. »Danke für deine Hilfe.«

»Sehr gern.« Vikter verbeugte sich vor Nyktos und anschließend vor mir. »Gib auf dich acht.«

»Du auch.«

Kleine Fältchen tanzten um Vikters Augen, als er lächelte. Ich sah zu, wie er sich abwandte und Pinsel und Tinte in einem Beutel verstaute. »Ich warte in der Halle.«

Penellaphe nickte und erhob sich, während Vikter den Thronsaal verließ. »Wir sollten auch los.« Sie sah hinauf in den grauen Himmel. »Sonst …«

»Könnte euer Besuch als Einmischung gelten«, beendete Nyktos den Satz und drückte die Schultern durch. »Danke, dass ihr das Risiko eingegangen und gekommen seid.«

Penellaphe neigte den Kopf, als ich vom Podium glitt und vor sie trat. »Ich wünschte, wir könnten mehr tun.« Sie sah mich an, und Mitleid zeigte sich in ihrem schönen, zarten Gesicht. »Das wünschte ich wirklich.«

»Ihr habt mehr als genug getan.« Ich verschränkte die Arme. »Danke.«

Sie ging zu Nyktos, nahm seine Hände und führte ihn ein Stück von mir fort. Ihre saphirblauen Augen funkelten im Sternenlicht, als sie zu ihm aufsah. Die Eifersucht versetzte mir einen Stich. Ich wäre auch gern in der Lage gewesen, Nyktos einfach so nebenbei zu berühren und …

»Sera.«

Mir war klar, dass Nyktos mich nicht aus den Augen ließ, obwohl Penellaphe gerade auf ihn einredete, doch ich wandte mich ab und Holland zu, der endlich zu mir getreten war. Meine Kehle war sofort wie zugeschnürt. Königlicher Wächter oder Schicksalsgeist, Holland war einer der wenigen Leute in meinem Leben, die … mich tatsächlich kannten.

Holland lächelte, aber es war ein leises, schmerzliches Lächeln. »Ich hoffe, du bist nicht allzu wütend auf mich und hast das Gefühl, ich hätte dich verraten. Ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen.«

»Das verstehe ich.«

Ein zweifelnder Ausdruck machte sich in dem Gesicht breit, das, seit ich ihn kannte, nie gealtert war. »Wirklich? Du bist nicht wütend?«

Ich stieß ein kurzes Lachen aus. Holland kannte mich echt gut. »Bin ich verärgert, weil Ihr mir nicht die Wahrheit gesagt habt? Klar. Aber wütend?« Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt gerade wichtigere Dinge, die mich wütender machen.«

»Das ist wahr.« Er sah mich einen Moment lang schweigend an. »Gib nicht auf, Sera.«

»Das werde ich nicht«, erwiderte ich und meinte es durchaus ernst – vor allem, weil ich mir nicht sicher war, was genau ich an diesem Punkt in meinem Leben aufgegeben hätte.

»Gut.« Holland senkte die Stimme, und ich war mir nicht sicher, ob Nyktos hörte, was er als Nächstes sagte, denn Penellaphe hatte es geschafft, ihn noch weiter von uns wegzulotsen. »Weißt du, diese Linie auf deiner Hand, die sich von all den anderen unterscheidet? Dieser unerwartete Weg, die unvorhergesehene Möglichkeit? Das Schicksal ist nicht in Knochen und Blut festgeschrieben. Es kann sich ständig verändern. Wie deine Gedanken. Wie dein Herz.« Er hielt inne und sah zu Nyktos hinüber. »Wie sein Herz.«

Ich lachte erneut auf, doch es klang heiser. »Sicher. Das Schicksal ist genauso sprunghaft wie Gedanken und Gefühle.« Ich brachte die Worte kaum über die Lippen. »Aber nicht in diesem Fall. Nicht bei diesem Herz. Und das wusstet Ihr.«

»Die Liebe hat große Macht, Seraphena.« Holland legte mir die Hand auf die Wange, und ich spürte einen Energiestoß, den ich noch nie wahrgenommen hatte. »Sogar größer, als sich die Arae vorstellen können.«

Ich runzelte die Stirn. Klar war Liebe etwas Tolles und Besonderes, aber Nyktos hatte sich den Teil seiner Seele entfernen lassen, der ihm die Fähigkeit zu lieben verliehen hatte. Ich hatte also keinen blassen Schimmer, wovon Holland redete.

Ein Gefühl, das mir nicht völlig fremd war.

Ich stieß zitternd die Luft aus. »Werden wir uns wiedersehen?«

»Darauf kann ich dir keine Antwort geben«, sagte er, und als ich den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, fuhr er eilig fort: »Aber ich kann dir eines sagen – auch wenn du es bereits weißt. Du wurdest dein ganzes Leben lang auf eine Aufgabe vorbereitet und hast hart dafür trainiert, und die Mühe war nicht umsonst.« Seine dunklen, leuchtenden Augen drangen in meine. »Du bist seine größte Schwäche.«

Bring ihn dazu, sich in dich zu verlieben.

Werde zu seiner größten Schwäche.

Und zu seinem Untergang.

Es ging nicht um Nyktos.

Es ging um Kolis.

Ich war eine Waffe, die gegen Kolis eingesetzt werden konnte. Das war meine wahre Bestimmung. Ich wusste nur nicht, ob Kolis mich sofort als Sotoria erkennen würde und ich bereits seine größte Schwäche war, oder ob es mir durch Sotorias Seele in meinem Körper leichter fallen würde, ihn zu verführen.

Mein Magen zog sich zusammen. Bei der Vorstellung, Kolis zu verführen, stieg Übelkeit in mir hoch. Ich wollte es auf keinen Fall bis ans Ende treiben.

»Woran denkst du?«

Nyktos’ Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass mir nicht aufgefallen war, dass er mich in sein Arbeitszimmer geführt hatte.

Ich muss wieder mehr auf meine Umgebung achten.

Ich strich mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht, und mein Magen zog sich erneut zusammen, während ich mich zu ihm umdrehte. Dieses Mal allerdings aus vollkommen anderen Gründen.

Nyktos stand vor der geschlossenen Tür, und das weite weiße Hemd zu der schwarzen Hose erinnerte mich an … Ash. Ein Mann von rauer, aber dennoch überirdischer Schönheit. Eine verborgene Wildheit, die unter der ruhigen Oberfläche schlummerte.

Aber jetzt und hier war er Nyktos, nicht Ash. Er würde für mich nie wieder Ash sein.

»Es gibt vieles, worüber ich nachdenke«, gab ich zu. Und das stimmte. Kolis. Seine Schöpfungen. Seine Pläne. Nyktos und was er sich selbst angetan hatte. Ezra, die Marisol geheiratet und den Thron bestiegen hatte. Mich. Das Wissen, dass ich versehentlich den Tod meines Stiefvaters herbeigeführt hatte. Was noch auf mich zukam. Holland. Was er gesagt hatte, bevor er gegangen war.

Nyktos schritt an dem leeren Bücherregal entlang und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Ich fragte mich, ob in dem Regal jemals Bücher gestanden hatten. Oder vielleicht Erinnerungsstücke? Er setzte sich an den Rand des Sofas und sah mich immer noch an. Es war seltsam, von oben auf ihn herabzublicken.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was gerade in deinem Kopf vor sich geht«, sagte er schließlich. »Aber da sind Wut, Traurigkeit und Kummer.«

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Du sollst meinen Gefühlen doch nicht nachspüren.«

»Das ist leichter gesagt als getan. Du projizierst eine Menge«, erinnerte er mich. »Und zwar ständig. Vor allem vorhin im Thronsaal.«

»Dann solltest du vielleicht lernen, dich besser von meinen Gefühlen abzugrenzen.«