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Gedankenverloren starrt die Studentin Leona in die Nacht hinaus, wo der schlimmste Schneesturm tobt, den es in Deutschkreutz seit Jahren gegeben hat. Als sie im Schein der Laterne eine Gestalt entdeckt, die scheinbar ziellos über den Gehweg stapft, bricht sie ohne zu zögern zu einer Rettungsaktion auf. Erst zu Hause erkennt sie, wen sie da vor sich hat: Den britischen Musiker Nick Baxter, der durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle hier gelandet ist. Sie bietet ihm einen Platz zum Schlafen an und für eine Nacht lang können sie einfach sie selbst sein. Als Dank lädt der Musiker seine Gastgeberin zu einem seiner Konzerte ein und beide hoffen auf ein baldiges Wiedersehen, da sie einander nicht aus dem Kopf bekommen. Doch das Schicksal hat seine eigenen Pläne.
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Jennifer Böhm
Like a lion in the storm
Roman
Jennifer Böhm, geboren 1998, lebt mit ihrem Partner und ihrer Autorenhündin in Weppersdorf im Burgenland. Sie ist im Bereich der Buchhaltung und Lohnverrechnung in einer Steuerberatungskanzlei tätig. Das Schreiben stellt für sie einen Ausgleich zu Welt der Zahlen dar. Die Liebe zu Büchern wurde ihr in die Wiege gelegt. Inspirationen holt sie sich bei langen Spaziergängen in der Natur.
LIKE A LION IN THE STORM
© 2023 Jennifer Böhm
Taschenbuch © 2023 BRINKLEY Verlag
Ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers darf kein Teil dieser Publikation in irgendeiner Form vervielfältigt, übertragen oder gespeichert werden.
Sowohl die im Buch vorkommenden Personen als auch die Handlungen sind vom Autor frei erfunden. Namen und Ähnlichkeiten mit Personen oder tatsächlichen Handlungen sind zufällig und nicht gewollt.
Satz: Constanze Kramer, coverboutique.de
Lektorat / Korrektorat: Dr. Nora Preuß
©Umschlaggestaltung: Steph Buncherwww.stephbuncherdesign.co.uk
ISBN 978-3-903392-13-7
www.brinkley-verlag.at
Für meine Oma
Ohne dich hätte ich wohl nie zu schreiben begonnen. Du warst von Anfang an meine größte Stütze auf meinem Weg und dafür werde ich dir auf ewig dankbar sein.
Hoffentlich verbreiten sich meine Geschichten bis in den Himmel zu dir.
Ich hab dich lieb und vermisse dich!
»Endstation! Bitte beachten Sie beim Aussteigen den Niveauunterschied zwischen Zug und Bahnsteig!« Die Stimme aus den knackenden Lautsprechern des Regionalexpress ließ mich hochschrecken. Meine Augen fühlten sich so verklebt an, dass es einige Sekunden dauerte, bis ich die Lider vollständig aufschlagen konnte. In meinem Kopf dröhnte es, wie nach drei Tagen Dauerrausch, doch ich war stocknüchtern. Verwirrt rieb ich mir meine pochenden Schläfen. Verdammt! Ich hätte nicht einschlafen dürfen. Jetzt kam mir mein Körper noch schwerer und erschöpfter vor als ohnehin schon.
Gut, dass dies die letzte Reisestrecke für heute war. Ein paar Straßen weiter wartete, abgeschottet von der Öffentlichkeit, immerhin schon ein ruhiges Hotelzimmer mit einem gemütlichen King-Size-Bett auf mich. Ganz ehrlich? Ich konnte es kaum noch erwarten, mich endlich in das Bett reinfallen zu lassen, um mir ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Das war sowieso schon längst überfällig. Seit fast vierundzwanzig Stunden hatte ich kein Auge zugetan. Und mit jeder Sekunde sehnte ich mein Hotel, mit Ausblick auf die Wiener Innenstadt, ein kleines Bisschen mehr herbei.
Wenigstens hatte ich meine Sachen im Rucksack verstaut gelassen. So blieb es mir erspart, erst noch alles zusammenpacken zu müssen, bevor ich den Zug verlassen konnte. Meine Beine wogen schwer wie Blei. Als ich mich endlich dazu aufraffen konnte, mich von meinem Sitz zu erheben, wurde mir klar, wie mein Großvater sich gefühlt haben musste, wenn er uns volljammerte, dass all seine Glieder schmerzten.
Der Gurt meines Gitarrenkoffers drückte trotz Jacke auf meiner Schulter. Wieso hatte ich mich überhaupt für dieses sperrige Teil entschieden? Ein Knopfdruck und die Türen des Wagons öffneten sich. Kaum trat ich einen Schritt ins Freie, peitschte mir ein eisiger Wind um die Ohren. Schneeflocken wirbelten um mein Gesicht, während ich den Zipp meiner Jacke bis ganz nach oben zuzog. So ein Sauwetter! Hätte ich doch bloß eine Mütze eingepackt. Aber nein, ich Idiot war ja gar nicht auf die Idee gekommen, dass es in Wien schneien könnte. Das hatte ich jetzt davon. Die Strafe für meine eigene Dummheit.
Meine Hände zitterten. Mit steifen Fingern zupfte ich an meiner Kapuze rum, bis ich sie so weit entwirrt hatte, dass ich sie mir über den Kopf streifen konnte. Die kurze Zeit im Freien reichte schon aus, um meinem ganzen Körper eine Gänsehaut zu bescheren. Die Kopfbedeckung schützte meine Ohren und ging mir fast bis über die Augen. Puh, gleich ein wenig besser. Jetzt konnte ich mich endlich auf den Weg zum Hotel machen. Vielleicht sollte ich zunächst mal drei, vier Gläschen Schnaps an der Bar kippen, um mich innerlich aufzuwärmen, bevor ich mich aufs Zimmer verzog.
Aber Stopp! Moment mal! Ich hielt mitten in der Bewegung inne und ließ meinen Blick über die Umgebung schweifen. Scheiße! Der plötzliche Wechsel vom warmen Inneren des Zuges in die kalte Luft, die hier draußen auf mich gewartet hatte, musste sich auf meinen Verstand geschlagen haben. Sollte ich nicht auf einem weitläufigen Bahnsteig des Wiener Hauptbahnhofes stehen? Mit Überdachung als Wetterschutz und einer Rolltreppe in unmittelbarer Nähe, die mich in das Herz des Bahnhofes führen würde, wo ein Restaurant oder Café das nächste zu übertrumpfen versuchte?
An diesem Ort, konnte ich nichts dergleichen entdecken. So weit ich sehen konnte, gab es hier nur einen einzigen Bahnsteig und drei nebeneinanderliegende Gleise, die nur durch einen kleinen Gehweg getrennt waren. Ich stand auf dem äußersten, was bedeutete, dass ich auch die anderen beiden überqueren musste, um die Plattform überhaupt zu erreichen. Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg und suchte an der nächstgelegenen Wand nach Hinweistafeln, die mir sagten, wo ich langgehen musste. Fehlanzeige. Da gab es keine.
Es konnte doch nicht so schwer sein, die richtige Richtung zu finden. Mir schien, als würde der Bahnsteig sowieso nach wenigen Metern enden, egal, ob ich nach links oder rechts gehen würde. Hier gab es weder Treppen, noch Rolltreppen, die mich irgendwo hinbringen konnten. Nichts, als ein paar Laternen, deren Schein versuchte, gegen das Schneeflocken Gewirr anzukämpfen, und ein kleines Gebäude, neben dem ein paar Bänke standen. Scheinbar der Wartebereich. Vielleicht sollte ich ja mal versuchen, ins Gebäude zu gelangen?
Mich trennten nur wenige Schritte von der Eingangstür. Doch ehe ich meine Hand auf den Griff legen konnte, heftete sich mein Blick auf ein anderes Detail: Ein Ortsschild des Bahnhofes. Deutschkreutz stach mir in übergroßen Buchstaben entgegen. Mir klappte die Kinnlade runter, was ich schnell bereute, als mir Schneeflocken in den Mund wehten. Ich war gar nicht in Wien?! Wie war das möglich? Wo zum Teufel war ich gelandet? Shit! Das konnte doch alles echt nicht wahr sein!
Der Hauptbahnhof war doch als Endstation angegeben gewesen. Schlaf hin oder her, ich hätte dort landen müssen! Um mich herum schien es immer kälter zu werden, die Temperatur lag weit unter dem Gefrierpunkt. Mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper. Ohne mir jetzt noch große Hoffnungen zu machen, drückte ich die Klinke der Tür. Ha! »Bingo! Wenigstens etwas, das funktioniert!« Beinahe fiel ich mit der Tür ins Haus, als mich ein Windstoß ins Innere katapultieren wollte. Es erforderte eine Menge Kraft, sie hinter mir zuzudrücken.
Endlich im Warmen, sah ich, wohin es mich verschlagen hatte. Es war ein einzelner kleiner Raum mit Fenster in Richtung der Gleise. An den Wänden entlang befanden sich ein paar Bänke, die scheinbar zum Warten bei exakt solchem Scheiß-Wetter platziert worden waren. Allerdings standen sie nur für begrenzte Zeit zur Verfügung, wie mir ein Schild verdeutlichte. »Achtung! Das Wartezimmer ist zwischen 22 und 5 Uhr geschlossen!« Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk, die 21:36 anzeigte. Großartig. Da blieb mir ja nicht viel Zeit, um mich aufzuwärmen.
In einer Ecke des Raumes stand ein Ticketautomat. Mal sehen, ob ich damit herausfinden konnte, wie weit ich von meinem Ziel entfernt war. Zum Glück konnte man die Bedienung auf Englisch umstellen. Mein Deutsch war nicht so das Gelbe vom Ei. Aber ausreichend. Na schön … planlos klickte ich mich durch sämtliche Funktionen und potenzielle Zugverbindung, nur um festzustellen, dass der Wiener Hauptbahnhof fast anderthalb Stunden Zugfahrt entfernt lag! Wie hatte ich nur so lange schlafen können, ohne irgendetwas mitzubekommen?!
Innerlich verfluchte ich mich und meine Fähigkeit, an jedem noch so lauten Ort und in Bewegung schlafen zu können. Aber das half mir auch nicht weiter. Stattdessen arbeitete ich mich weiter durch den Automaten, um herauszufinden, wann der nächste Zug zurück in die Hauptstadt ging. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus. 5:10 Uhr. Früher fuhr kein Zug von hier weg. Dem elektronischen Streckenplan nach zu urteilen, befand ich mich irgendwo nahe der ungarischen Grenze. Ein Direktzug war von Wien hierhergefahren. Scheinbar ein Anschlusszug von dem, mit dem ich ursprünglich angereist war.
Ganz offensichtlich hatte beim Halt in Wien niemand mitbekommen, dass ich mich noch im Inneren befand. Oder die nächste Fahrt folgte so rasch, dass es einfach nicht auffiel und gedacht wurde, ich gehörte sowieso in diesen Zug. Und zu einer Fahrscheinkontrolle hatten sie wohl keine Lust mehr gehabt? Wie man es auch drehte und wendete, es endete immer gleich: Beschissen. Hätte ich doch bloß auf Dan gehört. Als mein Manager und einer meiner besten Freunde, versuchte er schon lange, mir einzutrichtern, dass es eine idiotische Idee wäre, per Zug von Termin zu Termin zu reisen.
Tja, offenbar musste er irgendwann mal recht behalten. Ich hätte auf ihn hören sollen. Aber nein! Mir war es ja viel zu wichtig gewesen, Zeit nur für mich zu haben und durch die Fenster des Zuges möglichst viel von der Umgebung und den Städten, die ich besuchte, aufzunehmen. Vom Flugzeug aus würde ich nichts als Wolken oder winzige Punkte auf der Erdoberfläche sehen, das war mir schlichtweg zu unspektakulär. So hatte ich es bevorzugt, Deutschland die letzten beiden Tage im Zug zu erkunden und anschließend zum Studio-Termin nach Wien zu fahren.
Jetzt kam ich mir so unfassbar dumm vor. Wer nicht hören will, muss fühlen. Das hatte man mir als Kind schon immer gesagt und in diesem Moment durfte ich es am eigenen Leib erleben. »Toll gemacht, Nick!«, verfluchte ich mich selbst. Ein fremder Ort mit unbekannten Begebenheiten und ich mittendrin. Und offenbar würde ich vor morgen Früh nicht wegkommen. Ich musste dringend einen Ort finden, an dem ich die Nacht verbringen konnte. Ein Hotel oder eine Pension vielleicht. Im Grunde würde mir schon eine schäbige Abstellkammer reichen, Hauptsache warm.
Solange mir ein paar Minuten in diesem Wartezimmer blieben, konnte ich die Zeit nutzen, um Unterkünfte in der Nähe ausfindig zu machen. Also fischte ich das Handy aus der Hosentasche und drückte den Entsperr-Knopf. Nichts tat sich. Kein Mucks, auch nach mehreren Versuchen nicht. Nein, nein, nein! Mist! Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Nicht auch das noch! Wieso machte mein Akku immer zum ungünstigsten Zeitpunkt schlapp?! Sollte das ein verdammter Scherz sein?
Langsam ärgerte ich mich nicht nur über mich selbst, in mir stieg Wut auf. Ein Hass auf mich selbst und meine Blödheit. So schnell ich das Handy rausgezogen hatte, schob ich es jetzt wieder zurück in die Tiefen der Tasche. Dort konnte es gerne verrotten. Mieser Verräter! Es gab jetzt eigentlich nur eine einzige Möglichkeit für mich: Aufbrechen und mich auf gut Glück auf die Suche nach einer Unterkunft machen. Und das bei diesem grottenschlechten Wetter.
Das Shirt steckte ich mir in die Hose, damit mir der Wind nicht den Stoff vom Leib reißen konnte, wenn ich rausgehen würde. Die Jacke zog ich so weit zu, wie es nur irgendwie möglich war, und die Kapuze schnürte ich fest, damit sie mir nicht vom Kopf fliegen würde. Brachte im Endeffekt alles nichts. Denn kaum hatte ich einen Schritt ins Freie gesetzt, griffen die kalten Arme des Windes schon nach mir. Obwohl Wind echt eine Untertreibung war. In den vergangenen Minuten schien er noch mehr an Stärke gewonnen zu haben. Ein Sturm, das traf es besser.
Er wehte mir direkt ins Gesicht, ich musste gegen die Wucht ankämpfen, um überhaupt voranzukommen. Mittlerweile hatten sich unter die Schneeflocken auch noch kleine Graupelkörner gemischt, die nun gegen meine Haut prasselten, als würde jemand Mini-Schneebälle mit voller Wucht auf mich werfen. So musste ich die Augen zusammenkneifen, um nicht ernsthaft der Gefahr ausgesetzt zu sein, zu erblinden. Nach einigen Metern fand ich mich auf einer asphaltierten Fläche wieder. Ein Parkplatz, nahm ich mal an. Da! Dort eilte jemand auf ein Auto zu! Vielleicht konnte mir die Person ja weiterhelfen!
Ich schrie mir die Seele halb aus dem Leib, versuchte, so schnell wie möglich weiterzukommen. Vergeblich. Der Sturm verschluckte meine Worte, trug sie mit sich in die Nacht hinaus. Die Person saß schon längst im Auto und brauste davon, als ich gerade mal die halbe Fläche hinter mich gebracht hatte. Und wieder stand ich ganz alleine da. Wenn es bloß nicht so verdammt eisig wäre! Ich dachte ja bisher immer, meine gute alte Heimat, England, hätte das mieseste Wetter überhaupt. Aber dieser Sturm übertraf alles. Irgendwie machte ich mir Sorgen, von einem Ast der umstehenden Bäume getroffen und erschlagen zu werden.
Wohin jetzt? Auf jeden Fall nichts wie weg, denn auf der offenen Fläche des Parkplatzes gab es nichts, was die Kraft des Windes auch nur ein wenig abdämpfen konnte. Den Gurt des Gitarrenkoffers hielt ich fest umklammert, sonst würde es ihn mir vermutlich vom Rücken reißen. Meter für Meter quälte ich mich weiter durch das Meer aus Schneeflocken und Graupelkörnern, bis ich den Platz hinter mich gelassen hatte und die nahegelegenen Häuser etwas Schutz boten. Aber nicht genug, um die Mini-Schneebälle davon abzuhalten, wie Kieselsteine in mein Gesicht zu knallen. Die pure Folter.
Standen da drüben etwa Hinweistafeln? Angestrengt versuchte ich, mehr zu erkennen, was mir aber kläglich misslang. Erst als ich näher heranging, erkannte ich, was draufstand. Ortszentrum! Da konnte ich ja nicht so schiefliegen, wenn ich in besagte Richtung gehen würde. Das Zentrum klang vielversprechend, dort gab es normalerweise die besten Möglichkeiten, eine Unterkunft zu finden. Also los!
Ein Funken Hoffnung keimte in mir auf. So schwer konnte es doch nicht sein, einen Schlafplatz zu finden, oder? Ich bog in die Gasse ein, in die mich die Tafel gewiesen hatte. Allerdings kam ich viel langsamer voran, als mir lieb war. Egal, besser langsam als gar nicht. Meine Sichtweite betrug kaum drei Meter, was es mir erschwerte, die Gebäude zu erkennen. Von einer Straßenseite auf die andere zu blicken, stellte sich als unmöglich heraus. Wenn es also blöd lief, musste ich den Weg auf der gegenüberliegenden Seite nochmal gehen, um ja nichts zu übersehen.
Eine Kreuzung, bei der ich in alle vier Richtungen abbiegen konnte, lag auf meinem Weg. Da auf der Hinweistafel keine weiteren Auskünfte gestanden hatten, entschied ich mich dafür, geradeaus zu gehen. Ging so lange gut, bis mir Häuser den Weg versperrten und es kein Weiterkommen gab. Eine Brücke führte über einen Bach, dahinter lag das nächste Gebäude. Doch kein Weg, keine Straße. Ich ging auf die andere Straßenseite, um dort nachzusehen. Nichts. Haus, Garten, Bach, Straßenende. Mehr war da nicht.
Diese beschissene Tafel hatte mich in eine Sackgasse gelockt! Lebten in diesem Ort nur ein paar Scherzkekse, die sich darüber totlachten, wenn sie Fremde in die falsche Richtung lotsten?! Das war verdammt noch mal nicht witzig! Wenn nicht hier, wie sollte ich sonst ins Ortszentrum kommen?! Ich konnte und wollte nicht die ganze Nacht lang durch die Gegend irren, um am Ende trotzdem ohne Unterkunft dazustehen.
Meine Beine konnte ich mittlerweile schon gar nicht mehr spüren. Ein Wunder, dass sie den Anweisungen meines Kopfes noch gehorchten. Und dann dieses klobige Teil auf meinem Rücken. Es machte mich rasend, die Gitarren die ganze Zeit über mit mir rumzuschleppen. Am liebsten hätte ich sie im Bach versenkt! Doch das hätte ich im Nachhinein bestimmt bereut.
Ich überlegte schon ernsthaft, einfach an allen Türen zu klingeln und um Hilfe zu bitten, als von Weitem ein Geräusch zu mir durchdrang. Was war das? Klang fast, wie ein Rufen …
Wie ich den Winter hasste! Die Kälte an sich war Jahr für Jahr schon ein Graus. Aber jetzt auch noch dieser Schneesturm dazu? Seit Jahren hatte es hier kein solches Sauwetter mehr gegeben. Das war das Tüpfelchen auf dem I allen Übels. Da wollte man doch keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Normalerweise gab es in dieser Gegend kaum Schnee, er glich eher einer Rarität und sollte wertgeschätzt werden. Nicht von mir allerdings, ich verabscheute das kalte Zeug. Konnte nicht schon wieder Sommer sein? Oder das ganze Jahr über? Das wäre doch mal schön.
In meine Decke gewickelt bibberte ich in meinem Bett vor mich hin. Trotz dickem Kapuzenshirt und Thermoleggins fühlte ich mich immer noch wie ein Eiszapfen. Eigentlich versuchte ich, mich auf das Buch in meinen Händen zu konzentrieren, doch das ständige Klappern der Rollläden regte mich zu sehr auf. Jedes Mal, wenn eine Windböe angerauscht kam, klang es, als würde sie sämtliche Teile aus der Verankerung reißen. Genervt kroch ich aus dem wohligen Schutz meiner Decke heraus. Na gut, dann würde ich sie heute Nacht wohl hochgezogen lassen. Bei diesem Lärm könnte ich sonst kein Auge zutun.
Draußen herrschte Weltuntergangsstimmung, die Graupelkörner peitschten unnachgiebig auf alles ein, was ihnen in die Quere kam. Im Lichtkegel der Laterne sah das Ganze noch viel spektakulärer aus, wie ein Kampf zwischen glitzernden Eiskristallen. Gerade, als ich mich abwenden wollte, erregte eine Bewegung meine Aufmerksamkeit. Da ging jemand durch den Sturm! Hatte diese Person einen Knall? Aus meiner Perspektive wirkte es so, als hätte der- oder diejenige nicht einmal sonderlich warme Kleidung an.
Ich beobachtete, wie sich die Gestalt Schritt um Schritt weitermühte, immer näher auf das Ende der Gasse zu. Ob das wohl Besuch für die Nachbarn war? Wie gebannt starrte ich hinaus und fokussierte mich auf die Bewegungen in der Kälte. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Person einen Rucksack und noch dazu einen Gitarrenkoffer mit sich rumschleppte. Das war bestimmt kein Besuch für das alte Ehepaar, das im letzten Haus wohnte. Und kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, hielt der Mensch im Schneegestöber an, ließ den Kopf in jede Richtung wandern und wirkte hoffnungslos verloren.
Ein Opfer des Sturms, verirrt im Schneechaos. Wo das eigentliche Ziel wohl gewesen wäre? Mir lief es kalt den Rücken runter, während ich daran dachte, dass dieser jemand noch länger orientierungslos durch die Nacht wandern musste. Was, wenn es noch weiter abkühlen würde? Das könnte zu schweren Erfrierungen führen! Oder eine Lungenentzündung zur Folge haben!
Immer noch stand die Silhouette regungslos inmitten des tobenden Sturms. Ob die Panik, sich verirrt zu haben, wohl eine Schockstarre ausgelöst hatte? Ich konnte doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie dieser Körper dem Kältetod langsam aber sicher einen Schritt näherkam. So fasste ich den Beschluss, hinauszugehen und zu fragen, ob ich weiterhelfen könnte. Vielleicht könnte ich die Person ja mit dem Auto zum eigentlichen Ziel fahren.
Innerhalb von wenigen Sekunden hetzte ich die Stufen hinunter und steuerte auf die Garderobe zu. Fast wäre ich mit meiner Mutter zusammengestoßen, die mir gerade noch rechtzeitig auswich.
»Wo willst du denn so schnell hin?« Ihre Stimme klang überrascht.
»Da draußen scheint sich jemand im Sturm verirrt zu haben. Ich werde mal nachfragen, ob ich helfen kann. Bin gleich wieder da.« Schon hatte ich die Jacke zugezogen und ließ die Eingangstür hinter mir ins Schloss fallen.
Mit eingezogenem Nacken und möglichst tief in der Jacke versteckt stapfte ich über den verschneiten Weg zum Gartentor. Fast hätte ich es nicht aufbekommen, weil die Klinke vereist war. Aber ein bisschen Gewalt half dann doch. Mein Blick schweifte zu dem Punkt, an dem die Person zuletzt gestanden hatte. Dort war niemand mehr zu sehen. Weit konnte sie jedoch noch nicht gekommen sein. Damit behielt ich recht. Keine zwei Häuser weiter, in der Richtung, aus der sie gekommen war, stapfte sie geduckt auf der anderen Straßenseite wieder zurück.
»Hey, warte!« Meine Rufe wurden vom Sturm verschluckt, kaum dass sie meinen Mund verlassen hatten. Sie konnten gar nicht gehört worden sein. Die Gestalt stapfte unbeirrt weiter, aber bei diesem Tempo wäre es für mich ein Leichtes, sie einzuholen. Die dicken Winterstiefel boten mir guten Halt, wodurch die Gefahr geringer war, auf den Pflastersteinen auszurutschen. Diesen Vorteil hatte die Person vor mir nicht, weshalb sie jeden Schritt mit Bedacht vor den nächsten setzen musste. Mein Beschluss, den Weg über den Grasstreifen fortzusetzen, anstatt den Gehsteig zu wählen, stellte sich als Volltreffer heraus. So konnte ich noch mehr Bodenhaftung bekommen und schaffte es fast schon zu laufen, ohne dabei auszurutschen und mir möglicherweise noch den Fuß zu brechen, bevor ich Hilfe geleistet hatte.
Der Abstand verkleinerte sich, ich wagte erneut einen Versuch zu rufen. »Hallo! Warte mal!« Hm… ganz sicher war ich mir nicht, ob ich mein Ziel erreicht hatte. Zwar verlangsamten sich die Schritte meines Vordermannes kurzfristig, aber wahrscheinlich wurde mein Rufen für Einbildung gehalten. Daher setzte ich noch eine Schippe drauf und rannte so schnell, dass ich fast schon über das schneebedeckte Gras flog. Nur noch knapp zwei Meter und ich wäre dort.
»Hey!«, rief ich nochmal, so laut ich konnte. Im selben Moment schaffte ich es auch, meine Hand weit genug auszustrecken, um die Person am Arm zu berühren. Ein Zucken folgte als Reflex, ich hatte ihr einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Oh je, das wollte ich damit nicht bezwecken. Fast hätte ich mich selbst über die Heftigkeit dieser Reaktion erschrocken. Nach einem kurzen Augenblick der Starre drehte sich die Person zu mir um.
Nun blickte ich in das Gesicht eines jungen Mannes, der die Kapuze fast bis über die Augen gezogen hatte. Er schob sie ein winziges Stück nach oben, um mich anzusehen. Erleichterung spiegelte sich in seinen Zügen wider. Ich hatte ihn mit meinem kleinen Überfall also nicht verärgert. Gut. Trotzdem schien er zu baff zu sein, um irgendetwas zu sagen. Deswegen ergriff ich die Initiative. »Es scheint, als hättest du dich verlaufen. Ich hab dich vom Fenster aus gesehen. Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?«
Ich beobachtete sein Verhalten. Er seufzte kurz auf, doch etwas änderte sich an seinem Gesichtsausdruck. Ein kleiner Funken Hoffnung schien sich breit zu machen. Er bat mich, Englisch zu sprechen und ich wiederholte, was ich gesagt hatte. Schließlich antwortete er:
»Vielleicht könntest du das wirklich. Ich bin auf der Suche nach einem Hotel oder ähnlichem, in dem ich die Nacht verbringen kann. Eigentlich sollte ich jetzt in Wien sein, aber ich bin eingeschlafen und schlussendlich hier gelandet. Mein Akku hat den Geist aufgegeben und ich hab keine Ahnung, wohin ich gehen soll.«
Die Verzweiflung in seiner Stimme war nicht zu überhören, seine Augen schimmerten, ob vom Schnee oder vor Hilflosigkeit, sei dahingestellt. Er wirkte wie ein verlorener Hundewelpe, der nicht wusste, wohin. So konnte ich gar nicht anders, als ihm meine Hilfe anzubieten. »Komm mit. Wir gehen zu mir ins Haus, dort kannst du dein Handy aufladen und in der Zwischenzeit kann ich dir gerne dabei helfen, einen Schlafplatz zu finden. Es gibt hier ein Hotel, sowie ein paar Gasthäuser und Weingüter, die Gästezimmer haben. Vielleicht erreichen wir noch jemanden.«
Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. »Danke, das wäre sehr lieb von dir.« Der Akzent in seiner Stimme klang lustig. Vielleicht britisch? Schwer zu sagen. Ich nickte ihm ermutigend zu.
»Ist doch selbstverständlich, ich kann dich doch nicht hier draußen erfrieren lassen.« Schon ging ich voraus und wies ihm den Weg. Mich umzudrehen, konnte ich mir sparen. Ich wusste, dass er mir auf Schritt und Tritt folgen würde. Am Gartentor hielt ich inne, um es hinter ihm zu schließen. Er wartete, bis ich ihn bat, weiterzugehen.
»Da wären wir.« Ich öffnete die Eingangstür und er hielt nochmals an, so als würde er eine weitere Bestätigung erwarten, dass er auch wirklich hineingehen durfte. Mit einer einladenden Geste winkte ich ihn hinein. »Die Schuhe kannst du gleich hier ausziehen. Dann stelle ich sie neben die Heizung und deine Jacke hänge ich darüber, damit sie trocknet.« Er tat, wie befohlen. Während er sich schüchtern im Raum umsah, wagte ich es, ihn genauer anzusehen.
Chaotische braune Haare, deren Spitzen nass vom Schnee waren, standen von seinem Kopf ab. Er war groß, bestimmt knapp 1,90 m und hatte breite, muskulöse Schultern. Wenn ich ihn so im Profil betrachtete, wirkte er, als wäre er nur ein wenig älter als ich. Ehrlich gesagt gefiel mir, was ich bisher so sehen konnte. Plötzlich schien er bemerkt zu haben, dass ich ihn ansah, denn er wandte sich mir zu und unsere Augen trafen sich. Sein Karamellbraun vermischte sich mit meinem Grau.
Und von jetzt auf gleich verschlug es mir die Sprache. Schnell wandte ich den Blick ab, als mein Kopf realisierte, wen ich da vor mir hatte. Aber nein, das konnte doch gar nicht möglich sein. Ich musste mich irren. Verstohlen wagte ich einen weiteren Blick, nur um festzustellen, dass er mich beobachtete und rasch wegsah, als ich mich ihm wieder zugewandt hatte. Aber für mich bestand kein Zweifel mehr. Das war Nick Baxter! Ein britischer Newcomer im internationalen Musikbusiness. Seine Songs liefen hier neuerdings bei den Radiostationen auf und ab und im vereinigten Königreich wurde er sowieso schon längst als Star gefeiert.
Aber was machte er hier? Ein erfolgreicher Sänger, der ausgerechnet vor meiner Haustüre landete. So etwas erlebte man auch nicht alle Tage. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie aufgeregt mich die Tatsache werden ließ, ihn hierzuhaben. Zwar würde ich mich nicht als richtiges Fangirl bezeichnen, aber ich konnte nicht leugnen, dass ich seine Musik mochte. Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes und war genau das, was mir half, nach einem anstrengenden Tag runterzukommen.
Um die Situation nicht komisch werden zu lassen, nahm ich all meinen Mut und meine Selbstbeherrschung zusammen. »Folge mir. Ich mache dir ein warmes Getränk, damit dir nicht mehr ganz so kalt ist. Wäre Kakao okay oder lieber Kaffee oder Tee?«
Er lächelte. »Kakao wäre großartig, danke.« Ich führte ihn in die Küche und er setzte sich hin, während ich ihm das Getränk zubereitete und sein Handy zum Laden zur Steckdose brachte.
»Hier bitte.« Ich reichte ihm die Tasse. »Dankeschön. Für alles.« Das Strahlen in seinem Gesicht blendet mich beinahe. Wäre ich tief im Inneren nicht so aufgeregt gewesen, hätte ich glatt dahinschmelzen können. Ich musste dringend etwas sagen, bevor mein Mund austrocknen konnte. Also sprach ich das Erste aus, was mir in den Sinn kam. Vielleicht nicht die klügste Entscheidung, aber mehr brachte mein Hirn nicht zustande.
»Du bist Nick Baxter.« Die Feststellung hätte ich mir sparen können, es lag offensichtlich auf der Hand. Dennoch runzelte er überrascht die Stirn.
»In Fleisch und Blut. Aber ich hätte nicht gedacht, dass man mich hierzulande auch gleich erkennen würde. Eigentlich habe ich angenommen, dass sich meine Musik noch nicht so weit verbreitet hat.« Er lachte und auf seinen Wangen zeichneten sich Grübchen ab, die sein Strahlen nur noch verstärkten.
»Wow, da muss ich mich ja fast schon geehrt fühlen, dich als Gast hier zu haben. Doch, doch, ein paar deiner Songs laufen ständig im Radio auf und ab.« Ich fühlte mich tatsächlich ein wenig stolz, ihn als Gast zu haben. Okay, ein wenig war die Untertreibung des Tages.
»Ehrlich? Hast du noch nie einen Sänger beherbergt? Ich dachte, uns gibt es wie Sand am Meer. Da müsstest du doch wenigstens alle paar Wochen mal einen vor deiner Tür stehen haben.«
Nun war ich es, die laut auflachte, und er stimmte mit ein. »Wie heißt du denn, werte Gastgeberin?«
»Leona. Aber meine Freunde nennen mich Leo.«
»Dann darf ich dich also auch Leo nennen.«
Gespielt schockiert zog ich eine Augenbraue nach oben.
»Ich wusste gar nicht, dass wir Freunde sind.« Er warf mir einen Blick zu, als hätte ich ihm gerade gesagt, ich wollte mit ihm Schluss machen.
»Ach nicht? Leo, wie kannst du nur unsere Freundschaft vergessen? Bedeutet sie dir denn gar nichts?«
Es fiel mir schwer, ernst zu bleiben. »Tja, bis vor ein paar Minuten dachte ich noch, du wärst einfach ein Obdachloser, der vom Schneesturm überrascht wurde und deswegen Hilfe braucht. Aber so kann man sich täuschen.«
Nun schaffte er es nicht mehr, sein Pokerface aufrecht zu erhalten. Stattdessen blickten mir Augen voller Erstaunen entgegen. »Du hättest also auch einen Obdachlosen hereingebeten?«
Ich zuckte nur die Schultern. »Na klar. Wenn ich ihn dadurch vor dem sicheren Tod durch Erfrieren bewahren könnte, wäre es mir weitaus lieber, wenn er mit mir ins Haus kommen würde.«
Meine Antwort entlockte ihm ein Lächeln, das problemlos Kerzen zum Schmelzen bringen konnte. Einige quälend lange Sekunden erwiderte er nichts, bis er schließlich sagte: »Leo …, das bedeutet doch auch Löwe, nicht? Das scheinst du auch echt zu sein. Eine Löwin, die sich mit aller Kraft dafür einsetzt, anderen zu helfen. Diese Charaktereigenschaft ist Gold wert. Verlier sie bitte nie.«
Rasch wollte ich mein Gesicht wegdrehen, damit er nicht sah, wie ich errötete. Aber zu spät, er hatte es schon längst bemerkt. »Für ein Fangirl hältst du dich echt gut in meiner Gegenwart. Andere wären schon längst umgekippt, wenn sie gemerkt hätten, wen sie vor sich haben. Respekt.«
Ich verdrehte die Augen. »Erstens: Wer sagt, dass ich ein Fangirl bin? Zweitens: Ich wusste erst hier im Haus, wer du bist. Und deswegen umkippen? Ach bitte, du bist doch auch nur ein Mensch.«
»Dann bist du also kein Fan? Jetzt bin ich aber traurig … Allerdings beeindruckt es mich, wie locker du die Sache siehst. Andere würden versuchen, sich bei mir einzuschleimen. Du bist einfach nur eine hervorragende Gastgeberin.«
Ich zuckte die Schultern. »So bin ich eben. Tja, wer weiß. Vielleicht bin ich ein Fan, vielleicht auch nicht. Du wirst es nie erfahren.« Ich zwinkerte ihm zu und er zog eine Schnute.
Schließlich verkündete ich, dass ich meinen Laptop holen würde, um nach möglichen Unterkünften für ihn zu suchen. Gemeinsam setzten wir uns hin und er war mir so nahe, dass sich unsere Arme beinahe berührten. Ich spürte förmlich die Wärme seines Körpers, was mich noch einen Ticken nervöser machte. Doch ich ignorierte dieses Gefühl und scrollte durch die Homepage des einzigen Hotels im Ort. »Ich ruf gleich mal an.« Es klingelte und klingelte, doch niemand nahm ab. Auch beim zweiten Versuch nicht.
Die anderen Möglichkeiten, ein Gästezimmer zu finden, boten ebenso wenig Erfolg. In den Weingütern gab es keine Rezeption, die rund um die Uhr besetzt war, in den Gasthäusern ebenso wenig. Es blieb also nur ein dritter und letzter Versuch, das Hotel zu erreichen, doch auch das brachte nichts. Keinesfalls würde ich Nick auf die Straße setzen. »Weißt du was? Ich habe eine andere Idee, warte kurz hier.« Und ehe er mir antworten konnte, war ich aus dem Raum verschwunden.
Als hätte sie meine Gedanken gehört, kam mir meine Mutter entgegen. »Konntest du dem Verirrten helfen?«
»Naja, teilweise. Er sitzt gerade in unserer Küche und wir versuchen, eine Unterkunft für ihn zu finden. Aber nichts hat offen oder ist erreichbar.« Etwas leiser, damit man uns in der Küche nicht hörte, flüsterte ich ihr zu: »Mama, du glaubst nicht, wer da sitzt. Es ist Nick Baxter! Du weißt schon, der Sänger, dessen Musik ich abends so gerne höre!«
»Was, ehrlich? Oder veräppelst du mich? Das ist ja unglaublich! Aber wie das?«
Ich grinste. »Ich erzähl dir morgen mehr. Eigentlich wollte ich dich fragen, ob er die Nacht bei uns im Wohnzimmer verbringen dürfte. Ich will ihn echt nicht auf die Straße setzen und weiß nicht, wie ich ihm sonst weiterhelfen könnte.« Sie schien kurz zu grübeln.
»Hm…, ich denke, das sollte kein Problem sein. Zuerst möchte ich ihn aber begrüßen, um mir ein Bild von ihm zu machen.«
War klar. So nahm ich sie an der Hand und zog sie mit mir.
Nick hob den Kopf und lächelte uns freundlich an, als wir in die Küche traten.
»Nick, das ist meine Mutter Luise. Mama, das ist Nick.«
Er erhob sich vom Stuhl, um ihr die Hand zu schütteln. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Mich ebenso. Leona hat eine Idee, die das Problem bezüglich eines Hotelzimmers lösen könnte. Aber die frohe Botschaft darf sie gerne selbst verkünden. Ich lass euch mal allein und lege mich schlafen. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«, riefen wir wie aus einem Mund. Dann wandte er sich mir zu.
»So? Du hast also eine gute Nachricht für mich? Da bin ich mal gespannt.« Über seinen erwartungsvollen Gesichtsausdruck musste ich grinsen.
»Du kannst die Nacht hier verbringen. Wir haben zwar kein Gästezimmer, aber du könntest im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen, wenn du möchtest.«
Ihm stand der Mund offen. »Was, echt? Das würdet ihr für mich tun?«
Süß, ihn so überrascht zu sehen. »Aber klar doch! Ist doch kein Problem und ich würde dich natürlich keinesfalls einfach rauswerfen. Also was hältst du davon? Ist das okay für dich?«
»Absolut! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, außer danke, danke, danke! Du bist meine Retterin in der Not!« Und ehe ich mich versah, hatte er seine Arme um mich gelegt und mich in eine Umarmung gezogen. Ganz kurz und flüchtig nur, aber lange genug, um mich wahrscheinlich ewig daran zu erinnern. Ein tolles Gefühl! Zusätzlich erfüllten mich die Erleichterung und die Euphorie, die er ausstrahlte, selbst mit Glück. Es tat gut, ihm helfen zu können. Und wenn es nur dadurch war, ihm ein Sofa zum Schlafen anzubieten.
»Ist mir eine Freude, wenn ich helfen kann. Jetzt werde ich dich mal herumführen und dir dein Quartier für die Nacht, sowie die Toilette und das Badezimmer zeigen. Du kannst gerne duschen gehen, um die Strapazen der vergangenen Stunden von dir zu waschen. Ein Handtuch lege ich dir gleich ins Bad. In der Zwischenzeit könnte ich eine Decke und ein Kissen holen, um das Sofa ein wenig gemütlicher zu machen.« Meine Gastfreundschaft schien ihn etwas zu überrumpeln. Er folgte mir schweigsam, aber doch voller Dankbarkeit.
Fast schüchtern nahm er die Möglichkeit der Dusche an und ich versuchte, ihn mir nicht dabei vorzustellen, während ich seinen Schlafplatz vorbereitete. Seine Haare standen noch chaotischer ab, als er sich zu mir ins Wohnzimmer gesellte. Er trug nur noch ein T-Shirt zu seiner Jeans, den Sweater hatte er sich unter den Arm geklemmt. Der Stoff schmiegte sich an die Muskeln seiner Oberarme. Er sah echt gut aus, was ich ihm natürlich nie sagen würde.
»Fühlst du dich jetzt wohler?«
Seine Miene hellte sich auf. »Sehr sogar, danke!« Das freute mich zu hören. »Das Sofa ist vorbereitet, ich habe dir auch noch eine Flasche Wasser und ein paar Snacks hingestellt, falls du dich stärken möchtest. Ich werde dich jetzt allein lassen, damit du dich ausruhen kannst.« Der erste Schritt in Richtung Tür war gemacht, als er mein Handgelenk umfasste.
»Nein, warte, wäre es okay, wenn du noch ein bisschen bleibst und wir uns unterhalten? Zum Schlafen bin ich im Moment sowieso zu aufgewühlt.«
Er wirkte so hoffnungsvoll, dass ich ihm den Wunsch nicht abschlagen konnte. Also setzten wir uns gemeinsam auf das Sofa, Seite an Seite. Genüsslich schob er sich eine der Salzstangen in den Mund, die ich bereitgestellt hatte, und musterte mich dabei. Schließlich durchbrach er das Schweigen. »Also Leo, erzähl mir mal was von dir. Wie alt bist du? Hast du Geschwister? Was machst du so beruflich und in deiner Freizeit? Irgendwelche coolen Fakten über dich, die ich wissen sollte?«
»Du bist ja ganz schön neugierig. Es gibt kaum spannende Dinge über mich zu berichten, ich bin eigentlich ziemlich langweilig.«
Energisch schüttelte er den Kopf. »Das denke ich nicht. In meinen Augen bist du echt spannend und einzigartig. Also komm, erzähl mir was.«
Spannend und einzigartig? Ich? Tja, wenn er mich näher kennenlernen würde, sähe er die Sache nicht mehr so. »Na gut. Ich bin einundzwanzig und studiere Marketing an der Uni Wien. In meiner Freizeit lese ich gerne, höre Musik, treffe mich mit Freunden oder unternehme etwas mit meiner kleinen Schwester. Also das Übliche eben. Coole Fakten habe ich nicht anzubieten, außer vielleicht, dass ich manchmal zeichne, um meinen Kopf freizukriegen. Übrigens würde meine Schwester halb in Ohnmacht fallen, wenn sie wüsste, dass du in unserem Wohnzimmer übernachtest.«
»Du scheinst also voller Kreativität zu stecken, wenn dein Hauptfach Marketing ist und du zeichnest. Das finde ich verdammt cool. Darf ich deine Zeichnungen sehen? Deine Schwester kann uns natürlich gerne Gesellschaft leisten.«
Für einen Augenblick haderte ich mit mir. Sollte ich ihm wirklich meine Bilder zeigen? So gut waren sie ja auch wieder nicht. Doch ich nahm mich selbst an der Nase und stand auf, um ein paar Blätter Papier aus einer Schublade zu holen. »Hier, das sind einige meiner aktuellen Kritzeleien. Nicht perfekt, aber sie erfüllen ihren Zweck. Und nein, ich werde Lea nicht holen, sonst wirst du sie die ganze Nacht über nicht mehr los.«
Voller Interesse betrachtete er Bild um Bild. »Wow, die sind echt gut. Du zeichnest so detailreich und mit echt viel Gefühl. Das könnte ich mir stundenlang ansehen.«
Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. »Ähm, danke.« Um das Gespräch von mir abzulenken, drehte ich den Spieß um. »Was ist mit dir? Ich kenne zwar deinen Namen und weiß bruchstückhaft über deine berufliche Karriere Bescheid, aber was machst du so hobbymäßig? Und wie alt bist du? Und hast du Geschwister? Coole Fakten, außer der Tatsache, dass du Sänger bist?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem frechen Grinsen. »Mir scheint, als wäre ich nicht die einzige neugierige Person im Raum. Aber okay, du hast mir geantwortet, also werde ich das auch tun. Ich bin vierundzwanzig und arbeite seit gut drei Jahren an meinem Traum, Musiker zu werden. Aber ich bin auch großer Sportfan und spiele gelegentlich Fußball oder gehe joggen. Auf Tour muss Fußball dann eben durch Fifa ersetzt werden, denn meine Playstation habe ich meistens dabei, außer ich reise mit dem Zug. Biologisch gesehen bin ich Einzelkind, aber ich habe eine kleine Stiefschwester, die der neue Mann meiner Mutter in die Familie mitgebracht hat. Und coole Fakten habe ich ehrlicherweise nicht anzubieten. Da bin ich wohl der Langweiler.«
Ich piekte ihn in die Seite und war von mir selbst überrascht. Normalerweise war ich nicht so mutig. »Als ob du langweilig sein könntest. Es muss völlig irre sein, so wie du auf einer riesigen Bühne vor hunderten oder gar tausenden Menschen zu stehen. Das würde ich mich wohl nie trauen. Das macht dich definitiv zu keinem Langweiler, eher zum spannendsten Menschen, den ich je kennenlernen durfte.«
Er legte eine Hand auf sein Herz und zog ein dämliches Grinsen auf. »Ich bin also spannender als dein Freund? Dann muss ich mich ja echt geschmeichelt fühlen.«
Was? Wieso ging er davon aus, ich hätte einen Freund? So ein Quatsch. »Ja definitiv bist du das, denn damit er spannender sein könnte, müsste ich ja einen Freund haben. Aber dem ist nicht so.«
Jetzt schien er ehrlich schockiert zu sein. »Was echt? Wie kann ein solch großartiger Mensch, wie du einer bist, Single sein? Um dich müssten sich die Männer ja reißen. Du wärst eine Bereicherung für ihr aller Leben.«
Mein Herz raste, als würde ich kurz vor einem Herzinfarkt stehen. Nick machte mir Komplimente, wie sie mir noch nie ein Mann gemacht hatte. Das nahm mir die Fähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen.
Als er merkte, dass von mir keine Reaktion kommen würde, fügte er hinzu: »Stimmst du mir zu?«
Ich schüttelte mich innerlich kurz, um meine Stimme wiederzufinden. »Ähm, keine Ahnung. Vielleicht. So habe ich es noch nie betrachtet.«
Nun war er es, der die Augen verdrehte. »Eine starke Löwin, die noch viel lernen muss. Verkauf dich niemals unter deinem Wert, Leo. Du bist zu gutherzig, um dich mit dem Mittelmaß begnügen zu müssen. Merk dir meine Worte gut.«
Das würde ich tun. Jedes seiner Worte brannte sich tief in meiner Erinnerung ein. »Okay, danke für den Rat.«
»Ist mir ein Vergnügen. Und jetzt lass uns über deine Zukunftspläne und Ziele sprechen. Ich brenne darauf, mehr zu erfahren.« Wir saßen bestimmt anderthalb Stunden so auf dem Sofa und unterhielten uns über dieses und jenes. Es faszinierte mich, neue Fakten über ihn zu erfahren. Er schien großes Vertrauen in mich zu haben, denn viele dieser Infos kannte nicht mal die Presse. Für mich war es etwas ganz Besonderes, dass er es ausgerechnet mit mir teilte.
Nach Mitternacht fassten wir noch den Beschluss, uns einen Film anzusehen, um den Abend ausklingen zu lassen. Keine fünfzehn Minuten, nachdem ich ihn gestartet hatte, bemerkte ich, wie Nick gegen die Müdigkeit ankämpfte. Seine Lider wurden schwerer. Er konnte seine Augen kaum noch offenhalten. Ich lächelte stumm und beobachtete ihn, bis er schließlich eingeschlafen war. Friedlich lag er da, sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Wenn er schlief, wirkte er viel unbeschwerter. Ein süßer Anblick, von dem ich mich am liebsten gar nicht trennen wollte.
Aber ich wusste, er brauchte seine Ruhe und Erholung. Morgen würde er schon ziemlich früh nach Wien fahren müssen, um ein Interview zu führen und ins Studio zu kommen. Bevor ich den Raum verließ, nahm ich noch die Decke und streifte sie ihm über, damit ihm nicht kalt werden würde. Auf Zehenspitzen schlich ich mich raus und schloss die Tür hinter mir. Ebenso leise bewegte ich mich über die Stufen nach oben in mein Zimmer, wo ich mich grinsend, aber auch erschöpft, in mein Bett fallen ließ.
Mein Magen grummelte, was dazu führte, dass ich unfreiwillig aus dem Schlaf gerissen wurde. Wie konnte es möglich sein, dass man sogar im Schlaf Hunger bekam? Das war doch vollkommen bescheuert. Genervt öffnete ich ein Auge, riss aber gleich darauf auch das zweite auf, als ich realisierte, dass ich nicht in meinem Hotelzimmer lag. Schnell hatte ich mich allerdings wieder gefangen und erinnerte mich an die Geschehnisse der letzten Nacht. 5:45 zeigte mir ein Blick auf das Handy. Okay, in fünfzehn Minuten würde sowieso mein Wecker klingeln.
Kurz sah ich mich im Raum um, doch ich war allein. Wann Leona wohl gegangen war? Ich hatte nichts davon mitbekommen. Aber ganz ehrlich: Mehr Glück, als nach diesem Scheiß-Erlebnis im Schneesturm hier zu landen, hätte ich gar nicht haben können. Solche gutherzigen Menschen gab es nur selten und ausgerechnet sie hatte mich gefunden und gerettet. Wenn sie nur wüsste, wie dankbar ich ihr für all das war. Irgendwie musste ich mich doch für ihre Gastfreundschaft und Hilfe erkenntlich zeigen können. Nur wie?
Ich schlug die Decke zurück und augenblicklich überkam mich eine Gänsehaut. Gut, dass ich den Pullover bei mir hatte und überstreifen konnte. Zögerlich drückte ich die Klinke und verließ das Zimmer. Ob sie wohl auch schon wach war? Es wäre schön, beim Frühstück Gesellschaft zu haben. Außerdem würde es sich dann nicht ganz so komisch anfühlen, wenn ich mich an ihrem Kühlschrank bediente. Aber warte, genau! Das konnte ich machen! Vielleicht würde sie sich über ein von mir zubereitetes Frühstück freuen. Mal sehen, was ich so finden würde …
Eier, Speck, Brot … Na bitte, damit konnte ich arbeiten. Hoffentlich war sie keine Vegetarierin oder lebte vegan. Gerade, als ich in einem der Schränke eine Pfanne gefunden hatte, mit der ich Eierspeis und gebratenen Speck zaubern konnte, hörte ich, wie hinter mir die Küchentür aufging. Ich drehte mich um und schaute in Leos erstauntes Gesicht. »Guten Morgen!« Meine Worte rissen sie aus ihrer Starre.
»Hey, guten Morgen. Was machst du denn da?«
»Frühstück. Für dich und mich. Ich hoffe, du magst Speck und Eier.«
Sie schien immer noch etwas baff zu sein. »Frühstück für mich? Das wäre doch gar nicht nötig gewesen. Aber ja, ich stehe auf Speck und Eier. Danke!« Ihre Antwort schaffte all meine Sorgen beiseite.
»Und ob es nötig ist. Nach allem, was du letzte Nacht für mich getan hast, ist es das Mindeste, mich mit einem Frühstück zu bedanken. Setz dich schon mal, ich bin gleich fertig.« Ich konnte fühlen, wie sie mich beobachtete. Aber das machte mir nichts aus. Schließlich war ich es gewohnt, dass mich quasi ständig jemand anstarrte.
»Fertig!«, verkündete ich, während ich zwei Teller aus dem Schrank nahm. Darauf platzierte ich das Essen, so schön ich nur konnte. Was dennoch nicht sonderlich einladend aussah, aber besser bekam ich es leider nicht hin. Hoffentlich würde sie es trotzdem gut finden und außerdem betete ich dafür, dass es auch wirklich genießbar wäre. Meine Kochkünste hielten sich leider in Grenzen. Durch die vielen Nächtigungen in Hotels musste ich kaum selbst irgendetwas zubereiten. Dieses Wissen fehlte mir jetzt.
Mit leicht verschwitzten Händen stellte ich den Teller vor Leo ab. »Bitteschön. Bon Appetit! Ich bete dafür, dass es genießbar ist. Lach mich bitte nicht für mein grauenvolles Kochtalent aus.« Sie lächelte mich freundlich an.
»Dafür würde ich dich niemals auslachen. Du hast dir so viel Mühe gegeben und ganz viel Herz reingesteckt. Das allein schon macht es zu etwas Besonderem.« Langsam führte sie sich eine Gabel voll mit Ei in den Mund und kaute kurz darauf herum, bevor sie mich wieder ansah.
»Du hast gelogen, was deine Kochkünste betrifft.« In ihrer Stimme schwang Ernsthaftigkeit mit. Mir gefroren die Gesichtszüge.
»Was meinst du?« Plötzlich lachte sie auf.
»Das schmeckt echt gut! Ich könnte dich also gar nicht auslachen. Allerdings hättest du deinen Gesichtsausdruck sehen sollen, der war einfach zu komisch!«
Erleichtert stieß ich einen Seufzer aus. »Man, du hast mich echt geschockt. Ich dachte schon, es wäre vollkommen scheußlich und nicht essbar!«
Ihr Kichern versuchte sie mit aller Kraft zu unterdrücken, scheiterte aber kläglich daran. »Nö, keine Sorge. Du kannst dich beruhigt zu mir setzen und dir selbst ein Bild machen.«
So ließ ich mich auf dem Stuhl neben ihr nieder und nahm zögerlich einen Bissen vom Ei. Sie hatte Recht, es schmeckte echt nicht übel. Darauf konnte ich schon ein klein wenig stolz sein, nicht? Jedenfalls war ich mehr als froh. So hatte ich ihr wenigstens ein gutes Frühstück machen können.
Schweigsam schaufelten wir den Rest der Speise in uns hinein. Sie holte schließlich Orangensaft aus der Vorratskammer, damit wir etwas zum Runterspülen hatten.
»Danke Nick, das war echt köstlich und ich hab mich sehr darüber gefreut.«
Oh, gut! Genau das hatte ich damit erreichen wollen. »Puh, na dann bin ich ja beruhigt. Freut mich, dass ich dir den Start in den Tag versüßen konnte.«
»Apropos Start in den Tag, wann musst du denn am Bahnhof sein?«
Kurz blickte ich auf die Armbanduhr an meinem Handgelenk. »Der nächste Zug fährt in knapp einer dreiviertel Stunde. Wenn ich den erwische, schaffe ich es wahrscheinlich noch rechtzeitig zu meinem Interview.«
Sie nickte mir zu. »Okay, das klingt nach einem Plan, der zu schaffen ist. Der Bahnhof liegt schließlich nur fünf Gehminuten entfernt.«
»Ehrlich?« Auf meinem Weg durch den Schneesturm ist es mir viel länger vorgekommen. Vermutlich lag das aber daran, dass ich die ganze Zeit gegen die Windböen ankämpfen musste. Krass, wie leicht man das Verständnis für Raum und Zeit verlieren kann. Heute wäre das nicht so. Vorhin, beim Aufstehen, hatte ich einen Blick aus dem Fenster geworfen und festgestellt, dass nicht eine Flocke vom Himmel fiel. Der Sturm hatte sich gelegt und es schien nicht einmal mehr ein Lüftchen zu wehen. Im Gegenteil, laut Prognosen würde heute ein sonniger Tag werden.
»Das heißt, uns bleibt noch gut eine halbe Stunde, bevor ich losmuss. Das Ticket habe ich bereits online reserviert, diesen Punkt kann ich mir also getrost sparen. Würde es dir was ausmachen, wenn ich mich noch kurz frischmachen gehe?« Sie lächelte mich an, ihre Wangen strahlten in einem zarten Rot. »Nur zu. Du weißt ja, wo das Bad ist. Ich werde in der Zwischenzeit hier bleiben.«
Eigentlich wollte ich eine machohafte Aussage machen, in Richtung, sie könne ja mitkommen. Aber ich biss mir auf die Zunge und ließ es bleiben. Es wäre völlig unangebracht, sowas zu sagen, denn so war ich nicht.
Eilig machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer, um mögliche doofe Aussagen zu vermeiden. Ich wusch mir das Gesicht, spülte mir den Mund aus und benutzte etwas von dem Deo, das auf einer Ablage stand. Ich kam mir wie ein Eindringling vor, der hier nichts verloren hatte und sich trotzdem an den Sachen anderer bediente. Auch wenn ich wusste, dass es keinen Grund gab, mich so zu fühlen. Schließlich hatten sie und ihre Mutter mir ja angeboten, dass ich über Nacht bleiben durfte.
Für einen Moment musterte ich mich selbst im Spiegel. Keine Augenringe, keine Spur von Erschöpfung. Diese Nacht hatte ich so gut geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Dafür musste ich Leo und ihrem großen Herzen dankbar sein. Unvorstellbar, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn sie mich nicht zufällig vom Fenster aus gesehen hätte. Mir gruselte es bei diesem Gedanken.
»Na, fühlst du dich jetzt wieder tageslichttauglich und bereit, der Öffentlichkeit gegenüberzutreten?« Ihre Frage brachte mich zum Schmunzeln, obwohl ich eigentlich eine empörte Miene aufsetzen wollte. »Willst du behaupten, dass ich es davor nicht gewesen war? Ich könnte einen Kartoffelsack anziehen oder mir einen Mülleimer überstülpen und wäre immer noch passend bekleidet, um mich unter das Volk zu mischen!« Nun war sie es, die gegen das Lachen ankämpfen musste.
»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, aber wenn du so überzeugt davon bist, freut es mich natürlich für dich und dein Ego. Doch um mir selbst ein Bild von dir machen zu können, würde ich diese außergewöhnlichen Kleidungsstücke nur zu gerne live an dir sehen. Erst dann kann ich beurteilen, ob ich deine Meinung teile. Nur eines schon mal vorweg: Vermutlich würde ich vom vielen Lachen Bauchschmerzen bekommen.«
»Du Frechdachs!« Für sie völlig unerwartet, stupste ich sie in die Seite. Mit einem Quietschen wand sie sich und hüpfte einen Schritt zur Seite. Na, sieh mal einer an, da hatte ich wohl eine ihrer Schwachstellen entdeckt. Die starke Löwin war extrem kitzelig. Das musste ich für mich ausnutzen. Mit einem großen Schritt stand ich wieder direkt vor ihr. Sie wollte weiter zurückweichen, stieß dabei aber gegen die Kante der Kücheninsel. Von hier aus konnte sie mir nicht entkommen, sie saß in der Falle.
Mit einem flehenden Blick bat sie mich, es nicht zu tun, aber ich konnte gar nicht anders. Sekunden später quiekte sie lachend, während meine Finger sie an der Taille und unter den Armen kitzelten. Auch wenn sie sich wehrte, wusste ich, dass es ihr Spaß machte. Mir ebenso, wie ihr. Es war eine völlig unbeschwerte Situation, in der wir einfach zwei Menschen sein konnten, die sich gegenseitig zum Lachen brachten. Von diesen Momenten gab es leider viel zu wenige in meinem Alltag.
»Was ist denn hier los?« Die Stimme ließ mich zusammenzucken, ertappt fuhr ich herum und blickte in das Gesicht eines Mädchens, das Leo zum Verwechseln ähnlich sah. Nur ein wenig jünger. Das musste Lea sein, ihre Schwester.
“Leo … Was … Oh mein Gott!! Was ist das denn für ein verrückter Traum? Nick Baxter ist in meiner Küche! Wie cool!« Begeistert klatschte sie in die Hände. Ihr Grinsen war wie festgefroren. Das würde ihr so schnell niemand aus dem Gesicht wischen können.
»Gut erkannt, Schwesterchen. Nur eine Sache stimmt nicht. Du träumst nicht, Nick ist wirklich hier. Er hat die Nacht bei uns im Wohnzimmer verbracht.«
Lea hielt mitten in der Bewegung inne. »Was? Verarscht du mich?« Leo schüttelte den Kopf. »Nö, tue ich nicht. Frag ihn doch selbst mal. Wenn du näherkommst und aufhörst, wie eine Bekloppte zu klatschen und zu quietschen, dann stell ich euch einander vor.«
Plötzlich wirkte sie nicht mehr so taff, wie bei ihrem kleinen Fangirl-Anfall. Von einem Fuß trat sie auf den anderen und kratzte mit dem Hausschuh auf den Fliesen herum. Es machte sie nervös, dass ich hier war. Doch das musste sie nicht sein. So beschloss ich, ihr den Weg zu ersparen, und ging auf sie zu. »Hallo, du musst wohl Lea sein. Deine Schwester hat mir schon von dir erzählt. Freut mich, dich kennenzulernen.« Zögerlich ergriff sie die Hand, die ich ihr entgegenstreckte. Doch als unsere Handflächen einander berührten, schüttelte sie sie euphorisch.
»Unfassbar, du fühlst dich ja wirklich real an. Es stimmt also! Ich fasse es einfach nicht, dass das kein Traum ist!«
Meine neutrale Miene beizubehalten, fiel mir schwer, doch ich wollte nicht allzu belustigt wirken. Sie sollte nicht denken, ich würde sie auslachen. Ich fand ihre Reaktion einfach witzig. Ihrer Schwester schien es ebenso zu gehen, sie hatte sich mittlerweile zu uns gesellt und einen Arm um Leas Schultern gelegt.
»Lea, ich darf dir jetzt offiziell Nick Baxter vorstellen. Nick, dass ich meine verrückte kleine Schwester Lea.«
»Hey! So klein bin ich nun auch wieder nicht! Du stellst mich wie eine Vierjährige dar und nicht wie eine Sechzehnjährige!« Sie streckte Leo die Zunge raus. Ich genoss es, die Szene zwischen den Schwestern zu beobachten.
»Aber jetzt zur allerwichtigsten Frage von allen! Wie kommt es, dass ein Star bei uns übernachtet? Hab ich was verpasst?«
Ich zwinkerte Leona zu und sie legte neugierig den Kopf schief. »Naja weißt du, Lea, deine Schwester und ich, hm, wie soll ich es sagen, wir sind schon eine ganze Weile ein Paar. Es war an der Zeit, mir mal anzusehen, wie sie so lebt, und ihre Familie kennenzulernen.« Lea wusste nicht, wie ihr geschah. Sie starrte uns verdattert an, während sich Leo auf die Lippen biss, um nicht loszuprusten.
»Waaaaas?! Ist das euer Ernst?! Leo, warum hast du mir das nicht erzählt?! Es ist immerhin Nick Baxter!«
Wir konnten uns nicht länger zurückhalten und lachten schallend darauf los. »Das war doch nur ein Scherz, Schwesterherz. Dachtest du echt, Nick und ich wären zusammen? Ich hab ihm nur aus der Patsche geholfen, als er gestern Nacht ungewollt im Schneesturm herumgeirrt ist. Aber du hättest dein Gesicht sehen müssen. Man, wieso habe ich kein Foto gemacht?«
Die Jüngere der beiden verdrehte die Augen. »Ha, ha. Ganz witzig. Ich hätte euch das abgekauft, so vertraut, wie ihr eben gewirkt habt. Aber Foto war ein gutes Stichwort.« Sie drehte sich zu mir und flüsterte leise: »Darf ich ein Selfie mit dir machen, als Erinnerung, dass du bei uns warst?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar doch, warum nicht?« Erneut klatschte sie in die Hände.
»Was haltet ihr davon, wenn wir meine Polaroid Kamera verwenden? Das wären bestimmt coole Erinnerungsfotos.« Leos Idee gefiel mir. »Nur, wenn du mir erlaubst, auch mit dir ein Foto aufzunehmen.«
Meine Bitte verwunderte sie, aber sie willigte ein und holte die Kamera. Zunächst schoss Leona ein Bild von mir und ihrer Schwester, die den Abzug glücklich an sich drückte. Dann machten wir per Selbstauslöser eines zu dritt. Zu guter Letzt kam das Foto, auf das ich gewartet hatte. Leona und ich. Unsere Gesichter waren ganz nah beieinander, mein Atem berührte ihre Haut. Ich nahm wahr, dass ihre Haare nach Pfirsich rochen, was mich fast um den Verstand brachte. Am liebsten hätte ich meine Nase darin vergraben.
Lea drückte den Auslöser und der Moment endete viel zu schnell. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich noch wesentlich länger so dicht bei ihr ausgeharrt. Zu schade, dass solche Momente nicht für immer andauern konnten. »Wäre es möglich, das Foto bitte zweimal auszudrucken? Ich würde mir gerne einen Abzug davon als Andenken mitnehmen. Vielleicht bringt es mir ja Glück, eine gutherzige Löwin mit auf Tour zu nehmen.« Ein echter Schnappschuss, den sie mir da in die Hände drückten. Wir wirkten so vertraut, als würden wir uns schon seit einer Ewigkeit kennen.
»Oh shit!« Meine Augen hafteten auf der Armbanduhr, als ich merkte, wie sich Leo besorgt zu mir umdrehte. »Wie spät ist es?« Schuld klang in ihren Worten mit. Sie befürchtete, ich hätte wegen der Fotos meinen Zug verpasst.
»Nur noch 20 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Bist du dir sicher, dass wir nur fünf Minuten bis zum Bahnhof brauchen? Gestern kam es mir viel länger vor.« Leona stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, ihre Züge entspannten sich.
»Ja, ich bin mir zu hundert Prozent sicher.« Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
»Ich kann das bestätigen.«, pflichtete ihre Schwester ihr bei. Die beiden sahen einander an und ich schaute zwischen den beiden hin und her. Sie waren sich so ähnlich und trotzdem völlig unterschiedlich. Zwei Individuen, die die gleichen Gene teilten. Es faszinierte mich, sie zu beobachten. Aber nichtsdestotrotz mussten wir los.
»Du ahnst gar nicht, wie sehr es mich gefreut hat, dich kennenzulernen, Nick!« Die Umarmung, mit der Lea mich überrumpelte, kam aus dem Nichts. Dennoch erwiderte ich sie, was sie sehr glücklich zu machen schien.
»Mich auch, Lea! Vielleicht sieht man sich ja irgendwann wieder.« Noch während ich das sagte, schnappte ich Leo am Arm und zog sie mit mir in Richtung der Garderobe. »Kommst du mit mir zum Bahnhof? Damit würdest du mir eine Riesen-Freude machen.« So überzeugend, wie nur möglich, warf ich ihr einen Hundeblick zu.
»Naja, ich weiß nicht. Bei dem Wetter?«
»Bitte, bitte, bitte!« Ich schlug die Hände zusammen, so als würde ich sie anbeten.
»Klar komme ich mit! Das war von Anfang an mein Plan. Ich kann doch nicht zulassen, dass du dich nochmal verirrst und womöglich wieder vor meiner Tür herumstreunst.«
Da konnte ich mir echt Schlimmeres vorstellen. Bei so viel Herzlichkeit fiel es einem nicht schwer, sich wohlzufühlen. Kaum hatte ich meine Jacke an, öffnete sie auch schon die Eingangstür und deutete nach draußen. »Alter vor Schönheit.« Damit forderte sie mich auf, vorzugehen. So ein Frechdachs. Aber genau das war die Art von Humor, die mir gefiel.
Draußen kitzelten ein paar Sonnenstrahlen meine Nase, was mich fast zum Niesen brachte. Ich rümpfte sie und kniff die Augen zusammen, als Leo neben mir laut zu kichern begann. »Du siehst total lustig aus, wenn du niesen musst. Wie ein Schweinchen!« Na warte, jetzt würde ich es ihr zeigen! Mein Plan, sie noch einmal zu kitzeln, scheiterte. Als hätte sie geahnt, was gleich kommen würde, war sie vorgerannt und schien uneinholbar, bis sie ein paar Meter weiter stehen blieb und mir bedeutete, das Tempo zu beschleunigen.
Das letzte Stück hakte ich mich bei ihr unter und wir marschierten den Weg entlang wie zwei beste Freunde. Schnell musste ich feststellen, dass Leo und ihre Schwester Recht gehabt hatten. In nur wenigen Minuten erreichten wir den Bahnhof. Am Bahnsteig schien nur eine weitere Person zu warten, was aber immerhin schon eine mehr war als am Vortag. Abrupt drehte ich mich zu Leona um. »Danke, Leo! Für alles! Das werde ich dir niemals vergessen, für mich bist du eine Heldin– nicht nur eine Löwin.«
»Keine Ursache. Es war mir eine Ehre, dir zu helfen.«
Noch bevor sie mehr sagen konnte, schlang ich meine Arme um sie und drückte sie fest an meine Brust. »Du bist ein großartiger Mensch und deswegen werde ich dich niemals vergessen. Wäre schön, wenn wir uns mal wiedersehen würden. Vielleicht auf einem meiner Konzerte?«
Das Rot ihrer Wangen verdunkelte sich. »Das wäre bestimmt schön. Hoffentlich ist es bald schon möglich.«
Mein Lachen wurde breiter. »Davon bin ich überzeugt. Jetzt muss ich leider los, okay? Auf Wiedersehen, Leo!« Ein kleiner Funken Wehmut machte sich in meinem Körper breit. »Mach’s gut, Nick, und pass auf dich auf!«
Ein letztes Mal drückte ich sie, bevor ich mich fast schon zwanghaft von ihr losreißen musste, um mich in den Zug zu begeben. Gerade noch rechtzeitig, denn per Durchsage wurde bereits die Abfahrt angekündigt. Eine Minute später setzte er sich in Bewegung und ich winkte Leo vom Fenster aus so lange zu, bis von ihr nicht mehr als eine verschwommene Silhouette übrigblieb. Allerdings sah ich sie vor meinem inneren Auge immer noch deutlich vor mir und konnte ihren Anblick nicht mehr vergessen.
Mir waren schon viele Menschen untergekommen, aber jemanden wie sie durfte ich bisher noch nicht treffen. Diese Begegnung würde ich bestimmt auf ewig im Gedächtnis behalten. Sie hatte mir gezeigt, dass es doch noch Leute gab, die einfach von Herzen gut waren, ohne dafür Gegenleistung zu erwarten. Eine durch und durch großartige Persönlichkeit.
Auch, wenn der Zug schon längst abgefahren war, stand ich weiterhin am Bahnsteig, den Blick in die Ferne gerichtet. Ich sah Nick immer noch vor mir, wie er dicht an der Scheibe des Abteils stand, um mir zuzuwinken, bis wir uns schließlich aus den Augen verloren. Ihn aus meinem Kopf zu kriegen, schien mir völlig unmöglich. Im Gedanken fuhr ich mit ihm und vergaß alles um mich herum. Letztendlich war es ein kalter Windstoß, der mich erfasste und in die Realität zurückholte.
Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Körper zitterte. Mir fröstelte es vom regungslosen Dastehen. Wenn ich mich nicht bald bewegte, würde ich wahrscheinlich noch festfrieren. Ich schüttelte meine Beine aus, die sich schon total steif anfühlten. Scheiß Kälte! Ohne Eile machte ich auf dem Bahnsteig kehrt, schlenderte den Weg entlang und überquerte den Parkplatz. Er war fast leer, aber das war am Wochenende typisch. An Arbeitstagen tummelten sich hier Pendler, die mit dem Zug in die Hauptstadt fuhren.
Die Wochenendruhe kam mir gerade recht. Nur ich, alleine mit meinen Gedanken. Schritt für Schritt bewegte ich mich vorwärts. Bei dem Tempo würde mich selbst eine Schnecke überholen. Doch das machte mir nichts aus. Je langsamer ich ging, desto mehr Zeit blieb mir, mich in meinen Gedanken zu verkriechen. Zuhause wäre es mit Ruhe und Entspannung vorbei. Mama und Lea würden mich mit Sicherheit mit Fragen über Nick bombardieren, kaum dass ich einen Fuß durch die Tür setzte. Zum Glück hatten sich die beiden nicht wie zwei Verrückte aufgeführt, als er noch im Haus gewesen war.