Logik / Psychologie - Salomo Friedlaender/Mynona - E-Book

Logik / Psychologie E-Book

Salomo Friedlaender/Mynona

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Beschreibung

Zwei gemeinverständliche Lehrbücher, von denen Ernst Bloch bemerkte, daß sie "in einer ganz unmöglichen Sammlung" erschienen seien (Hillgers Illustrierte Volksbücher). Sie bieten klare Orientierung in zwei fundamentalen Ebenen. Freilich knüpft Friedlaender/Mynona an seinen Vortrag weiterführende, polaristische Überlegungen. "Unser wirkliches Ich ist eine bloße Vorspiegelung unseres reinen normalen." "Unsre Logik rechnet lange noch nicht genug mit der exorbitanten, infinitesimalen Beschaffenheit der Dinge."

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Salomo Friedlaender/Mynona

Gesammelte Schriften

Herausgegeben von

Hartmut Geerken & Detlef Thiel

In Zusammenarbeit mit der

Kant-Forschungsstelle

der Universität Trier

Band 5

Inhalt

Einleitung: Das Weltwesen, exorbitant, infinitesimal – Der frühe Friedlaender/Mynona, von Detlef Thiel

Logik. Die Lehre vom Denken

Einleitung

I. Anschauen und Denken

II. Geschichtliche Übersicht

III. Elementarlehre

A. Begriffe

B. Das Urteil

C. Das Erschließen

IV. Logische Methode

Psychologie. Die Lehre von der Seele

I.Einleitung: Was bedeutet Psychologie?

II. Geschichtlicher Überblick

III. Zur Psychologie des Erkennens

A. Über Wahrnehmung durch Sinne

B. Vom Bewußtsein

C. Zur Psychologie der Tiere und des Kindes

IV. Zur Psychologie des Erlebens

A. Das Fühlen

B. Das Wollen

Anmerkungen

Verzeichnis der Abbildungen

Literaturverzeichnis und Abkürzungen

Namenverzeichnis

Sachverzeichnis

Detlef Thiel

Das Weltwesen, exorbitant, infinitesimal – Der frühe Friedlaender/Mynona

„Weißt Du, daß Friedlaender eine Psychologie und Logik in einer ganz unmöglichen Sammlung geschrieben hat?“

Ernst Bloch auf einer Postkarte an Georg Lukács, Garmisch, 9. März 1913 (Bloch 1985, 106). Die beiden Freunde haben Friedlaender/Mynona (im folgenden: F/M) wohl zwischen 1908 und 1911 persönlich kennengelernt, im Kreise Georg Simmels in Berlin. Ein Zeugnis dafür ist F/Ms Brief vom 12. Juli 1911 an den wieder nach Budapest gezogenen Lukács. F/M dankt für einen Aufsatz, legt mit leiser Kritik seine Meinung dar und skizziert seine eigene Auffassung: „... was Sie ‚Grenze’ nennen, nenne ich lebendige Indifferenz der Weltpolarität“. Lukács antwortet sogleich, dankt für den Brief, betont, daß er F/Ms Nietzsche-Buch gelesen habe und sucht seine Thesen zu verteidigen.1

In der Anmerkung der Herausgeber der Bloch-Korrespondenz steht das Allernötigste zu F/M, aber nichts über die „ganz unmögliche Sammlung“. Dazu gleich. Zuerst ein Blick auf die beiden kleinen Bücher, die nach genau hundert Jahren hier neu vorgelegt werden. Es sind populäre Darstellungen zweier ehrwürdiger Disziplinen. Bis ins 20. Jh. war es üblich, daß Professoren Kompendien zum Gebrauch für die Studenten verfaßten oder autorisierten. F/M allerdings hat niemals an einer Universität gelehrt. Trotz einiger Anleihen bei Kant, Ernst Marcus, Wilhelm Wundt gibt er keine eilfertigen Kompilationen, vielmehr souveräne, solide Überblicke. In sorgfältiger Didaktik und elegantem Stil rühren sie auf ganz eigene Weise an Grundprobleme des Philosophierens. F/M ist fünfunddreißig Jahre alt. 1902 war seine Dissertation über Kant und Schopenhauer erschienen, 1905 sein Buch über Julius Robert Mayer, den Entdecker des Prinzips von der Erhaltung der Energie. In allen vier Büchern benutzt F/M den vorgegebenen Stoff freilich nur als Prätext, als Vorwand wie als Schutz für das, was er eigentlich sagen will – und besonders im letzten Abschnitt der Logik auch offen ausspricht.

Zeugnisse zur Entstehung beider Bände sind spärlich. Eine wichtige Rolle spielt Ernst Marcus (1856-1928), strenger Kantianer, im Nebenberuf Amtsrichter, seit 1916 Geheimer Justizrat in Essen. F/M machte 1899 seine Bekanntschaft, seitdem entspinnt sich ein fruchtbarer geistiger Austausch. Am 27. Mai 1904 schickt Marcus einige von F/M gewünschte Sonderdrucke samt einer unveröffentlichten Abhandlung: eine „transzendentale Logik, an der ich jetzt nahezu drei Jahre arbeite, und die ich der Reife wegen vorläufig liegen lasse“ (Abschrift ULB). Dieses Buch erscheint zwei Jahre später unter dem Titel Die Elementarlehre zur allgemeinen Logik und die Grundzüge der transzendentalen Logik (Marcus 1906). Am 20. März 1906 schreibt F/M an Herwarth Walden:

„Verehrter Herr Walden!

Ihre freundlichen Aufmerksamkeiten fallen leider jetzt in eine für mich peinliche Zeit der angespannten Arbeit – ich muß (kontraktlich!) bis zum 1:ten September cr. 2 Bücher fertighaben. –

Nehmen Sie statt allen Dankes mit der Versicherung vorlieb, daß der ‚V. f. K.’ [Verein für Kunst] mit seiner Generosität einige bittere Tage verzuckern half

Ihrem Ihnen dankbar ergebenen

S. Friedlaender“

(Briefkarte, Sturm Archiv; siehe Abb.)

Ein Vertrag ist nicht bekannt. Bei den zwei Büchern handelt es sich wohl nicht um die Anthologien zu Jean Paul (Dez. 1906) und zu Schopenhauer (2 Bde., 1907), sondern eben um Logik und Psychologie. Ersteres erscheint um die Jahreswende 1906/07. Das geht hervor aus Marcus’ Brief an F/M vom 27. Januar 1907:

„Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für die freundliche Sendung. Die Würdigung, die Sie meiner Logik zuteil werden ließen, hat mich weit mehr erfreut, als Sie zu denken scheinen. [...]

Sie werden es begreiflich finden, wenn ich wünsche, daß Sie auf Ihrem Wege Kants Lehre als das fänden, was sie ist, als eine sichere Wissenschaft. Dann würde eine gestaltende Kraft dasein, die ihr Glanz und Popularität zu verleihen vermöchte. [...]

Auch in Ihrer kleinen Logik (ebenso wie im ‚Robert Mayer’) finde ich Ihre Kunst, Abstraktionen mit Leben zu erfüllen, wundervoll. Aber – ich fand auch noch Fehler. Ich sage das nicht, um zu kritisieren. Es sind Fehler, die sich auch bei andern finden, und die Ihnen als ‚dem Relata referens’ [dem Mitgeteiltes Wiedergebenden] (nach Ihrer eignen Bemerkung) nicht zuzurechnen sind.

Ich sage es nur für den Fall, daß Sie später eine neue Auflage beabsichtigen, wo ich Ihnen dann, wenn Sie wünschen, einige Hinweise geben könnte.

Denn eine solche kleine populäre Schrift halte ich allerdings für wichtig genug, um ihr meine Aufmerksamkeit und Zeit gern zuzuwenden, vorausgesetzt immer, wenn Sie selbst Zeit und Lust hätten, sich der Mühe einer Verbesserung zu unterziehen.

Ich selbst war von der Arbeit an der Logik hart mitgenommen, bin aber jetzt wieder frisch und an der Popularisierung der Kantschen Ethik, ein soziales Werk, das heute bei der Zerfahrenheit am meisten not tut. [...]“

(siehe Abb.)

Wir wüßten gern, welche Fehler Marcus fand. Er nahm aus F/Ms Mayer-Buch mehrere Hinweise auf Mayer (Marcus 1906, 16, 117 u. ö.). F/Ms „Würdigung“ besteht in zwei emphatischen Lobreden: Vorliegende Logik verdanke derjenigen Marcus’ „die lichtvollsten Belehrungen“.2 Ein halbes Jahr später, am 14. Juli 1907, kündigt Marcus seine eben erwähnte Ethik an:

„Besten Dank für die freundliche Sendung und die anerkennende Erwähnung.

,Das Gesetz der Vernunft und die ethischen Strömungen der Gegenwart’ ist jetzt im Druck. Ich hoffe also, mich bald durch eine Gegengabe revanchieren zu können.

Mit freundl. Gruß

Ihr ergebener

E. Marcus“3

Mit der Sendung ist die Psychologie gemeint, in der Marcus ebenfalls zweimal gewürdigt wird (126, 135). Dieser zweite Band erschien also Ende Juni, Anfang Juli 1907.4

Über beide Bücher ist sonst fast nichts bekannt: weder Auflagenzahlen, noch Rezensionen, noch ausführlichere Erwähnungen in der Literatur.5 Heute sind beide extrem selten.6 „Hundert Jahre“, schreibt F/M (147), „sind rein äußerlich hundert Jahre: inwendig aber wird ewig das Märchen von den hundert Jahren, die wie ein Tag vergehen können, seine Wahrheit bewähren.“ In einem autobiographischen Text, verfaßt 1921 für eine von Heinar Schilling beim Dresdner Verlag geplante, aber nicht zustande gekommene Sammlung, bezeichnet er die beiden Bücher gegenüber seinem Nietzsche und der Schöpferischen Indifferenz als „Nebensachen“.7 Mag sein -doch Nebensachen sind nicht gleich Makulatur. Vor allem nicht diese beiden. Mögen sie aus einem hundertjährigen Schlaf erwachen!

Hillger, Kürschner, Brockhaus etc.

Im Verlag von Hermann Hillger, Berlin/Leipzig erschienen seit 1904 in rasender Folge „Hillgers illustrierte Volksbücher. Eine Sammlung von gemeinverständlichen Abhandlungen aus allen Wissensgebieten. Hg. v. der Vereinigung ‚Die Wissenschaft für Alle’.“ 1909 wird der Reihentitel geändert in „Bücher des Wissens“; die noch lieferbaren Bände werden neu eingebunden (Abb. 5 u. 6, 51 f.).

Allein im Jahr 1907 kommen rund 90 Titel heraus, etwa: Bd. 67: Logik, Bd. 68: Die Südpolarforschung, von Fritz Regel; Bd. 69: Urgeschichte des Menschen, von Emerich Kohn; Bd. 70: Instinkt und Verstand der Tiere, von Wilhelm v. Buttlar; Bd. 71: Die Kochkiste, ein unentbehrliches Hilfsmittel jeder Küche, von Luise Holle; Bd. 72: Allgemeine Kulturgeschichte, von Reinhold Günther ... Bd. 78: Psychologie ... Bd. 143: Deutsche Zeitdichtung von den Freiheitskriegen bis zur Reichsgründung, Teil 2: Gedichtsammlung, von Victor Klemperer (1910) ...

Der Name Hillger führt auf ein noch wenig erforschtes Gelände der deutschen Publizistik um die vorletzte Jahrhundertwende. Ein kleiner Spaziergang muß beginnen mit einer zentralen Figur im kulturell-statistischen Leben der Kaiserzeit: Joseph Kürschner. Literatur- und Theaterwissenschaftler mit Affinitäten zu Bayreuth, Schriftsteller, Lexikograph, Herausgeber, Publizist, Verleger, Organisator, Funktionär, Unternehmer ... Geboren in Gotha 1853, arbeitet er zunächst über Theatergeschichte, wird dann Zeitungsmacher in Berlin. Er produziert u. a. die Deutsche Bühnen-Genossenschaft, das offizielle Organ der Gesellschaft Deutscher Bühnenangehöriger, einer 1871 von Ludwig Barnay in Weimar gegründeten Berufsgenossenschaft. Deren langjähriger Präsident Hermann Nissen spielt 1908/09 eine unrühmliche Rolle bei der Entstehung von Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm (vgl. GS 2, 48 ff.).

1880-92 wirkt Kürschner in Stuttgart als literarischer Beirat der Verlagsbuchhandlungen Spemann, dann Hallberger. Er redigiert eine Reihe von Zeitungen und illustrierten Zeitschriften und beginnt mit der Sammlung „Deutsche National-Litteratur“, die es in sechzehn Jahren auf 220 Bände bringt. Mit der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten wird 1882 Rudolf Steiner betraut; der Band mit Morphologischen Schriften erscheint 1884. Im Jahr zuvor kauft Kürschner den Allgemeinen Deutschen Literaturkalender, den die Brüder Heinrich und Julius Hart viermal in Bremen herausgegeben hatten. Aus dem Duodez-Bändchen von 122 Seiten macht er ein Standardreferenzwerk, das laut Vorwort, datiert „Hohenhainstein, Sylvester 1894“, mehr sein will als bloßes Adreßbuch: Es soll die darin Verzeichneten gemahnen, daß sie einem bestimmten Beruf angehören und als Berufsgenossen verpflichtet seien, sich zu organisieren. Kürschner will der literarischen Welt Deutschlands zeigen, welche Macht sie repräsentiere. Er wettert gegen die

„Charakterlosigkeit einer Anzahl zeilenschindender Subjekte, die sich jederzeit in die Dienste der Hochmütigen stellen und von dem schließlichen, auch ganz verdienten, Fußtritt im Wohlbefinden ihrer Fortvegetation nicht weiter gestört werden. Darum: mehr Rückgrat, mehr Selbstbewußtsein, weniger Dienstbeflissenheit, keinen Fetzen weißen Papiers zur Verfügung als aus guter Überzeugung für die Sache!“ (Kürschner 1895, 6)

Neben vielen anderen Werken gibt Kürschner die 7. Auflage von Pierers Konversations-Lexikon heraus.8 1892 geht er nach Eisenach, wird bekannt mit Hermann Hillger. Dieser, geboren in Calbe an der Saale 1865, führte 1887-90 eine Buchdruckerei mit Verlag in Hamburg; seit 1893 arbeitet er im Reichskommissariat für die Weltausstellung in Chicago. 1895 schließen beide einen Vertrag zur Gründung des „Hermann Hillger Verlages, Berlin-Eisenach“. Kürschner bleibt wohlweislich ungenannt. Der Vertrag sieht vor, insbesondere das bisherige Quart-Lexikon als „Universal-Konversations-Lexikon“ auf neuem Wege zu vertreiben, nämlich durch Zeitungen. „Um das große gemeinsame Unternehmen in Gang zu bringen, reist Hillger fast zwei Jahre lang von Zeitung zu Zeitung“; 1895 ist er auch in den USA unterwegs, doch der Erfolg läßt zu wünschen übrig.9 Stattdessen kommt es zu Protesten seitens des deutschen Buchhandels. Kürschner reagiert mit einer Beleidigungsklage gegen den Verbandsvorstand der Sortimenter: Er, Kürschner, sei als Autor und Herausgeber für die Geschäftsmethoden seines Verlegers nicht verantwortlich zu machen. Da er im Verlagsnamen ungenannt blieb, erscheint das glaubwürdig. Hillger rettet sein Unternehmen, indem er von besagter Vertriebsweise abläßt (Balzer ebd., 1626 f.).

Eine Unzahl von Projekten wird realisiert: prächtige AusstellungsBildbände, umfangreiche historische, geo- und kartographische Sammelwerke, Kriegsberichte von 1870/71, ein Band Hausmusik, ein juristisches Lexikon, ein Pressehandbuch usw. usf., nicht zuletzt seit 1896 Kürschners Bücherschatz, eine Reihe mit trivialen Romanen und Novellen, die bis 1902 auf 326 Titel anwächst.10 Doch trotz gewaltigen persönlichen Einsatzes bleibt der große Erfolg aus. Am 29. Juli 1902 stirbt Kürschner an Herzschlag, 49 Jahre alt.

Den Litteratur-Kalender hatte er von Band 5 bis 24 (1883-1902) herausgegeben. Band 25 übernimmt Hillger selbst;11 ab Band 26 leisten Heinrich Klenz, Gerhard Lüdtke und andere diese Arbeit für den Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Leipzig – bis auf den heutigen Tag. In Band 31, „auf das Jahr 1909“, findet sich folgender Eintrag:

„Friedlaender, Salomo , Dr. phil. Berlin-Halensee, Johann-Georg-Str. 7. (Gollantsch 4/5 71.) B: D. Stellung Schopenhauers zu Kant 02; Robert Mayer 04; Schopenhauer 06; Logik 07; Psychologie 07; Jean Paul als Denker 07; Gedichte 08; Nietzsche 08. *“ 12

Die falschen Angaben sind aufschlußreich. Das Buch über Mayer erschien 1905; die Schopenhauer-Anthologie 1907. Die letzte Angabe stammt wohl von F/M selbst, der im Jahr 1908 an einem größeren Werk über Nietzsche arbeitete. Es kam jedoch, gefördert von Simmel, nach vielen Querelen mit dem Verlag Göschen, erst Ende 1910 heraus, mit der Angabe 1911 – Friedrich Nietzsche. Eine intellektuale Biographie.

Der Eintrag wird im Literatur-Kalender seitdem fast regelmäßig alle Jahre wiederholt, 1934 auf vier Zeilen gekürzt, 1937 gestrichen. Doch wandert er weiter im vergilbten Gestein. Setzen wir den Spaziergang noch ein wenig fort; das führt nicht vom Thema ab, sondern eröffnet Ausblicke auf seltene Landschaften. Nicht nur jene Fehler haben Kritik veranlaßt. Als F/M im Jahr 1912 seinem Freund Paul Scheerbart zum Fünfzigsten „was abinterviewen wollte“ – was sagte da der vermeintliche Jubilar?

„So! So: Lieber S. Friedlaender! Also: auch du hast dich reinlegen lassen? Ei! Ei! Woher weißt du denn, daß ich 50 Jahre alt werde? Das sieht ja so aus, als wenn du etwas von meiner Entstehung wüßtest! Na – von mir sicherlich nicht. Oder – hier wird die Sache humoristisch – mußtest du dich auf Kürschners Literatur-Kalender verlassen? Oder – vielleicht auf die Angaben staatlicher und kirchlicher Behörden? Ich sehe, wie du dich abwendest; die Röte steigt dir in die Stirn. Na – weine man nicht! Ich nehme dir nichts übel. Täglich kommen Leute, die was von Fünfzig fabeln. Aber ich höre nicht hin, 5 und 7 sind die heiligen Zahlen [...]“13

Hieraus hat der schamrot gewordene F/M gelernt. „Träumen wir nicht soeben, daß wir Menschen sind,“ fragt er in Die Bank der Spötter (119), „daß wir von unseren Eltern abstammen, etwas, das wir aus eigener Erfahrung eigentlich nicht wissen können?“

Kürschners Name behält bis heute seinen Wert als Symbol – wofür? Für exakte, verläßliche Informationen? Doch nicht im Ernst! Im selben Jahr 1912 bringt der Neukantianer Rudolf Eisler – nicht zu verwechseln mit Robert Eisler, Altphilologe, Verfasser von Weltenmantel und Himmelszelt – sein heute noch konsultierbares Philosophen-Lexikon heraus. Unter „Nachträge und Ergänzungen“ steht dort:

Die Angaben sind offenbar unbesehen übernommen von Kürschner. In anderen Redaktionsstuben hat man aufmerksamer im Katalog geblättert und 1913 drei Zeilen destilliert:

„Friedlaender, Salomo, Dr. Berlin. * 1871 Gollantsch. B: Schopenhauer zu Kant; Jean Paul als Denker; Nietzsche 1911.“15

Auch dieses Werk, objektiv und wahrheitsbeflissen – ganz sicher! – nimmt Bezug auf jene Symbolfigur. Es nennt sich Semi-Kürschner ... im Vorspann dekoriert mit rechts- und linksläufigen Hakenkreuzen sowie Davidstern, mit einem Vorwort von Gregor v. Glasenapp und mit nachdrücklichem Bekenntnis zu Daniel Frymanns Buch Wenn ich der Kaiser wär (Leipzig 1912, 161925). Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Heinrich Claß (1868-1953), fanatischster Agitator des Alldeutschen Vereins. F/M hat darauf reagiert mit der Groteske Präsentismus. Rede des Erdkaisers an die Menschen (Januar 1913). Der monströse Semi-Kürschner ist seinerzeit freilich auch verrissen worden.17 Doch keine Kritik konnte verhindern, daß es 1929-31 eine zweite Auflage gab, in vier Bänden, unter dem Titel Sigilla veri. Darin erneut ein Eintrag zu F/M, 26 Zeilen lang, mit einem Zitat aus seiner Antwort auf den erwähnten Genossenschafts-Nissen: Ausgelachte Lyrik.3

Doch gilt es, ernsthaft zu bleiben. 1921 wird F/M selber fünfzig. Im folgenden Jahr erscheint der zweite Band eines anderen Werkes der Gattung Konversationslexikon. Darin sechs unverrückbare Zeilen:

„Friedländer [!], Salomo, philos. Schriftsteller u. Humorist, geb. 4. Mai 1871 in Gollantsch (Posen), lebt in Berlin; schrieb: ‚Friedrich Nietzsche’ (1911), ‚Schöpferische Indifferenz’ (1918), lyr. Gedichte ‚Der [Durch !] blaue Schleier’ (1908) und unter dem Pseudonym Mynona Grotesken (,Die Bank der Spötter’, 1919 [1920 !]; ‚Der Schöpfer’, 1920).“ (Brockhaus 1922, 123)

Zwei Jahre später acht Zeilen in der fast hundert schwere Bände umfassenden Enciclopedia Vniversal (1924, 1275):

„Friedlaender, Salomón, Filósofo alemán, [...] Graduado en filosofía, se dedicó á los estudios históricos, y ha publicado una serie de monografías [folgt eine vollständige Aufzählung, von der Dissertation 1902 bis Nietzsche, 1908, 181911]. Están concebidos en sentido crítico sus tratados Psychologie (1907) y Logik (1907).“

Spanisch kommt uns nur die redaktionelle Flickschusterei einer zweiten Auflage des Nietzschebuches vor, welche es nie gegeben hat. Die Kennzeichnung „en sentido crítico“ verwandelt den von Eisler erfundenen „kritizistischen Standpunkt“; die übrigen Angaben sind aus Eisler, also aus Kürschner abgeschrieben. Doch warum soll jener Standpunkt nur für die Abhandlungen („tratados“) Psychologie und Logik gelten?

Im folgenden Jahr 1925 erscheinen der erste Band von Kürschners Deutschem Gelehrten-Kalender sowie der erste Band von Salomon Winingers Großer Jüdischer National-Biographie. Ersteres Werk erfreut sich seiner gewissenhaften Fortsetzung bis heute; F/M kommt darin nicht vor.19 Hingegen bietet Winingers Kompilation in Band 2, 1927, einen Eintrag zu „Friedlaender, Salomo“: 25 Zeilen, übernommen aus Kürschner 1926.20

Hermann Hillger, mittlerweile Chef einer KG in Berlin, verlegt fleißig weiter, 1929 etwa Gustav Freytags Soll und Haben und später so praktische Broschüren wie Was tue ich im Ernstfall? Eine Aufklärungsschrift für das deutsche Volk, Leipzig 1940, 61 Seiten, 40 Abb., oder, um 1943, Dich ruft die SS. Propagandaschrift der Waffen-SS, 94 Seiten mit einem Meldezettel ... Nachdem aller Qualm scheinbar sich verzogen hat, kommt 1973 ein Nekrolog-Band von Kürschners Literatur-Kalender heraus. Darin allen Ernstes dreißig Zeilen zu F/M.21

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„Na natürlich! Alter Trick! Ich halte einen planen Spiegel rechts vom Rätselwort senkrecht zur Lesefläche und entziffere: Konversationslexikon. ‚Sehr geistreich’, ironisiere ich diese mächtig geheimnisvoll tuende Reklame für Brockhaus oder Meyer. Ich hätte diesen alten edlen Firmen keine solche Plumpheit zugetraut. Selbst Kürschners Universalkonversationslexikon greift nicht zu so banalen Mitteln.“

Ein „Agent“, erklärt der Ich-Erzähler dieser Groteske,22 habe ihm jene Reklame zugetragen und suche ihn nun eindringlich zur Subskription zu überreden:

„,Ich offeriere Ihnen das Konversationslexikon nicht mehr nur als Fundgrube des Wissens, sondern vor allem Ihres immer neuen Erlebens. Die Menschen merken gar nicht, welche immer frische Suggestion von diesen Wörtern ausgeht. In solchen Lexiken stecken magische Triebkräfte zu Erlebnissen, auf deren Möglichkeit man sonst gar nicht verfiele. Bitte probieren Sie, nach dem Lexikon zu leben! Coué ist im Vergleich dazu nur ein schwaches Beginnen.’“

Die von dem französischen Arzt und Apotheker Émile Coué empfohlene Methode positiver Autosuggestion war damals weithin be kannt.23In einer kleinen Rezension, die vermutlich nicht den Status primärer Schriftlichkeit erlangt hat, würdigt F/M das Hauptwerk des Coué-Popularisators Charles Baudouin; er spricht da von „einer wissenschaftlich medizinischen ‚Magie’, einer Magie innerhalb der Grenzen der Vernunft“.24 Doch zurück zu jenem Agenten, an dessen Rhetorik Hermann Hillger sich ein Beispiel hätte nehmen sollen. Er gibt eine Gebrauchsanweisung:

„Also bitte machen Sie doch mal den Versuch! Schlagen Sie irgendwo auf, lesen Sie der Reihe nach in suggestiv träumerischer Stimmung, und zwischen den abgebrochen einzelnen Worten wird allmählich ein Zusammenhang gestiftet, der Sie plötzlich aus den Niederungen des Alltagslebens in seltene, überraschende Höhen trägt. Und dann werden Sie zweifellos abonnieren und mir die kleine Provision gönnen. Hier haben Sie eine noch unaufgeschlossene Welt!“

Unterstreichen wir drei Motive. a) Das Lesen in suggestiv träumerischer Stimmung, in einem heute ‚hypnagogisch’ genannten Zustand, absichtlich halbwach, bei abgedämpften oder ausgeschalteten Verstandestätigkeiten (siehe Logik, Elementarlehre). b) Das allmähliche Sich-stiften eines Zusammenhanges, wie ein autonomes Weben und Wirken anderer Kräfte, als ob nicht Ich es wäre, der da Fäden zusammenknüpft, sondern als ob „es denkt“ (dazu gleich). Und c) der jähe Aufflug in „seltene, überraschende“, aber noch unbestimmte Höhen – uraltes Motiv. Ein frühes Dokument der europäischen Literatur ist die im platonischen Phaidros beschriebene Himmelsreise der Seele; gereinigte, gleichsam säkularisierte Fassung jener obskuren Reise, auf einer Brücke so breit wie ein Haar, von hier nach dort, zur anderen Welt Jener verhillgerte Agent beschließt seine Reklamerede:

„Ich selber bin auf diesem Wege leidenschaftlich gern Agent geworden. Ich diene der Propaganda des K.-Lexikons als eines Apparats zum kühnsten Erleben mit Wonne wie ein Kultusbeamter.“

Der Erzähler (bzw.) Mynona ist überzeugt. Vor seinem Bericht über seine durch die Buchstaben X, Y, Q induzierte Reise präsentiert er das Ergebnis: „Auch ich reise jetzt nur noch im Dienste von Meyer, Brockhaus etc.“ Soll das heißen: Er macht jetzt ebenfalls Reklame für solche Lexika? Na natürlich! und wie praktisch!

„Ich habe Brockhaus geraten, das Lexikon in Rollenform mit Abreißperforierung auf den Markt zu bringen, damit dieser reiche Lebenssegen ins stillste Kämmerlein dringe und besser zur Erlösung vom Gemeinen beitrage als die Romane des Geschlechtes Mann.“

– So also soll das Konversationslexikon gelesen werden! Dorthin drängt uns alles! Wuchtet Euch die laufend gänzlich umgearbeiteten und sitzend wesentlich vermehrten Bücher des Wissens aufs stillste Kämmerlein! Benutzt die Schatzkammern des klassischen Bildungsbürgertums – aber lest die Blätter vorher in der richtigen Weise! Mindestens irgendein nicht ganz stubenreiner Mynona hat ja erkannt, welche dringende Lektüre auf jener universalen Grübelstube unver fälschter Humanität die bessere Wirkung tut – zum Donnerwetter! Das soll eine fokusikontextadäqualihermenöstrategizitierstabilisierte Interpretation sein? ein Exempel für close reading? Eher wohl closet reading! 25

– Gemach ...

– Nein, nicht schon wieder dorthin! Heraus mit Argumenten!

– Voilà! Will ich etwas Reines, muß ich es reinigen. Immanuel Kant hat einen kleinen, sogenannten vorkritischen Text, Versuch über die Krankheiten des Kopfes, 1764 anonym in einer Königsberger Zeitung erschienen, bekanntlich als Symptom derjenigen Krankheit angelegt, für die er zugleich die Therapie sei. Der Philosoph versucht „bisweilen die große, aber immer vergebliche Cur der Narrheit“. In der Tradition der Humoralpathologie ist Kants Versuch durchaus ein Katharktikon für gewisse Zivilisationskrankheiten, welches bereits durch die Lektüre wirkt, skatologische Behandlung insbesondere der melancholischen Gelehrsamkeit. Kant beschließt sein Digestiv:

„Denn da nach den Beobachtungen des Swifts ein schlecht Gedicht bloß eine Reinigung des Gehirns ist, durch welches viele schädliche Feuchtigkeiten, zur Erleichterung des kranken Poeten, abgezogen werden, warum sollte eine elende grüblerische Schrift nicht auch dergleichen sein? In diesem Falle aber wäre es rathsam, der Natur einen andern Weg der Reinigung anzuweisen, damit das Übel gründlich und in aller Stille ab-geführet werde, ohne das gemeine Wesen dadurch zu beunru-higen.“26

– Mir scheint, Sie kommen nicht von Ihrem Örtchen los?

– Desiper in loco, sagten vor Zeiten die Studenten.27 Doch bitte sehr: Altvater Duhnemann, jener „Turm an der Kirche Menschheit“, „der Mensch aller Menschen, der totale Mensch“, verfaßt im Alter von 40 Jahren sein letztes Werk, „Logik der Erfindungen“. Schlagen Sie gleich mal nach, hier unten S. 179, Stichwort Ramus. F/M verfaßt diese Groteske im Alter von – erraten! – 40 Jahren, 1911 –

„Wahrlich, wer wie Duhnemann Meyers großes Konservationslexikon [!] mit 4 Jahren bereits vorwärts und rückwärts auswendig hersagen konnte, und inzwischen bei jeder Auflage hinzugelernt hatte, der zwang die Erlauchtesten zur Kniebeuge.“

Josef Meyer, noch ein Kapitel bürgerlicher Enzyklopädistik ... 1926, zwei Jahre vor jener Rätselhaften Reklame, erscheint Band 4 der 7. Auflage von Meyers Lexikon, „in vollständig neuer Bearbeitung“ etc. Darin erstmals ein Eintrag, zehn Zeilen, zu F/M (Meyer 1926, 1189). Und 1932, ein Jahr nach F/Ms Sechzigstem, kommt Band 13 der 15. Auflage des Brockhaus heraus. Der Eintrag zu „Mynona“ spendet ein schnörkelloses Lob:

„[...] M. deckt scharfsinnig Engherzigkeiten und Rückschritte im Leben und Denken auf, zugleich bekämpft er einen übersteigerten Intellektualismus. Er bedient sich der Formen der Groteske, Parodie, Satire und des Essays. Sein philos. Hauptwerk ist ‚Schöpferische Indifferenz’ (1918, 2. Aufl. 1926); von den weiteren philos. Schriften seien genannt: Schopenhauer’ (2 Bde., 1907), ‚Psychologie’ (1907), ‚Logik’ (1907), ‚Kant für Kinder’ (1924), von seinen zahlreichen Satiren: ‚Rosa, die schöne Schutzmannsfrau’ (1913) [...]“28

– Also Kürschner kennt diesen Kerl seit 1909, Brockhaus seit 1922, Meyer seit 1926. Und für solche Gastfreundschaft bedankt sich der Betreffende, indem er den Betroffenen spielt? Traut er doch „diesen alten edlen Firmen“ keine solche Plumpheit zu, wie er sie im selben Augenblick erfindet: alles auf den Kopf zu stellen, rückwärts zu verstehen! Was ist denn das für eine Art – etwas zu benennen, indem man es total verdreht? Ihr Dr. S. Friedlaender hat das ja, wie’s scheint, oft gemacht; allzuoft, möcht ich meinen. Was soll das?

– Nur zu! Sie sind auf dem richtigen Weg! F/M macht sich niemals lustig ohne Grund. Wir haben hier schon genug Lexikographie getrieben. Nur dies noch: Im Brockhaus wurde er seit der 17. Auflage 1968 stets wohlwollend gewürdigt. Jedoch im Meyer, 8. Auflage 1938, stehen Sätze, die F/M sich nur schwer hätte alpträumen lassen.29 Vom Großen Herder schweige ich.30 Stattdessen zitiere ich den Schluß der Rätselhaften Reklame, der in Dimensionen ausgreift, die sich so schnell nicht ermessen lassen:

„Was ist aller Geist ohne Buchstaben? So nichtig wie das Gegenteil. Und erst, wenn mit Hülfe des Lexikons der Geist sich dem Buchstaben innigst vermählt, wie hier präzis als einem Musterbeispiel geschehen, stellt sich das rechte Leben ein, dem diese Reklame ihren Hymnus singt. –“

– Houyhnhnms!!31 Und wie gelangen wir jetzt von diesem Musterbeispiel endlich zu unserm Thema? Ich mache darauf aufmerksam, daß Sie hier schon vierzehn Seiten lang irrelevantes Zeug vortragen. Sie sollen gefälligst in eine Logik und eine Psychologie einführen!

– Bin doch längst dabei. Kant unterschied zwischen reiner und angewandter Logik. Jene untersucht den Verstand allein, diese untersucht ihn vermischt mit anderen Gemütskräften; sie sollte eigentlich nicht Logik heißen: „Es ist eine Psychologie, in welcher wir betrachten, wie es bei unserm Denken zuzugehen pflegt, nicht, wie es zugehen soll.“ Die reine Logik ist die Propädeutik der Philosophie, einen Teil derselben bildet die Psychologie, welche der angewandten Logik alles Material liefert.32

Hauptquelle für F/Ms Logik und Psychologie nun ist Marcus’ Elementarlehre von 1906. Ich kann hier nur des Verfassers Beschreibung wiedergeben; das Buch verdient genaueste Aufmerksamkeit. Marcus beansprucht, das von Kant bearbeitete Problem nochmals, auf andere Weise anzugehen: das Verhältnis der beiden Elemente der Erkenntnis, Begriff und Sinnlichkeit. Er gibt ausdrücklich kein „System der formalen Logik“: dies habe Kant geliefert; vielmehr stellt er sich die Aufgabe, „das System der allgemeinen Logik derart zur Einsicht zu bringen, daß zugleich das Parallelsystem der transzendentalen Logik aus dem Grunde verstanden und als richtig eingesehen wird.“ (Marcus 1906, 19) Er bestimmt also zunächst den Gegenstand und die Grenzen der allgemeinen Logik, führt die Urteilsformen auf, leitet von ihnen die Begriffsformen (logischen Momente) ab und zeigt, wie aus deren Synthesis die allgemeinsten mathematischen Begriffe (Schemata) entstehen. Dann weist er nach, daß die Urteilsformen, Momente und Kategorien vollständig sind und daß sie aus der Spontaneität der Intelligenz entsprangen. Daraus ergibt sich weiter:

„daß die allgemeine Logik, die bis dahin höchstens den Charakter einer bloßen Luxuswissenschaft, ja einer Art Spielerei hatte [...], unter Kants Führung plötzlich die Bedeutung des Organon einer neuen Wissenschaft, der transzendentalen Logik, erhält, daß nunmehr mit einem Schlage die ganze Gesetzmäßigkeit der Natur als ein Widerschein der allgemeinen Logik dasteht, daß auf der anderen Seite dieselbe allgemeine Logik als Physiologie des reinen Denkorgans oder Verstandes eine völlig neue und lebendige Bedeutung erhält. [...] Kurz, die Logik, als beharrliche Offenbarung unserer intellektuellen Organisation, ist nunmehr eingeschoben in den lebendigen Organismus der reinen Vernunft.“ (ebd., 186 f.)

Trotz seiner vielen, streng an Kant orientierten Veröffentlichungen hat Marcus fast keine Resonanz gefunden, abgesehen von einiger Polemik. Heute ist er ein noch vergessenerer Philosoph als F/M. Seine Elementarlehre wurde Anfang 1907 von Rebekka Hanf, einer Freundin und Schülerin, hymnisch begrüßt (Hanf 1907); 1910 erschien eine sachliche, ausführliche Zusammenfassung von Artur Jacobs, Marcus’ Schwiegersohn (Jacobs 1910). Später vermerkt Theodor Ziehen in seinem riesigen Lehrbuch der Logik: „Noch näher steht der ursprünglichen Lehre Kants die Schrift von Ernst Marcus, Die Elementarlehre ...“33

Von der formalen zur angewandten Logik

F/M wendet sich mit seinem „Werkchen“ an junge Menschen; er will die Logik ins Gedächtnis prägen. Er gibt „ein hoffentlich getreues Referat der Überlieferung“ und verzichtet darauf, das bekannte Wissen zu prüfen (104). Auf den letzten zehn Seiten jedoch skizziert er seine eigene Lehre. An den Anfang stellt er ein eher barockes Bild: Verstand, Erkennen, Philosophieren haben ihren Wert und ihre Funktion darin, Licht in die „Weltfinsternis“ zu bringen.

Kapitel I. Vorstellung der Grundposition. Mit Hilfe des Begriffs vermögen wir die Dinge blitzartig anzuschauen. „Der schillernd ausgespannte Farbenfächer der Erscheinungen läßt sich in den feinen Strahlenstab des Gedankens zusammenklappen.“34 Diese rasend schnellen Prozesse des Denkens soll man einmal wenigstens verlangsamen, um die Gesetzmäßigkeiten der Vernunft zu betrachten. Nach solcher Vergewisserung über die Fundamente mag man sich wieder anderen Dingen zuwenden. F/M gibt ausdrücklich keine transzendentale Logik (wie Kant), sondern eine formale, eine Logik des bloßen Begriffs, nicht der Welt (63 f.). Gleichwohl bekennt er sich mehrfach emphatisch zu Kant, dem „Logiker der Welt, nicht nur der Begriffe“, dem „Weltlogiker“ (108, 109): „man könnte ihn den genialsten Logiker nennen, den es jemals gegeben hat“; es gebe „in Sachen der Logik heutzutage keine höhere Instanz als Kant“ (63, 64). Einzig Marcus wird Kant zur Seite gestellt.

Kapitel II. Historischer Abriß. Von all den Namen begegnen viele nur hier in F/Ms Werk. Die Griechen, von Parmenides an. Das Mittelalter wird in einem gewissen antischolastischen Affekt übersprungen, dafür stößt man auf drei Italiener, welche um 1600 „die Logik dem Leben wieder annähern“ wollten: Campanella, Bruno, Vanini. Die großen Autoren des 17. Jhs.: Bacon, Descartes, Malebranche, Spinoza, Leibniz. Wolff und einige deutsche Schulphilosophen; Locke, Berkeley, Hume; der „öde Materialismus“ der Franzosen, der Sensualist Condillac. Kant hingegen unterscheidet auch in der Logik apriorische Form und aposteriorischen Stoff; das aus beiden Hälften „gerinnende Ganze der Erfahrung“ läßt er mit Absicht rätselhaft. Die logischen Formen sind nicht angeboren. Im Lauf des 19. Jhs. kommt es dann, wie F/M in Stichproben zeigt, zu Abschwächungen, - Abweichungen, Ableitungen, Abwertungen der kantischen Bestimmungen.

Kapitel III, die mit Kant und Marcus so genannte „Elementarlehre“, die Hälfte des Buches, enthält den klassischen Teil. Begriff, Urteil, Schluß. Bei der Urteilstafel verzichtet F/M auf den Ausdruck ‚Kategorien’. Die vier Denkgesetze: Identität, Widerspruch, ausgeschlossenes Drittes, zureichender Grund. Die Schlußfiguren; unmittelbarer und mittelbarer Schluß; Analyse und Synthese etc.; kategorischer, hypothetischer, disjunktiver Schluß.

Drei Gesetze der kategorischen Schlüsse; deren neunzehn Formen im einzelnen. F/M nutzt hier zwei Hilfsmittel, das mnemotechnische (phonetische), den im 13. Jh. notierten Merkvers Barbara Celarent ...,und das geometrische (visuelle). Über solche Darstellung der Begriffssphären durch räumliche Figuren hatte Schopenhauer bemerkt, es sei

„ein überaus glücklicher Gedanke. Zuerst hat ihn wohl Gottfried Plouquet gehabt, der Quadrate dazu nahm; Lambert, wiewohl nach ihm, bediente sich noch bloßer Linien, die er unter einander stellte: Euler führte es zuerst mit Kreisen vollständig aus.“35

An den Hauptpunkt erinnert Marcus (1906, 79):

„Übrigens darf diese Veranschaulichung durch das Sphärenschema nicht als Definition gelten. Die Sache ist umgekehrt. Wir würden ohne jene logische Momente die sinnlich versetzten Begriffe des ‚Innerhalb’ und des ‚Nicht-innerhalb’ gar nicht haben. Denn diese räumlichen Verhältnisse entstehen erst dadurch, daß wir mittels der Kopula uns einen Gegenstand denken, der unter die eine Sphäre (a) fällt (Positio), daher nicht (Negatio) in die andere Sphäre (b) fallen kann, daher die eine außerhalb der anderen liegt.“

In F/Ms Beispielen, dem dritten Hilfsmittel der Anschaulichkeit, stecken massive Thesen. Das erste Beispiel, die Bedeutsamkeit des Schweigens – der Pflanzen!, kehrt wieder in der Psychologie (87, 160). Das zweite beweist die Unvergänglichkeit des Menschen (87). Daß man den Begriffsumfang angemessen zu bestimmen habe, damit sich nicht „eine Menge Tischtücher und Bettlaken zu Taschentüchern herabgewürdigt fühlen“; oder daß „Papagei und Preßfreiheit“ möglichst disparate Begriffe sein sollen, läßt eher schmunzeln (68, 70). Nicht so das brisante Spiel, das, im Filigran der Syllogismen, mit Theologie und Kirche getrieben wird: Kritik am Unfehlbarkeitsdogma; die Schlinge des Atheisten; die Zirkularität der Gottesbeweise.36

Nach den neunzehn Formen geht es weiter mit den hypothetischen und den disjunktiven Schlüssen. Pro- und Episyllogismus, Enthymem, Sorites, Paralogismus. Induktionsschlüsse und ihre Gefahren: leichtfertige, bequeme, liederliche Verallgemeinerung. Beispiel: „der ganze Antisemitismus, überhaupt aller Rassen- und Klassenhaß“ (97).

Kapitel IV, „Logische Methode“, das letzte und originellste Viertel des Textes. Nachdem er den Weg von Begriffen zu Urteilen, von diesen zu Schlüssen durchlaufen hat, zeigt F/M, wie man von Schlüssen zum „anschaulich erlebten“ Schluß kommt, zum System. Definition und Einteilung der Begriffe; der Beweis. Wahrheit als zentrales Anliegen aller Logik. Begründung durch Anschauung (Erlebnis) bzw. durch Denkgesetze. Induktion und Deduktion: am besten ist ihre Verbindung. Wert und Funktion von Experimenten: Sie illustrieren den Gedanken; doch dessen Gewißheit kommt niemals aus ihnen her, vielmehr nur aus dem Beweis (101 ff.).

Hypothesen. Beispiel: Newtons Farbenlehre, „an deren Stelle einmal ganz gewiß die Goethe-Schopenhauersche Farbentheorie treten muß“ (103). Das ist ein früher Beleg von F/Ms unbeirrtem Engagement für Goethes Farbenlehre. In der um dieselbe Zeit verfaßten Einleitung zur Schopenhauer-Anthologie ist von einem „Antagonismus“ die Rede; die gravierenden Differenzen zwischen Goethe und seinem Schüler Schopenhauer werden später verdeutlicht.37 Gegenbeispiel: der Weltraum ist keine Hypothese, sondern Wirklichkeit.

Wie verhält sich die Philosophie zu den Wissenschaften? Vollendete systematische Ordnung gibt es in keiner einzelnen Disziplin, höchstens in Logik und Mathematik. Philosophie, Weisheit, hat zu ihrem Stoff die Elemente und Resultate aller anderen Wissenschaften; sie gibt ihnen erst ihre Vollkommenheit, nicht umgekehrt. Dieses Argument wird später von Marcus und F/M vehement gegen die Neukantianer Hermann Cohen und Ernst Cassirer vorgebracht: Philosophie hat sich in keiner Weise nach den Wissenschaften zu richten, auch nicht nach der Physik (vgl. GS 1, 97 f.).

Die Wissenschaften entwickeln sich allmählich; dem Philosophen aber ist „der allerletzte Aufschluß gleichsam eingeboren“; dieses „Licht“, „Urweisheit“, soll er in die Dunkelheit hineinbringen. „Philosophie ist Erfüllung des Wunsches aller Wissenschaft.“ (105) Doch besteht wirklich ein Gegensatz zwischen der langsamen Erwerbung von Wissen, der gelehrten strengen Akkumulation unendlich vieler Einzelheiten und der plötzlichen „Allwissenheit“, dem „genialischen Aufeinmal“? Antwort: Nein! Denn um überhaupt etwas erwerben zu können, muß die Fähigkeit dazu bereits gegeben sein. Die Unendlichkeit, hatte Kant gesagt (Ak II, 202), sei „ein Grund der Allwissenheit“. Letztere, betont F/M, ist ja nicht schon aktuell; sie ist potentiell, Ermöglichungsbedingung alles aktuellen Erwerbens. Hier liegt kein hermeneutischer Zirkel vor. Der Sinn geht auf einmal auf, doch er ist unergründlich tief, „so daß Philosophie, stets vollendet, kein Ende nehmen kann“ (107).

„Was ist Wahrheit?“ F/M wiederholt die von Kant aufgenommene alte Frage (KrV, A 57 f., B 82). Und wie Kant seiner anschließenden Einteilung der allgemeinen Logik in Analytik und Dialektik den mittelalterlichen Merkspruch beigibt: Einer melkt den Bock und der andere hält ein Sieb unter, so gibt auch F/M seiner Antwort – Wahrheit ist logisches Bedürfnis, begründet in den Denkgesetzen – ein Emblem mit: Schopenhauers Bemerkung, wir könnten unsere Glieder unmöglich gegen ihre Gelenke bewegen. Von logischen Wahrheiten werden die materiellen (bzw. empirischen) unterschieden; letztere sind auf Anschauung gegründete Urteile (107).

Ist die Logik selber wahr? Der Unterschied zwischen wahr und falsch ist eine „Urtatsache“, ein „logischer Richtungsunterschied“. Nach so etwas wie der Wahrheit der Wahrheit zu fragen, geht über den „gesunden“ Menschenverstand; hier muß der „übergesunde“, der philosophische einspringen. Kant, der „Weltlogiker“, gestaltete die formale Logik aus, so daß sie imstande ist, „nicht nur bloße Gedanken und Urteile über die Sinneserscheinungen, sondern diese selbst zu liefern“; sie betrifft sowohl das Gewissen, das gut und böse unterscheidet, wie den Willen und den Geschmack.

Ist die Logik vollständig? Allgemeinheit ist Einheit, doch nicht schlechthin, denn sie muß fähig sein zur Selbstentzweiung; insofern heißt sie polar. Betreffen die logischen Formen sowohl die Begriffe von Raum und Zeit wie auch die Dinge Raum und Zeit selber, so heißen sie transzendentallogisch. Ist die Unendlichkeit, als Inbegriff von Raum und Zeit, also selbst eine polare Einheit? Das oberste und elementarste Denkgesetz, die Identität, bedeutet vielleicht das Weltprinzip: als allumfassende Wahrheit, welche sich selber einschränkt (109 f.).

Hier endet der traditionelle Teil. F/M wirft nun die Grundsatzfrage auf: Welchen Sinn hat die Logik? Ihr Gegensatz von Ja und Nein arbeitet auch in der Welt. Diese muß man erklären. Wie läßt sich dafür die logische Wahrheit nutzen? F/M bringt den alten Begriff der Polarität ins Spiel: Identität, welche fähig ist, sich selbst zu entzweien. Die Schellingsche Naturphilosophie habe diesen nützlichen Begriff in Verruf gebracht. Den Vorwurf führt F/M nirgends genauer aus. Das hätte gravierende Mißverständnisse erspart: Immer wieder wurde ihm vorgehalten, nicht mehr zu leisten als eine skurri le Wiederholung jenes romantischen Theorems.38 Andererseits hatte er zwei Jahre früher festgestellt:

„Robert Mayer gehört jenen Geistern des XIX. Jahrhunderts an, welche bestrebt waren, sich von den Ausschweifungen der Schellingschen Naturphilosophie frei zu halten, denen aber der Materialismus durchaus widerstand.“ (Mayer, 86)

1914 heißt es über die Polarität: