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Das ist ein ganz besonderer Fall für Premierleutnant Oberbeck, der wieder im 18. Jahrhundert in der Stadt Braunschweig spielt. Oberbeck wurde nach seinem Diensteinsatz im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zum Polizeikommandanten in Braunschweig und hat bereits eine Reihe von Fällen aufgeklärt, die unter dem Pseudonym Tomos Forrest erschienen sind. In diesem Roman geht es um einen weiteren Fall. Ein Attentat geschieht am Residenzschloss, wenig später taucht ein seltsamer Prediger in Braunschweig mit einem Jungen auf, der offenbar vollkommen schmerzunempfindlich ist. Schon bald kommt es zu einer unangenehmen Begegnung mit dem seltsamen Prediger, der die Rückkehr des Messias ankündigt...
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Seitenzahl: 107
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Thomas Ostwald
Lokis Schmerzenskind
Thomas Ostwald
Lokis Schmerzenskind
Ein Kriminalfall aus
dem Braunschweig des
18. Jahrhunderts.
Edition Corsar D. u. Th. Ostwald
Braunschweig
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Thomas Ostwald
Verantwortlich
für den Inhalt
Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
www.tatort-braunschweig.de
Lokis Schmerzenskind
„Loki ist schmuck und schön von Gestalt,aber bös von Gemüt und sehr unbeständig.Er übertrifft alle andern in Schlauheit und in jeder Art von Betrug.”(Gylfaginning, 33)
I.
Die schwarz gekleidete Gestalt klammerte sich an den Schornstein, wickelte das Seil behutsam ab und prüfte dann seine Belastbarkeit. Behutsam setzte er rückwärtsgehend einen Fuß nach dem anderen, erreichte die Dachkante und duckte sich. Von hier oben hatte er einen hervorragenden Blick auf den nur spärlich beleuchteten Schlosshof. Der Mann vernahm den schweren Tritt der genagelten Schuhe auf den Pflastersteinen, die an der Hauswand reflektiert und vom gegenüberliegenden Gebäude in der stillen Nacht überlaut zurückgeworfen wurde.
Er wartete, bis die Doppelwache um die Ecke des Arkadenflügels gebogen war und ihre Schritte allmählich gedämpfter klangen. Jetzt konnte er das Seil über die Dachkante gleiten lassen, verharrte für einen Moment und hangelte sich dann behände bis auf den vorstehenden Fenstersims der oberen Reihe hinunter. Dabei hing er ein ziemliches Risiko ein, denn er musste zunächst an den Fenstern der oberen Etage vorbei, die aber zu dieser späten Stunde alle unbeleuchtet waren. Dann hatte er die großen Fenster der Etage über den Arkadenbögen erreicht und wusste sich am Ziel. Jetzt drückte er gegen beide Fensterflügel, die mit einem leichten Knarren nachgaben und nach innen aufschwangen. Der Mann verharrte und lauschte auf mögliche Geräusche, die das Erwachen der Bewohner des Zimmers verraten hätten. Er spürte, wie sein Herz heftig schlug und sein Mund sich trocken und pelzig anfühlte. Ein paar tiefe Atemzüge ließen ihn wieder zurück zu seiner gewohnten Ruhe finden. Er hockte jetzt so sicher auf dem Fensterbrett, als befände er sich zu ebener Erde. Aus einer Tasche nahm er einen runden Gegenstand und zog dann das Gefäß zu sich heran, das an seinem Ledergürtel befestigt war.
Als er die Klappe öffnete, sah er das schwache Glimmen im Inneren des Gefäßes. Er beugte sich darüber und blies die Glut behutsam zu kräftigem Rot, hielt den runden Gegenstand daran und wartete, bis ein neues Aufglimmen das Zünden der Lunte bestätigte. Mit ruhigen Bewegungen wurde das Gefäß wieder verschlossen, noch einmal blies er auf die gleichmäßig brennende Lunte, dann warf er den Gegenstand in das Zimmer. Mit wenigen Handgriffen war er zurück auf dem Dach und hatte gerade den Schornstein erreicht, als im Stockwerk unter ihm eine Explosion die Ruhe der Nacht zerriss. Er spürte auf dem Dach das Zittern der Wände und lächelte zufrieden. Während er zu dem kleinen Erker über den Dachfirst zurücklief, hörte er das Fauchen des Feuers, das seine Granate verursacht hatte und das dem Explosionslärm sogleich gefolgt war.
Jetzt wurden auch Schreie aus dem Schloss laut und ein paar befehlsgewohnte Kommandostimmen riefen etwas auf dem Hof tief unter ihm. Mit raschen Bewegungen löste er das Seil um den Schornstein und wollte es gerade aufrollen, als zu seiner grenzenlosen Überraschung etwas schwer gegen den Schornstein dicht neben ihm klatschte. Unwillkürlich hatte er das Seil fallen gelassen und duckte sich. Dabei löste sich eine Schindel unter seinen Füßen, er erfasste instinktiv die leichte Bewegung und ging auf die Knie, um sicheren Halt auf der Dachschräge zu finden. Geduckt wartete er ein paar Sekunden, dann richtete er sich etwas auf und lief zu dem Erker. Fast gleichzeitig krachten erneut Schüsse. Er hörte, wie die dicken Bleikugeln in seiner unmittelbaren Nähe einen anderen Schornstein trafen. Steinsplitter spritzten umher, ein scharfkantiges Stück traf ihn im Gesicht. Fluchend sprang er auf die kleine, offene Fensterluke des Erkers zu, erwischte die Leiter, rutschte von der obersten Sprosse ab. Seine Hände griffen in das rissige Holz der Seiten, um seinen Sturz abzubremsen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er hart auf dem Boden aufschlug und gleichzeitig sein Kinn auf schmerzhafte Weise gegen eine Leitersprosse schlug. Benommen hielt er inne und spürte, wie ihm unter der Maske Blut von der Stirn herunterlief und in das rechte Auge rann. Mit einem Ruck zog er die Stoffmaske herunter und wischte sich damit das Auge aus.
‚Wie war es möglich, dass man mich so schnell auf dem Dach entdeckt hatte?‘, schoss es ihm durch den Kopf, während er über den Dachboden hastete und die nächste Tür erreichte. Es war eine dunkle, stürmische Nacht und der ohnehin nur sichelförmige Mond zumeist hinter dem dunklen Wolkengebirge verborgen. Aber man hatte ihn wohl gegen den helleren Hintergrund bemerkt und nach der Explosion sofort kombiniert, dass eine Gestalt auf dem Schlossdach mit der Explosion zu tun haben musste.
Vor der Tür zu dem von den Dienern benutzten Treppenhaus verhielt er für einen Moment und atmete mehrfach tief ein und aus. Gleich darauf lief er die schmalen Stufen hinunter bis zu einer weiteren, unverschlossenen Tür. Erleichtert zog er sie wieder hinter sich zu, als Stimmen hinter ihm zu hören waren. Jetzt war der ganze Flur erfüllt von hin- und herlaufenden Menschen, er hörte auf ihre Stimmen und konnte mehrfach deutlich verstehen, wie man aufgeregt nach dem Herzog rief. Ein zufriedenes Gefühl stellte sich bei ihm ein, er lief nun leicht und elastisch die zahlreichen Treppenstufen hinab, bis er die Eingangstür erreicht hatte. Vorsichtig öffnete er sie einen Spalt und spähte auf den dunklen Hof auf der Rückseite des Schlosses. Auch hier herrschte ein wildes Durcheinander. Zahlreiche Diener eilten geschäftig über den Hof, viele trugen Wassereimer, und eine laute Stimme brüllte Anweisungen.
Jetzt kamen auch zwei Feuerspritzen herangerollt, wurden in Position gebracht und dann begann die Mannschaft, aus Leibeskräften die mächtigen Hebelstangen auf und ab zu bewegen, bis ein kräftiger Wasserstrahl auf das zerstörte Fenster gerichtet werden konnte und dichter Qualm anzeigte, dass der Brandherd erreicht wurde. Auch von der anderen Seite kamen weitere Spritzen herangerollt. Nach dem Vorbild von Hannover waren diese großen Feuerlöschpumpen schon vor mehreren Jahren angeschafft worden und ihre Mannschaften fleißig mit Übungen geschult. Die Pferde preschten über den Schlossplatz, die Spritzen wurden in Position gebracht. Dann unterstützten die großen Pumpen die beiden kleineren mit ihrem mächtigen Wasserstrahl.
Der Mann war gleich darauf aus der Tür geschlüpft und bewegte sich im Schatten des mächtigen Schlossbaus von dem geschäftigen Treiben der Feuerwehrleute und ihren zahlreichen Helfern weg. Alles schien genauso zu verlaufen, wie es der Meister geplant hatte, und der Mann riskierte jetzt, den freien Platz vor sich zu überqueren, um den mächtigen Metallzaun zu erreichen. Dort hatte er eines der kleinen Tore für diesen Zweck extra geölt und das Türschloss so präpariert, dass es nicht versehentlich zugeschlossen werden konnte.
Nach wenigen Schritten bemerkte er seitlich von sich eine Bewegung und überlegte blitzschnell, ob er zurück in den Hausschatten eilen sollte, als ein Schuss krachte.
Er spürte einen heftigen Schlag gegen sein Bein, der ihn auf das raue Pflaster schlagen ließ. Gleich darauf überstrahlte der einsetzende Schmerz für einen Moment jeden klaren Gedanken. Laute Schritte von genagelten Schuhen kamen eilig näher, und als er benommen aufsah, bemerkte er mehrere Männer mit Gewehren in der Hand.
Der Mann ignorierte den Schmerz, so gut es ging. Sein Auftrag war klar und von ihm so in aller Konsequenz akzeptiert worden. Er wusste, was jetzt noch zu tun war. Als die Männer den Gestürzten erreicht hatten, ließ er gerade das kleine, geleerte Glasfläschchen fallen.
„Keine Bewegung, sonst bereust du es!“, rief ihm einer der Soldaten zu. Dann beugten sie sich über ihn, aber da war es schon zu spät. Das Gift tat seine Wirkung, und nach zweimaligen, krampfartigen Zusammenziehen entspannte sich der Körper auf dem Pflaster wieder, der Kopf des Attentäters sank zurück. Der Mann war tot, noch ehe ihn der erste der Verfolger aufrichten konnte.
„Er ist tot, Sarge!“, rief einer von ihnen nach einem Blick in die verdrehten Augen des Toten.
„Bringt ihn trotzdem in die Wachstube, vielleicht kennt ihn jemand und wir können herausfinden, wer der Wahnsinnige war, der diesen Anschlag auf unseren Herzog ausgeführt hat.“ Vier Mann fassten den Toten an Beinen und Armen und schleppten ihn hinüber in das Wachlokal der Jäger. Dabei mussten sie an der langen Menschenkette vorüber, die quer über den Schlosshof das Wasser aus dem Feuerbrunnen weiterreichte. Zwei Reihen waren hier im Einsatz. Eine Reihe unterstützte wagemutige Männer, die mit langen Leitern versuchten, den Brand von den anderen Zimmern fernzuhalten. Die Spritzen hatten ihre Wassermengen unmittelbar in das Schlafgemach des Herzogs gerichtet, wo das Feuer ausgebrochen war.
Keiner der Helfer warf der seltsamen Gruppe mit dem Toten mehr als einen flüchtigen Blick zu. Noch war die Gefahr nicht gebannt, dass der ganze Seitenflügel ein Opfer des Brandes wurde.
Trotz der späten Stunde sammelten sich immer mehr Schaulustige vor dem Zaun am Bohlweg. Als es den Wachen zu dumm wurde und die ersten Neugierigen bereits zum Tor drängten, trat einer der Offiziere dicht an das Tor und rief den Gaffern zu, dass jeder von ihnen sofort für die Löschkette eingeteilt würde, wenn er nicht augenblicklich den Platz verließe. Nur zögernd setzten sich darauf einige in Bewegung, aber eine ganze Gruppe junger Männer, ihrer Kleidung nach offensichtlich alle Handwerker, bot sich dem Offizier zur Hilfe an. Rasch wurden sie eingelassen und nahmen Plätze in der Eimerkette ein.
Etwas abseits hatte auch eine Kutsche gehalten. Ein Fenster wurde herunter-gelassen, und das Gesicht eines jungen Mannes musterte neugierig das Geschehen. Er hatte feine Gesichtszüge, fast feminin wirkende, dünne Augenbrauen und eine leicht gekrümmte Nase, die seinem Gesicht zusammen mit den ungebändigten dunklen Haaren, die unter seinem kostbaren Dreispitz hervorquollen, einen beinahe griechischen Ausdruck verliehen. Dagegen sprach aber seine Blässe und die Art, wie er jetzt seinem Kutscher den Befehl gab, weiterzufahren. Mit einem sehr zufriedenen Lächeln sank er in das Polster zurück. Die Kutsche rumpelte über den Bohlweg in Richtung der Katharinenkirche, überquerte die Lange Brücke und schlug den Weg in die Altstadt ein.
Erst bei Tagesanbruch erkannte man das ganze Ausmaß des Anschlages. Die Privatgemächer des Herzogs waren vollständig ausgebrannt, nur mit größter Mühe hatte man ein Übergreifen des Feuers auf die anderen Räume in diesem Flügel verhindern können. Über dem gesamten Anwesen lag ein unangenehmer Brandgeruch, und die vielen Menschen, die erschöpft auf dem Hof saßen oder sich an eine Mauer lehnten, wirkten wie geschwärzte Spukgestalten. Die Schloss-diener in ihrer überwiegend weißen Bekleidung, die jetzt bei vielen nicht nur verschmutzt war, sondern teilweise hässliche Brandlöcher aufwies, standen in starkem Kontrast zu den rußverschmierten Gesichtern, Armen und Händen.
II.
Nur für einen kurzen Moment schwebte die Hand über der Figur, dann griff sie zu, sprang über die Felder und warf den Bauern um.
„Schach!“
Mit einem entspannten Lächeln lehnte sich Premierleutnant Friedrich Oberbeck zurück und betrachtete sein Gegenüber. Die dicken, aber vollkommen grauen Augenbrauen des Sergeanten hatten sich finster zusammengezogen. Er wandte seinen Blick nicht vom Spielbrett, griff schließlich eine seiner Figuren und ließ die Hand mit einem tiefen Seufzer wieder sinken.
„Ein Malefizspiel, wenn die Bemerkung erlaubt ist, Herr Leutnant!“, brummte er ärgerlich.
Oberbeck reagierte nicht gleich, sondern winkte dem jungen Kellner zu, der aufmerksam reagierte und gleich darauf zwei Tassen mit kalt gerührter Schokolade neben das Schachbrett stellte. Der Leutnant hob eine davon an, prostete seinem Gegenüber zu und genoss die aromatische Flüssigkeit. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf den Kohlenmarkt1 und unwillkürlich straffte sich sein Oberkörper. Der große, gut aussehende und vornehm gekleidete junge Mann, der ihm aufgefallen war, steuerte direkt auf das Kaffeehaus zu und trat eben ein. Mit raschem Blick überflog er die besetzten Tische. Ohne eine Miene zu verziehen oder jemand zu begrüßen, durchquerte er dann mit weit ausholenden Schritten den Raum und setzte sich an einen freien Tisch in einer Nische. Der Leutnant wandte seinen Blick erst wieder von dem Neuankömmling, als sich der Sergeant nun bedeutungsvoll räusperte.
„Herr Lessing trifft gerade ein.“
Oberbeck drehte den Kopf und erkannte nun den Bibliothekar aus Wolfenbüttel, der gerade aus einer Mietkutsche stieg. Lessing streckte sich kurz und blinzelte. Seine Augen mussten sich nach dem Halbdunkel der Kutsche erst an die freundliche Maisonne gewöhnen, die mit ihren bereits angenehm wärmenden Strahlen das Treiben auf dem Markt in ein helles Licht tauchte. Lessing zog seinen Rock zurecht, griff die kleine Tasche auf, die ihm der Kutscher gereicht hatte, und betrat gleich darauf das Kaffeehaus. Erneut musste er blinzeln. Das nächtelange Schreiben bei schlechter Beleuchtung hatte seine Augen angegriffen. Der Übergang vom hellen Sonnenlicht in das gedämpfte Licht des Raumes, der zudem von einigen Tabakwolken durchzogen wurde, ließen seine Augen leicht tränen. Jetzt erkannte er die beiden Männer an ihrem Schachbrett und trat zu ihnen. Dabei hatte er einen seltsam schleppenden Gang, der an einen alten Mann erinnerte. Seine ganze Erscheinung wirkte gedrückt und missmutig. Seine Kleidung war nachlässig, von seinem Rock fehlte ein großer Knopf, die Ärmel waren an den Ellbogen blank und auch seine Perücke hätte dringend einer Auffrischung bedurft.