London Dark: Die ersten Fälle des Scotland Yard - Benjamin K. Scott - E-Book

London Dark: Die ersten Fälle des Scotland Yard E-Book

Benjamin K. Scott

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Beschreibung

Jenseits des Vorstellbaren lauert das Grauen ...

London im Jahre 1829 - ein dreckiger Moloch voller finsterer Geheimnisse und unerklärlicher Phänomene. Die neugegründete Polizeitruppe des Scotland Yard soll Licht ins Dunkel bringen. Constable Graham Cluskey ist Feuer und Flamme - doch die mysteriösen Fälle führen ihn an die Grenzen seines Verstandes ...

Ein Buch wie eine Netflix-Serie - John Sinclair meets Sherlock Holmes! Diese Ausgabe enthält 8 Folgen zu je etwa 50 Taschenbuch-Seiten.

eBooks von be THRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 564

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Inhalt

CoverWeitere Titel des AutorsÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumBuch 1: Raserei!Buch 2: Der OpiumkultBuch 3: Die Spur des BösenBuch 4: Die Teufel von LondonBuch 5: Das Biest von GlastonshireBuch 6: Der Fluch des MuseumsBuch 7: Die Kunst des MordensBuch 8: Hochverrat!Leseprobe: VIRUS – Der Feind in deinem Blut

Weitere Titel des Autors

Als Ben K. Scott:

VIRUS – Der Feind in deinem Blut

Über dieses Buch

Jenseits des Vorstellbaren lauert das Grauen …

London im Jahre 1829 – ein dreckiger Moloch voller finsterer Geheimnisse und unerklärlicher Phänomene. Die neugegründete Polizeitruppe des Scotland Yard soll Licht ins Dunkel bringen. Constable Graham Cluskey ist Feuer und Flamme – doch die mysteriösen Fälle führen ihn an die Grenzen des Verstandes …

Ein Buch wie eine Netflix-Serie – John Sinclair meets Sherlock Holmes!

Über den Autor

Aufgewachsen im Schatten von Bücherregalen, die sich unter den düsteren Werken Edgar Allan Poes, H. P. Lovecrafts und Sir Arthur Conan Doyles bogen, wurde Scotts Faszination für phantastische Literatur früh geweckt. Recherchereisen während seines Studiums der Geschichte und Kunstgeschichte führten ihn schließlich auf die Britischen Inseln, wo er nicht nur seine Wahlheimat fand, sondern auch die Inspiration für die Reihe um den eigenwilligen Ermittler Graham Cluskey.

Benjamin K. Scott

LONDON DARK

DIE ERSTEN FÄLLE DES SCOTLAND YARD

Sammelband

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © djmaca1966/Shutterstock | © Lee Avison / Trevillion Images

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0452-6

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Virus« von Ben K. Scott.

be-ebooks.de

lesejury.de

Buch 1:Raserei!

London, April 1829

»Die Diener des Teufels sind unter uns!«, kreischte die alte Dame. »Unser aller Ende haben sie eingeläutet!« Sie krallte die Finger in Graham Cluskeys Mantel und sah ihn aus großen, angstgeweiteten Augen an.

Dem gestandenen Constable lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. Die Diener des Teufels … was konnte sie damit gemeint haben?

Unwillkürlich stellte er sich vor, wie monströse, rotschimmernde Kreaturen mit Hörnern und Krallen durch die Piccadilly Road stürmten und Menschen mit sich rissen, um sie in die Hölle zu verschleppen, wo sie im ewigen Fegefeuer brennen würden. Eine nur allzu unglaubwürdige, groteske Vorstellung, und doch ertappte sich Cluskey dabei, wie er sie ernsthaft in Erwägung zog.

Constable Winterhorn trat indes zwischen die alte Dame und seinen Kameraden und löste so die Umklammerung. »Kommen Sie, der Innenminister wird Sie über die gegenwärtige Lage in Kenntnis setzten. Man erwartet uns bereits im Buckingham Palace.«

Über die Schulter warf Cluskey einen Blick in Richtung des prunkvollen Palastes mit den pittoresken Säulen und den einheitlichen Fensterreihen.

Als Kind hatte er ihn oft aus der Ferne betrachtet und davon geträumt, darin zu wohnen.

Einmal, es war an einem kalten Dezembermorgen gewesen, da hatte ihn sein Vater, ein allseits geachteter Waffenschmied, verbotenerweise mit in den Green Park genommen, damit er einen Blick auf die Rückseite des Palastes werfen konnte. Alles hatte still und friedlich dagelegen, überzogen von einer weißen Schicht frisch gefallenen Schnees. Cluskeys Blick war zu den mit seidenen Vorhängen verhüllten Fenstern gewandert, woraufhin etwas Merkwürdiges geschehen war. Ein Mädchen, kaum älter als er selbst, schob den Stoff beiseite und blickte mit traurigem, ja beinahe sehnsüchtigem Blick hinaus auf den Park. Daran war nichts ungewöhnlich, der Palast wurde schließlich bewohnt, aber plötzlich legte sich eine große, dunkle Hand über den zarten Mund des Mädchens und zog es nach hinten. Cluskey hatte ihren entsetzten Gesichtsausdruck niemals vergessen. Er hatte ihr zu Hilfe eilen, den fremden Mann vertreiben wollen. Sein Vater hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und ihn am Kragen durch das Dickicht geschleift. Kein Wort hatte er seitdem darüber verloren, doch der junge Graham hatte die Welt fortan mit anderen Augen gesehen. Was war an diesem Morgen geschehen und wer war das junge Mädchen gewesen? Fragen, auf die er sein Leben lang keine Antworten erhalten hatte. Aber eines wusste er mit Sicherheit: Ihr war etwas Schreckliches widerfahren. Und jetzt, zwanzig Jahre später, hatte Cluskey dasselbe Gefühl. Es war, als ob dem Palast das Unheil innewohnte …

Eine Stunde zuvor

Kokotten, dachte Constable Graham Cluskey verächtlich und wandte sich demonstrativ ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, was seiner Haltung etwas Würdevolles und Pflichtbewusstes verleihen sollte. Tatsächlich diente die Geste nur dazu, seinen übergroßen, dunkelgrauen Gehrock davor zu bewahren, ihm bei der erstbesten Gelegenheit von den Schultern zu rutschen. Hätte auch er, wie sein triebgesteuerter und lüsterner Partner, einen lukrativen Nebenverdienst besessen, wäre das verschlissene Kleidungsstück schon längst auf den Abfall gewandert, aber wie Gott wollte, war er leider nicht mit finanziellem Reichtum gesegnet.

Dafür besaß er eine Gabe, die kein Geld der Welt aufwiegen konnte: Er fand Erfüllung in dem, was er tat. Mit Leidenschaft und Hingabe widmete er sich den vor ihm liegenden Aufgaben und erledigte sie mit einer solchen Akribie, dass er bereits nach wenigen Jahren zu einer lebenden Legende unter den anderen Wachtmeistern und Nachtwächtern der Metropole geworden war. Dieser tadellose, beinahe mystische Ruf erlaubte es ihm, gelegentlich Gefallen einzufordern, die ihm bei seiner jeweiligen Ermittlung weiterhalfen. Seine Aufgabe als Hüter der Ordnung erfüllte Cluskey mit Stolz, denn er trug nicht nur dazu bei, die Sicherheit auf den Straßen aufrechtzuerhalten, sondern half den Bürgern Londons, sich das zu bewahren, was ihnen in diesen dunklen Jahren immer schneller abhandenkam: den Glauben an das Gute, an die Gerechtigkeit. Er beschützte die Menschen vor Diebesgesindel, Betrügern, Mördern und anderen Widrigkeiten, die ihnen den Alltag erschwerten. Ohne ihn und seine Kameraden würde die Stadt im Chaos versinken und zu einem Umschlagplatz für Schmuggler und Piraten verkommen, die ihre in den Kolonien unrechtmäßig erworbenen Waren in ganz Europa an den Mann brachten.

Cluskey träumte davon, eines Tages auf den Londoner Straßen spazieren zu gehen, ohne befürchten zu müssen, von hinten erdolcht zu werden. Um das Ziel zu erreichen, wäre eine koordinierte, schlagkräftige Truppe von Ordnungshütern nötig, deren Aufgabe nicht nur in der Prävention von Verbrechen, sondern auch in deren Aufklärung bestünde.

Wie bald sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte, ahnte Cluskey zu dem Zeitpunkt noch nicht. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, angesichts des hysterischen und überspitzten Gekichers der leicht bekleideten Damen, die um ihn und seinen Partner herumtänzelten, nicht die Beherrschung über sich zu verlieren. Schließlich konnte Fourthsdale tun und lassen, was er wollte, wozu auch gehörte, während ihres Rundgangs mit den Dirnen im Hafenviertel zu schäkern. Die Arbeit als Constable – ein Gesetzeshüter, der sich bei Tag als Wachtmeister und des Nachts als Nachtwächter verdingte – wurde zwar von der Regierung zu einem gewissen Teil entlohnt, doch gab es keine Reglementierungen, an die sie sich hätten halten müssen. Fourthsdale wusste dies zu seinem Vorteil auszunutzen und genoss das Ansehen, das mit der Position verbunden war, denn mit nichts haderte er mehr als mit dem Verlust seines Prestiges, seit er sich bewusst gegen ein Leben als Schwerreicher entschieden hatte. Sein Vater, ein öffentlichkeitsscheuer, geheimnisumwitterter Mann, galt als einer der einflussreichsten Großindustriellen des Landes. Fourthsdale war auserkoren gewesen, die Geschäfte fortzuführen, hatte darin allerdings nie seine Bestimmung gesehen. Er wollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, sich nicht von der Macht korrumpieren lassen, die ihm in die Wiege gelegt worden war und die er nur auszunutzen hätte brauchen. Wenn er es also bisweilen genoss, für seine Position als Constable bewundert zu werden, konnte Cluskey das respektieren.

Während Fourthsdale weiter mit den Dirnen schäkerte, lehnte sich Cluskey gegen die Kaimauer und starrte hinaus auf das nächtliche London. Überall brannten Lichter, spielte Musik, lachten und tanzten Menschen durch die Gassen. Die Stadt schlief nie. Wenn die Tagelöhner sich auf den Weg zur Arbeit machten, kehrten die wohlhabenden Bürger von ausschweifenden Feierlichkeiten oder festlichen Banketten zurück. So entstand ein natürlicher Rhythmus, den Cluskey mit der Zeit zu deuten gelernt hatte.

Vom anderen Ufer her wehte ein unangenehmer, fauliger Geruch herüber, der sich nicht recht mit den ausgelassen feiernden Menschen vereinbaren lassen wollte.

Resigniert fuhr er sich durch das schüttere Haar. Obwohl er erst Ende zwanzig war, fiel es ihm aus wie das Fell der streunenden Katze, die ihn jeden Morgen, wenn er müde von der Schicht nach Hause zurückkehrte, an der Treppe zu seiner Wohnung erwartete und laut schreiend ihre Ration an Essenresten einforderte. Gegen Haarausfall hatte noch keiner der modernen Schönheitssaloons, in denen sich die vornehmen Damen und Herrschaften frisieren ließen, ein Mittelchen gefunden. Zu schade!

Mit einem Ruck stieß er sich von der Mauer ab und steuerte auf Fourthsdale und seine Gespielinnen zu. Es wurde Zeit, dass er seinen Partner an die Pflicht erinnerte.

»Die Damen entschuldigen.« Er klopfte Fourthsdale auf den Rücken und schob ihn behutsam vorwärts. »Wir sollten vor Anbruch des Tages noch die Piccadilly Road überprüfen. Zu dieser Zeit wimmelt es dort nur so von armen Schluckern, die die Bürger auf dem Heimweg belästigen. Erst gestern noch wurde einem Hotelier die Geldbörse entwendet.«

Fourthsdale brummte etwas Unverständliches, folgte Cluskey aber in eine schmale Seitengasse, die in Richtung Piccadilly Road führte und unter Ortskundigen als Abkürzung galt. Sie besaß jedoch einen entscheidenden Nachteil: Ohne die Laternen, die an den Häusern der breiteren Straßen montiert waren, herrschte hier fast vollkommene Dunkelheit, und man konnte schnell über ein am Boden liegendes Hindernis stolpern. Stürzte man, fingen einen nicht nur allerlei Unrat und herumstehende Kisten auf, sondern auch Flüssigkeiten, die man sich lieber nicht genauer vorstellen wollte.

In dieser Nacht war ihnen das Glück hold. Unbeschadet durchquerten Cluskey und Fourthsdale das verlassen wirkende Labyrinth aus Gassen und Unterführungen, in denen sich mit Exkrementen vermischtes Regenwasser sammelte, und betraten das Zentrum der Metropole, die City of Westminster. Die Piccadilly Road, nach dem hochgeachteten Schneider Robert Baker und dessen Erfindung, dem steifen Kragen, benannt, stellte die Grenze zwischen dem nördlich gelegenen Stadtteil Mayfair und dem Green Park im Süden dar, weswegen stets reges Treiben auf ihr herrschte.

So auch in dieser Nacht, doch Cluskey brauchte nicht lange, um zu herauszufinden, dass etwas nicht stimmte. Die Ausgelassenheit, mit der die Menschen bis eben noch gefeiert hatten, war wie weggeblasen. Nun blickte er in traurige, teils schockierte Gesichter. Eine alte Frau, die sich auf einer steinernen Mauer niedergelassen hatte, sah mit tränenverschmiertem Gesicht zu ihm auf. Ihre Lippen formten ein stummes Gebet.

Cluskey spürte Beunruhigung in sich aufsteigen und ballte instinktiv die Hände in seinen Manteltaschen zu Fäusten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Schreckliches passiert war. Etwas, das selbst an einem hartgesottenen Constable wie ihm nicht spurlos vorbeigehen würde.

Wirklich alarmierend war, dass die Londoner in der Regel durch nichts aus der Ruhe zu bringen waren. Geschah ein Mord oder eine Vergewaltigung, täuschten sie der Höflichkeit halber Bestürzung vor, scherten sich aber in Wirklichkeit nicht weiter darum, wen dieses Schicksal ereilt hatte oder wer dafür verantwortlich war. Wenn also etwas eine ganze Hauptstraße in Angst und Schrecken versetzte, dann gab es allen Grund zur Besorgnis.

Gerade wollte er sich an die alte Dame wenden, um den Grund für die allgemeine Aufregung zu erfahren, als Constable Winterhorn winkend und schwer atmend auf ihn zugerannt kam.

»Constable Cluskey, welch Glück, dass ich Sie hier antreffe. Man schickt nach Ihnen.«

Cluskey war versucht, Winterhorn mit einem zynischen Kommentar Fourthsdales fragwürdige Zwischenhalte betreffend zu antworten, entschied sich dann aber angesichts der Umstände dagegen und beließ es bei einem nüchternen: »Wer schickt nach mir?«

Der junge, dennoch korpulente Constable mit den struppigen, blonden Haaren und dem rundlichen Gesicht nahm Cluskey beiseite. »Sie werden es nicht glauben, Constable, aber Sir Robert Peel höchstpersönlich.«

»Der Innenminister?« Cluskey hob irritiert die Augenbrauen. »Nun denn, lassen wir die hohen Würdenträger nicht warten!« Weiter kam er nicht. Als die alte Dame plötzlich von der Mauer sprang, brach das Chaos aus.

* * *

»Mit Verlaub«, sagte Winterhorn zehn Minuten später, nachdem sie sich durch die in Panik geratenen Menschenmassen gekämpft hatten. »Ich halte es für keine sonderlich gute Idee, eine Abkürzung durch den Park zu nehmen.«

»Sagen Sie nicht, das abergläubische Geschwätz der alten Frau hat Ihnen Angst eingejagt, Winterhorn«, meinte Fourthsdale, der sich bisher zurückgehalten hatte, belustigt. Die beiden Herren hegten seit jeher eine kaum zu überwindende Antipathie füreinander.

»Gewiss nicht, Mr Fourthsdale«, erwiderte der blonde Constable, »aber als man mir auftrug, nach ihnen beiden zu suchen, hörte ich, wie darüber gesprochen wurde, das Gebiet weitläufig abzuriegeln. Was auch immer geschehen ist, die Verantwortlichen müssen durch den Park geflohen sein.«

Cluskey verzog keine Miene und öffnete das gusseiserne Tor. »Dann halten wir besser die Augen offen!«

Unter dem dichten Blätterwerk der Bäume herrschten Stille und Dunkelheit. Das vor Leben förmlich pulsierende London existierte nicht mehr, die Vegetation des Parks dämpfte alle unnatürlichen Geräusche, filterte die schlechten Gerüche aus der Luft und verdeckte die Sicht.

Der Schrei eines Käuzchens zerriss die Stille. Cluskey spürte, wie Fourthsdale hinter seinem Rücken zusammenzuckte. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass der Park einst eine Begräbnisstätte für Leprakranke gewesen war, konnte ihm Cluskey diese Reaktion nicht wirklich verübeln.

Zu allem Unglück braute sich über ihnen auch noch ein Unwetter zusammen – Nieselregen setzte ein und Wind kam auf.

»Was war das?« Winterhorn blieb stehen und spitzte die Ohren.

»Ich habe es auch gehört«, flüsterte Fourthsdale. »Es kam von rechts.«

Cluskey, der weder mit guten Augen noch Ohren gesegnet war, spähte angestrengt in die Dunkelheit, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Das Wetter musste den Sinnen seiner Kameraden einen Streich gespielt haben. Trotzdem verspürte auch er den Wunsch, den Park schnellstmöglich zu verlassen. Dass sie ihn bei Nacht und ohne Laternen überhaupt betreten hatten, war leichtsinnig gewesen, aber er hatte sich selbst beweisen wollen, dass es keinen Grund gab, sich vor dem scheinbar Übersinnlichen zu fürchten. Denn letztendlich diente der Begriff nur dazu, etwas zu beschreiben, das nicht zu fassen war und für dessen Einschätzung einem die entsprechenden Erfahrungswerte fehlten.

Gerade als der junge Constable seinen Mantel raffen und über die Lichtung marschieren wollte, raschelte es im Gebüsch und ein zugleich zischendes und kehliges Knurren ertönte.

Cluskey erstarrte. Der Laut hatte weder tierisch noch menschlich geklungen, vielmehr wie das Zischen einer Dampfmaschine gepaart mit dem Brüllen eines Löwen.

Cluskeys Herz hämmerte ihm wild gegen die Brust.

Zweige brachen knackend, Laub raschelte, und was immer dort auch auf sie lauern mochte, stimmte ein markerschütterndes Wutgebrüll an und preschte auf sie zu. Das genügte – Winterhorn ergriff kreischend die Flucht, dicht gefolgt von Fourthsdale, der beim Rennen leise wimmerte und schon nach wenigen Yards über eine aus dem Boden ragende Wurzel stolperte.

Lediglich Cluskey verharrte in der Dunkelheit, die Augen weit aufgerissen. Er vermochte sich nicht zu bewegen, den Blick nicht von dem dunklen, etwa mannshohen Schemen reißen, der in rasender Geschwindigkeit auf ihn zugerannt kam. Es war, als hätte der Schock seine Glieder gelähmt. Weniger als zwanzig Fuß trennten ihn noch von dem Wesen, einen Lidschlag entfernt vom Tod.

Im letzten Augenblick überwand Cluskey seine Starre und warf sich zu Boden. Zu spät! Das Wesen prallte, noch während er fiel, mit einer ungeheuren Wucht gegen ihn, und er wurde zurückgeschleudert.

Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Das Wesen hatte es noch schlimmer erwischt. Durch den eigenen Schwung getragen, wurde es über ihn hinweg auf den harten Lehmboden geschleudert, wo es sich überschlug und schließlich liegen blieb. Cluskey vernahm deutlich, wie der Kreatur mehrere Knochen im Leib brachen und verspürte trotz des tätlichen Angriffs auf sein Leben einen Anflug von Mitgefühl. Es war verletzbar und spürte, nach den klagenden Schreien zu urteilen, durchaus Schmerzen.

Cluskey rappelte sich auf und humpelte selbstsicher auf das Wesen zu. Das Adrenalin, das durch seine Blutbahnen rauschte, unterdrückte jegliches Angstgefühl.

Nebelschwaden, in denen sich fahles Mondlicht brach, waberten von der Themse her über die Lichtung und krochen wie körperlose Geister auf das Wesen zu. Dieses rollte sich schlagartig zur Seite, richtete sich auf und verharrte, ein Bein angewinkelt, in der Hocke, von wo aus es Cluskey mit schiefgelegtem Kopf ansah. Zwei überaus menschliche Augen zuckten unruhig in ihren Höhlen, und als eine Wolke, die sich vor den Mond geschoben hatte, weiterzog, blickte Cluskey in das Gesicht des Mannes. Es kam ihm bekannt vor. Wo hatte er es schon einmal gesehen? Graumelierte Haare hingen dem Mann zerzaust vom Schädel, seine Wangenknochen stachen unnatürlich heraus, und seine edlen Gewänder aus blauer und roter Seide starrten vor Dreck. Trotzdem spiegelte sich in seinen Zügen ein Ausdruck wider, der Cluskey nur allzu vertraut war: Überheblichkeit! Überheblichkeit, die von einem sardonischen, wahnsinnigen Grinsen überlagert wurde.

Bevor Cluskey den Mann erreichte, sprang der, einem Frosch gleich, kichernd davon. Trotz der Knochenbrüche, die er erlitten hatte.

»Was in drei Teufels Namen war das?«, schrie Fourthsdale hysterisch.

Cluskey half ihm keuchend auf. »Nicht was, sondern wer, mein Freund. Hast du sein Gesicht gesehen? Es war aus Fleisch und Blut, nicht das eines Dämons.«

»Und woher weißt du, wie ein Dämon aussieht? Dieses Zischen und Kreischen …« Fourthsdale zitterte bei dem Gedanken.

Cluskey wollte zu einer Erwiderung ansetzen, da erregte ein merkwürdiges Funkeln im Gras seine Aufmerksamkeit. Er griff nach der Quelle, und seine Finger schlossen sich um eine harte, goldene Kette, an deren Ende ein gleichfarbiger, achtzackiger Stern baumelte, in den ein roter Edelstein eingefasst war. Nun wusste er, woher er den wahnsinnigen Mann kannte. Eine unheilvolle Vorahnung beschlich ihn. Fourthsdale im Schlepptau rannte er auf den Palast zu.

* * *

Sir Robert Peel war ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit rötlich blonden Haaren, langen Koteletten und schmalem Gesicht. Seine Finger waren ungewöhnlich feingliedrig und wiesen Anzeichen einer frühen Arthritis auf. Den schwarzen Frack trug er mit einer solchen Würde, dass er über seine geradezu zerbrechliche Figur hinwegtäuschte und ihm Autorität verlieh. Dennoch schien er gereizt, knetete sich unablässig das Kinn und wanderte im Entree auf und ab, wo unzählige Gardisten der Grenadier Guards, Nachtwächter und Bedienstete aufgeregt umherschwirrten.

Als Peel drei Männer auf den Palast zukommen sah, rückte er seinen Zylinder zurecht, schob sich das Lorgnon auf die Nase und verscheuchte die Anwesenden. Den Gardisten gab er ein Zeichen, die Ankömmlinge passieren zu lassen.

Fourthsdale trat als Erster über die Schwelle und sah sich aufmerksam um, so als befürchte er einen Angriff. Cluskey ließ sich davon nicht beirren, umrundete ihn und ging zielstrebig auf Peel zu, der den Herrschaften Fourthsdale und Winterhorn kurz zunickte. »Gentlemen!«

Dann nahm er Cluskey beim Arm und führte ihn von den anderen fort. »Ich bedauere, Sie zu einem solch unerfreulichen Anlass kennenzulernen, Mr Cluskey, aber wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen. Wenn Sie mir bitte folgen möchten, die Zeit drängt. Auf dem Weg werde ich Ihnen all Ihre Fragen beantworten.«

Cluskey zögerte nur kurz, bevor er Peel in einen langgezogenen Korridor folgte. Die Direktheit des Mannes gefiel ihm. Ein Politiker, der sich nicht mit unnötigen Höflichkeitsfloskeln aufhielt.

»Wofür benötigen Sie meine Dienste, Sir?«

»Tun Sie nicht so bescheiden, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. 126 Verhaftungen in zwei Jahren, das bleibt nicht unbemerkt.«

Der Innenminister wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Was auch immer geschehen war, setzte ihm offenbar stark zu.

»Wie Ihnen unschwer entgangen sein dürfte, wurden die Hallen des Buckingham Palace zum Schauplatz eines grauenhaften Verbrechens. Es in Worte zu fassen, fällt mir immer noch schwer, zumal wir in Hinsicht auf die Ursache und die Beweggründe im Dunkeln tappen. Ich schlage vor, Sie machen sich selbst ein Bild.«

In dem Moment bemerkte Peel die goldene Kette mit den sternförmigen Zacken in Cluskeys Händen.

»Grundgütiger!«, entfuhr es ihm.

Das gab Cluskey Gewissheit. Er hatte sich nicht geirrt. In den Händen hielt er tatsächlich den Adlerorden König Georg IV. Und die Schlussfolgerung, die sich daraus ableitete, war alles andere als beruhigend: Die Gestalt im Park war der König von England gewesen. Der Mann, der über ein ganzes Kolonialreich herrschte und in den die Menschen ihr Vertrauen setzten. Ihn geifernd und dem Wahnsinn anheimgefallen durch die Straßen der Metropole streunend zu wissen, musste Peel, der als Innenminister für die politische Stabilität im Land verantwortlich war, um den Verstand bringen.

Vor ihnen teilte sich der mit hellen Marmorfliesen gekachelte Korridor. Schon von Weitem erkannte Cluskey, wohin Peel ihn führte: zum Festsaal. Die schweren, mit Gold beschlagenen Türflügel aus dunklem Ebenholz standen offen und ließen das Ausmaß der Verwüstung im Saal erahnen. Als sie näher kamen, sah Cluskey umgestürzte Tische und Stühle, zerbrochenes Geschirr, wie von Klauen zerfetzte Vorhänge und an den Wänden klebende Essensreste. Sogar die Mosaikfliesen waren zertrümmert, so als hätte man sie mit einem stumpfen Gegenstand bearbeitet. Zudem war alles von einer feinen, roten Schicht überzogen, die sich beim genaueren Hinsehen als Teppich aus zerstäubten Bluttropfen entpuppte. Die Leichen lagen überall im Raum verteilt: entstellte Leiber, denen ganze Hautstücke herausgerissen worden waren. Einer jungen Frau mit weißer Schürze fehlten die Augen, und Cluskeys Blick verlor sich für einen Moment in den klaffenden Löchern. Es war ein ekelerregender Anblick. Seine Nackenhärchen stellten sich vor Abscheu auf.

In seinem Leben hatte er viele Tatorte aufgesucht, aber keiner hatte ein solches Entsetzen in ihm ausgelöst. Für gewöhnlich ergaben die Morde, so grausam sie auch sein mochten, stets einen Sinn. Hier aber herrschte das Chaos, und der Zustand der Leichen zeugte von animalischer, unkontrollierter Brutalität.

»Die Toten, sie gehören weder der königlichen Familie noch dem Hochadel an«, stellte Cluskey fest, als er neben einem zerborstenen Servierwagen in die Hocke ging.

»In der Tat«, brachte Peel gerade noch heraus, ehe er, die Hände vor den Mund gepresst, aus dem Saal stürmte. Wäre die Lage nicht so angespannt gewesen, Cluskey hätte gelächelt. Er vergaß nur zu gerne, dass andere Menschen an den Anblick von Blut und Gedärmen nicht so gewöhnt waren wie er selbst.

Außer ihm hielt sich niemand mehr im Raum auf. Oder irrte er sich? Er meinte, ein leises Wimmern gehört zu haben und watete durch das Trümmerfeld auf die Quelle des Geräuschs zu, einen schweren, dunklen Flügel, dem die beiden vorderen Beine fehlten. Dadurch hatte sich zur Wand hin ein Hohlraum unter dem Instrument gebildet, dessen Bauweise das Wimmern akustisch noch verstärkte.

Cluskey ging in die Knie. Im Hohlraum zusammengekauert, saß ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren, der sich schützend die Hände vors Gesicht hielt. Dunkelbraune Locken fielen darüber.

»Bitte, tut mir nichts!«

Die Worte klangen fremd in Cluskeys Ohren. Der junge Mann in der weißen Weste sprach eine andere Sprache. Dem Klang nach zu urteilen deutsch. Beschwichtigend hob Cluskey die Hände, die Handinnenflächen zeigten nach außen.

»Alles wird gut, Sie sind jetzt in Sicherheit.« Er vertraute auf die beruhigende Wirkung seiner Stimme. Ob der Fremde nun verstand, was er sagte, oder nicht.

»Ihr seid nicht wie sie«, sagte dieser nach einer Weile des Schweigens in brüchigem Englisch. Wen er damit meinte, lag auf der Hand. Dazu bedurfte es keiner Ermittlungen, nur eines gesunden Menschenverstands. Cluskey wollte einfach nicht glauben, dass der König und sein Hofstaat die Dienerschaft abgeschlachtet hatten.

Er ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, das hatte er in den Jahren als Constable gelernt. Mit dem Fremden hatte er indes einen Zeugen gefunden, der das Blutbad mit eigenen Augen mit angesehen hatte. Behutsam tastete er sich vor.

»Verstehen Sie mich?«

Ein Nicken.

»Gut. Verraten Sie mir, wie Sie heißen?«

Der Fremde bedachte Cluskey mit einem abschätzenden Blick und kroch dann aus seinem Versteck.

»Mein Name ist Bartholdy, Felix Mendelssohn-Bartholdy.«

Was für ein außergewöhnlicher Name, dachte Cluskey und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Der Deutsche hatte seine Fassung offenbar wiedererlangt und würde ihm vielleicht helfen, den Tathergang zu rekonstruieren.

»Man bat mich, beim Bankett Seiner Majestät aufzuspielen. Ich bin Pianist.«

Cluskey hob beeindruckt die Augenbrauen. Es zeugte von Mut und Selbstbewusstsein, sich in Bartholdys Alter allein auf eine Konzertreise in einem fremden Land zu begeben. Ganz abgesehen von dem Talent, das der junge Mann unzweifelhaft besitzen musste.

»Hören Sie, Felix, ich muss wissen, wie es zu dem Blutbad gekommen ist. Ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben, aber es ist von äußerster Wichtigkeit, dass Sie mir alles im Detail schildern, damit die Täter nicht ungeschoren davonkommen.«

Der junge Pianist schien unschlüssig, nestelte nervös mit den Fingern an den Knöpfen seiner Weste herum. »Sie würden mich der Lüge bezichtigen, wenn ich Ihnen die Wahrheit erzählte.«

»Draußen im Park lauerte mir der König auf und griff mich aus dem Hinterhalt wie ein tollwütiges Tier an. Glauben Sie mir, eher würde ich an meinem eigenen Verstand als an Ihren Worten zweifeln.«

Bartholdy entspannte sich. »Der König war der Erste, bei dem die Verwandlung einsetzte.«

»Eine Verwandlung? Inwiefern?«

»Seine Stimmung schlug schlagartig um. Das Fest war im vollen Gange, die Gäste feierten ausgelassen, bis Seine Majestät wutentbrannt eine Platte mit Früchten durch den Raum schleuderte. Im ersten Moment hielt ich es für einen übermütigen Spaß und schrieb es dem Weinkonsum zu, aber als Seine Majestät Herzog von Clarence eine schallende Ohrfeige verpasste, unterbrach ich mein Spiel. Es wurde still, totenstill.

Aber die Ruhe hielt nicht lange an. Einige der Hochwohlgeborenen fassten sich an den Kopf, als hätten sie Schmerzen, während der König einem eingesperrten Raubtier gleich durch den Saal schlich. Was ich ihm in Anbetracht seiner Leibesfülle und seines gesundheitlichen Zustands gar nicht zugetraut hätte. Ich bekam es mit der Angst zu tun, rührte mich allerdings, in der Befürchtung, es könne sich um eine Tradition oder ein altes, mir unbekanntes Ritual handeln, nicht vom Fleck.

Als Herzog von Clarence wie am Spieß schreiend vom Stuhl fiel, sich aufrappelte und auf allen vieren durch den Raum krabbelte, konnte ich nicht länger an mich halten und kroch in meiner Angst unter den Flügel. Und was dann geschah, lässt sich kaum mit Worten beschreiben. Die Türen gingen auf, und die Dienstmädchen kamen herein, um die Gedecke abzuräumen. Sie bewegten sich zögerlich, denn auch sie spürten, dass etwas nicht stimmte. Der Körper des Königs zuckte, und sein Atem begann zu zischen. Blitzschnell packte er eines der Mädchen, stieß ihr mit den Fingern die Augen aus und schleuderte sie gegen die Wand. Die Gäste schrien panisch auf, doch auch bei ihnen hatte die Verwandlung bereits eingesetzt. Nacheinander fielen sie dem Wahnsinn anheim und schlachteten sich gegenseitig und die Dienerschaft ab.«

Bartholdy verstummte, sein Blick ging ins Leere. Cluskey hatte aufmerksam und gleichzeitig entsetzt zugehört. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Darüber hinaus war er ratlos. Wie sollte er herausfinden, was die Verwandlung ausgelöst hatte oder verhindern, dass der britische Adel über die Bevölkerung Londons herfiel? Ihm war bewusst, dass Peel ihn gerufen hatte, um die Lage zu entschärfen und zu verschleiern, denn wenn erst bewaffnete Truppen durch die Straßen zogen, würden sich die Gerüchte schneller ausbreiten als ein Lauffeuer. Die Folgen für das Empire wären nicht abzusehen. Aber das Wissen darum brachte ihn auch nicht weiter. Er musste mit Peel sprechen.

Unvermittelt brach auf dem Flur ein Tumult aus. Mehrere bewaffnete Gardisten stürmten den Festsaal. Mit geschulterten Infanteriegewehren umstellten sie Cluskey und den jungen Pianisten.

»Die Hände über den Kopf! Da, wo ich sie sehen kann«, grollte eine tiefe Stimme. Durch die Reihen der Soldaten schritt ein schnauzbärtiger Mittsechziger, dessen polierte Stiefel wie das königliche Tafelsilber funkelten und dessen Uniform stramm am Körper saß. Die Hand hatte er an den Infanteriesäbel gelegt. Sein Gang war steif, das Gesicht versteinert.

Peel stürmte nur wenige Augenblicke darauf in den Saal und kämpfte gegen einen Würgereiz an.

»Nehmt die Waffen runter! Generalleutnant Lafayette, die Männer gehören zu mir.« Er bedachte Bartholdy mit einem irritierten Blick, schwieg aber.

Lafayette grunzte verächtlich, während die Gardisten die Gewehre senkten.

»Meine Männer werden von nun an übernehmen, Minister. Dieser Zwischenfall fällt unter die Zuständigkeit des Militärs!« Respekt für den ranghohen Politiker schien der Generalleutnant nicht zu empfinden.

»Ich muss Sie enttäuschen, Lafayette«, konterte Peel überraschend selbstbewusst. »Da Seine Majestät, König Georg IV., sich zurzeit nicht in der Verfassung befindet, die Amtsgeschäfte zu führen, hat die Herzogin Mildred von Yorkshire in absentia den Oberbefehl über die Truppen übernommen und Constable Cluskey mit den Ermittlungen betraut.«

»Ein freiwilliger Wachtmeister?« Lafayette schnaubte verächtlich. »Das wird ein Nachspiel haben, Peel!«

»Ich lasse es darauf ankommen.«

Nachdem Lafayette und seine Männer abgezogen waren, atmete Peel erleichtert auf. Cluskey erzählte ihm, was er von Bartholdy erfahren hatte. Der Innenminister verfiel daraufhin in Schweigen, wandte sich dann aber Bartholdy zu.

»Sie waren uns eine große Hilfe, Mr Bartholdy. Ich werde einen Constable abstellen, der Sie zu Ihrer Herberge begleitet.«

Der junge Pianist nickte dankbar. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Erschöpfung ab. Nach den Erlebnissen dieser Nacht würde er alles andere als ruhig schlafen. Auf dem Weg zum Korridor drehte er sich noch einmal um, als wolle er etwas sagen, schüttelte dann aber gedankenverloren den Kopf und ließ sich von einem Nachtwächter in schwarzem Mantel hinausgeleiten.

Cluskey betete insgeheim, dass sich der junge Mann bald von dem schrecklichen Blutbad erholen würde. Er wollte sich nicht ausmalen, wie es dem Deutschen ergangen wäre, wenn Lafayette ihn verhört hätte.

»Es war mutig von Ihnen, den Generalleutnant zu belügen, Sir«, sagte Cluskey an Peel gerichtet.

»Ihn belügen?« Der Innenminister legte die Stirn in Falten.

»Ich meine, wie Sie ihm erzählt haben, dass ich von der Herzogin von Yorkshire mit den Ermittlungen betraut wurde«, erklärte sich Cluskey.

»Nein, da haben Sie wohl etwas missverstanden. Meine Instruktionen erhielt ich tatsächlich von der Herzogin. Sie ist die Einzige, die von der schrecklichen Seuche«, Peel spuckte das Wort förmlich aus, »verschont blieb. Sie steht zwar unter Schock, stellt jedoch in Anbetracht der prekären Lage unsere letzte Hoffnung für eine friedliche Abwendung der Krise dar. Unter keinen Umständen darf das Militär die Kontrolle übernehmen. Daher haben die Herzogin und meine Wenigkeit auch den Entschluss gefasst, eine Behörde, deren Aufgabe in der Aufklärung und Prävention von Verbrechen bestehen soll, ins Leben zu rufen. Bis zur Ratifizierung durch das Parlament wird sie ihre Arbeit unter dem Decknamen ›Scotland Yard‹ aufnehmen.«

»Scotland Yard.« Cluskey wiederholte den Namen leise. Der Gedanke gefiel ihm. Endlich ein Schritt in die richtige Richtung. Durch ein zentrales Organ, das den Einsatz von Ordnungshütern koordinierte, würde die Kriminalitätsrate in Zukunft deutlich sinken.

»Mr Cluskey, ich ernenne Sie hiermit feierlich zum Leiter des Yards und stelle Sie vor Ihre Feuerprobe, die darin bestehen wird, die Geschehnisse der heutigen Nacht zu durchleuchten, eine Erklärung für das aggressive Verhalten des Königs und seiner Gefolgschaft zu finden und auf Fremdeinwirkungen hin zu überprüfen. Was dem König und seinen Gästen widerfahren ist, entbehrt jeglicher Logik, aber, wenn wir Teufelswerk außer Acht lassen, muss es eine rationale Erklärung geben. Irgendetwas muss in ihnen den Drang zu töten ausgelöst und ihren Geist vernebelt haben. Während meiner Abwesenheit habe ich Rücksprache mit dem Leibarzt Seiner Majestät gehalten und von ihm erfahren, dass keine uns bekannte Krankheit oder Seuche einen derartigen Verlauf nimmt.«

Cluskey strich sich über das Kinn. »Gibt es Meldungen über vergleichbare Fälle in der Stadt? Menschen, die scheinbar aus dem Nichts eine ungewöhnliche Gewaltbereitschaft an den Tag legen?«

»Nein, und wir können nur beten, dass es auch so bleibt!«

»Wohl wahr, aber daraus lässt sich zumindest schließen, dass dieses Phänomen, diese scheinbar grundlose Raserei auf den Festsaal begrenzt war oder zumindest hier ihren Anfang genommen hat. Zudem erscheint eine wie auch immer geartete Infektion unwahrscheinlich, da der Wahnsinn unter allen Betroffenen in etwa zur selben Zeit ausbrach. Eine Krankheit, selbst wenn sie durch das Mahl ausgelöst wurde, hätte zumindest etwas verzögert bei den einzelnen Betroffenen gewirkt.«

Dass Gift die wahrscheinlichste Erklärung für den Zwischenfall war, behielt Cluskey vorerst für sich. Nichts war unpassender, als Vermutungen zu äußern, bevor man alle Möglichkeiten und wahrscheinlichsten Ursachen durchgegangen war.

Aber es gab noch etwas anderes, über das er sich Klarheit verschaffen musste: die Herzogin. Warum war sie verschont geblieben? Peel hielt es für einen glücklichen Zufall, aber genau das hatte Cluskeys misstrauisch werden lassen – er glaubte nicht an Zufälle und noch weniger an das Schicksal, dem es Mildred von Yorkshire verdankte, nun zumindest übergangsweise eine der mächtigsten Frauen im Land zu sein.

Cluskey wurde das Gefühl nicht los, lediglich einer großen Inszenierung beizuwohnen. Aber auch das würde ihn nicht davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden.

Er winkte einen Gardisten zu sich heran und ließ nach Fourthsdale und Winterhorn schicken, die kurze Zeit später den Festsaal betraten.

»Herr steh uns bei!«, entfuhr es Winterhorn bei dem grauenhaften Anblick. Auch Fourthsdale musste sich Halt suchend an der Flügeltür abstützen. Fassungslos starrten die beiden Constables auf die Überreste des Gemetzels.

»Meine Herren«, sagte Cluskey und versuchte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich wurde soeben darüber informiert, dass der Innenminister beabsichtigt, eine neue Polizeibehörde namens Scotland Yard ins Leben zu rufen, die offiziell mit den Ermittlungen zu diesem außergewöhnlichen Verbrechen betraut ist. Es wird natürlich Zeit brauchen, bis wir eine vertrauenswürdige Mannschaft zusammengestellt und die nötigen Formalien in die Wege geleitet haben. Solange die Vorbereitungen laufen, tragen wir dafür Sorge, dass die Situation nicht außer Kontrolle gerät.«

»Und wie sollen wir das anstellen?«, fragte Fourthsdale ungläubig. »Wenn ich alles richtig verstanden habe, laufen die Gefolgsleute des Königs wie wildgewordene Tiere durch die Straßen und terrorisieren die Bevölkerung.«

»Deshalb müssen wir sie einfangen und an einem sicheren Ort unterbringen, wo sie weder sich selbst noch anderen Schaden zufügen können. Constable Winterhorn!« Cluskey bedachte den jungen Mann mit einem eindringlichen Blick. »Ich will, dass Sie Mr Flanagan und Mr Morgan finden. Die beiden Herrschaften sind aufgrund ihrer exzellenten körperlichen Verfassung wie geschaffen für diese Aufgabe. Sie sollen jeden verfügbaren Wachtmeister mitnehmen und die Straßen um den Buckingham Palace systematisch durchkämmen. Ich glaube, ich muss nicht daran erinnern, dass tödliche Gewalt nur als letzter Ausweg in Betracht gezogen werden sollte. Der König befindet sich ohnehin schon in einer desolaten gesundheitlichen Verfassung. Flanagan und Morgan sollen den Leibarzt Seiner Majestät hinzuziehen, sobald sie ihn gefunden haben. Und wenn Ihnen Generalleutnant Lafayette dazwischenfunkt, erinnern Sie ihn an seine Zuständigkeiten. Es fehlt uns gerade noch, dass das Militär bewaffnet durch die Straßen zieht.«

Winterhorn schienen tausend Fragen durch den Kopf zu gehen, doch der junge Constable nahm pflichtbewusst Haltung an und nickte knapp, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte, um die Suche nach dem König und seiner Gefolgschaft zu koordinieren. Als er um die Ecke verschwunden war, wandte sich Cluskey seinem Partner zu. »Ich hoffe, ich kann in dieser Angelegenheit auf deine volle Unterstützung bauen.«

Cluskey spielte auf die zahlreichen Gelegenheiten an, bei denen Fourthsdale seine Pflicht zugunsten privater Vergnügungen hatte schleifen lassen.

Fourthsdale sah Cluskey direkt in die Augen, während er ihm versicherte, keine Sekunde eher zu ruhen, bis die Täter dingfest gemacht wären. »Die Situation ist viel zu heikel, als dass wir uns auch nur den kleinsten Fehler erlauben könnten«, sagte er entschieden. »Wenn die Menschen erfahren, wer da draußen durch die Straßen tollt, dann wird die Stadt im Chaos versinken.«

Cluskey klopfte seinem Partner kameradschaftlich auf die Schulter. »Ich bin froh, auf dich zählen zu können. In diesen schweren Stunden müssen wir geschlossener denn je auftreten, wenn wir der Lage Herr werden wollen.«

»Was soll ich tun?«, fragte Fourthsdale, und an seiner Stimme erkannte Cluskey, dass er sich allmählich von dem Schock im Park und hier am Ort des grausamen Geschehens erholte. »Ich möchte, dass du alle Constables und Nachtwächter zusammentrommelst und die kühnsten und fähigsten unter ihnen auswählst. Wir brauchen Männer, die selbst im Angesicht eines solch abscheulichen Verbrechens einen kühlen Kopf bewahren. Peel hat versprochen, uns geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, von denen aus wir die Ermittlungen koordinieren. Es ist an uns, das Yard aufzubauen. Wir brauchen eine klare Hierarchie, müssen Abteilungen schaffen, die Hand in Hand bei der Aufklärung von Verbrechen arbeiten, Constables, die vor Ort Zeugenaussagen aufnehmen und Spuren sichern und solche, die notwendige Hintergrundrecherchen durchführen. Und wir benötigen fähige Wissenschaftler, ein Labor, um Proben auszuwerten und …«

»Es war eine lange, harte Nacht, mein Freund«, meinte Fourthsdale und legte Cluskey beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm. »Wir sollten uns ausruhen, um für die morgigen Ermittlungen gewappnet zu sein. Der Fall stellt unsere Fähigkeiten auf die Probe. Übermüdet besteht die Gefahr, falsche Entscheidungen zu treffen und zu scheitern. Winterhorn koordiniert die Suche nach dem König, derweil sollten wir uns um ein paar Stunden Schlaf bemühen.«

Obwohl er voller Tatendrang war, spürte Cluskey eine bleierne Müdigkeit in den Knochen, und widerwillig stimmte er Fourthsdale zu. Sein Partner mochte bisweilen dem Müßiggang im Übermaß frönen, doch diesmal hatte er recht. Cluskey würde all seine geistigen Fähigkeiten benötigen, wenn er die Hintergründe des Massakers aufdecken wollte. Und er zweifelte nicht daran, dass irgendwas oder irgendjemand die Raserei herbeigeführt hatte.

Erschöpft verabschiedete er sich von Fourthsdale, gab noch einige letzte Anweisungen und machte sich auf den Weg zurück zu seiner Wohnung.

* * *

In den verbleibenden Nachtstunden wälzte sich der junge Constable unruhig im Bett. Die grauenvollen Ereignisse, die sich im Buckingham Palace zugetragen hatten, ließen ihm keine Ruhe. Immer wieder schreckte er hoch, das angstgeweitete, zerfleischte Gesicht eines der Opfer vor Augen. Wer war zu so etwas nur fähig? Und wie war es dem Täter gelungen, gleichzeitig unter allen Anwesenden einen solchen Wahnsinn ausbrechen zu lassen? Nein, nicht allen Anwesenden!

Im Halbschlaf ging Cluskey die Ereignisse, die ihm der deutsche Pianist geschildert hatte, noch einmal durch. Nur der König und seine Gefolgschaft waren in Raserei verfallen, nicht die Dienerschaft. Dass die Adligen Opfer eines Anschlags geworden waren und keine Täter, wie es zunächst den Anschein hatte, stand für ihn zweifelsfrei fest. Deshalb hatte er keine Sekunde in Erwägung gezogen, dass die Dienerschaft ebenso der Gefahr ausgesetzt gewesen war. Über die Luft hatte er sich also nicht verbreitet, auch nicht zwischen den Anwesenden, da das Hofpersonal keinerlei Symptome gezeigt hatte. Folglich musste sich etwas, und das war von Anfang an Cluskeys Vermutung gewesen, in dem Essen oder dem Wein befunden haben. Wenn aber kein bekanntes Gift oder keine gewöhnliche Krankheit, so schwerwiegend sie auch sein mochte, solche Zustände auslöste, was war es dann gewesen? Und wie war es bei den strengen Kontrollen in die Nahrung gelangt?

Cluskey spürte, dass die Dimensionen dieses Falls alles überstiegen, woran er bisher gearbeitet hatte. Obwohl ihn die Herausforderung reizte, den Verantwortlichen das Handwerk zu legen, löste die Vorstellung, dass irgendjemand in der Lage war, das Festmahl des Königs so zu manipulieren, dass auf einen Schlag nahezu der gesamte einflussreiche Adel des Empires ausgeschaltet wurde, größtes Unbehagen in ihm aus.

Angesichts der angespannten politischen Situation bestand die Gefahr, dass jede noch so kleine Erschütterung eine Krise zeitigte … im schlimmsten Fall eine Revolution. Und ein wahnsinnig gewordenes Königshaus war eine gewaltige Erschütterung, ein machtpolitisches Beben, das sich über das gesamte Empire ausbreiten würde!

Er musste unbedingt mit Mildred von Yorkshire sprechen. Nicht nur, dass die alte Dame neben Felix Mendelssohn Bartholdy als Einzige das Massaker unbeschadet überstanden hatte und so wertvolle Hinweise zu liefern vermochte, sie war nun neben dem Premierminister die einflussreichste politische Figur im ganzen Reich. Und die Einzige, die dem forschen Generalleutnant Lafayette und seinen Truppen jetzt noch Einhalt gebieten konnte. Es dämmerte bereits, als Cluskeys rotierende Gedanken endlich zur Ruhe kamen und er in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Zwei Stunden später weckte ihn ein energisches Klopfen an der Tür. Davor stand Constable Winterhorn, die Hände in die Seiten gestemmt. Die geröteten Wangen und der Schweiß auf seiner Stirn zeugten davon, dass er gerannt war. »Wir haben den König und einen Großteil seiner Gefolgschaft eingefangen«, sagte er zwischen zwei Atemzügen. »Sie wurden in ein stillgelegtes Gebäude bei den Docks in Rotherhithe gebracht.«

Cluskey wollte gerade ansetzen, Winterhorn für die erfreulichen Neuigkeiten zu danken, als er den entsetzten Ausdruck in den Augen des jungen Mannes bemerkte. »Ist Seiner Majestät etwas zugestoßen?«, fragte er stattdessen, und seine Stimme hatte einen drängenden Unterton angenommen. »Winterhorn, so antworten Sie schon!«

Der beleibte Constable schluckte nur schwer. Sein Blick ging an Cluskey vorbei ins Leere. Er hatte etwas gesehen, das ihn zutiefst verstörte. »Es gab einen Zwischenfall«, sagte er schließlich gepresst. Bevor Cluskey nachhaken konnte, deutete er mit gesenktem Kopf in Richtung der Docks. »Sie wollen sich vielleicht lieber selbst ein Bild der Lage verschaffen, Sir.«

Cluskey griff nach seinem Mantel und wollte schon die Tür hinter sich zu ziehen, als ihn Winterhorn zurückhielt. »Sie werden ein Tuch brauchen, um es sich vor Mund und Nase zu halten.«

* * *

Die Kirchturmuhren schlugen bereits zwölf, als Cluskey und Winterhorn bei den Greenland Docks aus der Kutsche stiegen. In der Luft hing ein fauliger, fischschwangerer Geruch, der von dem aufgewühlten Brackwasser herrührte, das in gleichmäßigen Abständen gegen die Kaimauern schwappte. Nebelschwaden zogen von der Themse her über die Hafengebäude hinweg und hüllten die Szenerie in ein tristes, diesiges Gewand.

Unwillkürlich zog Cluskey seinen Mantel enger. Die Kälte wollte ihm nicht aus den Knochen weichen. Es war die Vorahnung von dem, was ihn gleich erwarten würde, die ihn frösteln ließ.

Zwischen zwei verlassen wirkenden Warenhäusern führte ein schmaler Gang zum Kai, an dem sich Kisten und Fischernetze stapelten. Algen- und Moosteppiche bahnten sich ihren Weg über den feuchten Steinboden und verwandelten die Strecke in eine Rutschpartie. Cluskey strauchelte zweimal. Winterhorn ging weiter energischen Schrittes voraus. Er schien die vor ihnen liegende Aufgabe nur noch hinter sich bringen zu wollen. Cluskey spürte, dass der Fall den Nachwuchs-Constable an seine Grenzen brachte. Winterhorn mochte ein fähiger Ermittler mit einem wachen, lernwilligen Verstand sein, aber er besaß auch eine rücksichtsvolle, sensible Seite, die ihm in Situationen wie dieser zum Verhängnis werden konnte. Er musste zwar noch lernen, sein Herz im richtigen Moment vor den grausamen Bildern zu verschließen, denen sie bei ihrer Arbeit begegneten, aber sobald es erforderlich wurde, sich in das Opfer oder den Täter hineinzuversetzen, dann entfaltete Winterhorns feinsinniges Wesen sein volles Potenzial. Der junge Constable war in der Lage, unterbewusst ein treffendes Profil des Täters zu erstellen. Als würde er für einen Moment in seine Haut schlüpfen. Cluskey hatte diese besondere Begabung von Anfang an bei Winterhorn gespürt, weshalb er ihn auch unter seine Fittiche genommen hatte.

Seinem Partner Fourthsdale gingen diese Empfindungen ab. Was das Opfer durchlitten haben mochte, seine Ängste, Schmerzen, Verzweiflung … berührten ihn wenig. Ihn interessierte einzig und allein die Aufklärung des Falls. Er besaß durchaus Sinn für Gerechtigkeit, ging mit den Schuldigen aufs Schärfste ins Gericht, aber er besaß kein Taktgefühl, kein Gespür dafür, wann ein behutsames, verständnisvolles Vorgehen gefragt war. Dabei gaben die Menschen viel mehr wertvolle Informationen preis, wenn sie sich sicher in der Gegenwart eines Constables fühlten. Cluskey hatte seine Befragungstechniken über die Jahre perfektioniert, preschte an der passenden Stelle vor und bohrte nach, zog sich aber genauso schnell wieder zurück, wenn er merkte, dass sein Gegenüber zögerte. Dennoch schätzte er in brenzligen Situationen Fourthsdales beherztes, kompromissloses Zugreifen. Manchmal half nichts als rohe Gewalt, um einen Verdächtigen zum Reden zu bewegen oder zu überwältigen, wenn er die Flucht zu ergreifen drohte.

»Wir müssen den Steg nehmen«, sagte Winterhorn und riss Cluskey aus seinen Gedanken.

Der Weg am Kai entlang wurde durch ein trutziges Gebäude versperrt, das über die Hafenmauern hinausragte. Cluskey schätzte, dass es sich dabei um eine Befestigungsanlage aus der Zeit Elisabeths I. handelte – ein Überbleibsel aus einer Epoche, in der das Empire noch die spanische Vormachtstellung auf den Weltmeeren fürchten musste. Als es noch nicht der Hybris anheimgefallen war, dass ihm keine fremde Macht gefährlich werden könnte.

Ein Holzsteg, der schon nach wenigen Yards vom Nebel verschluckt wurde, führte an dem Wehrbau vorbei über das dunkle, bedrohlich schäumende Wasser der Themse. Wie um sie zu warnen, frischte der Wind auf, als Cluskey auf die Bohlen trat, die unter jedem Schritt vernehmlich knarzten. Kein Boot war weit und breit zu sehen, die Arbeit an diesem Teil der Docks war zum Erliegen gekommen.

Der Steg führte zur Rückseite des Gebäudes, wo ein massives, messingbeschlagenes Eichenportal in die Wehrmauer eingelassen war – groß genug, um einen Fuhrwagen mit Versorgungsgütern hindurchzulassen. Oder eine Kutsche mit gefesselten, wahnsinnig gewordenen Aristokraten.

Kaum hatte Winterhorn angeklopft, öffnete sich auch schon die eine Seite des Portals.

»Willkommen in den Privatkerkern Ihrer Majestät, Gentlemen! Wo die Ketten vergoldet und die Gitterstäbe in purpurnen Samt geschlagen sind.«

Ein schmales Lächeln stahl sich in Cluskeys Züge. Solange Mr Morgan seinen Humor noch nicht verloren hatte, bestand Hoffnung. Außerdem half die unbeschwerte Art des Walisers, die Beklommenheit abzuschütteln, die von ihm Besitz ergriffen hatte, seit sie aus der Kutsche gestiegen waren.

Cluskey klopfte dem Hünen kameradschaftlich auf den Oberarm. »Die Umstände könnten erfreulicher sein, aber es tut gut, dich zu sehen, Adalar.«

»Nur, weil du ohne mich nicht wüsstest, wie du diese … Meute –«, Morgan warf einen Blick auf den Abgang hinter sich, »– unter Kontrolle halten solltest.«

»Daran mag es auch liegen.«

Die beiden Männer grinsten, doch es war nur ein Versuch, ihre Besorgnis zu überspielen. Sie kannten sich bereits seit ihrer Kindheit. Morgans Vater war nach dem frühen Tod seiner Frau auf der Suche nach Arbeit nach London gekommen, wo er schließlich bei Cluskeys Vater in der Schmiede Anstellung fand.

Adalar, schon damals ein kräftiger junger Mann, der seinen Vater um einen halben Kopf überragte, eiferte ihm nach. Tagein tagaus schuftete er unter der sengenden Hitze des Schmiedeofens, walzte Stahl und schleppte Kohlen. Bis Cluskeys Vater entschied, dass er zu jung für die schwere körperliche Belastung sei und stattdessen eine Schuldbildung erhalten solle. Ihm war nicht entgangen, dass sich der junge Waliser in den wenigen freien Stunden, die ihm neben der Arbeit in der Schmiede blieben, nicht nur in Gedichte von Chaucer vertiefte, sondern auch über den staatstheoretischen Schriften von Hobbes brütete.

Adalars Vater brachte für diese Art der geistigen Zerstreuung nur wenig Verständnis auf und weigerte sich, Schulgebühren für einen Jungen zu zahlen, der seinen Lebensunterhalt bereits selbst verdienen konnte. Also bezahlte Cluskeys Vater die Gebühren aus eigener Tasche, und fortan begleitete Adalar den kleinen Graham zur Schule – eine für beide Seiten bereichernde Situation, wie sich bald herausstellen sollte. Im gleichen Maße, in dem Adalar von Cluskeys eiserner Disziplin und den Nachhilfestunden in Mathematik und im Naturkundeunterricht profitierte, genoss der junge Graham die Vorteile, die sich ihm boten. Er wusste nun einen Freund an seiner Seite, der stark genug war, um es mit allen Schülern gleichzeitig aufzunehmen, die sich bisher auf seine Kosten amüsiert und bereichert hatten.

Seit damals verband die beiden Männer eine enge Freundschaft, jedoch hatte der nicht unbeträchtliche Altersunterschied dazu geführt, dass sie sich mit der Zeit auseinanderlebten. Während Cluskey eine Universität besucht und sich im Anschluss als Archivar und Constable verdingt hatte, war Adalar Morgan zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und hatte die Schmiede von Cluskeys Vater übernommen, früh geheiratet und vier Kinder in die Welt gesetzt. Als Nachtwächter verdiente er sich ein Zubrot, um tagsüber mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen.

»Mr Flanagan!«, rief er über seine Schulter. »Würden Sie unseren neuen Kommandanten zu den Zellen geleiten.«

»Ist die Besuchszeit seiner Majestät denn nicht schon vorüber?« Kyle Flanagan lachte gellend, als er sich von seinem Stuhl vor dem Kellerabgang hochhievte. Seine bloße körperliche Erscheinung schlug bereits die meisten Verbrecher in die Flucht. Wie Morgan war er über sechs Fuß groß, besaß aber den Brustkorb eines Braunbären. Die langen, dunkelbraunen Haare hatte er zu einem Zopf zusammengebunden und den Backenbart im Vergleich zu früheren Tagen gestutzt, was seinen kantigen Kiefer betonte. Cluskey gestand es sich nur ungern ein, aber er war froh, Morgan und Flanagan an diesem Ort in seiner Nähe zu wissen.

»In den Kammern müssen früher Waffen und Munition eingelagert worden sein«, meinte Flanagan, während er sie ins Kellergewölbe hinunterführte. »Anders kann ich mir die massive Bauweise der Türen und die schweren Eisenriegel nicht erklären. Was immer darin auch aufbewahrt wurde, war wahrscheinlich verdammt wertvoll.«

Cluskey, der aufgrund der Erzählungen seines Vaters mit Wehranlagen dieser Art vertraut war, wollte zu einer Erwiderung ansetzen, schluckte sie aber herunter, denn der beißende, ammoniakgeschwängerte Verwesungsgestank, der sie, unten angekommen, wie eine unsichtbare, todbringende Wolke einhüllte, verschlug ihm den Atem. Dankbar für Winterhorns Erinnerung, band er sich das mitgebrachte Tuch vor Mund und Nase.

In den Kammertüren befanden sich jeweils auf Augenhöhe kleine, mit Gitterstäben beschlagene Sichtfenster. Cluskey hatte sich zwar innerlich für den Anblick gewappnet, zuckte jedoch erschrocken zurück, als sich in der Zelle etwas regte. An der hinteren Wand und Decke gab es steile Lichtschächte, die zum Kai hinaufführen mussten. Sie waren mit Decken verhängt, sodass der einzige Lichtschimmer von den Fackeln im Gang herrührte.

»Sie vertragen das Sonnenlicht nicht«, sagte Flanagan, als hätte er Cluskeys Gedanken gelesen.

»Wie Vampire«, flüsterte Winterhorn mit entsetzter Stimme und erntete von Cluskey einen missbilligenden Blick. »Ich gebe zu, dass auch mich die Vorkommnisse der letzten Nacht zu den wildesten Annahmen verleitet haben, aber ich hoffe inständig, mein junger Freund, dass Sie diesem närrischen Volksglauben nicht wirklich verfallen sind. Auch wenn es uns schwerfallen mag, in Anbetracht der diabolischen Grausamkeit, mit der die Dienerschaft im Palast massakriert wurde, keine übernatürliche Strafe in Betracht zu ziehen, wird sich für alles eine logische Erklärung finden. Das verspreche ich Ihnen!«

Als wollte sie Cluskeys Worte Lügen strafen, sprang die Person in der Kammer vom Boden auf und warf sich kreischend und zähnefletschend gegen das Sichtfenster. Nichts Menschliches war mehr in den blutunterlaufenen, gelblich getrübten Augen des jungen Mannes zu erkennen. Schwärende Wunden übersäten das Gesicht. Ein Teil der Haare fehlte. Er musste sie sich vom Kopf gerissen haben, das Blut auf der Stirn war noch frisch.

Cluskey versuchte, mit dem jungen Mann zu sprechen, ihm einige Worte über das Massaker zu entlocken. Es war nichts Verständliches aus ihm herauszubringen.

»Seine Majestät, König George IV.«, sagte Flanagan feierlich, als sie vor der nächsten Kammer standen. Zu Winterhorns Entsetzen griff er nach dem schweren Eisenriegel und schob ihn zur Seite. »Seien Sie unbesorgt, Mr Winterhorn. Der König befindet sich nicht mehr in der Verfassung, Ihnen etwas anzutun.«

In der Tat bot der Anblick Georgs IV. ein mitleiderregendes Bild. Der König hatte sich in die hinterste Zellenecke zurückgezogen, wo er, die Beine wie ein Fötus an den Körper gezogen, auf einem Podest aus Kissen, Teppichen und Decken lag. Sein linker Arm stand in einem unnatürlichen Winkel ab – eine Folge des Zusammenstoßes im Green Park. Schockierend war der Anblick der mit Kot und Blut verschmierten Wände. Winterhorn begann leise zu würgen. Auch Flanagan trat angewidert zwei Schritte zurück. Nur Cluskey ging langsam auf den leise wimmernden König zu.

Zuerst dachte er, die Schmierereien an den Wänden seien willkürlich angeordnet. Dann aber erkannte er ein komplexes Muster aus Linien und Punkten, das sich zu wiederholen schien. Darüber prangte eine erschreckend detailgetreue Zeichnung eines gehörnten, ziegenkopfartigen Gesichtes.

»Ist er für Ihren Zustand verantwortlich, Majestät?«

Der König regte sich nicht. Seine Augen ruhten jedoch auf Cluskey, der vor der morbiden Wandmalerei auf und ab schritt. »Durchlaucht, ich weiß, dass Ihnen Schreckliches angetan wurde, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Aber ich bin auf Ihre Unterstützung angewiesen. Was ist im Palast geschehen?«

Der König grunzte, dann gab er einige hohe, schrille Laute von sich. »Zsss, Zisss, sss«, schrie er verzweifelt und sein massiger Körper begann zu beben.

Cluskey redete beruhigend auf ihn ein. Der König schien ihm etwas mitteilen zu wollen, aber es war, als würde eine unsichtbare Macht jedes vernünftige Wort in seinem Mund in unverständliche Laute verwandeln.

»Hat das Essen ungewöhnlich geschmeckt?«

Als würde er über Cluskeys Frage nachdenken, legte Georg IV. den Kopf schief. Dann fasste er sich an den Mund und begann an seinem Kiefer zu zerren, bis die Mundwinkel einrissen und seinen Bart blutrot färbten.

Flanagan sprang dazwischen, um den König daran zu hindern, sich selbst zu verletzen. Er träufelte ihm eine bräunliche Flüssigkeit aus einem verkorkten Glasfläschchen in den Mund, und eine Minute später sank der König erschöpft auf seine provisorische Bettstatt zurück.

»Ich wünschte, wir könnten ihm eine angemessenere Unterbringung bieten«, sagte Cluskey, und gleichwohl er den alten Mann aufgrund seiner zahlreichen Eskapaden für einen ungeeigneten Regentschaftskandidaten hielt, meinte er die Worte aufrichtig. Georg IV. war immer noch der König von Großbritannien und Irland. Und im Moment eine bemitleidenswerte Menschenseele, die große Qualen litt. Aber sie konnten es sich nicht erlauben, ihn im Palast oder an einem anderen Ort, wo man ihn vermuten würde, unterzubringen. Niemand, nicht einmal der engste überlebende Hofstaat, durfte wissen, wie es um seine Gesundheit bestellt war. Nicht, solange sie nicht wussten, wer für die Tat verantwortlich war. Wenn tatsächlich im Geheimen an einem Sturz des Königs gearbeitet wurde, mussten die Verschwörer in Unwissenheit gewogen werden. Denn solange sie nicht sicher sein konnten, dass Georg regierungsunfähig war, konnten sie auch nicht am Thron rütteln.

»Kommen Sie, Cluskey, ich muss Ihnen noch etwas zeigen.« Flanagan führte Cluskey von der Zelle des Königs weg bis zum Ende des Gangs, von dem ein weiterer, durch eine Holztür verschlossener Raum abging. In der Mitte stand ein länglicher Tisch, über den ein weißes Laken ausgebreitet war. Darunter zeichneten sich die Konturen eines menschlichen Körpers ab.

»Der Duke of Rodringham«, sagte Flanagan, während er um den Tisch herumging und das Leichentuch beiseite zog. »Er hat die Nacht nicht überstanden. In den frühen Morgenstunden bildete sich Schaum vor seinem Mund, seine Haut wurde gelb, und er lief blau an.«

Cluskey inspizierte den Leichnam kurz, konnte aber nichts entdecken, das ihn weiterbrachte. Es war zum Verzweifeln. Für gewöhnlich gaben ihm die Hinweise an den Leichen der Opfer Aufschluss darüber, wie oder woran sie gestorben waren. Hier aber war alles anders. Die herkömmlichen Untersuchungsmethoden versagten. Es wurde Zeit, neue Wege zu beschreiten.

Er bedeutete Winterhorn, näher zu treten. »Machen Sie Mahmud ibn Arabi ausfindig und bringen Sie ihn hierher. Er soll alle nötigen Vorkehrungen treffen, um eine Obduktion vorzunehmen.«

»Ibn wer …«, wollte Winterhorn fragend ansetzen. Cluskey bedeutete ihm zu schweigen. »Kümmern Sie sich einfach darum. Er lebt in Lambeth, in der Eagle Street Nr. 10. Wenn er sich weigert, mit Ihnen zu kommen, sagen Sie, dass der weiße Wolf nach ihm schicken lässt.«

Jetzt warf auch Flanagan Cluskey einen irritierten Blick zu, Die beiden Männer hatten allerdings gelernt, Cluskeys Eigenheiten zu respektieren.

»Irgendetwas, auf das er im Besonderen achten soll?«

»Er soll Proben vom Mageninhalt und der Leber nehmen. Alles Weitere erkläre ich ihm persönlich.« Mit diesen Worten machte Cluskey kehrt und verließ das Kellergewölbe. Als er oben angekommen war, spürte er augenblicklich, wie das beklemmende Gefühl der Aussichtslosigkeit nachließ, das ihn beim Anblick des Königs überkommen hatte. Er nickte Morgan zum Abschied kurz zu, verließ die alte Wehranlage und machte sich auf den Weg zurück zur Kutsche.

* * *

Mildred von Yorkshire lebte in einem palladianischen Herrenhaus an der Piccadilly Road, vor dem mehrere Constables postiert waren. Stoisch harrten die Männer im Regen aus, den Hut tief ins Gesicht gezogen und den Kragen gegen den Wind hochgeschlagen. Sie stoppten die Kutsche, noch bevor sie am Gehsteig vor dem Haus halten konnte.

»Ich wusste nicht, dass Sie es sind, Sir«, sagte der Mann, der die Kutsche angehalten hatte, entschuldigend und lehnte sich durch das geöffnete Fenster ins Innere. »Ihr Erscheinen wurde mir nicht angekündigt.«

»Ich hatte Anweisung gegeben, das Haus unauffällig zu überwachen«, entgegnete Cluskey, ohne auf den vierschrötigen Wachtmeister einzugehen. Der Mann kam ihm nur vage bekannt vor. Sie waren sich höchstens ein, zwei Mal bei einem Patrouillengang begegnet. Dass er ihn dennoch mit Sir anredete, zeigte Cluskey, dass Peels Bemühungen, Scotland Yard als maßgebliche Instanz des Polizeiwesens zu etablieren, auf fruchtbaren Boden traf. Darauf hatten die Londoner Nachtwächter und Constables gewartet: eine Behörde, die ihren oftmals aussichtslosen Kampf gegen das Verbrechen stärkte und organisierte. Und auf jemanden, der die Befehle gab.

Der Constable nickte Cluskey pflichtbewusst zu. »Ich werde meine Männer instruieren und Sie ankündigen lassen.«

Cluskey wartete noch einen Moment in der Kutsche, bis der Regen etwas nachgelassen hatte, und rannte dann zum Haus hinüber. Obwohl es erst früher Nachmittag war, wurde die Piccadilly Road in fast völlige Dunkelheit getaucht, so dicht hatten sich die Wolkenfronten über der Stadt aufgetürmt. In der Ferne zuckten Blitze am Himmel – ein Unwetter zog herauf.

Im Foyer schüttelte Cluskey den durchnässten Mantel aus und hängte ihn mitsamt seinem Hut an die Garderobe.

Fourthsdale beobachtete ihn von einer auslandenden, mit Samt bezogenen Chaiselongue, die so positioniert worden war, dass man von ihr aus sowohl den Aufgang zur Bogentreppe als auch das Foyer im Blick hatte. Um seinem Ruf als Müßiggänger gerecht zu werden, hatte sich Cluskeys Partner die Stiefel ausgezogen und die Beine hochgelegt, was ihm einen missbilligenden Blick des Butlers einbrachte, der soeben herbeigeeilt kam, um Cluskey unter nicht minder abschätzigen Blicken in Empfang zu nehmen. »Wen darf ich ankündigen?«

»Graham Cluskey von Scotland Yard. Mr Peel dürfte die Herzogin über mein Kommen in Kenntnis gesetzt haben. Wenn Sie erlauben, die Zeit drängt!«

Cluskey wollte schon an ihm vorbei zur Treppe, aber der Butler stellte sich ihm entschieden in den Weg. »Bedauere, Mr Cluskey, aber die Herzogin von Yorkshire empfängt zur Stunde keine Gäste. Sie hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen und wünscht nicht gestört zu werden. Beileibe nicht von ungestümen jungen Männern …«, er senkte den Blick auf Cluskeys schlammverschmierte Stiefel und rümpfte dabei pikiert die Nase, »… die halb London mit ins Haus tragen.«

Ein belustigtes Schnauben war von der Chaiselongue zu vernehmen. »Höre ich da ernstliche Sorge um Jungfer Millys Unschuld heraus, Charles? Seien Sie ganz beruhigt, mein Guter, der feine Mr Cluskey hat noch keinem Kompagnon den Stich geraubt.«

»Mr Fourthsdale …!« Zorn und unverhohlener Hass funkelten in den Augen des Butlers. »Dort, wo sie herkommen, mögen solch unflätige Äußerungen zum normalen Ton gehören, aber hier, in den altehrwürdigen Hallen der Yorkshire Familie, sind sie unzumutbar. Ich werde Sir Peel persönlich um Ihre Suspendierung ersuchen!« Mit diesen Worten machte der Butler auf der Stelle kehrt und stürmte aus dem Foyer.

»Habe ich da einen wunden Punkt getroffen?«, spöttelte Fourthsdale mit übertrieben nachdenklichem Gesicht, und Cluskey konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Fourthsdales Verhalten mochte ordinär sein, aber es zeigte Wirkung: Der Weg zu Mildred von Yorkshire war geebnet.

»Hatte ich nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Wachen vor dem Haus bedeckt halten sollen?«, sagte Cluskey, während die beiden Männer in den ersten Stock hinaufgingen.

Fourthsdale zuckte nur mit den Schultern. »Ich hielt eine Machtdemonstration für angebracht. Sie sollen ruhig sehen, mit wem sie sich hier anlegen und dass sie nicht an die Herzogin herankommen. Wenn wir uns Autorität verdienen wollen, müssen wir geschlossen und mit aller Stärke auftreten.«

»Du weißt, dass ich deine Ratschläge begrüße, mein Freund, aber, wenn ich eine Anweisung gebe, erwarte ich, dass sie befolgt wird.«

»Als Leiter des Yards«, ergänzte Fourthsdale. Obwohl er nur konstatierte, was Cluskey vermieden hatte, auszusprechen, war die Geringschätzung in seiner Stimme kaum zu überhören.

»Es wäre bedauerlich, wenn die neuen Umstände unsere Partnerschaft belasten würden«, meinte Cluskey beschwichtigend. Zu seinem eigenen Erstaunen wählte er eine Formulierung, welche die Zukunft ihrer Zusammenarbeit offenließ.

»Ja, bedauerlich«, stimmte ihm Fourthsdale zu. Der dunkelhaarige Constable raffte seinen Gehrock und blickte demonstrativ geradeaus.

Schweigend betraten die beiden Männer den Flur im Obergeschoss. Eine Flügeltür auf der rechten Seite musste zum Salon führen, denn von dort war leises Klavierspiel zu hören.

Cluskey legte die Hand auf die Klinke und drückte sie vorsichtig herunter.

Den Salon als ausladend zu bezeichnen, wäre untertrieben gewesen. Gleich einem Festsaal erstreckte er sich über eine Länge von zwanzig Yards und bot nicht nur endlosen Bücherregalen Platz, deren oberste Reihen nur mithilfe einer Leiter erreicht werden konnten, sondern auch einer Leseecke mit Ohrensesseln, einem Erker, in dem mehrere Staffeleien aufgebaut waren und einem schwarzen Flügel. Daran hatte bis eben noch ein junger Mann im Frack gesessen, der aber sofort aufstand, als Cluskey und Fourthsdale den Raum betraten, und den Salon durch einen anderen Ausgang verließ.

Mildred von Yorkshire lag auf einem vor Ornamentik überbordenden Sofa und hatte die Augen geschlossen. Ihr Kopf wiegte sich immer noch leicht im Takt der Musik, die längst verklungen war.

»My Lady«, sagte Cluskey beim Näherkommen. »Graham Cluskey von Scotland Yard. Das ist mein Partner Mr Fourthsdale.«

Die Herzogin schlug die Augen auf und blinzelte verwirrt. »Wer, wo …« Sie versuchte aufzustehen, schwankte und ließ sich mit dem Rücken gegen die Kissen sinken. »Der Schlaf muss mich übermannt haben«, murmelte sie.

Cluskey wiederholte, was er eben gesagt hatte, und stellte sich mit dem Rücken zum Kamin, in dem ein behagliches Feuer prasselte. Als die Wärme allmählich ihren Weg durch seine durchnässte Kleidung fand, entspannte er sich.

»Mr Cluskey, richtig«, sagte die Herzogin. »Robert spricht nur in den höchsten Tönen von Ihnen. Wie schreiten die Ermittlungen voran?«