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Kannst du deine große Liebe je vergessen?
Acht Jahre schon versucht Ava vergeblich, ihre große Liebe zu vergessen. Joel Wentworth war alles, was sie sich je von einem Mann erträumt hatte: attraktiv, intelligent, erfolgreich und liebevoll. Für eine viel zu kurze Zeit waren sie ein perfektes Paar. Aber nach dem Collegeabschluss trennten sich ihre Wege. Joel ging für seine Karriere nach New York - Ava blieb in London. Eine Entscheidung, die sie seitdem jeden Tag bereut hat! Doch nun kehrt Joel nach London zurück, und Ava weiß, dass sie endlich über ihn hinwegkommen muss, denn sein Anblick allein würde ausreichen, ihr Herz endgültig zu zerbrechen ...
"Eine wundervolle Geschichte, die meine Seele berührt hat!" JUST ONE MORE PAGE
Vierter Band der KINGS-OF-LONDON-REIHE
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Seitenzahl: 457
Titel
Zu diesem Buch
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1. Kapitel
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12. Kapitel
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29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Louise Bay bei LYX
Impressum
Louise Bay
London Heartbreaker
Roman
Ins Deutsche übertragen von Wanda Martin
Acht Jahre schon versucht Ava vergeblich den Mann zu vergessen, der ihre große Liebe gewesen ist. Joel Wentworth war die Erfüllung all ihrer Träume: attraktiv, intelligent, erfolgreich und liebevoll. Auch wenn Ava niemals damit gerechnet hätte, dass jemand wie er sich je in sie verlieben würde, waren sie ein perfektes Paar. Aber nur für eine viel zu kurze Zeit, denn nach dem Collegeabschluss trennten sich ihre Wege: Joel ging für seine Karriere nach New York – Ava blieb in London. Eine Entscheidung, die sie seitdem jeden Tag bereut hat. Doch nun kehrt Joel nach London zurück, und Ava weiß, dass sie eine Begegnung mit ihm nicht verhindern kann. Daher fasst sie den Entschluss, alles zu unternehmen, um endlich über Joel hinwegzukommen – selbst wenn sie sich dafür Hals über Kopf in die Londoner Dating-Szene stürzen muss. Denn auch wenn ein Teil von ihr sich nicht vorstellen kann, je wieder einen Mann zu finden, für den sie so viel empfindet wie für Joel, so muss sie doch wenigstens versuchen, ihr Herz zu schützen, bevor sein Anblick allein es für immer brechen könnte …
Up All Night Kip Moore
The Last Time Taylor Swift feat. Gary Lightbody
Say Something A Great Big World und Christina Aguilera
Limbo No More Alanis Morissette
Some Other Time Jill Scott
I Miss You Kacey Musgraves
Who Knew Pink
Love Me Still Chaka Khan
What About Now Daughtry
Brave Sara Bareilles
Living Inside My Heart Bob Seger
When We Were Young Adele
Heute
Samstagabende auf dem Land waren Samstagabenden in London ziemlich ähnlich – Freunde versammelten sich um den Fernseher und überlegten, ob sie das Trinken von der Couch in eine Bar, ein Restaurant oder eine Mischung aus beidem verlagern sollten. Heute Abend war ich dafür gewesen, im Warmen zu bleiben. Ich war überstimmt worden.
»Ich dachte, wir wollten in den Pub, ihr schnarchigen Langweiler«, sagte Adam, der sich in eine seiner immer häufiger werdenden Schimpftiraden reinsteigerte. Adams Laune kochte umso öfter hoch, je näher er der Großen Drei-Null kam. Er feierte so heftig, wie es nur ging, um alle Anzeichen dafür, dass er kein Kind mehr war, zu widerlegen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es keinem von uns gelingen würde, allzu gut damit umzugehen. Adam war bloß der Erste aus unserer Gruppe, der diesen Meilenstein erreichte.
»Wir gehen, wenn das vorbei ist, also Klappe jetzt«, erwiderte ich mit einem Nicken in Richtung Fernseher. Wir sechs – sogar Matt und Daniel – waren gefesselt von lauter in Pailletten gehüllten, Standard tanzenden Promis, doch Adam ging unruhig auf und ab. Er war schon den ganzen Tag schlecht drauf.
»Ava, es wundert mich, dass du diesen Glitzer-Pailletten-Tanz-Blödsinn magst. Du bist so’n Mädchen«, meckerte er.
»An dir ist kein Genie verloren gegangen, was?«, erwiderte ich. »Verzieh dich, wir wollen das in Ruhe gucken.« Ich hasste es, mich mit Adam herumzuschlagen, wenn er sich so aufführte, weil man ihn eh nicht umstimmen konnte.
»Ein Glück, dass ich bald meinen Buddy zurückkriege. Diesen Sommer werd ich jeden Tag eine andere bumsen«, grummelte Adam vor sich hin.
»Ja, klar.« Daniel lachte in sich hinein und ging an die Bar. »Schätze, es werden jede Menge für dich abfallen.«
»Kein Mensch sagt mehr ›bumsen‹, Adam«, sagte Leah und warf dabei ihre Haare nach hinten – eine effiziente Geste, mit der sie zugleich ihr wunderschönes Haar in Szene setzte und Adams Gerede abtat. »Wir haben nicht 1996.«
Jules hob ihr Glas hoch, damit Daniel ihr nachschenkte. Perfekt, wie er war, nahm er die halb leere Weinflasche von der Bar mit herüber. »Hat sich denn noch keine diesen Leckerbissen von einem Mann geschnappt?«, fragte sie, während sie zusah, wie der Alkohol in ihr Glas floss.
Wer? Welcher Leckerbissen von einem Mann? Unerklärlicherweise machte mein Bauch einen Salto. Ich hatte das Gefühl, dass mir hier etwas entging, und obwohl ich den Blick weiter fest auf den Fernseher gerichtet hielt, blendete ich die Musik aus und versuchte, genauer hinzuhören, worüber Daniel, Adam und Jules da redeten.
»Nope. Und du kannst mich mal, Daniel, ich hab’s nicht nötig, auf die zu warten, die er übrig lässt. Wir werden als Dreamteam London unsicher machen, wenn er wieder da ist«, sagte Adam und kippte sein Bier runter.
»Nicht, wenn ich ihn mir zuerst schnappe!« Jules hüpfte auf der Couch auf und ab.
Über wen redeten sie?
»Und du kannst mich auch mal, Jules. Bleib ja weg von ihm, wenn er wiederkommt. Der Junge ist endlich wieder in der Stadt. Und wir werden diesen Sommer jede Menge Spaß haben.«
Als ich begriff, um wen sich ihr Gespräch drehte, stockte mir der Atem, und ich musste die Augen schließen, damit sich nicht mehr alles drehte.
Joel.
Er kommt nach Hause.
Scheiße.
Adam hatte uns überredet, der Kälte zu trotzen und unser samstagabendliches Besäufnis in den Dorfpub zu verlagern. Der hatte dreihundert Jahre alte Dielenböden und so niedrige Decken, dass Daniel und Matt sich ducken mussten, um zu unserem Tisch zu gelangen, ohne sich an den Balken den Kopf zu stoßen.
Es war so stickig, dass ich keine Luft bekam. Der Pulli, den ich anhatte, machte es nicht besser. Das Kaminfeuer auch nicht … und die Erwähnung von Joel ebenso wenig. Die Unterhaltung drehte sich inzwischen um andere Themen, doch ich wollte unbedingt mehr erfahren. Wann würde er zurückkommen? Warum kam er zurück?
Ich hatte ihn ewig lange nicht gesehen – jahrelang. Sieben Jahre, neun Monate und fünfzehn Tage, um genau zu sein.
»Alles okay mit dir, Ava?«, fragte Jules.
»Mir ist bloß ein bisschen warm«, sagte ich. Bei meinem viel zu breiten Grinsen rissen meine vom schottischen Wind schon ganz trockenen Lippen auf. Ich würde an meinem Pokerface arbeiten müssen. Und an meinem Gehör. Der Pub befand sich am Ende der Welt, aber wie es schien, war ganz Schottland heute Abend hergekommen. Über das Klappern von Besteck, das Stimmengewirr der anderen Gäste und das Wummern in meinen Ohren hinweg, das Joel, Joel, Joel machte, hatte ich Mühe zu verstehen, was meine Freunde sagten. Ihre Stimmen kamen nur als unverständliches Gemurmel bei mir an. Ich wollte wieder zum Haus und mich im Bett verkriechen, doch ich hatte freiwillig angeboten, heute Abend die Fahrerin zu spielen. Gott sei Dank war unser alljährliches Wochenende auf dem Land morgen vorbei und wir würden alle nach London zurückfahren. Ich musste meine Gedanken ordnen, herausfinden, ob es möglich war, in seiner Gegenwart normal weiterzuatmen.
Ich holte einmal tief Luft und versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was Adam gerade auf der anderen Seite des soliden Kiefernholztischs erzählte. Was ursprünglich nur ein gemeinsames Osteressen gewesen war, hatte sich mit den Jahren zu einem Wochenende auf dem Land entwickelt. Daniel suchte immer die schicksten Übernachtungsadressen für uns aus und bestand darauf, für alle zu bezahlen, denn er war der reichste Mann Englands. Beziehungsweise genauer gesagt der drittreichste Mann unter vierzig, aber egal, er war jedenfalls reicher als der Rest von uns. Zuerst hatten wir protestiert, allerdings nur schwach, wir hatten uns längst geschlagen gegeben. Dieses Jahr waren wir in einem wunderschönen alten schottischen Schloss mit Türmchen, einer gewundenen Zufahrt und mit Angestellten. Es fühlte sich an, wie ein Hotel, nur dass es keine anderen Gäste gab. Ich wusste nicht recht, warum wir in den Pub gegangen waren – drüben im Schloss hatten wir einen Koch und literweise Alkohol.
Trotzdem war es eine angenehme Tradition. Diverse Partner und Partnerinnen kamen und gingen, aber wir sechs – Freunde seit der Uni – fuhren jedes Jahr zusammen weg. Dieses Jahr hatte Daniel Leah mitgebracht. Sie waren noch nicht lange zusammen, gaben aber das perfekte Paar ab. Ob sie nächstes Jahr um diese Zeit wohl verheiratet sein würden? Jedermanns Leben entwickelte sich weiter.
Weder Jules noch Adam hatten dieses Jahr jemanden dabei. Jules hatte ihr jüngstes Opfer letzten Monat abserviert, und trotz aller Sprüche, die Adam von sich gab, leckte er immer noch seine Wunden, weil seine Freundin letztes Jahr um diese Zeit nach fünf Jahren Beziehung Nein zu seinem Heiratsantrag gesagt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob er sich wirklich durch halb London »bumste«, jedenfalls bezweifelte ich es. Er war noch nie der Typ für Gelegenheitssex gewesen. Dafür war er viel zu liebesbedürftig – einer von vielen Gründen, weshalb zwischen uns niemals etwas Romantisches laufen würde. Bedürftigkeit war unsexy. Stärke. Selbstbewusstsein. Erfahrung. Das fand ich sexy. Das Yin zu meinem Yang.
Matt und Hanna zogen uns manchmal damit auf. Sie waren davon überzeugt, dass Adam und ich einmal als Paar enden würden. Oder Adam und Jules. Matt und Hanna hatten im ersten Semester an der Uni geknutscht und gleich nach dem Abschluss geheiratet. Sie waren die Konstante in unserer Gruppe – so was wie die geduldigen Eltern von vier ungezogenen Kindern. Sie hatten sich füreinander entschieden und waren glücklich, und dasselbe wünschten sie sich auch für alle Menschen in ihrem Umfeld.
Ich hatte noch nie jemanden auf unseren alljährlichen Wochenendausflug aufs Land mitgenommen.
Seit Joel hatte es keinen anderen mehr gegeben.
Gott, ich musste hier raus. Mein Kopf war überflutet, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet und ich ertränke jetzt in den Gedanken an ihn. In den vergangenen fast acht Jahren hatte ich ihn in die hintersten Ecken meiner Erinnerung verdrängt. Wenige Wochen nach seiner Abreise hatte ich die Law School begonnen und danach meine praktische Ausbildung in einer der besten Kanzleien des Landes absolviert. Die Überstunden, der Schlafmangel, die größtenteils unterschwellige Rivalität zwischen den jungen Anwälten, die ganze Brutalität der Branche hatten mir gefallen.
Das alles war die Strafe für meine vorherige Schwäche gewesen.
Fest entschlossen, alte Fehler nicht zu wiederholen, hatte ich mich im Lauf der ersten fünf Jahre neu erfunden. Und ich hatte mich aus unserer kleinen Gruppe zurückgezogen. Wenn wir gelegentlich abends weggingen, war ich dabei, und natürlich auch bei unserem alljährlichen Ostertreffen, aber im Allgemeinen war es zu schmerzhaft für mich, und ich blieb bewusst auf Distanz. Die Gruppe erinnerte mich zu sehr an unsere gemeinsame Vergangenheit und daran, was fehlte, wer fehlte. Daran, wer ich einmal gewesen war. Die Arbeit hatte die perfekte Ausrede geliefert, und keiner hinterfragte mein Fehlen ernsthaft. Nach einigen Jahren kaufte ich mir meine erste eigene Wohnung in Clapham, in der Nähe von Hanna und Matt, und fing langsam an, sie wieder öfter zu treffen, dann Adam und schließlich alle.
Es dauerte Jahre, doch irgendwann legte ich mir neben der Arbeit wieder ein Privatleben zu, und die neue, selbstbewusste Ava, die erfolgreiche Anwältin, fing an, wieder Freundschaften zu pflegen.
Aber ich hatte keine Dates. Nicht mal ab und zu. Ich wusste, keiner könnte Joel jemals ersetzen, deshalb hatte es keinen Sinn, es überhaupt erst zu versuchen, nur um dann enttäuscht zu sein und wieder an ihn denken zu müssen. Von Zeit zu Zeit sorgte mein nicht vorhandenes Sexleben für Fragen. Jules wollte regelmäßig wissen, ob ich meinen Chef pimperte, und Adam forschte gelegentlich nach, ob ich mich nicht als Lesbe outen wolle. Doch irgendwann war mein Singledasein kein Thema mehr. Hanna und Matt waren verheiratet. Daniel geschieden. Jules lebte in serieller Monogamie und konnte das Flirten nicht lassen. Adam gab für die Zeit bis zu seiner nächsten festen Beziehung den Möchtegern-Frauenheld. Und ich war Single. So waren wir eben.
Doch durch Joels Rückkehr konnte sich alles ändern.
Damals
Am Semesteranfang war in der Bibliothek immer viel los. In Anbetracht der Tatsache, dass ich im Abschlussjahr war, hätte ich mich inzwischen darauf einstellen und früh herkommen sollen, statt bis zum späten Vormittag zu warten. Es war knallvoll und nach zwanzig Minuten Suchen hatte ich immer noch keinen freien Tisch gefunden. Ich hatte zwei, drei Geheimplätze im ersten Stock, die so versteckt lagen, dass einer von beiden garantiert immer frei war, doch heute musste ich gezwungenermaßen vom ersten Stock, in dem die Jura-Abteilung lag, in den dritten ausweichen.
Als ich um die Ecke bog, sah ich Joel. Gegenüber von ihm war ein Platz frei. Ich wollte ihn mir schnappen, bevor es jemand anderes tat, aber ich fühlte mich komisch dabei, war fast schon schüchtern. Wir kannten uns nicht richtig. Joel war ein Freund von Adam. Sie waren Kommilitonen – beide Wirtschaftswissenschaftler –, während der Rest von uns Zimmer im selben Flügel des Studierendenwohnheims hatte. Joel hatte eine eigene Wohnung außerhalb vom Campus, deshalb sah ich ihn immer nur flüchtig, wenn er Adam besuchte. Wenn wir feiern gingen, war er manchmal auch mit dabei, doch er schien sich immer ein bisschen von unserer Gruppe fernzuhalten. Adam und ihn gab es praktisch nur im Doppelpack. Während wir anderen direkt befreundet waren, war Joel ein indirekter Freund – wir kannten ihn nur durch Adam.
Aus der Ferne betrachtete ich Joel – ohne zu sehr hinzustarren. Normalerweise vermied ich es, ihn anzusehen, weil ich auf gar keinen Fall eines dieser schmachtenden Weiber sein wollte, die ihn ständig zu umschwirren schienen.
Halb hinter einem Bücherregal verborgen, stand ich da und betrachtete ihn, wie er mit gebeugtem Kopf und gerunzelter Stirn zwischen zwei Büchern hin und her wechselte, als würden sie das genaue Gegenteil aussagen und er versuchen, das zu kapieren. Er hatte sich einen leichten Bart stehen lassen, wodurch er noch männlicher aussah als sonst. Seine Haut war noch sommerlich gebräunt, und sein Shirt lag eng an seiner breiten Brust an. Die Ärmel hatte er hochgeschoben, was seine starken Arme und seine sehr zupackend wirkenden Hände hervorhob. War er immer schon so attraktiv gewesen?
Und dermaßen über meiner eigenen Attraktivitäts-Skala?
Als spürte er, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf und schaute sich um. Ich wusste, ich sollte weggucken und so tun, als wäre ich mit den Büchern im Regal vor mir beschäftigt, doch ich konnte nicht. Sein Blick traf meinen, und er fing an zu grinsen. Ich brachte nur ein dümmliches Lächeln zustande, hob eine Hand halb zu einem dämlichen Winken und ging auf ihn zu.
Du meine Güte, ich war erbärmlich.
»Hallo, Ava. Lernst du hier oder holst du dir Bücher?«
»Ich suche einen freien Tisch, damit ich mit meiner Abschlussarbeit anfangen kann, aber die Welt hat sich gegen mich verschworen. Alles ist voll!«, sagte ich, die Stimme mindestens eine Oktave höher, als es für einen vernünftigen Menschen üblich war.
Beruhige dich verdammt noch mal, Ava.
»So ein Pech. Ich schätze mal, der freie Platz gleich hier vor deiner Nase ist nichts? Trifft jeden, der sich da hinsetzt, ein böser Fluch und er fällt bei den Prüfungen durch?«
Witzig und gut aussehend. Mal ganz abgesehen von cool und charmant.
»Ach, hast du auch davon gehört? Na, wenn das ein Wirtschaftswissenschaftler sagt, werde ich es wohl glauben müssen – ich dachte, das wäre bloß ein Gerücht. Man sieht sich.« Ich riss den Blick von ihm los und drehte mich zum Gehen um.
»Setz dich, Ava.«
Ohne ein Wort und ohne ihm in die Augen zu sehen, breitete ich meine Bücher und Notizen aus und klappte meinen Laptop auf.
Es war eine unter Frauen wie Männern anerkannte, unumstrittene Tatsache, dass Joel heiß war. Selbst ich konnte das nicht leugnen. Deutlich über eins achtzig groß, mit einer Schwimmerfigur und diesem einen Tick zu langem, wuscheligem Haar, das geradezu danach bettelte, zerzaust zu werden. Kerle zogen ihn damit auf, hübsch zu sein, und Mädels flirteten selbstverständlich mit ihm. Für mich war aber sein Selbstvertrauen das Ausschlaggebende, auch wenn ich nicht sagen konnte, ob er selbstsicher war, weil er so umwerfend aussah, oder ob ihn seine Selbstsicherheit so umwerfend machte. Er war weder großspurig noch arrogant, und er zog sich auch nicht am Unglück oder Elend anderer Leute hoch. Er fühlte sich einfach richtig wohl in seiner Haut, jedenfalls wirkte es von Fernem so. Ich hatte mich schon immer gefragt, wie solche Menschen tickten, worauf man da wohl stieß, wenn man ein bisschen tiefer bohrte. Sah es in ihrem Inneren genauso aus wie in mir?
Joels Welt war nicht wie die der meisten anderen – er führte ein privilegiertes Leben. Er wurde an der Bar bevorzugt bedient, fremde Leute lächelten ihn auf der Straße an und Verkäufer tanzten nach seiner Pfeife. Von außen betrachtet schien die Sonne für ihn einfach ein wenig heller zu scheinen. Ich ärgerte mich nie über Menschen wie ihn und ihr leichteres Leben, hielt es nicht für unfair. Ich wusste nur, dass meine Lebensrealität anders aussah, und ich verstand, dass unsere beiden Welten sich nicht überschneiden würden. Niemals.
Einander gegenüberzusitzen brachte unsere Welten aber doch ein Stück weit in Einklang. Zwischen den Haaren hindurch beobachtete ich verstohlen, wie Leute an seinem Tisch stehen blieben, um diese komischen Faustchecks unter Jungs zu machen oder mit den Wimpern zu klimpern – hauptsächlich Frauen, aber nicht ausschließlich. Sogar Bibliotheksmitarbeiter grüßten ihn respektvoll. Keiner seiner Besucher schenkte mir einen zweiten Blick. Peinlicherweise merkte Joel ab und an, wie ich zerstreut seinen Umgang mit seinen zahllosen Bewunderern beobachtete. Er sagte nie etwas, wenn er mich ertappte, sondern setzte nur gelegentlich ein Grinsen auf.
Trotz der Show, die direkt vor meiner Nase ablief, schaffte ich mehr als erwartet. Joel hatte immer gute Noten, und ich nahm an, sie fielen ihm genauso zu wie alles in seinem Leben. Aber wenn ihn gerade keine Bewunderer ablenkten, büffelte er richtig – richtig schwer. Wie es schien, musste er genau wie wir alle lernen, um in den Kursen gut abzuschneiden. Also, ich war nicht gerade ehrgeizig, aber von einem Schönling wie Joel wollte ich mich nicht im Lernen übertreffen lassen. Ich machte weniger Pausen als sonst, was auch an dem Anblick liegen mochte, den ich da vor mir hatte, aber vor allem, weil ich ihm zeigen wollte, dass ich auch schwer büffelte.
Als einer seiner fast genauso gut aussehenden Freunde vorbeikam, um zu fragen, ob er mit ihm einen Happen essen ging, lud Joel mich ein mitzukommen, und ich lehnte hastig ab. Ich brauchte eine Pause vom Lernen, aber auch von seiner Nähe.
Um kurz nach sieben war ich bereit, das Handtuch zu werfen. Joel schien völlig in das vertieft zu sein, was er gerade machte – es sah kompliziert aus, mit Zahlen und Tabellen und so. Wortlos fing ich an, meine Sachen zu packen. Als ich meinen Laptop zuklappte, schaute er hoch.
»Hey, gehst du? Ich werd mitkommen.« Er wirkte erschöpft – sein Blick auf eine total sexy Art müde und das Haar stand ihm wild vom Kopf ab, weil er andauernd die Finger hineingeschoben hatte.
»Bleib ruhig noch«, sagte ich, »du scheinst ganz vertieft zu sein.«
»Nein, ich hab genug. Ich bringe dich nach Hause.« Er sank gegen die Stuhllehne und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
»Schätze, Adam wird da sein.« Bestimmt wollte Joel sich mit ihm treffen. Joel schaute mich nur an und runzelte die Stirn.
Schweigend sammelten wir unsere Sachen ein und gingen hinaus.
Auf dem Weg zum Studierendenwohnheim sagte keiner von uns ein Wort. Joel schien die Stille überhaupt nicht zu stören. Das konnte ich von mir nicht gerade behaupten. »Also, du lernst ja richtig viel«, platzte ich heraus.
Joel warf den Kopf zurück und lachte. »Du klingst schockiert. Dachtest du etwa, das erledigt jemand anderes für mich?«
»Nein. Sorry. Ich dachte einfach, es würde dir leichtfallen oder so.«
Als ein uns entgegenkommendes Paar vorbeiging, kam er einen Schritt näher und beugte sich an mein Ohr. »Nichts, was sich zu haben lohnt, ist leicht zu bekommen, Ava.«
Wärme stieg mir in die Wangen. Flirtete er mit mir? Ich hielt den Blick starr auf den Weg vor mir gerichtet.
Wieder lachte er.
Er machte sich einen Spaß mit mir. Na toll.
»Das gilt vielleicht für die meisten von uns«, sagte ich.
»Für wen denn nicht?«
»Ich meine nur, dass manche Menschen es im Leben leichter haben. Für manche stehen die Sterne richtig und für andere nicht.«
»Oh wow, so eine bist du also.« Wieder lachte er leise.
»Was denn für eine?« Ich blieb mitten auf dem Weg stehen.
»Ach komm«, sagte er, stoppte neben mir, zog mir den Rucksack vom Arm und warf ihn sich über die Schulter. »Ich konnte bloß noch nie verstehen, warum Mädchen so von Astrologie fasziniert sind.«
Es brodelte in mir, und ich machte ein finsteres Gesicht.
»Ich bin nicht ›so eine‹, wie du das ausdrückst.« Er stellte es so hin, als würden Frauen sich nicht um Fakten und Wissenschaft scheren. Ich war klug. Sein versteinertes Gesicht verriet mir, dass er es kapiert hatte. »Ich habe verflucht noch mal nicht über Astrologie geredet – als ob man einen besseren Job bekäme, weil man Löwe ist und keine Jungfrau.« Ich verdrehte die Augen. »Ich meinte, dass manche Menschen im Leben das bessere Los gezogen haben«, sagte ich. »Es ist Fakt, dass attraktive Menschen eher befördert und seltener depressiv werden. Du wirst sogar besser bezahlt, wenn du besser aussiehst. Dazu gibt es wissenschaftliche Studien.« Joel gehörte zu dieser elitären Gruppe von Menschen, die es immer leichter haben würden als wir übrigen.
Joel hatte aufgehört zu lachen, doch sein Lächeln war geblieben. Er machte ein komisches Gesicht, so als hätte er im Kopf eine Antwort parat, doch die Wörter kämen nicht heraus.
»Was denn?« Ich ging weiter.
Mit zwei sehr langen Schritten schloss er zu mir auf. »Na ja, ich … Du hast recht. Tut mir leid. Ich habe dich missverstanden.«
»Okay.« Wahrscheinlich hatte ich überreagiert, aber ich hasste es, wenn Leute, wenn Joel dachte, ich wäre so ein Mädchen.
»Okay?«, fragte er.
»Okay.« Ich nickte und musste über unser Hin und Her lächeln.
»Ach, und du bist süß, wenn du fluchst«, sagte er.
Ich haute ihm auf den Arm. Ich wollte Joel Wentworth nicht noch ermuntern, mit mir zu flirten. Das war viel zu gefährlich.
»Außerdem findest du mich attraktiv. Gefällt mir.« Grinsend schaute er geradeaus.
Ich haute ihn nochmal. Er war einfach zu charmant.
Im Wohnheim liefen wir Adam über den Weg, der gerade aus der Tür unseres Gebäudeflügels kam.
»Hey, ich hab dich eben angerufen«, sagte Adam zu Joel, während Joel und ich hineingingen. »Lust auf ’n Bier?« Sein Blick huschte von Joel zu mir und dann wieder zu Joel. »Wo kommt ihr zwei denn her? Ach, egal.« Oben wurde eine Tür zugeschlagen. »Komm schon, gehen wir.«
Ich lief schnurstracks an den beiden vorbei zu meinem Zimmer im Erdgeschoss.
»Lass mich noch eben Avas Tasche reinbringen, dann komm ich nach«, sagte Joel, während ich meine Tür aufschloss, meine Schuhe auszog und mich aufs Bett fallen ließ.
Joel klopfte an die noch offen stehende Tür. »Stör ich dich gerade? Ich kann sonst später wiederkommen.«
»Äh, komm rein.« Hatte er sich absichtlich ein wenig zweideutig ausgedrückt? »Danke fürs Heimtragen meiner Bücher.«
»Es war mir ein Vergnügen. Du bist eine super Lernpartnerin und sehr leicht zu provozieren. Ist eine verführerische Kombi. Lass uns das irgendwann wiederholen.«
Jederzeit, dachte ich, obwohl ich wusste, dass er bloß höflich sein wollte. Wenn ich immer so eifrig arbeiten würde wie heute mit Joel, könnte ich Jahrgangsbeste werden. »Wenn ich meine Abschlussarbeit fertig kriegen will, werd ich das ganze Semester in der Bibliothek verbringen müssen.«
»Okay«, sagte er, fuhr sich dabei mit einer Hand durchs Haar und zog die Augenbrauen ein klein wenig zusammen. »Ich hol dich morgen ab.«
Meinte er das ernst? »Okay.« Das Wort hing an meinen Lippen, während ich darauf wartete, dass er sagte: War nur Spaß. Doch das tat er nicht, und meine Mundwinkel zuckten, als er mir in die Augen sah.
»Okay.« Er grinste.
»Raus hier, Blödmann.« Ich verdrehte gespielt genervt die Augen. Er war hübsch und witzig, und mein Herz kam leicht ins Stolpern, wenn er mich so anlächelte. Es war einfach nicht fair. Wieso waren alle tollen Eigenschaften in ein und demselben Kerl versammelt?
Sollte er mich morgen nicht abholen, wäre er wenigstens so einer. Damit wäre er dann nicht mehr dermaßen perfekt.
Wie versprochen, holte Joel mich am nächsten Morgen ab, ging mit mir zur Bibliothek und brachte mich dann am Abend nach Hause. Am darauffolgenden Tag lief es genauso. Und wie von selbst wurden wir Lernpartner, Freunde, Bücherwürmer. Ich genoss seine Gesellschaft und seine Aufmerksamkeit. Und aus irgendeinem Grund blieb er dabei, mich abzuholen und mit mir zur Bibliothek zu gehen.
Zuerst unterhielten wir uns immer nur auf dem Hin- und Rückweg von der Bibliothek, aber später fingen wir an, zusammen mittagessen zu gehen und gelegentlich gemeinsam Pause zu machen. Von allen meinen Freunden an der Uni, meine Mitbewohner eingeschlossen, wurde Joel ziemlich schnell derjenige, mit dem ich die meiste Zeit verbrachte. Mehr nicht, er war der Mensch, mit dem ich jede wache Minute verbringen wollte. Abgesehen davon, dass er eine absolute Augenweide war und mich ständig zum Lachen brachte, war er lieb und rücksichtsvoll. Nicht nur mir, sondern jedem gegenüber, dem er begegnete.
Ich zögerte kurz, als die Automatiktür im dritten Stock aufglitt. Beim Hindurchgehen sah ich Joel sofort. Ich hatte den ganzen Vormittag ein Tutorium gehabt, deshalb waren er und ich heute den ersten Tag mal nicht zusammen zur Bibliothek gegangen. Als ich an unseren Tisch trat, sah ich eine Jacke über dem freien Stuhl und einige Bücher auf dem Tisch. Mir wurde schwer ums Herz. Er hatte einen neuen Lernpartner.
»Hallo, Ava«, flüsterte Joel.
»Hallo.« Ich setzte ein falsches Lächeln auf.
»Wie war das Tutorium?«
»Gut. Anstrengend, aber gut.« Schulterzuckend sah ich mich nach einem freien Tisch in der Nähe um.
»Dann setz dich mal lieber hin und fang an zu lernen.« Er steckte die Nase wieder in seine Bücher.
»Ja, dank dir, Papa. Ich suche mir mal einen freien Tisch.«
Gott, ich hielt ihn vom Lernen ab, weil ich rübergekommen war, um mit ihm zu reden. Wie peinlich. Als ich weggehen wollte, hielt Joel mein Handgelenk fest und ich erstarrte.
Joel Wentworth berührte mich. Mein Herz donnerte in meiner Brust. »Aber ich habe dir doch deinen Platz frei gehalten. Gib mir mal meine Jacke, ja?«, bat er, ließ meine Hand los und streckte sich nach dem Kleidungsstück auf dem Stuhl gegenüber von ihm.
Er hatte mir einen Platz frei gehalten. Er hatte mir einen Platz frei gehalten! Ich hatte nichts falsch verstanden. Er wollte mich hier haben. Gegenüber von sich.
Ich konzentrierte mich darauf, ein unbewegtes Gesicht zu machen. »Okay, danke.«
»Okay, gern geschehen.« Er schenkte mir sein umwerfendes Grinsen.
»Okay, Blödmann.« Ich konnte nicht anders als zurück zu grinsen.
Ich holte meine Notizen und den Laptop heraus und fing an zu arbeiten. Ungefähr eine Stunde später ließ meine Konzentration allmählich nach und meine Gedanken wanderten zur anderen Seite des Tischs. Wie Joel wohl in seinen Vorlesungen war? Saß er ganz vorne und meldete sich ständig oder ganz hinten und flirtete mit dem Mädel, das gerade neben ihm saß? Ein zusammengeknüllter Zettel landete auf meiner Tastatur und holte mich wieder in die Realität zurück. Als ich hochschaute, grinste Joel mich an. Er nickte in Richtung der Bücherregale neben sich.
Was?, fragte ich lautlos.
Joel nickte nur noch nachdrücklicher. Ich reckte den Hals, konnte aber nichts sehen. Was?, machte ich noch einmal.
Komm her, erwiderte er ebenso lautlos.
Ich schob meinen Stuhl zurück und ging um den Tisch herum. Warum tat er so geheimnisvoll? Ich lehnte mich gegen seinen Tisch, die Finger neben meinen Hüften um die Holzplatte gelegt. »Was?«, fragte ich leise. Er bedeutete mir mit einer Geste, näher zu kommen, also beugte ich mich vor. Wow, er roch nach Meer und Zitronen.
»Manche haben einen etwas sportlicheren Lernansatz als wir«, flüsterte Joel. »Guck mal nach rechts.«
So unauffällig ich konnte drehte ich den Kopf und sah zwischen den Büchern ein Pärchen, das eindeutig glaubte, besser versteckt zu sein, als es tatsächlich war. Sie küssten sich leidenschaftlich, fuhren mit den Händen begierig über den Körper des anderen, befühlten sämtliche Rundungen durch die Klamotten, als erwarteten sie, jeden Augenblick auseinandergerissen und für immer voneinander getrennt zu werden. Ich konnte nicht wegschauen.
»Zugucken gefällt dir«, flüsterte Joel. Es war keine Frage. Und ich hätte ihm widersprechen, ihm sagen sollen, dass er da etwas in den falschen Hals bekam, aber ich tat es nicht. Denn er verstand es ganz richtig. Dieses Pärchen hatte etwas Unwiderstehliches. Etwas, das meinen Blick fesselte.
Joel war mir so nah, dass meine Haut kribbelte, als sein Atem gegen meinen Hals schlug. In dem Moment wollte ich nichts anderes, als dass Joel mich genauso küsste wie der Typ, den ich beobachtete, seine Freundin küsste. Mein Herz klopfte wie wild, und mein Puls fing an zu rasen.
»Schätze, auf die Art können die zwei gut Dampf ablassen«, schaffte ich schließlich zu sagen und richtete mich auf. »Stressbewältigung oder so was.«
»Willst du’s auch mal probieren?«
Mein Kopf schnellte zu Joel herum, der mich anzwinkerte.
»Zwinker mich nicht an, Joel Wentworth.« Ich spielte die Hochmütige und ging zurück zu meinem Platz.
»Was denn? Ich mache mir nur Gedanken um dein Stresslevel.«
Kein Wunder, dass er so ein Frauenschwarm war. Er schaffte es, beim Flirten witzig zu sein, weshalb er nie arrogant rüberkam.
»Okay, na, danke für das Angebot.«
»Okay, na, immer gern.« Er zog die Augenbrauen hoch und schenkte mir dieses lächerlich attraktive Grinsen.
Ich senkte den Kopf und lieferte eine Spitzenimitation von jemandem, der ungemein konzentriert lernte. Hier war überhaupt nichts doppeldeutig. Joel flirtete mit mir. Was noch schlimmer war: Es gefiel mir. Ich musste mich selbst daran erinnern, dass Joel gar nicht anders konnte, als zu flirten. Er war genetisch darauf programmiert, seinen Charme und sein gutes Aussehen weiterzugeben. Ich musste immun dagegen werden. Es ging ihm nicht konkret um mich. So war Joel einfach.
Heute
Ich hatte während der letzten Jahre hart gearbeitet, damit meine Karriere in meinem Leben an allererster Stelle kam und um jegliche Komplikationen im Privatleben zu vermeiden. Meine berufliche Laufbahn hatte ich unter Kontrolle – je härter ich arbeitete, desto größer mein Erfolg. Das war der Ausgleich dafür, dass ich nicht den einen besonderen Menschen in meinem Leben hatte. Klar, ich hatte es versucht. In den ersten paar Monaten nach seinem Weggang hatte ich gedatet – als ich mich selbst neu erfand. Aber ich war nicht mit dem Herzen dabei. Ich wollte Joel. Ich liebte Joel. Keiner konnte ihm annähernd das Wasser reichen. Adam ging mit mir zu Abendveranstaltungen und Diners, bei denen ich eine Begleitung brauchte. Außerdem hatte ich gute Freunde.
Schritt für Schritt hatte ich es geschafft, mir einen Alltag einzurichten, in dem ich zurechtkam.
Jetzt kehrte Joel zurück, und bestimmt hatte er kein bisschen von seinem Charme und guten Aussehen eingebüßt.
Vor knapp acht Jahren war Joel nach New York gegangen, und ich hatte ihn nie wieder gesehen. Nie wieder mit ihm gesprochen. Ein Teil von mir hatte angenommen, es gäbe eine Art Vereinbarung zwischen uns. Dass er zurückkommen, mir vergeben, gestehen würde, dass er nicht ohne mich leben konnte. Ich hatte immer angenommen, dass wir entweder bis an unser Lebensende zusammen glücklich sein würden oder meine Liebe zu ihm vergehen würde.
Doch nichts von beiden geschah.
Joel war weg – und wiederum auch nicht. Die Vorstellung, ihm persönlich zu begegnen, brachte mich zu der Erkenntnis, dass ich in einer verdrehten Realität lebte. In meiner Wahrnehmung war Joel immer noch bei mir, weil er immer noch in meinem Herzen war. Im Kopf unterhielt ich mich immer noch mit ihm. Lächelte immer noch, wenn ich ein knutschendes Pärchen sah, das sich unbeobachtet glaubte, wenn auch nur, weil ich wusste, dass Joel darüber lächeln würde. Ich verfolgte seine Karriere, indem ich entweder hier und da etwas von Adam und Matt aufschnappte oder ihn ab und zu googelte.
Ich vermisste ihn permanent.
Es war nicht so, als wäre ich nicht verliebt – das war ich. Nur war mein Liebster nicht in meinem Leben. Liebe hatte nicht ausgereicht.
Natürlich war er gelegentlich geschäftlich nach London gekommen, doch ich hatte es immer geschafft, dann nicht in der Stadt zu sein oder zu tun zu haben. Er hatte gesagt, er wolle einen klaren Schnitt, und das Mindeste, was ich tun konnte, war, mich daran zu halten. Da unsere Freunde keine Ahnung davon hatten, dass jemals etwas zwischen uns gelaufen war, stellte niemand Fragen.
Doch jetzt kehrte er ganz in seine Heimat zurück, und ich würde ihm nicht mehr aus dem Weg gehen können. Mein Hirn, das ich dazu gebracht hatte, zu glauben, dass ich glücklich war und eine einseitige Fernbeziehung führen konnte, musste sich der Realität stellen. Ich liebte einen Mann, den ich seit fast acht Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte. Scheiße.
Die Panikschübe, die auf der Rückfahrt nach London angefangen hatten und heftiger geworden waren, sobald ich allein war, drohten, mich zu überwältigen. Wenn ich Panik bekam, konnte ich nur eins tun: aktiv werden. Ich war gut in Krisenbewältigung und dies war eine Gelegenheit, zu glänzen. Mit einem Blick auf die leere Packung Eis auf meinem Couchtisch atmete ich einmal tief durch. Ich zog mein Handy unter dem Bein hervor und schaltete gleichzeitig den Fernseher stumm, ich hatte eh nicht richtig hingeguckt.
»Jules, hallo. Also, ich brauche mal deine Hilfe.«
»Immer doch. Schieß los. Wobei du einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen wirst, wenn ich bei einer Orgie mitmachen soll. In einen Sexclub würde ich aber mitkommen. Geht es darum? Ich hab da von einem in Hammersmith gehör-«
»Was? Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Hör zu, ich weiß, dass du auf diesen Onlinedatingportalen unterwegs bist …«
»Oh. Mein. Gott!«, kreischte Jules. »Ich hab dich endlich so weit gekriegt, oder?« Sie flehte mich immer an, mit dem Onlinedating anzufangen, und bisher hatte ich mich standhaft geweigert. »Weißt du, das ist die einzige Möglichkeit, in London jemanden kennenzulernen. Das wird super.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass es alles andere als super werden würde. Aber wenn ich mit jemandem zusammen war, würde Joel hoffentlich nicht denken, dass ich die ganze Zeit nur auf ihn gewartet hatte. Oder? »Ich habe doch noch gar nichts gesagt.«
»Ich höre es an deinem resignierten Tonfall.«
»Okay, hilfst du mir also, ein Profil zu erstellen?«, fragte ich.
»Morgen Abend. Du besorgst den Wein, ich bringe meinen Laptop mit. Das wird ein Riesenspaß.«
»Na, wie du meinst. Erzähl es bloß niemandem.« Ich hatte es geschafft, dafür zu sorgen, dass mein nicht vorhandenes Liebesleben kein Thema mehr war. Da wollte ich keine schlafenden Hunde wecken. Doch ich brauchte ein Projekt, damit ich nicht zusammenbrach, wenn er wieder zurück nach London kam. Und auch wenn ich wusste, dass keiner Joel ersetzen konnte, würde es vielleicht einer schaffen, den Teil von mir ruhigzustellen, der sich immer noch nach ihm sehnte. »Sag vor allen Dingen kein Sterbenswort zu Adam.«
»Weil ihr zwei heimlich eine Affäre habt?«, fragte sie.
»Weil er mich mordsmäßig damit aufziehen wird.« Sollte Jules es Adam verraten, würde der es mit Sicherheit allen anderen weitererzählen, Joel eingeschlossen. »Bitte, Jules«, jammerte ich, denn ich wusste, das hasste sie wie die Pest.
»Na gut. Wie du meinst. Brauchst deswegen keinen Terz zu machen.«
Als ich das Handy weglegte, war mir sofort schlecht.
Gott.
Ich musste über ihn hinwegkommen, bevor er herkam.
Damals
Joel und ich bewegten uns inzwischen in einem gewohnten Muster durch die Cafeteria. Das Lärmen aus Richtung der Tische, das Klappern von Tabletts auf Metall, das alles trat in den Hintergrund. Nicht, weil Joel und ich uns unterhielten. Wir blieben vielmehr konzentriert, bis wir reden konnten. Wir hatten diesen Tanz über die letzten Wochen einstudiert. Wir teilten uns die Aufgaben – er an der Essensausgabe mit den warmen Speisen, ich bei den kalten. Zwischen uns fiel kein Wort, er machte bloß einen Fingerzeig, als ich eine Cola und einen Isodrink hochhielt, und ich lächelte, als er für mich eine Extraportion Pommes holte, ohne dass ich darum bitten musste.
Beim Besteck trafen wir uns. »Hast du Ketchup geholt?«, fragte er. Ich legte den Kopf schief, als wollte ich sagen: Natürlich habe ich Ketchup geholt. Ich hole immer Ketchup. Und er grinste sein freches Grinsen. Er führte uns von der Essensausgabe zu den Tischen und sicherte uns einen freien Platz am Fenster.
»Wie war deine Probeklausur?«, fragte Joel, schüttelte sein Ketchuptütchen und begutachtete seinen Burger, als überlegte er, auf welche Weise er ihn am besten in Angriff nehmen sollte.
»So lala«, sagte ich und seufzte dramatisch.
Er schaute hoch, als traute er seinen Ohren nicht. »So lala?«
Ich nickte.
»Du bist ein Freak.«
»Ich bin ein Freak? Weil meine Probeklausur so lala war?« Ich holte die Kirschtomaten aus meinem Salat und beförderte sie auf Joels Tablett.
»Yep.« Er stellte die Pappschale mit den Pommes auf mein Tablett, und ich schob den Isodrink zu ihm rüber. Und fertig waren wir.
»Okay«, sagte ich schulterzuckend.
»Das war alles?« Er nahm den Burger in beide Hände.
»Was willst du denn hören?«
»Ich will, dass du mir erzählst, wie deine Probeklausur gelaufen ist, du Freak.« Er stopfte sich einen großen Bissen Burger in den Mund, während er die Augen verdrehte.
Ich lachte über seine Empörung. »Sie war weder gut noch schlecht.« Ich rührte in meinem Salat, um das Dressing zu verteilen.
»Ach, na, das erklärt alles.« Er sprach mit vollem Mund, was eklig hätte sein müssen, aber wie fast alles bei Joel war es hinreißend.
Ich schüttelte den Kopf. Weil ich nichts, was er machte, süß finden sollte. »Was denn? Es war eine Klausur in Europäischem Recht. Was willst du da noch für Details wissen?«
Er schluckte. »Na, kam die Frage nach dem Unterschied zwischen Direktwirkung und unmittelbarer Anwendbarkeit in Bezug aufs Kartellrecht?«
Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Joel schaute mich erwartungsvoll an.
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Und du meinst, ich wäre hier der Freak?«
Er lehnte sich nach hinten. »He, wieso bin ich denn ein Freak?«
»Du bist ein Freak, weil du erstens ein Wirtschaftswissenschaften-Streber bist und zweitens viel zu viel über meine Klausuren weißt. Meine Jura-Klausuren. Und ja, die Frage kam dran.«
»Ich wusste es.« Als er die Faust in die Luft stieß, schüttelte ich erneut den Kopf.
»Ein streberhafter Freak.«
»Kann ich mit leben.« Er grinste.
Ich guckte nach links, damit sich nicht dieses Kribbeln einstellte, das ich immer verspürte, wenn wir uns in die Augen schauten, während er so lächelte. Ich wusste, er konnte einfach nicht anders. Dave Johnson kam auf uns zu. Wir hatten einen Vierertisch. Ich hoffte, er würde sich nicht zu uns setzen.
»Hey, kommst du heute zum Hockeytraining?«, fragte er, woraufhin ich mit der Geräuschkulisse verschmolz und mich auf meinen Salat konzentrierte.
Keine Ahnung, ob es daran lag, dass ich eindeutig nicht seine Preisklasse war, oder daran, dass alle voll mit sich selbst beschäftigt waren, jedenfalls merkte keiner, wie viel Zeit Joel und ich miteinander verbrachten. Adam schob es schlicht darauf, dass wir beide eine Tendenz zum Streber hatten. Ihm gefiel die Vorstellung, womöglich cooler zu sein als Joel, auch wenn ich vermutete, eigentlich wusste er selbst, dass das unmöglich war. Ihm fehlte dieses elementare Selbstvertrauen, das Joel besaß. Ab und an bekamen meine Freunde mit, dass er mich abholte und nach Hause brachte – okay, Joel brachte mich fast jeden Abend nach Hause, aber weil er sich danach mit Adam traf, sah es so aus, als wäre ich bloß zufällig auch da.
Ich schaute hoch, während Joel und Dave über das Training und Lee Rigbys kaputtes Knie redeten und darüber, ob er dieses Semester noch mal spielen würde. Joel lehnte sich mit breiter Brust auf seinem Platz zurück, und seine Armmuskeln wölbten sich, als wollte er gleich Liegestütze machen.
Dave sah mich nicht an. Nicht ein Mal. Und es störte mich kein bisschen. Im hektischen Unialltag hatten Joel und ich eine geheime Ecke nur für uns beide geschaffen. Für den Augenblick hatte Joel sie verlassen, aber er würde dorthin zurückkommen.
Ich machte mir nichts vor. Ich wusste, was wir waren – Lernpartner. Freunde. Trotzdem genoss ich die Vertrautheit zwischen uns. Er mochte ein irre gut aussehender Lernpartner sein, aber niemand – ich selbst eingeschlossen – nahm auch nur eine Sekunde an, dass mehr daraus werden könnte. Er gehörte in eine ganz andere Liga als ich. Ich schminkte mich selten. Meine Klamotten waren mir komplett egal, Hauptsache sie hielten mich warm. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt beim Friseur gewesen war – meine Haare hingen einfach bloß auf meinen Rücken hinunter. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu föhnen, denn das dauerte so lange. Die Mädchen, mit denen Adam und Joel sich umgaben, waren toll gestylt, hübsch, lebhaft, lachten immerzu über ihre Witze. Diese Frauen gehörten fast schon einer anderen Spezies an. Ich beneidete sie nicht, und sie nahmen mich gar nicht wahr – so war das eben.
Joel flirtete mit mir, daran bestand kein Zweifel. Aber das war einfach seine Art. Ich tat weiterhin so, als wäre ich immun gegen seinen Charme. Um meine tatsächliche Immunität war es nicht allzu gut bestellt. Natürlich fand ich ihn verboten attraktiv, aber darüber hinaus mochte ich ihn auch. Ich verbrachte gern Zeit mit ihm. Ich wollte jede Neuigkeit mit ihm teilen, und ich wollte alles über sein Leben außerhalb der Bibliothek hören. Wie er aufgewachsen war. Was er für Zukunftspläne hatte.
Ich wollte jeden seiner intimsten Gedanken kennen.
Es war erst acht, doch ich war schon seit zwei Stunden wach. Ich hatte nächste Woche drei Abgabetermine und musste wie ein Weltmeister büffeln, wenn ich alles schaffen wollte. »Hallo, komm rein«, flüsterte ich auf Joels leises Klopfen hin. Höflich wie immer, wusste er, dass meine Mitbewohner noch eine ganze Weile schlafen würden. Es war eine liebe, rücksichtsvolle Angewohnheit von ihm, die mich immer zum Lächeln brachte. »Sorry, ich muss noch meine Sachen packen«, sagte ich und langte über den Tisch, um meine Notizen zusammenzusammeln.
Als er nicht antwortete, schaute ich über meine Schulter und sah, dass er an die Wand gelehnt stand. Statt seines üblichen Grinsens hatte er ein leichtes Stirnrunzeln aufgesetzt, fast als hätte er Schmerzen.
Ich betrachtete ihn und überlegte, was ihm wohl durch den Kopf ging.
»Gott, Ava, in diesem Licht siehst du wunderschön aus«, sagte er mit leiser, ernster Stimme.
Jetzt drehte ich mich ganz zu ihm um, denn ich wusste nicht, ob ich richtig gehört hatte. Mein Mund klappte auf, und ich überlegte, was ich antworten sollte. Sein Blick fiel auf meine Lippen, dann sah er mir wieder in die Augen. Mein Herz fing an, gegen meinen Brustkorb zu wummern. Was lief hier?
Ich drehte mich weg. Ich musste mir seine Worte nur eingebildet, die Art, wie er mich ansah, missverstanden haben. »Nein, tu ich nicht«, murmelte ich für den Fall, dass ich mich verhört hatte. Ich griff nach meiner Tasche, um meine Bücher einzupacken.
Seine Körperwärme strahlte gegen meinen Rücken, er berührte mich beinahe. »Doch. Doch, das tust du«, flüsterte er und seine Worte krochen über meine Haut. Ich stand stocksteif da, als er mit einer Hand meinen Arm hinabstreichelte.
»Joel.« Meine schwache Stimme kippte. Was machte er da?
»Dreh dich um, Ava.« Seine Stimme klang sonor, tiefer als sonst, und ließ mich erschauern.
Passierte das wirklich gerade? Joel suchte sich keine Mädchen wie mich aus.
Zögerlich drehte ich mich um. Doch ich wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
»Ava«, sagte er noch einmal, während er eine Hand an meinen Hals legte, sie unter mein Ohr gleiten ließ und meinen Nacken umfasste. Unsere Stirnen berührten einander und unser Atem vermischte sich. Für einen langen Augenblick verweilten wir so, kurz davor, etwas zu machen. Zaghaft hob ich die Hände und legte sie auf seine Brust. Oh Gott, diese Brust. Ich hatte dieser prächtigen Brust die letzten Wochen gegenübergesessen und mir vorgestellt, wie es wäre, sie zu berühren, zu streicheln, zu küssen. Breit und muskulös, erfüllte sie meine Erwartungen voll und ganz. Ich wagte es nicht, mich zu rühren, denn ich hatte Angst, dann die Beherrschung zu verlieren, nicht mehr aufhalten zu können, was er hier angefangen hatte, und mich darin zu verlieren, immer tiefer und tiefer.
Langsam löste er seine Stirn von meiner und ersetzte sie durch seine Lippen, um mich sanft zu küssen. Ich stand reglos da und schloss die Augen. Er senkte den Kopf zu meinem Hals und verteilte federleichte Küsse von meinem Ohr bis zu meinem Schlüsselbein. Ich sog die Luft ein, und als hätte er auf diesen Moment gewartet, suchte er eilig meinen Mund und drückte mich an sich.
Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war, so als schwebte ich durchs All, wo weder rechts noch links, weder Geräusche noch Licht existierten. Ich gab mich ihm einfach hin. Bloß für eine Sekunde. Bloß für eine Minute. Oder zwei.
Er fuhr mit der Zunge über meine Unterlippe und drückte zarte Küsse auf meine Mundwinkel. Ich stöhnte auf, als ich seine Zunge meine umfangen ließ. Er legte die Arme um mich und zog mich an sich, sodass es nicht mehr auszumachen war, wo er aufhörte und ich anfing. Sein Kuss wurde inniger, und ich spürte an meinem Bauch, wie er steif wurde. Langsam ließ ich die Hände auf seinem Shirt zu seinen Schultern gleiten. Ich wollte jeden Zentimeter von ihm spüren. Als ich in sein Haar fasste, stöhnte er. Brachte ich ihn wirklich zum Stöhnen?
Plötzlich unterbrach er unseren Kuss. Hatte er gemerkt, dass er einen Fehler machte?
»Du schmeckst noch besser, als ich es mir vorgestellt habe.« Er seufzte und drückte mir dann noch einen Kuss auf die Lippen und noch einen auf den Mundwinkel und dann noch einen. »Du bist so weich.«
Ich fuhr damit fort, seine Schultern und seinen Nacken zu erkunden. »Du hast dir das hier vorgestellt?« Dann war dieses Knistern zwischen uns, das ich die ganzen Wochen über gespürt hatte, also nicht nur Einbildung gewesen? Das war nicht nur der typische Joel-Wentworth-Charme … sondern hatte mir gegolten?
»Oh, ich hatte sehr unanständige Gedanken, Ava Elliot«, sagte er und gab mir dann einen Kuss, der mich völlig aus den Socken haute.
Mein Bauch machte einen Salto, und ich legte den Kopf in den Nacken. Sein Mund landete auf meinem Hals, und zwischen den Küssen fuhr er mit der Zunge über meine Haut. Das Gefühl war so eine süße Qual, dass ich glaubte, ich würde platzen.
»Stressabbau, hm?«, murmelte ich, als mir einfiel, worüber wir mal gesprochen hatten.
»So ungefähr«, sagte er, kurz bevor ich seine Unterlippe zwischen die Zähne nahm.
Der Kuss schien ewig weiterzugehen, und ich wäre gern bis zur Abschlussfeier so stehen geblieben. Als der laute Knall einer über uns zufallenden Tür in unsere Welt der Zweisamkeit eindrang, schauten wir bei dem Geräusch beide zu meiner geschlossenen Zimmertür.
»Was war das?«, fragte er, zog die Hände aus meinen Haaren und verschränkte dann die Finger mit meinen.
Ich erschauerte. »Wahrscheinlich Adam. Er ist so laut.« Adam würde nicht glauben, was unter ihm, hier in diesem Zimmer, vor sich ging. Keiner würde das.
»Bitte erzähl niemandem davon«, platzte ich heraus, wobei ich den Kopf ein Stück zurückzog und gegen seine über meinen schwebenden Lippen sprach. »Versprich es.« Niemand durfte hiervon wissen.
Er nickte und brachte mich zum Schweigen, indem er mich wieder an sich zog und einfach nur in den Armen hielt.
Es heißt, was man schnell verspricht, bricht man leicht. Aber ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Joel sein Versprechen halten würde. Wieso sollte er denn auch wollen, dass irgendjemand hiervon erfuhr? Er konnte jede Frau auf dem Campus haben. Keiner würde verstehen, warum er ausgerechnet mich geküsst hatte.
»Na dann«, versuchte ich, die Stille zu überbücken.
»Na dann …«, flüsterte er an meinem Ohr.
Gott, sein Atem fühlte sich so gut an meinem Hals an. Ich lehnte mich gegen ihn, weil ich ihm noch näher sein wollte. »Hmmm«, war alles, was ich zustande brachte, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen.
Joel riss sich los. »Na dann hör auf, mich abzulenken. Komm schon. Bibliothek.« Als er mir einen Klaps auf den Po gab, zuckte ich angesichts seines plötzlichen Kurswechsels zusammen. »Die Lernpause ist vorbei. Wenn ich noch einen Augenblick länger hier mit dir allein im Zimmer bleibe, verlasse ich es vielleicht nie mehr.« Er grinste mich an und ich musste mir auf die Unterlippe beißen, damit ich sein Lächeln nicht erwiderte.
Mein Herz schwoll auf die doppelte Größe an, während wir meine Sachen einsammelten, er sich meinen Rucksack über die Schulter hängte, eine Hand auf mein Kreuz legte und mich aus dem Zimmer führte.
Niemand durfte erfahren, was gerade passiert war. Ich wollte nicht als die lächerliche Streberin gelten, die geglaubt hatte, sie könnte bei Joel Wentworth landen. Ich würde seine Lernpartnerin sein, eine Freundin, aber ich würde mich nicht lächerlich machen.
Heute
Jules kam am Abend vorbei, um mir mit meinem Dating-Profil zu helfen, deshalb hatte ich früh Feierabend gemacht. Montage waren nie toll, aber nach dem Wochenendtrip und zwei Nächten, in denen lauter Erinnerungen an meinen Exfreund mich vom Schlafen abgehalten hatten, war der heutige komplett zum Vergessen gewesen. Ich war eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ich konnte einfach an nichts anderes denken als an Joel. Wann kam er zurück? Wie würde es mir gehen, wenn ich ihn wiedersah? Ich spielte es wieder und wieder in meinem Kopf durch. Ich hatte zwei Stunden lang in einem Meeting gesessen und kam heraus, ohne mir Notizen gemacht oder auch nur den leisesten Schimmer zu haben, wie es gelaufen war. Als ich eine E-Mail mit mindestens neunzig Tippfehlern an einen Partner schickte, war der komplett ausgetickt. Ich brauchte einen Freund, und zwar schnell.
Ungefähr drei Minuten, nachdem ich in eine Leggings und meinen ausgeleierten Lieblingspulli geschlüpft war, stand Jules vor der Tür. Seit der Uni hatte sich mein Kleidungsstil entwickelt. Nachdem ich mich nach Joels Weggang dazu gezwungen hatte, mir eine komplett neue Garderobe zuzulegen, stellte ich fest, dass ich Mode ganz gern mochte. Bei der Arbeit trug ich am liebsten Etuikleider kombiniert mit superhohen High Heels und auffälligem Schmuck. Meine Haare hatten endlich einen Schnitt: lang und gestuft, sodass meine natürlichen Wellen am besten zur Geltung kamen, mit dunkleren Strähnchen, die ein richtiger Friseur gefärbt hatte. Zu Unizeiten war ich dafür bekannt gewesen, dass ich mir die splissigen Spitzen selbst schnitt. Aber wir waren alle erwachsen geworden. Man konnte nicht sein ganzes Leben lang in Jeans und T-Shirt rumlaufen.
Als ich zu Beginn von Joels kometenhaftem Aufstieg zum erfolgreichen Unternehmer im Internet Fotos von ihm im Anzug sah, hatte ich das komisch gefunden. Auch wenn er jenes Stil-Gen besaß, das manchen Menschen einfach angeboren zu sein schien, kannte ich ihn nur in lässigen Klamotten. Er hatte immer schon toll ausgesehen, doch im Anzug war es nochmal etwas ganz anderes – er wirkte wie ein Filmstar oder ein Model oder so. Aber ein bisschen weniger, wie mein Joel.
Gott, ich hoffte, er trug keinen Anzug, wenn er nach London zurückkehrte. Einerseits, weil ich eh schon überwältigt sein würde, ihn wiederzusehen. Aber auch, weil ich wollte, dass er immer noch mein Joel war.
»Oh, der Typ hier scheint perfekt für dich zu sein. Ein absoluter Workaholic«, erklärte Jules und nahm einen Schluck von ihrem Sauvignon Blanc. Sie trank eine Flasche Wein schneller als irgendwer sonst, den ich kannte, und ehe ich fragen konnte: »Aber ist der was zum Heiraten?«, hatten wir das erste Glas intus und sie hatte mir auf einem wohlbekannten Datingportal ein Profil erstellt. Jules war begeistert, aber für mich diente es bloß als Mittel zum Zweck. Ich musste über Joel hinwegkommen. Ich hatte etliche Jahre dafür Zeit gehabt, doch jetzt musste ich es quasi über Nacht bewerkstelligen.
»Jules, ich bin kein Workaholic. Ich arbeite bloß. Nicht jeder wird fürs Feiern bezahlt.« Jules arbeitete in der PR-Branche und ging fast jeden Abend aus.
»Egal. Du brauchst einen Kerl, der versteht, wie wichtig dir dein Beruf ist. Deswegen bist du auch schon so lange Single – die meisten Männer wollen keine karrierebewusste Streberin heiraten. Damit schüchterst du sie bloß ein.«
»Echt mal, Jules, das sind zu viele Komplimente auf einmal. Da werde ich ja ganz rot.« Gut, dass Jules und ich schon so lange befreundet waren. Sie konnte es sich rausnehmen, auf diese Weise mit mir zu reden. Aber ganz falsch lag sie nicht. Ich war nicht die Sorte Frau, bei der die Kerle blieben.
»Du weißt, was ich meine. In dir hat schon immer ein bisschen zu viel Hermine gesteckt.«
»Und wer hat überhaupt was davon gesagt, dass ich den Kerl heiraten will?« Ich fand es schon schwer genug, mir vorzustellen, dass mich ein anderer als Joel anfasste. Eine Zukunft als verheiratete Frau sah ich nicht für mich. »Lass uns einfach einen heißen Kerl suchen.«
»Verstehe, verlorene Zeit aufholen. Richtig so.« Auch damit hatte Jules recht – mir waren fast acht Jahre verloren gegangen. »Wie wär’s mit dem? Er klingt nett. Wirtschaftsprüfer, gut aussehend, sportlich. Was sollte man daran nicht mögen? Schick ihm ein Zwinkern. Er ist gerade online.«
Oh Gott. Sollte ich das wirklich machen?
»Zack«, sagte Jules und klickte auf die Maus. »Ich hab’s für dich gemacht.«
Jules zwinkerte noch drei weiteren Kerlen zu, bevor wir nur noch quatschten. »Also, mein neuer Oberboss ist total heiß«, sagte sie.
»Der Verheiratete?«
»Nur weil er verheiratet ist, bedeutet das nicht, dass er nicht heiß ist, Ava.«
»Schon, aber es bedeutet, dass du nicht darüber nachdenken solltest, ob er heiß ist.« Jules’ Glas war fast leer, also griff ich nach der Flasche.
»Ich sage ja nicht, dass ich bei Teambesprechungen anfangen werde, ihm auf die Pelle zu rücken. Ich finde ihn bloß heiß. Keine große Sache.« Doch es war eine große Sache. Jules hatte schon einmal eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt und, welche Überraschung, die war nicht gut ausgegangen. Sie hatte es mit einem Schulterzucken abgetan, war aber am Boden zerstört gewesen. Es war herzzerreißend gewesen, das mit anzusehen. Sie hatte wirklich geglaubt, sie würde den Kerl heiraten – wenn er erst einmal seine Frau verlassen hatte.
»Und außerdem werde ich diesen Sommer sowieso jede Menge Ablenkung haben, jetzt wo Joel wieder in der Stadt ist.« Jules grinste bis über beide Ohren. Eine Welle der Übelkeit überkam mich. Jules und Joel als Paar wären mein schlimmster Albtraum. Ihn mit einer anderen zu sehen, wäre übel, aber mit meiner besten Freundin, von der ich jede Kleinigkeit erzählt bekommen würde, das wäre zu viel.
»Dann bringt er also weder eine Ehefrau mit noch eine Freundin?« War das unauffällig genug? Alles, was mit Joel zu tun hatte, nahm in meinem Kopf riesige Dimensionen ein. Obwohl also objektiv gesehen nichts dabei war, sich nach dem Beziehungsstatus eines Freunds zu erkundigen, hatte ich unwillkürlich Sorge, dass meine Sehnsucht nach ihm in jedem meiner Worte mitschwang.
»Nach allem, was Adam erzählt hat, nicht. Ich glaube, Joel geht ziemlich in seiner Arbeit auf, und jetzt, wo sein Unternehmen weltweit expandiert, möchte er den Hauptsitz nach London verlegen. Ich glaube nicht, dass er herziehen würde, wenn er jemanden in New York hätte. Oder?«, fragte sie und trank noch einen Schluck Wein.