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Bestsellerautorin Susanne Popp (»Die Teehändlerin«) führt an die Ufer des Rheins und den sagenumwobenen Felsen in die Zeit der Romantik Bacharach 1817. Die mittellose Waise Julie arbeitet als Magd im Gasthaus ihres Vormunds. Ein geheimnisvoller Zauber geht von ihr aus, und ihre außergewöhnliche Schönheit sorgt immer wieder für Eifersucht und Streit. Der Pfarrer fordert gar, dass sie den Ort verlässt. Auch Johann hat Eltern und Geschwister verloren. Er kehrt seinem Heimatdorf den Rücken, um in Karlsruhe bei der Rheinbegradigung sein Auskommen zu finden. Nach einem entsetzlichen Ereignis verlässt er die Großbaustelle und wird Schiffer auf dem breiten Fluss. Julie und Johann lernen sich kennen. Sie ahnen nicht, welche Schatten die Vergangenheit auf sie werfen wird. Am sagenumwobenen Loreley-Felsen nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ein mächtiger Fluss, eine märchenhafte Landschaft und eine berührende Liebe - Bestsellerautorin Susanne Popp macht die Romantik lebendig.
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Seitenzahl: 535
Susanne Popp
Die Frau am Fluss
Roman
Am Rhein, 1817. Die sechzehnjährige Julie Winter, Magd im Wirtshaus zum Löwen in Bacharach, hat viele Verehrer, aber auch Feinde und Neiderinnen, die sich von ihrer Schönheit und Anziehungskraft provoziert fühlen. Immer wieder muss sie sich gegen Übergriffe von Männern wehren. Auch Gregor, der Sohn ihres Vormunds, begehrt die schöne Julie. Aber wer will schon eine mittellose Waise zum Altar führen? Julie lernt Elisabeth Merkens kennen, eine gebildete Bürgersfrau aus Köln, deren Mann nach Wegen sucht, die Rheinschifffahrt zu modernisieren. Elisabeth spürt als romantische Seele Julies Hoffnung, selbst ihr Glück zu suchen, und möchte ihr helfen. Aber auch sie kann nichts ausrichten, als Julie verheiratet wird und als Fährmannsfrau die gefährliche Arbeit auf dem Rhein aufnimmt.
Der Fluss bringt viele Schicksale zusammen und so begegnet Julie dem Schiffer Johann. Er musste hart kämpfen um sein Auskommen, hat an der großen Rheinbegradigung gearbeitet und eine aussichtsreiche Stelle plötzlich verlassen. Über die Gründe schweigt er. Er ist anders als die Männer, die Julie bisher kennengelernt hat, und sie fasst Vertrauen zu ihm. Können sie gemeinsam eine glückliche Zukunft aufbauen? Beide ahnen nicht, welchen Schatten der Loreley-Felsen auf ihr Leben werfen wird.
Weitere Titel der Autorin:
Die Ronnefeldt-Saga von Susanne Popp
Band 1: »Die Teehändlerin«
Band 2: »Der Weg der Teehändlerin«
Band 3: »Das Erbe der Teehändlerin«
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Die Bestseller-Autorin Susanne Popp wurde in Speyer am Rhein geboren und ist im Südwesten Deutschlands mit Blick in die Rheinebene aufgewachsen. Der Rhein als Fluss der Mythen und Legenden, als Sehnsuchtsort der Romantik und als Transportweg von den Alpen bis zum Meer hat sie seit jeher fasziniert. In den Romanen rund um die Figur der Loreley finden sowohl überraschende historische Fakten als auch märchenhafte Elemente ihren Platz. Susanne Popp hat zuletzt mit »Die Teehändlerin«, eine Trilogie über das Familienunternehmen Ronnefeldt, zahlreiche Leser:innen begeistert. Sie lebt heute mit ihrem Mann am Zürichsee in der Schweiz.
[Widmung]
1801
1. Kapitel
1817
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
1824
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
1825
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
1827
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
1828
43. Kapitel
Nachwort
Danksagung
[Leseprobe]
1799
1. Kapitel
Für Elisabeth
Der Pfarrer von Bacharach stolperte durch die Nacht und schaffte es kaum, dem Kerl hinterherzukommen, der ihm mit einer Fackel in der Hand vorauseilte. Unten im Tal erstreckte sich dunkel der Rhein, beide Ufer von einzelnen Lichtern gesäumt, und vor sich sah er im schwachen Schein des Mondes die skelettartigen Streben der Wernerkapelle, die ihn an das Gerippe eines Toten denken ließen. Er bekreuzigte sich, während er weiterhastete, der rußenden Fackel hinterher.
Sie waren auf dem Weg zur Burg. Einen einzigen bewohnbaren Raum gab es dort oben zwischen den bröckelnden Mauern, mit vier armdicken Wänden, einem Dach und einer Feuerstelle. Der Pfarrer war kurz nach seinem Dienstantritt einmal oben gewesen und hatte die Frau besucht, die dort ganz alleine wohnte. Ein paar Tage später hatte sie ihm ein Bündel Kräuter ins Pfarrhaus gebracht. »Gegen die Magenschmerzen«, hatte sie gesagt.
Der Pfarrer hatte schon seit seiner Schulzeit mit Magenschmerzen zu kämpfen. Und womöglich hatte er seinen Beruf ja genau wegen dieser Schmerzen ergriffen, denn die gebückte Haltung, in der er sich zwangsläufig durchs Leben bewegte, erinnerte ihn beständig ans Beten – und daran, dass er ein Sünder war. Die Schmerzen gehörten so selbstverständlich zu ihm, dass er niemals über sie sprach, weshalb es auch ein Geheimnis blieb, woher die Frau auf dem Berg von ihnen wusste. Doch da es einer von den ganz schlimmen Tagen gewesen war, an denen er vor Krämpfen kaum hatte stehen können, hatte er sich aus den Kräutern einen Tee gebrüht, davon getrunken und sich besser gefühlt. Einige Zeit später, sein Kräutervorrat war soeben zur Neige gegangen, hatte ein frisches Bündel an der Klinke der Pfarrhaustür gehangen. Und seitdem war es immer so gewesen – wenn er sie benötigte, fand er frische Kräuter an seiner Tür vor.
Von der Anstrengung ganz außer Atem, kam der Pfarrer oben an und sah gerade noch, wie der Bote, der ihn mitten in der Nacht mit einem wilden Hämmern an die Tür des Pfarrhauses aus dem Bett geholt hatte, seine Fackel außen an der Mauer in eine Halterung steckte und in der Behausung verschwand. Er glaubte, die Kräuterfrau todkrank vorzufinden, doch als er eintrat, erwartete sie ihn aufrecht stehend in der Mitte des Raumes. Verglichen mit der frischen Nachtluft draußen, war es hier drinnen stickig. Es roch nach Blut und anderen Ausdünstungen, was ihm Übelkeit verursachte, und dann glaubte er, das Weinen eines Säuglings zu vernehmen, doch vermutlich war es nur der Schrei einer Katze. Hinter der Kräuterfrau an der Wand befand sich ein Bett. Der Bote, der ihn hergeholt hatte, beugte sich darüber und sah auf den Menschen, der dort lag, hinab, doch die Kräuterfrau schickte ihn nun hinaus.
»Sie liegt im Sterben«, sagte sie dann leise zum Pfarrer und deutete in Richtung des Lagers, »aber sie findet keine Ruhe. Auf ihren Wunsch hin habe ich Sie holen lassen. Sie will, dass Sie ihr die Beichte abnehmen.«
Er nickte beklommen. Sterbende machten ihm immer noch Angst. Statt den Tod mit Freude anzunehmen, weil er doch die Pforte zum Paradies war, fürchtete er sich vor allem, was mit dem Jenseits, mit dem Tod und dem Sterben zu tun hatte.
»Eine Sache noch«, ergänzte die Kräuterfrau jetzt. »Ich muss sicher sein, dass alles, was sie Ihnen erzählen wird, hier in diesem Raum bleibt.«
Verunsichert starrte er sie an. »Natürlich«, sagte er und war froh, dass seine Zunge ihm gehorchte. »Unser Herr leiht sich nur mein Ohr, und allein unser Herr kann diese arme Seele von ihren Sünden freisprechen. Ich bin nur der demütige Mittler.«
»Sie verraten auch wirklich keinem etwas?«, fragte sie noch einmal.
Nun fühlte er sich doch in seiner Ehre gekränkt. »Ich bin Priester, ich habe ein Gelübde abgelegt. Ich werde schweigen, und wenn ich dafür einen Martertod sterben müsste«, sagte er und wiederholte damit die Worte des heiligen Nepomuk, die sich ihm eingeprägt hatten, weil sie ihm ebenfalls Angst einjagten.
Die Kräuterfrau nickte, stellte die Lampe in der Nähe des Bettes ab und schickte sich an hinauszugehen.
Er hielt sie zurück. »Moment noch. Wie ist ihr Name?«, fragte er mit einem Kopfnicken in Richtung des Lagers.
»Spielt das für die Beichte eine Rolle?«, fragte die Kräuterfrau.
»Ich weiß nicht. Nein, vermutlich nicht«, murmelte er.
Dann war er allein mit der Frau, die nun dank der Lampe besser zu sehen war, und trat näher an das Lager heran. Die Kranke hatte die Augen geschlossen. Ihre Arme mit den schmalen weißen Händen lagen auf der Bettdecke, die sich kaum merklich im Takt ihres Atems hob und senkte. Lange stand er einfach da und sah sie an. Seine Angst war verflogen. Stattdessen fühlte er eine wohltuende Leere in sich. Sein Geist war wie eine unbefleckte Leinwand, auf die seine Sinneseindrücke ihr Bild malten.
Wie schön sie war!
Die Erkenntnis erfasste ihn wie eine sanfte Woge. Jetzt fühlte er ein Flackern in seinem Inneren, als habe jemand dort eine Flamme angezündet. Es war nicht der scharfe Schmerz seiner üblichen Magenkrämpfe, den er spürte, sondern eine wohltuende, belebende innerliche und äußerliche Wärme, eher so, als würde er sich nach einem Sprung in einen kalten See von den sommerlichen Strahlen der Sonne trocknen lassen. Er schämte sich, weil ihm dieser Gedanke in den Sinn kam. Alles Fleischliche galt für einen Priester als ungehörig.
Er trat noch näher an das Bett heran, doch er versuchte nicht, auf sich aufmerksam zu machen, vielmehr wollte er das Bild der Schönen ganz und gar in sich aufnehmen, um es nie mehr zu vergessen. Ihr Antlitz schimmerte matt, und der perfekt geformte Mund mit den vollen Lippen war leicht geöffnet. Die Frau hatte sehr helle Haut, doch der Schein der Lampe offenbarte auch ihre fiebrig geröteten Wangen, die sie trügerisch lebendig aussehen ließen und gesünder, als sie war. Ihre langen, blonden Haare lagen wie eine Gloriole um ihren Kopf und umrahmten die niedlichen Ohrmuscheln. Ihre zarten geschwungenen Brauen betonten die Reinheit der Stirn, und die langen blassen Wimpern bildeten einen stillen Kranz unter ihren Lidern. Sie erinnerte ihn an einen schlafenden Engel, erhaben und betörend – das bezauberndste Wesen, das er je gesehen hatte.
Weißt du es nicht, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus auf die Spuren der Schafe und weide deine Zicklein bei den Zelten der Hirten.
Die Verse aus dem Hohelied Salomos kamen ihm unvermittelt in den Sinn, und er wusste nicht, ob er sie laut ausgesprochen hatte. Die Worte waren in ihm – ebenso berückend und rein wie das Wesen vor ihm.
Siehe, meine Freundin, du bist schön, schön bist du, deine Augen sind wie Tauben.
Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich. Unser Lager ist grün. Zedern sind die Balken unsres Hauses, Zypressen unsre Wände.
Seine Sehnsucht nach irdischer Zwiesprache wurde übermächtig. Seine Gespräche mit Gott waren nie so innig, wie dieses Gebet, das er an die unbekannte Sterbende richtete. Aber vielleicht war sie ja gar kein Mensch. Vielleicht war sie wirklich ein Engel.
Die Kranke bewegte sich leicht und schlug die Augen auf.
»Hochwürden?«, flüsterte sie. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie hob kaum merklich die Hand, zu schwach, den Arm nach ihm auszustrecken. Er setzte sich zu ihr ans Bett.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie.
Er räusperte sich. »Willst du deine Sünden gestehen, so beichte, mein Kind.«
»Wie soll ich beginnen?«, fragte sie kaum hörbar.
»Mit dem Gebet, das unser Herr uns gelehrt hat.« Er schlug das Kreuz über ihr, und gemeinsam mit ihm bewegte sie die Lippen. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit«, schloss er.
Und dann legte sie ihre Beichte ab.
Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht, als Julie sich aus dem Haus stahl, um zum Rheinufer hinunterzugehen. Es war Mitte August. Die Tage wurden schon wieder kürzer, doch die Nächte waren noch lau und viel zu schade, um sie zu verschlafen. Ohne Laterne und barfuß, weil ihre hölzernen Pantinen zu viel Lärm gemacht hätten, huschte sie durch die dunklen Gassen von Bacharach. Schon sehr bald würde der Mond aufgehen, doch noch bot die Dunkelheit ihr Schutz, denn sie wollte nicht gesehen werden. Julie passierte den Damm und näherte sich dem Rheinstrand. Die Kiesel schmiegten sich an ihre Fußsohlen, dazwischen wuchs mal stachliges, mal weiches, sanft kitzelndes Gras. Schließlich lag der Fluss nur vom Sternenlicht beleuchtet vor ihr und hob sich mit seinem tiefdunklen Blau kaum merklich von den schwarzen Ufern ab. Sie sah zum Werth hinüber, wo sich die Kronen der Eschen, Ulmen und des großen Ahorns wie Scherenschnitte vor dem Sternenhimmel abzeichneten. Abgesehen vom klagenden Ruf eines Käuzchens und vom Rauschen des Wassers, das die Felsen und Steine umspülte, war alles still.
Julie trat näher an den Fluss heran. Ihre Zehen bohrten sich in den feuchten Sand, während der Vollmond über den Weinbergen emporstieg und schließlich mit seinem Licht alles überstrahlte. Julie ließ ihren Blick prüfend über den im bleichen Licht daliegenden Streifen aus Sand und Kieseln wandern. Der Strand wurde vom Damm begrenzt, auf dem die neue, von den Franzosen gebaute, Kunststraße lag, davor gab es eine Reihe von Büschen und niedrigen jungen Bäumen. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen, sie war ungestört. Sie streifte das Oberteil ihres Kleides über den Kopf, zog sich ihr eng anliegendes Leibchen aus, löste dann die Schnur, die den Rock in der Taille festhielt, und ließ ihn zu Boden gleiten. Nun stand sie nur noch mit ihrem Unterhemd bekleidet da. Sie löste den langen, eng geflochtenen Zopf, bis ihr das blonde Haar in Wellen um die Schultern und vor die Brust fiel und fuhr mit den Fingern hindurch. Nachdem sie ihre Kleider zusammengelegt hatte, stieg sie in die Fluten.
Das Wasser war frisch, aber nicht zu kalt, und bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehend, schäumte sich Julie mit einer von ihrer Schwester Ruth hergestellten Seife aus Salbei die Haare ein. Sorgfältig legte sie den Rest des kostbaren Seifenstücks am Ufer ab, bevor sie sich, den Blick gen Himmel gerichtet, ins Wasser gleiten und mit der Strömung treiben ließ. Sie genoss das Gefühl, sanft gehalten und getragen zu werden. Julie kannte den Fluss wie niemand sonst. Sie wusste genau, wo es Felsen gab, vor denen sie sich in Acht nehmen musste, und an welcher Stelle weiter unten sich ein bequemer Ausstieg ans Ufer befand. Sie ließ sich treiben und dachte dabei an ihre Mutter Grete. Ihr geliebtes Muttchen. Sie war kein ängstlicher Mensch gewesen, und doch hatte sie ihre Tochter immer vom Wasser fernhalten wollen. Wenn sie sich gestritten hatten, was selten vorgekommen war, dann immer nur, weil Julie wieder einmal heimlich zum Fluss gegangen war. Julie wusste ja selbst nicht so recht, wo ihre große Liebe zum Rhein herrührte. Es hatte ihr auch niemand je gezeigt, wie man sich über Wasser hielt. Sie konnte es einfach. Für sie fühlte es sich ebenso natürlich an, wie sich an Land zu bewegen, und irgendwann hatte sogar Muttchen einsehen müssen, dass ihr hier keine Gefahr drohte. Julie konnte auch tauchen und dabei minutenlang die Luft anhalten. »Du bist bestimmt ein verzauberter Fisch«, hatte Ruth einmal gesagt und es nicht als Scherz gemeint, zumindest hatte sie ein ganz ernstes Gesicht dabei gemacht. Aber so war das bei ihrer Schwester. Sie erfand häufig Geschichten und behauptete dann mit todernster Miene, dass sie wahr wären. Manchmal wusste Julie darum gar nicht so recht, was sie glauben sollte. Trotzdem standen sie sich sehr nah, und Julie sorgte sich um Ruth, die es schwer hatte, genauso, wie Ruth sich um Julie sorgte, jetzt, wo ihr Muttchen tot war.
Armes Muttchen, dachte Julie, während sie, immer noch auf dem Rücken treibend, mit den Händen im Wasser plätscherte und dabei den Sternenhimmel über sich betrachtete. Ob es ihr wohl gut ging, dort, wo sie jetzt war? Bestimmt besser als hier, wo sie in ihrem letzten Sommer große Schmerzen hatte erleiden müssen. Vor einem Jahr war sie gestorben, und Julie vermisste sie schrecklich. Ihr Leben hatte sich so sehr verändert seitdem. Nun arbeitete sie als Magd im Löwen, denn der Wirt, Herbert Kühn, war zu ihrem offiziellen Vormund benannt worden. Er war ein entfernter Verwandter ihres Vaters Thomas Winter, den Julie jedoch nie kennengelernt hatte, weil er noch vor ihrer Geburt gestorben war. Seit Muttchens Tod waren Ruth und sie somit Vollwaisen.
Zu dumm aber auch, dass ausgerechnet der Löwenwirt ihr Vormund sein musste. Sie konnte ihn überhaupt nicht leiden. Er trank zu viel, war faul und machte sich wichtig. Seine Frau Gundel tat die meiste Arbeit. Sie war zwar nicht ganz so schlimm wie er, aber sie war sehr streng und häufig ungerecht zu Julie. Nur der Sohn, Gregor, der war eigentlich ganz lieb. Er war ein hübscher Junge, blond und blauäugig und ein Jahr älter als sie und Ruth, also siebzehn. Sie kannten sich schon seitdem sie Kinder waren. Ruth war eigentlich schon immer in ihn verliebt, doch Julie wusste, dass sie nicht die geringste Chance bei ihm hatte.
Und dann gab es noch die kleine Frieda. Julie wurde ganz warm ums Herz, wenn sie an sie dachte. Frieda war erst neun Jahre alt und hatte kurz hintereinander beide Eltern verloren. Sie war etwa zur selben Zeit in die Wirtsfamilie gekommen wie Julie. Ihre Mutter war die jüngere Schwester von Gundel gewesen, und obwohl Frieda damit eine nahe Verwandte war, wurde sie von ihnen nicht geliebt. Nur Julie sorgte sich um die Kleine. Sie tröstete sie, wenn sie weinte, kümmerte sich um ihre Haare und Kleider, steckte ihr heimlich etwas Gutes aus der Küche zu und machte ihr bereitwillig Platz, wenn sie nachts zu ihr ins Bett schlüpfte. Sie standen einander bei, und das machte auch Julies Leben ein ganzes Stück erträglicher.
Julie merkte jetzt, dass sie sich schon zu weit hatte treiben lassen. Sie drehte sich auf den Bauch und schwamm mit weit ausholenden Armbewegungen gegen den Strom an. Wo der Bacharacher Rheinstrand in den Leinpfad überging, fand Julie mit den Füßen Halt. Sie tauchte noch einmal mit dem Kopf und dem ganzen Körper unter Wasser, die Augen weit geöffnet, so dass sie den Schein des Mondes über sich auf der Oberfläche glitzern sehen konnte – doch das Licht war nur schwach und die Tiefen des nächtlichen Rheins blieben selbst für ihre scharfen Augen undurchdringlich. Sie hielt die Luft an und stellte sich vor, ein Wasserwesen zu sein. Dann schoss sie prustend wieder nach oben und sog tief die reine, nach Blüten duftende Nachtluft in ihre Lungen.
Gregor stand hinter einem Gebüsch verborgen und beobachtete, wie Julie, in etwa zehn Fuß Entfernung, einer Nixe gleich, aus dem Wasser auftauchte. Mondlicht glitzerte in ihren Haaren und auf ihrer nassen Haut. Sie war zwar nicht vollkommen nackt, doch das fadenscheinige Unterhemd klebte so eng an ihrem Körper, dass es die Umrisse ihrer fraulichen Figur nur allzu deutlich preisgab, als sie nun ans Ufer stieg und den Strand entlang zu ihren Kleidern ging. Gregor sah die schmale Taille und die beiden Hälften des runden Pos, als sie sich nach ihrer Seife bückte – und dann drehte sie sich ein wenig zu ihm herum, und er erkannte das dunkle Dreieck ihrer Scham, sah ganz deutlich die Brüste und sogar die Spitze einer Brustwarze, die sich durch den dünnen Stoff drückte.
Erregung erfasste den jungen Mann. Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie Julie sich mit einem Tuch trocken rieb – als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er selbst beobachtet wurde. Das helle Oval eines Gesichts, umrahmt von dunklen gelockten Strähnen, schwebte in einiger Entfernung wie körperlos im Gebüsch, die dunklen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Erschrocken duckte er sich weg, doch dann erkannte er, dass es Ruth war, Julies Schwester, die dort drüben hockte. Sie konnte ihn gar nicht sehen, denn Ruth war blind wie ein Maulwurf.
Erleichtert gab er sich keine Mühe mehr, sich zu verstecken oder gar wegzuschleichen, er musste einfach nur versuchen, möglichst leise zu sein. Gregor sah wieder zu Julie hinüber, die ein wenig vornübergebeugt dastand, um ihr langes nasses Haar auszuwringen, und als er das sah, wurde seine Erregung sogar noch stärker, beinahe schmerzhaft. Was machte die blinde Ruth so ganz allein hier unten am Rheinstrand, dachte er noch flüchtig, doch als er wieder zu ihr hinübersah, war sie glücklicherweise verschwunden.
Und dann dachte er gar nichts mehr. Mit bebender Brust sah er zu, wie Julie ihr Mieder über dem feuchten Unterkleid schloss, das die schmale Taille betonte. Kurz wandte sie ihm ihr schönes Gesicht zu, und als sie nun den Kopf in den Nacken legte, um ihr Haar mit raschen Fingern erneut zu einem Zopf zu flechten, öffnete sich ihr Mund und gab den Blick frei auf die gleichmäßigen weißen Zahnreihen. Einen Moment lang stockte Gregor der Atem, weil er plötzlich glaubte, sie hätte ihn im Mondlicht erspäht, doch dann war er sich wieder sicher, dass sie ihn in seinem Versteck unmöglich sehen konnte. Julie bückte sich nach dem nächsten Kleidungsstück, und Gregor wünschte sich vergeblich, dass sie noch eine Weile nur mit Unterkleid und Mieder bekleidet dort stehen bleiben würde, denn schon schlüpfte sie in ihren Rock und ließ gleich darauf das Oberteil über ihre Arme und den Kopf gleiten – und genau in diesem Moment hörte er jemanden dicht an seinem Ohr leise seinen Namen sagen.
»Gregor?«
Er fuhr erschrocken zusammen. »Ruth! Verflucht. Musst du mich so erschrecken?«
Sie stand direkt neben ihm. Wie hatte sie es nur geschafft, sich derart lautlos anzuschleichen? Er fühlte sich von Ruth ertappt, und die Hitze, die er eben noch ganz woanders gespürt hatte, stieg ihm jetzt als Schamesröte ins Gesicht. Anders als viele andere junge Männer, die er kannte, war er nämlich Mädchen und Frauen gegenüber extrem schüchtern. Er begehrte Julie, so lange er denken konnte, verzehrte sich nach ihr, träumte Tag und Nacht von ihr – doch er hatte sich ihre intimen Begegnungen immer nur herbeiphantasiert. Die Vorstellung, wirklich mit einem Mädchen oder einer Frau zu schlafen, erschreckte ihn. Jedes Mal, wenn er daran dachte, schrumpfte sein Geschlecht auf zwergenhafte Größe zusammen. Und wie er dann aussah, war ihm ausgesprochen peinlich.
»Was machst du hier? Und woher willst du überhaupt wissen, dass ich es bin?«, stieß er verärgert hervor.
Die Blinde lächelte. »Gefällt sie dir?«
»Was? Wer? Wen meinst du?«, sagte er und hoffte, dass Julie dort, wo sie stand, sie nicht würde hören können.
»Meine Schwester natürlich. In warmen Sommernächten kommt sie oft hierher.«
»Heute nicht. Hier ist niemand«, sagte er, während er beobachtete, wie Julie den Strand weiter hinten verließ.
»Ich dachte, sie wäre eben noch hier gewesen.«
»Du hast dich getäuscht. Wie gesagt. Hier ist niemand«, wiederholte er.
Ruth lächelte und hielt ihre dunklen Augen unverwandt auf ihn gerichtet, als beobachte sie ihn, und nicht zum ersten Mal dachte Gregor, dass sie ihm ihre Blindheit womöglich nur vorspielte – dass sie ganz Bacharach womöglich schon seit Jahren zum Narren hielt.
Er schüttelte den Gedanken ab. »Ich muss jetzt schlafen. Langer Tag morgen«, brummelte er.
Ruth nahm ihren Stock, den sie in der Rechten gehalten hatte und den sie benutzte, um Hindernisse aufzuspüren, in die andere Hand und tastete nach seinem Arm.
»Darf ich mich bei dir einhängen?«
»Klar«, sagte Gregor besänftigt.
Blödsinn. Ruth war natürlich blind, dachte er, während sie gemeinsam in Richtung Stadtmauer gingen, und kurz überkam ihn Mitleid, weil sie nicht sehen konnte, was er nun sah. Es war eine herrliche Vollmondnacht, gleich einer silbrigen Schlange lag der Rhein im sanften Licht, und der Widerschein der kleinen Wellen warf tanzende Muster auf die weißen Rheinkiesel am Ufer. Die Blätter der Pappeln glitzerten und flirrten, sogar die sich gegen den blauschwarz schimmernden Himmel abzeichnenden Umrisse der Häuser von Bacharach wirkten wie gemalt.
Nachdenklich betrachtete er Ruth von der Seite. So schön und bezaubernd er Julie auch fand, so sehr war ihm ihre Schwester nicht geheuer. Ihre Fähigkeit, einfach irgendwo lautlos aufzutauchen, war schon ziemlich verstörend.
»Was hast du eigentlich mitten in der Nacht unten am Rhein gemacht?«, fragte er.
Beide Mädchen, Ruth und Juliane, die von allen Julie genannt wurde, waren Mündel seines Vaters. Während seine Eltern Julie als Magd bei sich aufgenommen hatten, war die blinde Ruth in der Burgruine Stahleck wohnen geblieben.
»Ach, nichts Besonderes. Ich bin spazieren gegangen – und dann habe ich mich ans Ufer gesetzt und muss wohl eingeschlafen sein«, gab sie leichthin zur Antwort.
»Kommst du eigentlich gut zurecht, da oben so ganz allein?«, fragte er.
»Es geht schon. Lieb von dir, dass du dir Gedanken machst«, sagte Ruth ausweichend.
Sie passierten das Stadttor unter der gewaltigen Wehrmauer, durchquerten die dunklen Gassen und waren bald darauf am Hof des Gasthauses angekommen, das direkt unterhalb der steil ansteigenden Weinberge lag. Gregor überlegte, ob er Ruth anbieten sollte, sie hinauf zur Burgruine zu begleiten. Eigentlich hatte er keine Lust dazu, lieber wollte er allein sein, um von Julie zu träumen, und wenn jemand in der Dunkelheit zurechtkam, dann war es schließlich Ruth. Doch dann gab er sich einen Ruck.
»Wenn du willst, begleite ich dich nach Hause«, sagte er.
»Danke, Gregor. Das wäre sehr nett von dir.« Ruth drückte sanft seinen Arm.
Während sie weitergingen, wanderten seine Gedanken wieder zu der Szene, die er vorhin im Mondlicht beobachtet hatte. Er konnte sich keine schönere Frau vorstellen als Julie. Mit zehn, zwölf Jahren war sie noch klein und drall gewesen, mit einem niedlichen Puppengesicht zwar, aber doch alles in allem recht kindlich. Aber dann war sie innerhalb kürzester Zeit in die Höhe geschossen, und ihre Proportionen hatten sich verändert, und nun, mit sechzehn, war sie groß und schlank, mit den Rundungen an genau den richtigen Stellen. Selbst im schlichten Gewand einer Magd war sie eine bezaubernde Erscheinung, nach der sich jedermann im Schankraum umdrehte. Sie schien das jedoch gar nicht zu bemerken, im Gegenteil. Julie bildete sich nichts auf ihre Schönheit ein. Sie war weder kokett noch eitel, sondern vielmehr bescheiden. Manchmal vielleicht ein bisschen albern, aber das konnte man ihr kaum vorwerfen. Es war ihre Art, damit fertigzuwerden, dass sie so hart arbeiten musste und dennoch nichts besaß.
»Wie geht es Walburga?«, drang jetzt Ruths Stimme zu ihm durch.
Erstaunt sah er sie an. Obwohl sie an seinem Arm gegangen war, hatte er ihre Anwesenheit beinahe vergessen, und nun erinnerte Ruth ihn ausgerechnet an seine Verlobte!
»Es geht ihr gut, denke ich«, antwortete er verlegen.
»Wann werdet ihr heiraten?«, fragte Ruth weiter.
»Nicht so bald.«
Vor ihnen lag nun die Ruine der ehemaligen Wernerkapelle, die auf einem kleinen Vorsprung oberhalb der Stadt thronte. Sie war dem heiligen Werner geweiht, der einst, wie es hieß, von einem wütenden Mob umgebracht worden war, und nachts gruselte Gregor sich immer ein bisschen angesichts der hohen Fensteröffnungen, die wie tot in die Landschaft starrten. Er ging ein wenig rascher weiter und war froh, als sie die Kapelle hinter sich gelassen hatten.
»Freust du dich auf die Hochzeit?«, fragte Ruth.
Sie ließ wirklich nicht locker.
»Natürlich«, log er einsilbig, denn er konnte ihr ja unmöglich die Wahrheit über seine Verlobte sagen und darüber, dass ihn die Aussicht auf die Hochzeit – oder auf die Hochzeitsnacht – einen ziemlichen Schrecken einjagte.
Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück und standen nun innerhalb der verfallenen Mauern von Burg Stahleck.
»Gute Nacht, Ruth.«
»Danke fürs Bringen.«
Sie lächelte ihn auf ihre unergründliche Art an – und war im nächsten Moment verschwunden.
Johann stellte die Mistgabel in die Ecke. »Ich muss gehen. Meine Schwester ist krank«, sagte er zu dem Bauern, bei dem er sich verdungen hatte, weil sein eigenes Feld vom Rhein überflutet worden war und vollständig unter Wasser stand.
»Es ist ja noch nicht einmal Mittag«, sagte der verblüfft. »Was soll das denn?«
Johann ignorierte seine Rufe und die Schimpftirade, die nun folgte, verließ den Stall, den er hatte ausmisten sollen, und ging über den Hof davon. Nach dem Lohn für die paar Stunden, die er gearbeitet hatte, fragte er gar nicht erst, den konnte er vergessen – und natürlich würde es nicht einfacher für ihn werden, Arbeit zu finden, wenn sich herumsprach, wie unzuverlässig er war. Aber damit würde er jetzt wohl zurechtkommen müssen.
Er hatte ein sehr ungutes Gefühl. Seine Schwester hatte heute früh verändert ausgesehen, ihr Hals war stark geschwollen gewesen. Er hatte Cäcilie Kiefer, die Frau des Bürgermeisters und einzige Freundin seiner verstorbenen Mutter, gebeten, zu kommen und nach ihr zu sehen, aber nun brachte er es doch nicht fertig, Marie allein zu lassen.
Obwohl er sich beeilte, stand die Sonne schon im Zenit, bis er endlich die ersten Häuser von Knielingen erreichte. Aus der Entfernung sah das Dorf, westlich von Karlsruhe gelegen, recht schmuck aus. Es lag leicht erhöht, in der Mitte die Kirche, darum herum ein paar stattliche Gebäude, manche mit Stroh- und viele mit Ziegeldächern, die davon zeugten, dass die Bewohner über Generationen hinweg ein anständiges Auskommen gehabt hatten. Viele lebten in dieser Gegend vom Ackerbau, manche züchteten auch Pferde, vor allem genügsame Kaltblüter, die auf den Wiesen der Niederterrasse entlang des Rheins grasten. Das vergangene Jahr ohne Sommer, der harte Winter und das diesjährige nasse Frühjahr hatte den Erträgen allerdings stark zugesetzt. Vielerorts hatte es überhaupt keine Ernte gegeben, und auch die Zucht hatte gelitten, weil es an Futter für die Pferde fehlte. Johann hatte immer wieder Zeiten gekannt, in denen er nicht genug Geld gehabt hatte, um sich etwas zu essen zu kaufen, aber eine solch große Not wie jetzt, das war auch für ihn etwas Neues. Weit und breit waren die Vorräte nahezu aufgebraucht. Das bisschen an Korn, Kartoffeln und Obst, was das neue Jahr gebracht hatte, war kaum der Rede wert, und die Preise für Nahrungsmittel waren so hoch, dass man einen ganzen Tag lang für zwei Portionen Haferbrei arbeiten musste. Johann begann nun zu rennen und kam kurz darauf außer Atem zu Hause an.
Auf der Schwelle kam ihm, unter dem niedrigen Türsturz geduckt, der Arzt entgegen. Johann hatte ihn nicht einbestellt. Marie litt unter Wechselfieber, und bis jetzt hatten die üblichen Hausmittel immer ausgereicht, um die Krankheit zu bekämpfen, abgesehen davon hatte er gar nicht das Geld, einen Mediziner zu bezahlen. Hinter dem Mann tauchte Cilli auf.
»Johann. Du bist schon zurück«, sagte sie überrascht, aber auch sichtlich erleichtert.
»Was ist los? Was ist mit Marie?«, fragte er und sah zwischen Cilli und dem Doktor hin und her. Sein Blick blieb an dem kugeligen Kopf des Mediziners hängen, dessen rundliche Gestalt unter den Monaten des Mangels nicht gelitten hatte.
Der Arzt sah ihn betreten an. »Marie hat die Halsbräune. Es tut mir sehr leid.«
»Halsbräune«, wiederholte Johann entsetzt. Mit dieser Diagnose wurde sein schlimmster Albtraum wahr. Jedermann wusste, dass die Halsbräune, insbesondere bei Kleinkindern, häufig tödlich verlief. Marie war zwar schon zwölf, aber sie war dennoch sehr zart, die Entbehrungen des vergangenen Jahres hatten ihr zugesetzt.
»Sie hat doch nur Fieber. Was ist denn mit dem Fieber?«
»Daher kommt ja das Fieber.« Der Doktor zuckte bedauernd mit den Schultern. »Halsbräune geht im Moment um. Es gibt schon mehrere Fälle in den Nachbarorten. Marie ist hier in Knielingen die Erste, so weit mir bekannt ist, aber …« Er ließ den Satz im Ungewissen enden und zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.
»Und was heißt das jetzt?«, fragte Johann.
»Beten Sie«, sagte der Arzt.
»Beten soll ich?«, fuhr Johann den Arzt an und wäre ihm am liebsten an die Gurgel gegangen. Doch dann fing er Cillis mitleidigen Blick auf, der noch viel schlechter auszuhalten war, und rannte die schmale Stiege hinauf.
»Warte, Johann«, hörte er Cilli hinter sich rufen.
Oben auf dem Treppenabsatz hielt er kurz inne. Er war von dem Spurt nach Hause und der beängstigenden Botschaft ganz mitgenommen. Sein Herz hämmerte wild und er spürte die Verzweiflung, die ihm den Hals zuschnürte. Er presste Daumen und Zeigefinger auf seine Augäpfel, es schmerzte, aber es hielt ihn auch davon ab, heulend ans Bett der kleinen Schwester zu stürzen.
Marie, seine tapfere kleine Marie.
Cilli war nun hinter ihm. »Sie darf nicht merken, wie besorgt du bist«, sagte sie leise und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß.«
»Ich muss kurz nach Hause gehen. Aber in einer Stunde bin ich wieder zurück.« Sie drückte seine Schulter und blickte ihn eindringlich an.
Er nickte stumm, unfähig, seine Dankbarkeit zu zeigen, dann atmete er noch einmal durch und betrat die Kammer.
»Mariele, was machst du nur für Sachen«, sagte er mit einer so munteren Stimme, als habe sie sich nur das Knie aufgeschürft.
Seine Schwester lag im Bett, ein Kissen im Rücken, so dass ihr Oberkörper leicht aufgerichtet war. Johann erschrak bei ihrem Anblick. Ihr Hals, der mit einem feuchten Wickel versehen war, war dick angeschwollen, eine groteske Verlängerung ihres Kopfes, das Kinn war kaum noch zu erkennen. Sie war wach, sah ihn aus verquollenen Augen an und wollte etwas sagen, doch anstelle von Worten kam nur ein röchelnder Husten aus ihrem Mund. Johann fühlte wieder das scharfe Brennen hinter seinen Lidern. Es stand noch schlimmer um sie, als er es sich ausgemalt hatte. Vorsichtig setzte er sich zu ihr auf die Bettkante. Maries Finger streckten sich leicht auf der Suche nach seiner Hand, und er griff nach ihrer und streichelte sie sanft. Sie fühlte sich klein und zart an und fiebrig heiß. Lange saß er so da. Maries Atem ging schwer, sie versuchte vergeblich, etwas zu sagen, und dann wanderte ihr flackernder Blick zu dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag.
Johann nahm es. Es war der erste Band der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. »Welches möchtest du denn hören?«, fragte er lächelnd und schlug es auf.
»Marienkind«, hauchte Marie lautlos.
Johann las das Wort von ihren Lippen ab. Nein, nicht das, schoss es ihm durch den Kopf, und er tat, als habe er sie nicht verstanden.
»Ich lese dir das Märchen von Rapunzel vor, was meinst du?«, sagte er versucht heiter.
»Marienkind.« Diesmal war sie deutlicher zu verstehen.
Johann schluckte trocken. Gerade die grausamsten der Grimm’schen Märchen gehörten zu Maries absoluten Lieblingsgeschichten, er selbst konnte den Erzählungen allerdings nicht viel abgewinnen. Als er ihren flehenden Blick sah, seufzte er ergeben.
»›Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem einzigen Kind, das war ein Mädchen und drei Jahre alt. Sie waren aber so arm, dass sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wussten, was sie ihm sollten zu essen geben …‹«, begann er. So war es oft in diesen Geschichten, sie handelten von Eltern, die ihre Kinder nicht mehr versorgen konnten.
Widerstrebend setzte Johann seinen Vortrag weiter fort, las vor, wie dem Holzhacker die Jungfrau Maria erschien und von ihm die Herausgabe seines Kindes verlangte, für das sie von nun an die Mutter sein wollte. Welcher Mensch wagte es schon, sich dem göttlichen Willen zu widersetzen – ein armer Holzhacker jedenfalls nicht. Er gab sein Töchterlein her, das von nun an mit den Engeln spielte, Zuckerbrot aß und Kleider aus Gold trug.
Johann wollte an dieser Stelle der Geschichte aufhören zu lesen, doch Marie wusste natürlich genau, dass sie noch nicht zu Ende war, und sah Johann auffordernd an.
»›So war es vierzehn Jahre im Himmel‹«, fuhr Johann fort, »›da musste die Jungfrau Maria eine große Reise machen. Eh sie aber wegging, rief sie das Mädchen zu sich und sagte: »Liebes Kind, da nimm die dreizehn Schlüssel zu den Türen des Himmelreichs in Verwahrung. Zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten dahinter betrachten, aber die dreizehnte nicht, die dieser kleine Schlüssel öffnet.« Das Mädchen versprach, gehorsam zu sein. Wie nun die Jungfrau weg war, öffnete es jeden Tag eine Türe und sah die Wohnungen des Himmelreichs. Das Mädchen widerstand zunächst tapfer seiner Neugier, doch irgendwann öffnete es auch die dreizehnte Tür. Und wie die Türe aufging, sah es in Feuer und Glanz die Dreieinigkeit sitzen und rührte ein klein wenig mit dem Finger an den Glanz. Da ward er ganz golden. Alsbald empfand es eine gewaltige Angst, schlug geschwind die Türe zu und lief fort. Die Angst wollte nicht wieder weichen, und sein Herz klopfte in einem fort und wollte gar nicht wieder ruhig werden, auch das Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab, es mochte waschen und reiben, soviel es wollte. Die Sünde blieb natürlich nicht unbemerkt, und die Jungfrau Maria verbannte das Mädchen aus dem Himmel zurück auf die Erde, wo es von nun an sein Leben in einer Baumhöhle fristen musste. Darin saß es bei Regen und Gewitter und wenn es schneite und fror. Wurzeln und Waldbeeren waren seine Nahrung. Seine Kleider verdarben und fielen ihm ab, da saß es in die Blätter eingehüllt, und wenn die Sonne wieder warm schien, ging es heraus, setzte sich vor den Baum, und seine langen goldenen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. Der Mund war ihm auch verschlossen, und es konnte kein Wort reden.‹«
Johann stockte, sah auf und gewahrte Maries aufmerksamen Blick. Sie nickte ihm zu, als wollte sie sagen, siehst du, das bin ich.
»Es ist nicht deine Schuld, dass du krank geworden bist. Und überhaupt, du wirst bald wieder gesund«, sagte er deshalb und überflog stumm die nächsten Zeilen. Er wusste genau, wie das Märchen weiterging, und wollte die grausamen Details nicht vorlesen. Wollte nicht laut aussprechen, dass das wunderschöne Mädchen – stumm wie es war – von einem König entdeckt, auf sein Schloss mitgenommen und geehelicht wurde, es drei Kinder zur Welt brachte, die alle drei von der Jungfrau Maria entführt wurden. Dass die Leute daraufhin behaupteten, die Königin wäre eine Menschenfresserin, und sie auf einem Scheiterhaufen festbanden, um sie zu verbrennen. Dass sie erst im allerletzten Moment, inmitten der lodernden Flammen, in stummer Qual ihre Sünde gestand.
Erst an dieser Stelle setzte er wieder ein und las nun wieder laut vor: »›Die Jungfrau Maria kam herunter, zu ihren Seiten die beiden ältesten Kinder, auf ihrem Arm das jüngste. Das Feuer aber löschte sich von selbst aus, und sie trat zur Königin und sprach: »Dir ist deine Schuld vergeben.« Sie reichte ihr die Kinder, öffnete ihr den Mund, dass sie von nun an sprechen konnte, und verlieh ihr Glück ihr Lebtag lang.‹«
Johann klappte das Buch zu und sah Marie lächelnd an.
»›Glück ihr Lebtag lang.‹ Und jetzt schlaf ein bisschen. Die Jungfrau meint es gut mit dir, da bin ich ganz sicher.«
Marie schüttelte sachte den Kopf. Er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und da er spürte, dass er selbst auch gleich weinen würde, stand er auf.
»Ich gehe rasch nach unten, um dir neue Wickel zu holen.«
Zäh flossen die Stunden dahin. Johann saß die ganze Zeit an Maries Bett. Der Doktor kam noch einmal wieder und erklärte, dass Marie die Nacht nicht überstehen würde. Ihr Hals wäre so dick, dass die Schwellung ihr die Luft abdrücke. Johann sah dem Doktor bei seiner Untersuchung über die Schulter und konnte deutlich die grauen Beläge sehen, die Maries Rachen auskleideten.
Gemeinsam mit Cilli versuchte Johann, Marie etwas zu trinken einzuflößen, doch sie konnte nicht mehr schlucken. Die Flüssigkeit rann von ihren Lippen das Kinn hinab. Der Husten wurde schlimmer und schien ihr schreckliche Schmerzen zu bereiten. Johann sah, wie sie immer verzweifelter versuchte, ihre Lungen mit Luft zu füllen, und hoffte schließlich nur noch, sie würde einschlafen oder ohnmächtig werden, damit sie nicht bei Bewusstsein erstickte. Doch das geschah nicht. Maries Körper bäumte sich auf, nicht etwa, weil die Kraft in ihre Glieder zurückgekehrt war, sondern vielmehr, weil ein krampfartiges Zucken sich ihrer bemächtigte. Panisch sog sie das bisschen Luft ein, das ihr gequälter Körper noch aufnehmen konnte – zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Ihr hilfesuchender Blick bohrte sich in seinen, und er hielt es kaum aus, ihm standzuhalten. Aus Minuten wurden Stunden. Nur selten dämmerte sie für ein paar Augenblicke weg, dann war Johann erleichtert, weil sie ein wenig Ruhe bekam, bis ihr kleiner Körper den sinnlosen Kampf erneut aufnahm. Die Schwellung würde nicht wieder zurückgehen, hatte der Arzt gesagt, und tatsächlich breiteten sich die gräulichen Beläge sogar weiter aus, wovon Johann sich bei einem Blick in Maries Mund und Rachen überzeugen konnte. Ihr Leiden wurde immer unerträglicher, ihr pfeifender Atem klang immer gequälter in Johanns Ohren.
Irgendwann, als Cilli den Raum für einen Moment verlassen hatte, hielt er es nicht mehr aus. Tränen strömten über seine Wangen, seine Hände zitterten, doch bevor er es sich anders überlegen konnte, griff er eines der Kissen und drückte es fest auf Maries Gesicht. Noch einmal bäumte sich der schmächtige Körper auf, zuckte – und dann war es ganz still. Als Johann das Kissen schließlich wieder hob, wirkte ihr Gesicht friedlich. Wie schnell der Tod gekommen war. Johann sah mit einem dumpfen Gefühl in der Brust auf seine Schwester hinab. Er begann noch im selben Moment zu zweifeln, ob er sich richtig entschieden hatte, und begriff, dass ihn diese Tat von nun an sein ganzes Leben lang verfolgen würde.
Rolandseck, den 15. August 1817
Liebe Bettine,
vor zwei Tagen sind Peter und ich zu unserer Rheinreise aufgebrochen, und im letzten Moment brachte mir die Post in Köln noch die Abschrift der Rheinmärchen deines Bruders, für die ich dir herzlich danken will. Du schreibst, es komme eine Loreley darin vor. Das macht mich sehr neugierig, und, ja, ich gestehe – und bitte sieh es mir nach (und verrate es nicht meinem Mann) –, dass ich immer noch ein bisschen für Deinen großen Bruder schwärme. Nie werde ich vergessen, wie wir zwei Mädchen in der Laube saßen und ich Dir das Liebesgedicht gezeigt habe, das ich für ihn geschrieben hatte. Es war das Jahr, in dem Peter Lehrer an unserem Institut wurde, aber zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass ich ihn da noch nicht persönlich gekannt habe. Und ich ahnte ja auch nicht, wie sehr Du selbst in Clemens verliebt warst. Du warst ja erst dreizehn – und noch dazu seine Schwester! Doch Gott weiß, dass unsere Träume von damals unsere Mädchenjahre beflügelt haben, ohne Schaden zu hinterlassen.
Ich soll endlich wagen, etwas von meinen Sachen an die Zeitung zu schicken, sagst Du, und Deine Zuversicht, dass meine Reise an den Rhein in dieser Hinsicht wenigstens eine kleine Ernte einfahren könnte, gibt mir Hoffnung. »Reisebriefe vom Rhein« – wie würde Dir der Titel gefallen? Also sei doch bitte so gut und hebe alles auf, was ich dir von unterwegs zusende. Zum Kopieren fehlt mir leider die Zeit – und da ich glaube, dass das Natürliche im Erleben viel besser herauskommt, wenn es einem leibhaftigen Menschen und nicht einem erdachten Publikum geschildert wird, werde ich meine Reisebeschreibung der Post anvertrauen und Dir nach Berlin senden. Du kannst sie mir ja bei Gelegenheit dann wieder zurücksenden – vielleicht sogar mit ein paar Anmerkungen. Das wäre natürlich himmlisch.
Eine innige Umarmung für dich und deine Lieben sendet dir deine dir herzlichst zugetane Freundin
Elisabeth
Elisabeth legte die Feder beiseite, trocknete die Tinte mit Löschsand und ging zum Teetisch hinüber, um sich aus dem Samowar eine Tasse einschenken zu lassen. Sie und ihr Mann Peter waren im Haus einer Witwe untergekommen, die zwei Gästezimmer für Reisende und einen hübschen kleinen Salon bereithielt, bei dem es sich allerdings auch um ihr privates Wohnzimmer handelte. Es war inzwischen vier Uhr. Peter hatte mit einem Geschäftsfreund in Bonn zu Mittag gegessen – und hätte eigentlich schon vor einer Stunde zurück sein sollen. So langsam wurde Elisabeth unruhig.
»Ist Ihr Mann so etwas wie eine Berühmtheit, Frau Merkens? Ich habe heute früh seinen Namen in der Zeitung gelesen.« Die Wirtin schlug die Rheinischen Nachrichten auf und hielt sie Elisabeth hin. Es war ein Bericht aus Köln – und richtig, da stand sein Name: Peter Merkens.
»Er hat jedenfalls immer viel zu tun«, antwortete Elisabeth ausweichend, lächelte freundlich und spitzte die Ohren, denn von draußen drang das Geräusch von Pferdehufen und den Rädern einer Kutsche zu ihnen herein. Der Lärm der Kutsche wurde leiser und verlor sich wieder. Das konnte also nicht Peter sein.
Die Wirtin hätte gerne noch weiter mit Elisabeth geplaudert, doch ihre Fragerei war ihr unangenehm. Sie schob den Brief an ihre Freundin Bettine von Arnim in einen Umschlag und beschloss, nicht länger auf Peter zu warten, sondern allein einen Spaziergang zu machen.
Elisabeth brachte das Schreibzeug auf ihr Zimmer, steckte den Reiseführer in ihre Rocktasche, spannte den Sonnenschirm auf und ging bald darauf am Ufer des Rheins entlang. Das Wetter war herrlich, und während sie den Leuten des Ortes bei ihrem Tagwerk zusah, musste sie sich eingestehen, wie enttäuscht sie darüber war, dass sie sogar heute vergeblich auf Peter wartete. Diese Rheinreise hätte eine Urlaubsfahrt zweier Eheleute sein sollen – und wurde nun doch zu einer Art Geschäftsreise degradiert. »Die Gelegenheit ist günstig, wo ich doch schon mal hier bin«, hatte Peter gesagt, bevor er sie zum Abschied auf die Wange geküsst hatte.
Elisabeth lief die Straße entlang rheinaufwärts. Links neben ihr, ein Stückchen unterhalb, floss ruhig der Strom dahin und offenbarte dem Augenschein nach nichts von seiner reißenden Kraft. Nachdem Elisabeth eine gute Viertelstunde lang zügig gegangen war, drehte sie sich um und betrachtete die malerische Szenerie, die sich ihr nun darbot. Ein Boot segelte von einer sanften Brise angetrieben rheinabwärts und ein Nachen setzte gerade von der Insel Nonnenwerth ans Ufer über. Das Kloster der Benediktinerinnen lugte unter hohen Bäumen hervor, man sah die oberen Fensterreihen, das Dach und den Turm der Kapelle – und eben in diesem Moment begann drüben die Glocke zu läuten, ein freundliches Bimmeln, das mal lauter, mal leiser an ihr Ohr drang. War es etwa schon Zeit für die Vesper? Elisabeth seufzte. Sie hätte zu gerne der Insel und den frommen Frauen einen Besuch abgestattet, das Kloster war als eines der ganz wenigen der Säkularisierung unter den Franzosen entgangen, doch da Peter nun so spät dran war, würde die Zeit vermutlich nicht mehr reichen.
Sie ließ ihren Blick schweifen und verglich, was sie sah, mit den Angaben des Reiseführers. Linker Hand erhob sich ein steiler Hügel, der von einem großen steinernen Bogen beherrscht wurde, ein Überbleibsel der mittelalterlichen Burg Rolandseck, und rechter Hand, über die Insel und den Rhein hinweg, blickte sie auf die Ruinen der Burg Drachenfels am anderen Ufer. Dahinter erhoben sich, wie eine Reihe treuer Vasallen, die Anhöhen des Siebengebirges.
Elisabeth fand einen Baumstumpf, der sich als Sitzgelegenheit eignete, ließ sich darauf nieder und blätterte suchend durch die Seiten des Buches. Richtig, da war es, Lord Byrons berühmtes Gedicht: The Castled Crag of Drachenfels.
Weit droht ins offne Rheingefild
Der turmgekrönte Drachenstein;
Die breite Brust der Wasser schwillt
An Ufern hin, bekränzt vom Wein,
Und Hügeln, reich an Blüt’ und Frucht
Und Au’n, wo Traub’ und Korn gedeihn,
Und Städten, die an jeder Bucht
Schimmern im hellen Sonnenschein:
Ein Zauberbild! – Doch fänd’ ich hier
Zwiefache Lust, wärst du bei mir!
Sie ließ das Buch sinken und sah wieder auf den Rhein. Schmetterlinge flatterten über den Weg davon, die Luft duftete nach Kräutern, und die Weinberge auf den Hügeln ringsumher boten einen Anblick, der Fülle und Genuss versprach. Ein Zauberbild! Ach, wäre Peter jetzt nur hier, um diesen Augenblick mit ihr gemeinsam zu genießen.
Gedankenverloren blätterte sie wieder in ihrem Reiseführer. Elisabeth liebte das Lesen, und sie und Peter hatten damals, als sie sich kennenlernten, noch nächtelang über Romane und Theaterstücke diskutiert, über Goethes Werther etwa und Schillers Räuber – oder über die Märchen von E.T.A. Hoffmann, die Werke von Novalis, Clemens Brentano und Achim von Arnim.
Doch heute fand Peter überhaupt keine Zeit mehr für Schöngeistiges. Er las keine Romane mehr, hatte das Interesse am Theater verloren – und Elisabeths Versuche, sich als Autorin zu verwirklichen, entgingen beinahe komplett seiner Aufmerksamkeit. Sein Augenmerk galt einzig und allein seiner Arbeit, und obwohl er Elisabeth gewiss immer noch sehr liebte und bereit war, ihr nahezu jeden materiellen Wunsch zu erfüllen, konnte er ihre Begeisterung für stimmungsvolle Lektüre und ihre Sehnsucht nach seelenvollen Naturerlebnissen kaum mehr nachvollziehen.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die nun schon deutlich tiefer am Himmel stand, und erinnerte Elisabeth daran, dass sie bereits eine ganze Weile unterwegs war. Sie machte sich auf den Rückweg.
Peter war endlich wieder da, doch er hatte Elisabeth nicht vermisst, was sie noch ein bisschen mehr verstimmte, und zudem war er nicht allein. Er hatte seinen Geschäftsfreund aus Bonn mitgebracht, einen Herrn Noelle. Die Wirtin hatte ihnen für den Abend ein Gasthaus empfohlen, wo sie nun zu dritt einkehrten, um Schweinesülze, Brot mit Butter und ein Salat aus Gurken und Radieschen zu essen. Dazu gab es Wein, einen feinen Riesling, der säuerlich und frisch schmeckte. Elisabeth strengte sich an, freundlich Konversation zu machen, was gar nicht so schwierig war, da Herr Noelle sich als angenehmer Mensch entpuppte, der nicht nur ein Kaufmann, sondern auch ein Feingeist war. Er war höchst aufmerksam ihr gegenüber und dabei die ganze Zeit so ernst, dass Elisabeth unwillkürlich den Wunsch verspürte, irgendetwas zu sagen, das ihn zum Lächeln bringen würde.
»Ich wäre ja zu gerne mit der Wasserdiligence den Rhein hinaufgefahren. Doch mein Mann war dagegen. Er fürchtet, es sei nicht bequem genug für mich«, sagte sie, an ihn gewandt.
Bei einer Wasserdiligence handelte es sich um eine Art Postkutsche auf dem Wasser, ein Boot, das jeweils von drei oder vier Pferden vom Ufer aus stromaufwärts gezogen wurde. Die Diligencen hatten einen Aufbau in der Mitte, der gegen Sonne und Regen schützte, und vorne und hinten einen Freisitz, wo sich die Passagiere bei gutem Wetter aufhalten konnten, und es gab sogar eine Kabine für zwei Personen, in der man sich gegen entsprechendes Entgelt an Bord zurückziehen und schlafen konnte. Elisabeth stellte es sich romantisch vor, so zu reisen.
»Wie stehen Sie dazu, Herr Noelle?«, fragte sie und hoffte insgeheim, er würde sich ihrer Meinung anschließen.
Doch das tat er leider nicht. »Da muss ich Ihrem Mann recht geben«, sagte er. »Gegen den Strom zu fahren ist sehr mühsam. Mit der richtigen Gesellschaft kann es unterhaltsam sein – aber immer ist es mühsam. Ganz sicher nicht das Richtige für eine Dame.«
»Da hast du es, meine Liebe!«, sagte Peter. »Die Straßen sind das Beste, was die Franzosen uns hinterlassen haben, und gerade diese hier entlang des Rheins ist eine der am besten ausgebauten des Landes, für Pferde, Wagen und Passagiere gleichermaßen bekömmlich.«
Elisabeth erinnerte sich an die ziemlich ereignislose Fahrt hierher und an ihren Spaziergang vorhin und nickte brav.
»Aber – jetzt mal abgesehen vom Komfort. Vom Wasser aus erlebt man doch bestimmt alles ganz anders. Intensiver«, wandte sie sich erneut an Herrn Noelle.
»Wenn Sie so wollen …«, sagte Herr Noelle, wurde jedoch von Peter unterbrochen.
»Außerdem kommt es beim Treideln immer wieder zu schlimmen Unfällen«, sagte er.
»Wirklich?«, sagte Elisabeth.
»Die Pferde brechen aus und ziehen das Boot ans Ufer oder, was noch schlimmer ist, sie gehen ins Wasser und bringen so das Boot und die Passagiere in Gefahr.«
»O mein Gott«, sagte Elisabeth, dachte jedoch dabei, dass Peter gewiss übertrieb, um sie von ihrer Idee abzubringen.
»Ich habe selbst schon Waren an den Fluss verloren, der finanzielle Schaden war enorm.« Peter griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Du erinnerst mich da an etwas, meine Liebe. Ich denke schon länger darüber nach, eine Versicherungsgesellschaft für die Frachtschifffahrt zu gründen. Ich muss mich unbedingt darum kümmern.« Er zwinkerte ihr zu.
Elisabeth entzog sich seinem Griff und gab ihm einen Klaps. »Beim Reden über Unglücksfälle ans Geldverdienen zu denken, das bekommen auch nur Männer hin«, sagte sie mit gespielter Empörung und sah dabei Herrn Noelle an.
»Bitte werfen sie uns nicht alle in einen Topf, liebe Frau Merkens«, sagte der und ließ tatsächlich den Anflug eines Lächelns sehen. »Es wird sicherlich nicht mehr lange dauern, und wir können uns auf ein Dampfschiff setzen und ganz bequem den Rhein hinauf bis nach Mainz, Straßburg oder Basel fahren.«
Peter reagierte sofort auf diesen Einwurf. »Haben Sie auch die Prinz von Oranien im letzten Jahr gesehen, Herr Noelle?«, fragte er mit Begeisterung in der Stimme.
»Ja, das habe ich. Was ist mit Ihnen, Frau Merkens, waren Sie auch dabei?«
Elisabeth nickte. Genau wie die halbe Einwohnerschaft von Köln hatte auch sie im Juni des vergangenen Jahres am Rheinufer gestanden und das holländische Schiff bewundert, das ohne Segel ungemein schnell gegen die Strömung den Rhein heraufgefahren gekommen war. Den Schub hatte es von zwei großen Schaufelrädern in der Schiffsmitte erhalten, die von einer Dampfmaschine angetrieben worden waren. Peter hatte mit seinen Freunden und Geschäftspartnern tagelang kein anderes Thema gehabt. Bei dem Dampfschiff hatte es sich um ein ursprünglich englisches Paketboot gehandelt, das zuvor unter dem Namen Defiance auf der Themse verkehrt war. Die Engländer waren führend auf diesem Gebiet, auch in Australien und Amerika verkehrten schon Linienschiffe, die per Dampf angetrieben wurden.
Elisabeth hatte der Anblick des Dampfers allerdings nicht mit derselben Ehrfurcht erfüllt, wie ihren Mann. Der schwarze Rauch, der aus dem Schornstein gequollen kam, war zwar eindrucksvoll gewesen, aber nicht unbedingt malerisch. Sosehr sie sich wünschte, auf dem Rhein zu fahren, würde das gerade im Sommer, wo man doch inzwischen bevorzugt helle Farben trug, von Nachteil sein. Sie stellte sich vor, wie sehr die Sommerkleider der Damen bei dieser Art der Fortbewegung leiden mussten. Doch für Einwände dieser Art hatten die Herren kein Ohr, also versuchte sie gar nicht erst, sie vorzutragen.
»Woher nehmen Sie diese Zuversicht im Hinblick auf die Dampfschiffe, Herr Noelle?«, fragte sie. »Soweit ich weiß, wollte die Prinz von Oranien ursprünglich bis nach Frankfurt fahren, musste aber schon in Bonn wieder umkehren.«
»Beim ersten Anlauf mag es nicht funktioniert haben, aber die Engländer haben sehr fähige Ingenieure. Sie werden keine Ruhe geben, bis die Motoren stark genug sind.«
Peter nickte zustimmend. »Es ist das Geschäft der Zukunft. Da bin ich ganz Ihrer Meinung, werter Herr Noelle.«
»Werden Sie investieren, wenn es so weit ist?«
Peter nickte. »Das kann ich mir sehr gut vorstellen.«
»Du willst unter die Reeder gehen?«, fragte Elisabeth lachend. »Das ist ja das Allerneueste.« Sie war ja viel von Peter gewöhnt, doch von eigenen Schiffen hatte er bisher noch nicht gesprochen.
»Natürlich nicht sofort. Es wird sicher noch ein paar Jahre dauern.«
»Aber ist die Strömung des Rheins nicht viel zu stark? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man eine Maschine bauen kann, die sechs oder acht Pferde ersetzt«, wandte Elisabeth ein.
»Nicht sechs oder acht. Zwanzig oder dreißig müssen es schon sein«, korrigierte Peter sie.
Elisabeth stellte sich eine Kutsche vor, die von dreißig Pferden gezogen wurde, und musste erst recht lachen. »Das ist doch unmöglich. Wie soll das denn funktionieren?«
»Die Motorkraft der Dampfschiffe wird tatsächlich mit Pferdestärken beschrieben, Frau Merkens«, sagte Herr Noelle. »Die Prinz von Oranien hatte zwölf.«
»Zwölf! Und das hat trotzdem nicht gereicht?«
»Beim Treideln rechnet man zwei Pferde pro zehn Tonnen Last«, erklärte Peter. »Für hundert Tonnen braucht man also zehn bis zwölf Pferde, die Prinz von Oranien wiegt vermutlich mindestens so viel. Das zeigt, wie effektiv die Technik bereits funktioniert. Die Strömung auf dem Mittelrhein ist allerdings viel stärker als weiter oben im Norden, wo das Flussbett breiter ist.«
»Dann bleibt es wohl dabei, und die Dampfschiffe können ohnehin nur dort oben im Norden verkehren«, sagte Elisabeth.
»Der Rhein ist natürlich sehr verschieden von der Themse oder dem Hudson«, sagte Herr Noelle. »Insbesondere der Mittelrhein ist für seine starke Strömung berühmt. Ich bin trotzdem davon überzeugt, dass Dampfschiffe eines Tages den gesamten Rhein befahren werden. Man braucht dafür nur einen größeren Motor.«
»Und Kohlen in guter Qualität, um eine ausreichend große Hitze zu erzeugen«, warf Peter ein.
»Ich vermute, dass es schon mit einer Leistung von zwanzig Pferdestärken möglich sein wird, die Strömung des Rheins zu bewältigen. Was denken Sie, Herr Merkens?«
»Zwanzig oder vielleicht fünfundzwanzig, davon gehe ich auch aus. Stellen Sie sich nur vor, wie sehr das den Warentransport in Richtung Süden vereinfachen würde.«
Das begeisterte Leuchten in Peters Augen offenbarte Elisabeth, welche enormen Warenströme er schon vor sich sah.
»Am Ende wirst du noch selbst Dampfschifffahrtskapitän«, sagte sie neckend.
Kurz darauf verabschiedeten sie sich von Herrn Noelle, wenn auch nur bis zum nächsten Morgen, da Peter ihm für die Weiterreise einen Platz in ihrer Kutsche angeboten hatte. So nett der Herr auch war, versetzte es Elisabeth einen Stich, dass ihr Mann so bereitwillig ihre Zweisamkeit opferte, ohne überhaupt nach ihrem Einverständnis zu fragen.
Am nächsten Tag setzten sie also zu dritt ihren Weg fort. In Koblenz statteten sie der mächtigen Burg Ehrenbreitstein einen Besuch ab, die Elisabeth allerdings nicht sonderlich zusagte, weil sie ihr zu groß und unübersichtlich war. Sie schlief in der Nacht schlecht und war am folgenden Tag ziemlich müde. Bei der Weiterfahrt nickte sie darum auch ein, so dass sie, als der Wagen mit einem Ruck plötzlich zum Stehen kam, fast vorneüber vom Sitz gefallen wäre, wenn Herr Noelle, der beide Hände nach ihr ausstreckte, um sie zu halten, sie nicht aufgefangen hätte. Es überraschte Elisabeth, die eben noch halb wachend, halb schlafend, vor sich hingeträumt hatte, ihm plötzlich so nahe zu sein. Sie roch die Seife, mit der er sich am Morgen rasiert hatte, und dazu ging ein leichter Geruch nach Pfeifentabak von ihm aus, der ihr gefiel. Peter rauchte nicht, dabei sah sie es gerne, wenn ein Mann eine Zigarre oder eine Pfeife in der Hand hatte. Herr Noelle lächelte ihr zu, und ein paar Sekunden lang sahen sie einander in die Augen – seine besaßen einen warmen Braunton –, und dann bückte er sich, um das Handtäschchen aufzuheben, das ihr heruntergefallen war. Der verwirrende Moment der Nähe war vorüber. Elisabeth ordnete ihren Umhang, strich ihren Rock glatt und setzte sich wieder gerade hin.
Peter hatte davon nichts mitbekommen. Er war damit beschäftigt herauszufinden, was auf der Straße vor sich ging, denn die Kutsche stand immer noch still und von draußen waren laute Stimmen zu hören. Er streckte den Kopf zum Fenster hinaus.
»Was ist passiert?«, rief er zum Fuhrmann nach vorn.
»Ein Wagen hat einen Achsbruch erlitten. Er muss erst aus dem Weg geschafft werden«, sagte der Kutscher in gemütlichem Ton. Während Peter ergeben seufzend seine Zeitung hervorholte, stiegen Elisabeth und Herr Noelle aus, um sich umzusehen.
Die Kunststraße lag oben auf einem Damm, und ein Stück weiter unten verlief der Leinpfad, der jedoch von keinem Wagen benutzt werden durfte – wenn auch ein Verbot nicht unbedingt nötig gewesen wäre, da er sich ohnehin in einem sehr schlechten Zustand befand, so aufgewühlt und schlammig wie er war. Ein Boot, von einem einzelnen Pferd gezogen, kam hinter ein paar Sträuchern in Sicht.
»Eine Pferdestärke«, sagte Elisabeth augenzwinkernd zu Herrn Noelle, womit sie auf ihr Gespräch von vor zwei Tagen anspielte. Es war keine sonderlich feinsinnige Bemerkung, doch Herrn Noelles Mundwinkel hoben sich leicht. »Richtig«, sagte er.
Er sah wirklich ziemlich gut aus, dachte Elisabeth plötzlich und wunderte sich, dass ihr das bisher noch nicht aufgefallen war. Er hatte diese braunen, stets etwas fragend dreinblickenden Augen, braune Haare, ziemlich buschige gerade Brauen und gepflegte Koteletten. Sein Kinn war glattrasiert und seine Lippen, die so selten lächelten, waren wohlgeformt.
»Was schreiben Sie eigentlich, Herr Noelle? Mein Mann hat erwähnt, dass Sie auch Schriftsteller sind?«
»Das hätte er nicht tun sollen«, wehrte Herr Noelle verlegen ab. »Kleine Geschichten, nicht der Rede wert. Dann und wann findet sich eine Zeitung, die etwas von mir publiziert«.
»Ich würde sehr gerne einmal etwas von Ihnen lesen«, sagte Elisabeth. Eine eigentümliche Stimmung ergriff sie, vielleicht eine Ahnung, jedenfalls schauderte es sie plötzlich, und sie zog ihren Schal enger um sich.
Der Tag hatte freundlich begonnen, doch nun sah es nach Gewitter aus. Eine dicke schwarze Wolke war gerade im Begriff, sich vor die Sonne zu schieben, so dass Teile der Landschaft bereits von Schatten überzogen waren, während andere noch im hellen Licht lagen. Stromabwärts vollführte der Fluss mehrere Biegungen, weil er vom unerbittlichen Gestein immer wieder gezwungen wurde, die Richtung zu wechseln, und über die schimmernde Wasserfläche hinweg sah man auf bewaldete oder mit Weinbergen und Obstgärten bedeckte sonnenbeschienene Hügel, die von einer Burg gekrönt wurden, von der jedoch nur die Umrisse zu erkennen waren. Unterhalb der Burg lag ein Ort, den sie passiert haben mussten, ohne dass Elisabeth es mitbekommen hatte. Wie durch ein Schlüsselloch blickte sie auf die heitere Szenerie, denn davor lag, von der Sonne abgewandt, ein hoher Fels, an den sich heldenhaft ein paar einzelne Bäume und Büsche krallten. Die Wand endete jäh. Das nahezu senkrecht abfallende Gestein wurde weiter unten vom Wasser umspült. Falls es dort einen Pfad gab, dann war er jedenfalls an diesem Tag nicht zu sehen, geschweige denn zu passieren. Wer an diesem Brocken vorbeiwollte, musste hinauf- und wieder hinuntersteigen. Ein paar Salmfischer waren im Schatten des Berges dabei, ihre Netze ins Boot zu ziehen.
»Wie heißt die Burg dort hinten?«, fragte Elisabeth Herrn Noelle, der in seinem Reiseführer blätterte.
»Das müsste Burg Katz sein«, sagte er. »Sie verdankt ihren Namen ihren Erbauern, den Grafen von Katzenellenbogen. Es gibt auch eine Burg Maus. Die Herren waren sich nicht wohlgesonnen, wie man sich denken kann. Der Ort, den man dort sieht, ist Sankt Goarshausen.«
»Und diese Felswand?«
»Das ist die Loreley«, sagte Herr Noelle.
Die Loreley!
Elisabeths Herz schlug schneller. Ohne den Unfall und den erzwungenen Halt, wäre sie womöglich hier vorbeigekommen, ohne den berühmten Felsen überhaupt zu bemerken.