Lorettas letzter Trip - Edie Calie - E-Book

Lorettas letzter Trip E-Book

Edie Calie

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Beschreibung

Caro lebt in einer glücklichen Beziehung, tritt demnächst eine Beförderung an und praktiziert Yoga. In diese Idylle platzt der Tod ihrer Ehefrau, von der ihr Freund nichts weiß und Caro nichts mehr wissen will. Ohnehin existiert die Ehe zwischen Caro und Loretta Love nur auf dem Papier und die gemeinsame Band »The Heebie-Jeebies« hat Caro längst verlassen. Als dann ein Brief mit Lorettas letztem Willen auftaucht, beginnt ein aberwitziger Trip, der von Wien über das ehemalige Bambi Kino in Hamburg auf ein Kreuzfahrtschiff mit Beatles-Coverband bis nach London führt – und Caro findet sich plötzlich mitten in ihrem alten Rockstar-Leben wieder … »Lorettas letzter Trip« ist ein Roadtrip auf den Spuren der Beatles mit temporeichem, frischem Erzählstil und einer Prise österreichischem Humor.

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Edie Calie

Lorettas letzter Trip

Roman

HELMER

 

 

 

 

 

 

EDIE CALIE, 1987 geboren, wuchs in Norddeutschland und Österreich auf. Sie studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien, sowie Digitale Kunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Seit 2006 lebt sie in ihrer Wahlheimat Wien, arbeitet als Videokünstlerin und Freie Autorin. Bisher unter anderem für zeit.de, Kurier online, VICE Alps, VIRTUE Austria und LAUFSPORT Marathon. Ihr Debütroman »3 a.m.« (Edition Roter Drache, 2013) wurde für den SERAPH Literaturpreis (»Bestes Debüt«) nominiert. 2022 erschien ihr Roman »Erzähl es den Bäumen« im Milena Verlag.

 

ISBN (E-Book) 978-3-8974-906-3

ISBN (Print) 978-3-8974-488-4

© E-Book nach der Originalausgabe

© 2024 Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach a. Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von © Nikoloz / AdobeStock

 

Ulrike Helmer Verlag

Klosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach a. Taunus

E-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

1

»Für dich!«, brüllte David über das Rauschen der Dunstabzugshaube hinweg. Caro sah an der geöffneten Glastür vorbei, wie zwei uniformierte Polizisten und eine Frau in Zivil in den Flur ihrer Wohnung traten. Automatisch scannte sie ihre Umgebung nach inkriminierenden Gegenständen.

Stand eine Hanfpflanze rum? Lagen durchsichtige Baggies mit weißem Pulver auf dem Couchtisch? Diebesgut? Quatsch! Wa­rum denn Diebesgut? Sie hätte sich niemals getraut, etwas mitgehen zu lassen. Was das andere betraf, so gehörten diese Sachen längst der Vergangenheit an! Trotzdem war der Reflex geblieben, der Polizei keinesfalls Zutritt zu gewähren. Ein Reflex, der David fehlte, wie seine einladende Armbewegung zeigte. Caro zog ihre Mundwinkel in eine neutral-unschuldige Position und rührte weiter mit dem Holzlöffel im Curry.

Die Frau in Zivil trat auf sie zu. Caro fand, dass sie wie eine Volksschullehrerin aussah: praktischer dunkelbrauner Pagenschnitt, weiß-blau gestreiftes T-Shirt, Bluejeans, braunlederne Umhängetasche und dazu passende ausgetretene Lederschuhe. Eine Frau, die es vermutlich gewohnt war, auf die Einhaltung von Regeln zu achten und zu trösten.

»Carolin Wimmer?«, fragte sie.

»Ja?«

»Würden Sie bitte die Lüftung ausschalten? Dann muss ich nicht so schreien.«

Caro drückte den entsprechenden Knopf.

»Danke. Können wir uns setzen?« Die Frau schielte zu den vier Holzstühlen, die um den runden Esstisch standen.

»Ich bleibe lieber stehen«, sagte Caro. Wenn sie sich mit der Polizei in ihrer Wohnung auseinandersetzen musste, dann mit erhobenem Haupt. Sie würde ihnen keinen Vorteil verschaffen, indem sie sich kleiner machte.

»Wie Sie möchten. Es geht um Ihre Ehefrau Johanna Wi­gosch­nig. Sie ist leider vor wenigen Stunden verstorben.«

»Ehefrau?«, fragte David, der nah genug herangetreten war, um mitzuhören. »Da liegt ein Irrtum vor!«

»Ich fürchte –«

»Sie meint Retti.« Caro griff wieder nach dem Kochlöffel. Zum Glück ist nichts Schlimmes passiert, dachte sie. Sie rührte weiter im Curry, während David und die Frau in Zivil sie anstarrten. »Du weißt schon, die eine Freundin von früher, von der ich dir mal erzählt hab.«

David kräuselte die Stirn und sein Unterkiefer klappte nach unten, sodass sein Mund offen stand. Caro hasste diesen vertrottelten Gesichtsausdruck.

An Davids erstem Arbeitstag hatte sie sich gefreut, dass ihr neuer Kollege so unanziehend war, da sie Liebschaften im Büro kategorisch ausgeschlossen hatte. Er sah aus wie ein Silicon-Valley-­Nerd, der sich ungesund ernährte. Bisschen zu klein geraten, die Haare für Anfang dreißig zu schütter, der Wuchs seines Dreitagebarts zu unregelmäßig und das Bäuchlein einen Tick zu groß. Nach ein paar Wochen trafen sie sich privat und freundeten sich an. Mit zunehmender Sympathie hatte er an Attraktivität gewonnen, bis sie sich unleugbar zu ihm hingezogen fühlte. Nur wenn er diesen Gesichtsausdruck aufsetzte, schien der unattraktive David wieder durch und sein IQ-Wert schrumpfte optisch unter fünfzig.

»Loretta Love!«, fügte sie erklärend hinzu. »Die von der Band. Ihr bürgerlicher Name ist Johanna Wigoschnig.«

»Frau Wimmer, haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?«, fragte die Frau in Zivil.

»Retti ist tot, ja!« Caro führte den Holzlöffel zum Mund, schmeckte das Curry ab und schüttete Kurkuma und Salz nach. In wenigen Minuten würde es fertig sein. »Wars das?« Sie sah an der Frau in Zivil vorbei zu den zwei Polizisten, die im Flur standen und betroffen zu Boden blickten.

»Wie ist sie denn verstorben?«, fragte David, der die Kontrolle über seinen Kiefer zurückgewonnen hatte.

»Das ist Gegenstand von Ermittlungen, die Polizei geht aktuell nicht von Fremdverschulden aus. Sie ist gegen Mittag auf der Straße zusammengebrochen. Der Notarzt konnte nichts mehr für sie tun. Sie war sofort tot.«

»Das ist ja schrecklich!«

»Du hast sie gar nicht gekannt!«, sagte Caro.

»Es ist immer schrecklich, wenn ein Mensch überraschend stirbt. Wie alt war sie denn?«

»Drei Jahre älter als wir.«

»Eben! Neununddreißig ist kein Alter zum Sterben!«

»Ich tippe auf Überdosis. Wenn du sie gekannt hättest, tätest du dich eher wundern, dass sie so alt wurde. So viel, wie sie sich reingehaut hat.«

»Warum sagst du so was? Ihr wart mal befreundet. Wenn ich das richtig verstanden habe, sogar verheiratet?« Er sah fragend zur Frau in Zivil, die bejahend nickte. »Verheiratet …!«, wiederholte er. In dem Wort lag ein zukünftiger Streit.

»Das ist ewig her und typisch Retti. Selbst tot macht sie Ärger. Das Timing ist voll deppert. Ich muss das Projekt bis nächste Woche Mittwoch abschließen und dann fahren wir auf Urlaub. Wenn sie glaubt, dass ich mir das von ihr versauen lasse, hat sie sich getäuscht. Ich freu mich schon seit Wochen auf das Re­­­treat.«

»Entschuldigen Sie bitte, meine Freundin steht unter Schock«, sagte David zur Frau in Zivil.

»Wieso entschuldigst du dich für mich? Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren? Plärrend zusammenbrechen? Mich auf den Boden schmeißen und –«

»Alle Reaktionen sind vollkommen normal«, sagte die Frau in Zivil. »Kann ich etwas für Sie tun? Möchten Sie, dass ich jemanden benachrichtige? Weitere Angehörige vielleicht?«

»Weiß Rettis Mutter Bescheid? Sie haben ein schlechtes Verhältnis und Retti will nicht, dass ihre Mutter irgendwas aus ihrem Leben erfährt, aber in dem Fall wärs wohl besser. Oder was glauben Sie?«

»Selbstverständlich. Lebt sie in Wien?«

»Nein, in Kärnten. Ich glaub in St. Veit. Am besten Sie fragen Anna, die weiß das genau.«

»Anna?«

»Anna Moser, Rettis Mitbewohnerin. Falls sie noch zusammenwohnen. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt.«

Die Frau in Zivil klappte die Lasche ihrer Umhängetasche auf und zog einen Zettel hervor. »Die letzte Meldeadresse von Frau Wigoschnig war im sechzehnten Bezirk.«

»Herbststraße? Ja, dann ist das die gleiche Wohnung. Wahrscheinlich wohnt Anna auch noch dort.«

Die Frau in Zivil nickte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun? Vielleicht Ihre Mutter benachrichtigen?«

»Meine? Wieso das denn?«

»Damit jemand für Sie da ist.«

»Nicht notwendig. Meine Mutter weiß auch nichts von der Ehe und mir reicht erst mal eine Person, die auf mich grantig ist.«

»Entschuldige bitte, dass ich keine Luftsprünge mache, wenn ich erfahre, dass meine Freundin, mit der ich seit neun Monaten eine feste Beziehung führe, verheiratet ist! Ich hätte erwartet, dass du mir dieses winzige Detail deiner Vergangenheit mitteilst.« Sein Tonfall sprang in die Oktave der passiven Aggression.

»Das war eine Unterschrift beim Magistrat. No big deal. Wir waren kein Liebespaar. Ich steh nicht auf Frauen. Wir haben zusammengewohnt und in der Band gespielt, das wars.«

»Ach so, na dann habe ich ja keinen Grund, mich zu beschweren«, sagte er sarkastisch.

Sie kostete erneut das Curry. »Fertig!« Jetzt wäre der Zeitpunkt für die Frau in Zivil, sich zu verabschieden, dachte Caro.

»Soll ich bleiben?«, fragte sie stattdessen.

»Wir streiten lieber ohne Publikum.«

»Sie können bleiben und meine Portion essen. Mir ist der Appetit vergangen«, sagte David.

»Genau das meine ich! Das ist so typisch Retti. Sobald sie ins Spiel kommt, gehts nur um sie, sie, sie.«

»Ich lass Ihnen meine Karte da. Falls Sie jemanden zum Zuhören oder Reden brauchen, können Sie mich gerne anrufen. Tag und Nacht.« Die Frau holte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und legte sie auf die Küchenzeile.

»Danke«, sagte David und begleitete sie und ihre Kollegen zur Tür.

Währenddessen nahm Caro zwei Teller aus dem Schrank und füllte das Curry auf.

»Was sollte das?«, fragte er, als er zurückkam. »So reagierst du auf den Tod einer Freundin?«

»Ehemaligen Freundin! Ich hab dir doch erzählt, dass die Freundschaft im Schlechten auseinandergegangen ist. Sie bedeutete mir nichts mehr.«

»Du hast mir nicht erzählt, dass ihr verheiratet wart!«

Caro trug die Teller zum Esstisch, stellte sie ab und setzte sich. »Was genau stört dich? Dass wir verheiratet waren oder dass mir ihr Tod wurscht ist?«

»Beides! Du reagierst so abgeklärt, obwohl ihr definitiv mal mehr wart als befreundet.«

»Ja, wir waren sehr eng, okay? Wir haben zusammen in der Band gespielt und zusammengewohnt und … Nimmst du bitte das Besteck mit?«

David öffnete die Bestecklade und klapperte mit Löffeln und Gabeln.

»Die Hochzeit war ein rechtlicher Formalakt, damit wir abgesichert sind, falls einer von uns was passiert.«

»Ich höre zum ersten Mal, dass jemand seine Mitbewohnerin heiratet.«

»Warum denn nicht? Für Leute in WGs gibts keine gesetzliche Absicherung. Und Retti hat sonst niemanden. Mit ihrem Vater hat sie sich halbwegs verstanden, aber der ist vor Jahren gestorben. Zum Rest der Familie hatte sie keinen Kontakt. Also hab ich ihr den Gefallen getan.«

»Also wars ihre Idee?« Er reichte ihr das Besteck und setzte sich ebenfalls.

»Ja!«

»Und warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Ich habs vergessen. Verdrängt. Ich hab mich nicht verheiratet gefühlt.«

»Wie fühlt man sich denn verheiratet?«

»Keine Ahnung. Für mich hat sich dadurch jedenfalls nichts geändert.«

»Warum hast du dich nicht scheiden lassen?«

»Deswegen! Nach dem ganzen Drama wollte ich meine Ruhe haben. Ich hätts eh gemacht, wenn ich vorgehabt hätte, richtig zu heiraten.«

»Na danke!«

»Es tut mir leid, okay? Und das mit der Scheidung hat sich ja jetzt erledigt.« Sie stocherte mit ihrer Gabel in den Kartoffeln, die zusammen mit Kichererbsen in Kokosmilch schwammen. Eine heiße Dampfwolke stieg vom Teller auf. »Es tut mir wirklich leid!« Sie schob ihre Hand auf seine Tischseite rüber. »Ich hab wegen ihr genug durchgemacht und keine Lust, dass wir uns deswegen streiten. Bitte sei auf meiner Seite.«

Er griff nach ihrer Hand. »Natürlich, aber –«

»Gut! Du weißt, wie stressig die nächsten Tage für mich werden. Ich muss mich voll und ganz aufs Projekt konzentrieren und danach fahren wir schön ins Gasteinertal. Ich freu mich seit Wochen auf das Retreat mit dir. Das haben wir uns verdient. Endlich Zeit für uns.« Sie streichelte seinen Handrücken, wanderte mit ihren Fingerspitzen zu seinem Zeige- und Mittelfinger und rieb sie auf und ab. »Wir könnten ja diesen Workshop besuchen, der dich interessiert.« Beim Durchblättern des Retreat-Programms hatte David besonders lange auf den Punkt Tantra-Workshop für Aufgeschlossene gestarrt. Er hatte mehrfach durch die Blume sein Interesse daran bekundet.

»Meinst du den?« Er wackelte mit dem Kopf und schnalzte mit der Zunge.

»Genau den.« Nach der Sache mit der verheimlichten Ehe, musste sie ihm entgegenkommen. »Aber erst mal essen wir.« Sie zog ihre Hand weg und schob sich eine heiße Kartoffel in den Mund.

 

Dreizehn Jahre zuvor

18. Juni

Ich bin um 10:12 Uhr aufgewacht. Ich hatte ein Seminar und musste Bücher in der Unibibliothek zurückgeben. Abends hab ich mich mit Nikki im Underground getroffen und sie hat Johanna mitgenommen. Ich hasse es, wenn sie zu Verabredungen Leute mitbringt, ohne Bescheid zu sagen oder zu fragen, ob das passt. Ich hab geglaubt, wir treffen uns zu zweit. Zuerst war ich bissl verärgert, aber nach dem ersten Spritzer hats eh gepasst. Prinzipiell mag ich Johanna, bisher fand ich sie sehr schrill und laut. Nikki hat uns von ihrem Tauchurlaub in Ägypten erzählt und musste die letzte U-Bahn nehmen, weil sie morgen früh raus muss. Johanna und ich waren so in Trinklaune, dass wir geblieben sind. Point of no return. Wir haben den Jetzt-ists-auch-schon-wurscht-Spritzer gekürt und danach drei weitere getrunken. Sie hat mir ihr Herz ausgeschüttet. Ihre Band entwickelt sich grad in eine musikalische Richtung, die ihr nicht taugt. Ich war überrascht, wie gescheit und reflektiert sie ist. Nikki hat sie schon öfter mitgenommen, aber so richtig hab ich sie erst heute kennengelernt.

19. Juni

Mein Schädel bringt mich um. So wurscht war der Jetzt-ists-auch-schon-wurscht-Spritzer nicht. Ich hab zweimal gespieben und den ganzen Tag gelitten. Erst die leere Semmel am Abend hab ich drin behalten. Als Michi heimgekommen ist, hat er mir vorgeworfen, dass ich die Uni nicht ernst genug nehme, weil ich im Bett lag und ferngeschaut hab. Keine Ahnung, warum er sich so aufregt. Als tät er nie zu viel erwischen. Er sollte lieb zu mir sein und sich kümmern. Wie ich das mach, wenn er krank ist. Seit ein paar Monaten spielt er sich ständig auf. Vor einer Woche hat er gesagt, ich mach Unordnung, putz zu wenig und geh nie einkaufen. So ein Blödsinn. Er redet, als wär er 50. Ich könnte mich genauso aufregen, dass er dauernd ins Fitnessstudio rennt, keine Zeit mehr für mich hat und sein Atem nach diesen grausigen Eiweißshakes stinkt. Johanna hat mir geschrieben und mich in ihre WG zum Platten hören eingeladen. Anscheinend hab ich gestern erzählt, dass ich die Haptik von Vinyl mag, aber keinen Plattenspieler hab.

28. Juni

Johanna ist so toll! Wir sind voll auf einer Wellenlänge. Sie hat mich von der U-Bahnstation Schweglerstraße abgeholt und von da sind wir ca. 10 min zu ihr gegangen. Sie wohnt mit Elena und Christian zusammen. Elena ist Italienerin und hat gerade Spaghetti gekocht. Johanna hat versucht, mich zu warnen. Ich hab nicht gecheckt, was sie will und eine Portion genommen. Großer Fehler. Das waren die grausigsten Spaghetti, die ich je gegessen hab. Halb roh. Als wir allein waren, hat sich Johanna voll abgehaut. Ihre Plattensammlung ist ein Traum. Sie ist ein riesiger Beatles-Fan, so wie ich. Sie hat eine eigene Beatles-Collection mit sämtlichen Beatles-Covern von anderen Bands und kennt sich voll aus. Ihr Lieblingsalbum ist ebenfalls Revolver und sie hält das Weiße Album auch für überbewertet, wenn man den Gesamtkosmos der Band betrachtet. Obwohl While My Guitar Gently Weeps ein fantastischer Song ist. Sie hat uns Cocktails gemixt und wir haben bis 3 Uhr früh Platten angehört.

5. Juli

Warum hab ich geglaubt, dass Kellnern der richtige Sommerjob für mich ist? Ich hätte wieder im Sommerkino hackeln sollen, wie die vorigen zwei Jahre. Wenigstens zahlen sie im Eiscafé mehr. Schmerzensgeld für das Kindergeschrei. Und ich bin am Trinkgeld beteiligt. Und die Frühschicht ist aus, bevor der Dienst im Kino begonnen hätte. Nach der Arbeit ist Johanna zu mir gekommen. Ich wollte ihr unbedingt The Flaming Lips und Temples vorspielen. Hat ihr beides getaugt. Alles andere hätte mich gewundert. Sie hatte ihre Gitarre mit, weil Nikki ihr gesagt hat, dass wir zusammen in der Schulband waren und ich Bass spiel. Ich hab ewig nicht gespielt. Wir haben was von Michis Gras geraucht und irgendwann hat mich Johanna überredet, meinen Bass rauszuholen. Wir haben bissl gejammt und sie hat spontan dazu gesungen. Ihre Stimme ist unglaublich. So tief, rau und kraftvoll. Als Michi heimgekommen ist, hat er voll rumgestresst wegen dem Gras. Ich hab mich so geniert vor Johanna. Sie hat gesagt: »Your guy gives me the heebie-jeebies«, was wir saulustig fanden.

7. Juli

Johanna und ich gründen eine Band! Im Gegensatz zu ihrer anderen Band spielen wir kein Riot Grrrl/ Punk, sondern eine Mischung aus Beatles, Temples und den psychedelischen Sachen der Flaming Lips. Beim Image und der Optik orientieren wir uns an Glam Rock, inklusive Künstlernamen und extravaganten Bühnenoutfits. Johanna gehts voll am Nerv, dass ihre anderen Bandkolleginnen sich nicht für die Bühne herrichten, sondern auf Authentizität bestehen. So ein Blödsinn. In meinem Alltagsgewand geh ich zum Penny einkaufen und nicht auf eine Bühne. Wir überlegen uns irgendwelche Geschichten für Pressetext und Interviews. Kann sein, dass wir uns als Schwestern ausgeben. Wir wollen Nikki fragen, ob sie als zweite Gitarristin einsteigen will und fürs Schlagzeug will Johanna einen Tim fragen. Der hat bei Fritten Freitag gespielt, bevor er nach Wien gezogen ist, aber sie ist unsicher, ob der mit dem Stil, der uns vorschwebt, was anfangen kann. Als Namen nehmen wir einstweilen The Heebie-Jeebies bis uns was Gescheites einfällt. Johanna findet, der Name klingt zu sehr nach Rockabilly, und sie hasst Rockabilly. Mir ist das wurscht.

30. August

Ich hab mich so mit Michi gestritten. Weil ich vergessen hab, dass Markus morgen seinen Uniabschluss feiert und ich Johanna zugesagt hab, dass ich auf ihre Geburtstagsparty komm. Michi hat so getan, als würde die Welt untergehen. Er könnte ja nachkommen, aber das will er nicht. Er weiß eh, dass ich kein Fan von Markus bin. Warum hat er sich ausgerechnet den als besten Freund ausgesucht? Und was ist das Problem? Soll er halt zu Markus gehen und ich zu Johanna. Ich glaub, er ist eifersüchtig auf Johanna und The Heebie-Jeebies. Weil ich endlich eine Leidenschaft gefunden hab, die nichts mit ihm zu tun hat. Er schiebt so depperte Kommentare, wenns ums Proben geht. Dabei denkt er, dass wir nur einmal die Woche proben. Die anderen Tage hab ich »Spätschicht« oder »treffe eine Freundin«. Dass das notwendig ist, sagt einiges über unsere Beziehung aus. Wahrscheinlich läufts darauf hinaus, dass ich erst einen Sprung zu Markus‘ Abschlussparty schau und dann zu Johanna.

31. August

Montag ist Deadline für meine Seminararbeit und ich hab nichts weitergebracht. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Am Abend bin ich erst mit Michi mitgegangen. Markus hat bei einem fancy Italiener gefeiert, wo die Pizza 13 Euro kostet. Alle Gespräche haben sich um Sport, Uni oder Politik gedreht. Kurz nach 22 Uhr bin ich zu Johanna gefahren, wo die richtige Party abging. Die meisten Gäste waren dem Motto entsprechend gekleidet und die Wohnung war voll im Beachpartystyle hergerichtet. Johanna hatte einen weißen transparenten Kimono an, darunter einen silbernen Bikini und dazu silberne High Heels. Auf ihren Wangen hatte sie die Zahl 27 gemalt und in ihren blonden Haaren steckte eine Muschelkrone. Sie sah aus wie eine Strandgöttin. Nikki und Tim sind in einem Strandkorb gesessen, haben aus echten Kokosnüssen getrunken und über unsere Songs geredet. Irgendwann ist Johanna auf den Tisch gestiegen, hat ihren Ausstieg aus der anderen Band verkündet und dass The Heebie-Jeebies die Zukunft sind. Die meisten waren voll geflasht. Vor allem ihre Bandkolleginnen. Ich hatte auch keine Ahnung, dass sie das vorhat. Umso gespannter waren alle auf The Heebie-Jeebies. Wir hätten gerne was vorgespielt, aber es gibt keine Aufnahmen. Außerdem will sie, dass alle sie Loretta Love nennen. Danach hat sie mir Speed angeboten. Es ist wesentlich unspektakulärer, als ich gedacht hätte. Mag sein, dass ich dadurch länger durchgehalten hab. Es hat sich angefühlt, als hätte ich zwei doppelte Espresso getrunken. Gegen Mittag bin ich heimgefahren und hab Michi alles ­erzählt. Dem war das ziemlich wurscht. Bis auf das Speed. Er hat gesagt, Johanna Loretta hätte einen schlechten Einfluss auf mich. So ein Blödsinn. Ich kann selbst entscheiden. Und wer war denn früher dauernd bekifft? Ich war zurechnungsfähiger als auf Gras. Die Einteilung in harte und weiche Drogen ist sowieso willkürlich. Als wären Gras und Alkohol so harmlos.

 

2

Die Interior Designerin hatte die Deckenlampen des Großraumbüros so konzipiert, dass sie den Sonnenverlauf nachahmten und den Raum der Tageszeit entsprechend belichteten. Nach zwei Wochen hatte die Personalchefin die Einstellungen dauerhaft auf Mittagssonne ändern lassen, um die Arbeitsmoral bis zum Abend aufrechtzuerhalten.

Von ihrem hart erkämpften Fensterplatz sah Caro auf die vorbeifließende Donau hinunter. Theoretisch, denn praktisch schaute sie auf die zwei großen Monitore, die ihr gesamtes Sichtfeld ausfüllten. Auf ihren Noise-Cancelling-Kopfhörern rieselte ihre Lieblings-Deep-Focus-Playlist, die ihr half, sich auf das Konzept zu fokussieren. Zwei Punkte fehlten, darunter ein wesentlicher. Ihr blieben sechs Tage, das Konzept so zu überarbeiten, dass der Kunde die Ideen für seine eigenen hielt und es endlich absegnete. Bisher hatte er immer etwas auszusetzen gehabt. Für die Umsetzung wäre anschließend ein anderer Kollege zuständig. Ab dem 1. Juni würde sie als neue Teamleiterin nur noch die wichtigsten Kunden persönlich betreuen und ansonsten enger mit der Geschäftsführung zusammenarbeiten. Sechs Tage. Die Uhrzeiger liefen ihr davon. Die einzige Möglichkeit, sie einzuholen, bestand darin, ein paar Vierzehn-Stunden-Arbeitstage einzuschieben und das Wochenende im Homeoffice durchzuarbeiten. Die Deadline nächste Woche Mittwoch würde sie auf jeden Fall einhalten! Dann ging es ab in die Berge. Gedanklich sah sie sich in ihren neuen Leggings auf einem Meditationskissen in einem gleißend hellen Raum sitzen. Devi Prayer von Ananda und Craig würde leise im Hintergrund laufen und wohltuender Ylang-Ylang-Duft die Energie im Raum reinigen.

Stopp!

Sie unterbrach ihre Tagträume. Bevor sie sich denen hingeben konnte, musste sie das Konzept fertigstellen. Sie las die zuletzt geschriebenen Sätze. Ihre Finger flogen über die Tastatur.

Telefonklingeln riss sie aus ihrem Workflow. Die Durchwahlnummer des Empfangs leuchtete auf der Anzeige des Festnetz­telefons auf. Sie zog ihre Kopfhörer von den Ohren und hob ab.

»Ja?«

»Frau Wimmer, eine Frau Moser möchte Sie sprechen.«

»Kenne ich nicht.«

Am anderen Ende entstand ein unverständliches Gemurmel. Caro trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Anna Moser«, tönte es durch den Hörer. »Sie sagt, es sei dringend.«

»Nein!«, rutschte es Caro heraus. »Ich meine, es ist grad ungünstig, ich hab gleich ein wichtiges Meeting. Nehmen Sie eine Nachricht entgegen, ich melde mich bei ihr.« Beim »Danke« legte sie auf.

Wenige Sekunden später läutete das Telefon erneut. Caro fluchte. Wozu gab es einen Empfang, wenn die Mitarbeitenden dort unfähig waren, jemanden abzuwimmeln? »Ja!«, meldete sie sich.

»Entschuldigen Sie die erneute Störung. Es wäre besser, wenn Sie runterkommen.« Der Kollege senkte seine Stimme. »Die Frau weint und sagt, dass jemand gestorben ist. Ihre Ehefrau?«

Mist. »Ich komme! Einen Moment.«

Sie knallte den Hörer auf, speicherte das Dokument, schaltete den Monitor aus, nahm ihren Blazer von der Rückenlehne und schlüpfte auf dem Weg zum Lift hinein. Wie konnte Anna es wagen, hier aufzutauchen und herumzuposaunen, dass sie mit einer Frau verheiratet war? Im Büro wussten alle von ihrer Beziehung mit David. Wenn ihre Ehe die Runde machte, würde es sogar das neue Toupet von Pullunder-Fred vom Gossip-Thron stoßen. Am liebsten wäre sie gesprintet, aber sie zwang sich langsam zu gehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Im Vorbeigehen grüßte sie einige Kolleginnen. Es würde sich in so einem Glaskomplex nicht vermeiden lassen, dass jemand sie mit Anna sah. Hauptsache es war niemand, der näher mit ihr zusammenarbeitete. Sie stieg in den Lift. In der Spiegelung kontrollierte sie ihr Aussehen, strich Bluse und Blazer glatt, zupfte an ihrem Pony und klemmte sich je eine Haarsträhne hinters Ohr. Bei der nächsten Bewegung würden sie wieder vorfallen. Der Friseur hatte ihren kastanienbraunen, welligen Bob eine Spur zu kurz geschnitten. In zwei Wochen wäre die Länge ideal. Der Lift sauste sechs Stockwerke nach unten. Was wollte Anna von ihr? Caro hatte auf keine ihrer Nachrichten per WhatsApp, Signal oder Instagramreagiert. Sie hatte ihre E-Mails ignoriert und Anrufe weggedrückt. Wie viele Hinweise waren notwendig, damit Anna checkte, dass sie Ruhe geben sollte?

Die Aufzugtür öffnete sich. Anna wartete beim Empfangstresen. Caro fand, dass sie sich in dieses Businessumfeld so gut einfügte wie ein Flamingo im Hühnerstall. Von Weitem sah sie aus wie vor drei Jahren, als Caro sie das letzte Mal gesehen hatte: Stoppelglatze, schwarze runde Brille, weites rosa Tanktop, unter dem ein schwarzer Sport-BH hervorlugte und Jeans-Hotpants.

Fremde Frauen reagierten auf Anna häufig irritiert und wichen einen Schritt zurück. Caros Theorie zufolge lag das an der unerhörten Selbstliebe, die sie ausstrahlte. Als prallten die Werbebotschaften der Beauty-Industrie, die Milliarden darin investierte, Frauen Makel und Selbsthass einzureden, einfach an ihr ab. Und dass, obwohl sie in einem Körper steckte, den Schönheitschi­rurgen von oben bis unten mit rotem Marker bezonen würden. Anna personifizierte die Sackgasse des Kapitalismus. Caro hatte sie vor ungefähr zwölf Jahren kennengelernt und in all den Jahren ihrer Freundschaft hatte Anna nie etwas Negatives über ihr Äußeres gesagt. Für sie gab es keinen Grund, ihr Gesicht zu schminken oder ihre Cellulite und speckigen Oberarme zu verstecken. In den Kreisen, in denen sich die junge Caro rumgetrieben hatte, war es nichts Besonderes, dass sich Frauen ihre Kopfhaare abrasierten und ihre Körperhaare wachsen ließen, um ihr Verhältnis zu Weiblichkeit zu ergründen oder einen neuen Lebensabschnitt zu markieren. Anna war allerdings die Einzige, die die Stoppelglatze als praktische Frisur ihrer Wahl beibehalten hatte.

Caro durchquerte die Absperrung, die Unbefugte von den oberen Stockwerken fernhielt. Als Anna sie entdeckte, lief sie ihr sofort entgegen. Ihre schwarzen Doc Martens quietschten auf dem Fliesenboden der Eingangshalle. Sie fiel Caro um den Hals und drückte ihr tränennasses Gesicht in Caros Nacken.

»Schon gut.« Caros linker Arm hing schlaff nach unten, mit der rechten Hand klopfte sie Anna auf den Rücken, damit sie ihre Umklammerung aufgab.

»Ich wills nicht wahrhaben!«, schluchzte Anna. Sie löste sich von Caro. »Ich hab versucht, dich zu erreichen, aber du hast wohl eine neue Nummer, so.«

»Komm, wir gehen raus.«

Caro legte ihre Hand zwischen Annas Schultern und schob sie sanft zum Ausgang. Währenddessen suchte sie Blickkontakt mit dem Kollegen vom Empfang. Als er hergestellt war, verdrehte sie die Augen und neigte den Kopf in Annas Richtung, damit er annahm, dass ihre Ehefrau gestorben war und nicht Caros.

Sie betraten den Glasdurchgang, der den Maria-Restituta-­Platz, auf dem sich die U6-Station Handelskaibefand, und die Stromstraßemiteinander verband. Auf erstem herrschte Trubel, weshalb Caro mit Anna rechts in die Stromstraßeeinbog.

»Woher weißt du, wo ich arbeite?«

»LinkedIn. Wir haben so viel zu entscheiden und zu organisieren, so. Welchen Friedhof? Sarg oder Urne? Was für Musik? Beatles klarerweise, aber welche Songs? Habt ihr mal darüber gesprochen, was sie sich gewünscht hätte? Ich weiß nur, dass sie nicht wie ihr Vater beerdigt werden wollte. Nicht in Kärnten und auf keinen Fall katholisch.« Ein neuer Tränenschwall brach aus ihr hervor.

»Woher soll ich das wissen? Wir haben seit Jahren keinen Kontakt. Und was heißt ›wir‹? Ich hab mit der ganzen Sache nichts zu tun!«

»Du warst ihre Frau.«

»Am Papier, nicht emotional.«

»Rechtlich bist du dafür verantwortlich, so.«

»Niemand kann mich dazu zwingen. Und ich zahl keinen Cent, damit das klar ist.«

»Du bist ihre nächste Angehörige. Du und ihre Mutter.«

»Soll die das machen. Ich muss weiterarbeiten.« Sie wandte sich zum Gehen um und betrat wieder den gläsernen Durchgang.

Anna folgte ihr.

»Ihr habt genau aus diesem Grund geheiratet!« Es hallte, als hätte sie es geschrien.

Genau in dem Moment bogen David und ein Kollege um die Ecke.

»Nicht so laut«, zischte Caro. Ihr Geduldsfass war kurz davor überzulaufen.

»Wieso? Schämst du dich etwa, dass du mit einer Frau verheiratet warst?«

»Darum gehts nicht!« Genau darum ging es. »Meine Vergangenheit ist Privatsache und geht keinen was an. Retti spielt seit Jahren keine Rolle mehr in meinem Leben. Wurscht, ob tot oder lebendig.« Sie hoffte, dass die Männer sie ignorierten. Tatsächlich ging der Kollege weiter ins Innere des Gebäudes. David blieb mit einem gelben Billa-Papiersackerl in der Hand stehen und sah zu ihnen rüber.

»Ob es dir passt oder nicht, du bist mit der Unterschrift gewisse Verpflichtungen eingegangen. Denen kannst du dich nicht entziehen.« Anna wischte sich mit den Händen das Gesicht trocken.

»Na, das wollen wir mal sehen.«

»Caro bitte.« Anna wechselte von Konfrontation zu Flehen. »Du hast ihr nach dem Tod ihres Vaters versprochen, dass du verhinderst, dass ihre Mutter sie nach Kärnten holt und im Familiengrab beerdigt, falls ihr was passiert. Das war deine Idee! Ich saß daneben, als du ihr den Antrag gemacht hast.«

»Ich wollte sie trösten. Ich hätte jeden Blödsinn gesagt, um sie aufzumuntern. Sie hat mir versprochen, im Ananaskostüm zu meiner Beerdigung zu kommen.« Caro ging zu David rüber.

»Alles gut?«, fragte er.

»Jaja. Hast du mir was mitgebracht?« Sie schaute in das Einkaufssackerl, in dem sich zwei Kornspitz und ihre Lieblingssorte Hummus befanden. Da sie ihre Mittagspause grundsätzlich am Schreibtisch verbrachte, nahm ihr David in der Regel etwas mit.

»Bitte«, flehte Anna und lief ihr erneut hinterher. »Du musst dich um nichts kümmern. Ich will kein Geld von dir.«

»Und wie willst du das bezahlen?«

»Retti hatte viele Fans. Ich mach Crowdfunding oder versteigere ihre Gitarren. Irgendwas fällt mir ein. Ich verspreche, dass für dich keine Kosten entstehen. Ich will von dir lediglich eine Vollmacht, damit ich ihre Mutter überstimmen kann. «

Caro wollte hart bleiben, aber vor David nicht herzlos wirken. »Okay«, sagte sie großzügig. »Aber ich zahl keinen Cent!«

»Versprochen! Ich mail dir nachher gleich die Vollmacht, die du unterschreiben und zurückschicken musst.«

»Passt.«

Anna verabschiedete sich und ging.

»Wer war das?«, fragte David.

»Anna, Rettis Mitbewohnerin. Keine Sorge, du musst sie dir nicht merken. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hab.«

 

Zwölf Jahre zuvor

1. Jänner

Michi und ich haben uns Vollgas gestritten. Er hat mir vorgeworfen, dass ich gestern unhöflich war, weil ich permanent aufs Handy geschaut hab, als wir Besuch hatten. Ich war anwesend, das ist das Maximum an Höflichkeit, das er erwarten kann. Wer will an Silvester einen depperten Spieleabend veranstalten? Erst recht mit so Spießern wie Markus und Marina? Retti hat Party gemacht, während ich daheimsaß und erraten musste, dass auf einem Post-it auf meiner Stirn Captain Jack Sparrow stand. So viel kann ich gar nicht saufen, damit ich das lustig finde. Logisch, dass ich da öfter mal aufs Handy schau. Rettis Live-SMS-Ticker war wesentlich unterhaltsamer. Am liebsten hätte ich die drei sitzen gelassen und wäre zu ihr gefahren. Im Radio läuft New Year’s Day von U2. Nothing changes on New Year’s Day, singt Bono. Dabei stimmt das nicht! Alles ändert sich. Deswegen heißt es ja Neujahr. Und es muss sich was ändern. Sofort! Ich will Abstand zu Michi. Ich packe jetzt ein paar Sachen zusammen und frag Retti, ob ich bei ihr schlafen kann. Wenn das nicht geht, fahr ich zu Mama und Wolfgang. I will begin again.

2. Jänner

Ich weiß nicht, wies mit mir und Michi weitergeht. Obs überhaupt weitergeht. Hab ich mich getrennt? Wie trennt man sich nach drei Jahren Beziehung? So was haut man nicht leichtfertig weg. Gleichzeitig will ich frei sein. Retti hat gesagt, ich kann so lange in der WG bleiben, wie ich will. Obwohl ihr Zimmer winzig ist und wir uns ihr 90-cm-Bett teilen. Ich muss in Ruhe nachdenken. Es fühlt sich an, als würde dieses Jahr spannende neue Dinge bereithalten und dafür will ich offen sein. Wenn ich bei Michi bleibe, sind die nächsten Schritte irgendwie vorgegeben: Studienabschluss, Job, Heirat, wahrscheinlich Kinder. Wenn ich gehe, ist wieder alles möglich. Wer weiß, wie weit wir es mit der Band schaffen. Wir klingen richtig gut! Retti rechnet mit Auftritten am Nova Rock und Frequency. Bisher hab ich nie gewagt, von was Großem zu träumen. Ich hab immer geglaubt, dass es gescheiter ist, auf Nummer sicher zu gehen. So ein Blödsinn!

28. Jänner

Die Prüfung war schwerer als gedacht. Im Forum haben alle so getan, als wär sie easy-peasy, aber ich musste bei einigen Fragen raten. Ich hoffe, dass es sich ausgeht und ich durchkomme. Retti hat mit zwei Ecstasys zu Hause gewartet, um die abgeschlossene Prüfungswoche zu feiern und mich aufzumuntern. Die Trennung von Michi ging von mir aus, trotzdem zieht sie mich runter. Wurscht, ich will gar nicht dran denken. Wir machen jetzt Party. Nikki hat so von E geschwärmt. Ich hab geglaubt, dass die Tabletten rund und bunt sind. Unsere sind dunkelgraue Dreiecke. Wird schon passen. Retti ist sich sicher, dass es Es sind. Wir haben uns die Safer-Use-Regeln auf Checkit! durchgelesen und geschaut, ob die Dreiecke auf der Warnliste abgebildet sind. Nope. Wir haben sie durchgeschnitten, sodass jede ein Halbes nimmt. Wasser haben wir auch hingestellt, damit wir nicht vergessen zu trinken. Ich bin voll aufgeregt. Ich brauch grad was Schönes in meinem Leben.

29. Jänner

Wow. Einfach wow. Ich weiß gar nicht, wie ich beschreiben soll, was gestern passiert ist. Endlich versteh ich Tomorrow Never Knows: That love is all. That love is everyone. It is knowing. Amen. Wir sind auf Rettis Bett gesessen und haben auf die Wirkung gewartet – und auf einmal wusch! Als würde eine Rakete von meinen Füßen die Wirbelsäule hochschießen. Wie ein Ganzkörper-Orgasmus. Wir haben uns an den Händen gehalten und genossen. Wir haben stundenlang geredet und uns telepathisch verstanden. Ein Wort und die andere wusste den Satz. Es gab keinerlei Barrieren, kein Thema, das zu intim war. Zum ersten Mal haben wir über die Schönheits-OPs geredet, die Retti hinter sich hat, und über die Hormone, die sie nimmt. Alle Gefühle waren so intensiv, so viel Wärme, Liebe und Ehrlichkeit. Wir sind uns auf einer menschlichen Ebene jenseits von gesellschaftlichen Konventionen begegnet. Irgendwann haben wir uns gegenseitig gestreichelt und geküsst. Es hat sich natürlich und schön angefühlt. Ihre Haut ist so weich. That you may see. The meaning of within. It is being.

30. Jänner

Wir sind gestern gegen 3 Uhr eingeschlafen und mittags wieder aufgewacht. Ich hab den ärgsten Mist geträumt und war den ganzen Tag so melancholisch und traurig. Das ist nach E wohl ganz normal. Wir hatten Probe und Retti hat uns einen neuen Song vorgespielt. Er handelt von der unerwiderten Liebe zu einer Hetero-Frau, die sie beschwört, endlich ihren Typen für sie zu verlassen. Das hat mich total verwirrt. Ist der Song als Message an mich gedacht? Sie hat nichts gesagt. Keine von uns hat das Schmusen bisher angesprochen und seitdem ist nichts gelaufen. Ich fands schon sehr schön und irgendwie täts mir taugen, wenn wir das fortsetzen, aber es ist Retti. Sie ist mir in den letzten Monaten so wichtig geworden und ich will auf keinen Fall die Freundschaft aufs Spiel setzen. Wie deppert kann man sein? Als wäre mein Leben nicht kompliziert genug.

2. Februar

Elena ist zu ihrer Family nach Verona gefahren, weshalb ich vorübergehend ihr Zimmer benutzen kann. Das freut mich, denn die letzten Nächte neben Retti waren bissl awkward. Sie tut so als wär nichts. Für mich hat sich was verändert. Das E hat uns so miteinander verbunden und das Runterkommen hat uns auseinandergerissen. Da ist diese Distanz zwischen uns. Wieso weiß ich nicht, ob ich bi oder hetero bin? Ich werde bald 24, da sollte man einen Plan von seiner sexuellen Orientierung haben. Ist man jemals zu 100% hetero? Oder gibt es nicht eh bei jedem dieses Restprozent Unsicherheit für den Fall, dass man die richtige Person trifft? Ich muss meinen Schädel freikriegen, damit ich mich aufs Spielen konzentrieren kann und nicht wieder so einen Blödsinn verzapf wie vorgestern.

8. Februar

Meine Füße bringen mich um. Ich bin von 9 bis 17 Uhr vor dem Donauzentrum im 22. Bezirk gestanden und hab Flyer und ein grausiges Getränk im Tetra Pak verteilt. Palettenweise. Die Leute sind voll drauf abgefahren, eh klar, wenns gratis ist. Danach bin ich direkt in den Proberaum gefahren und wollte mich niedersetzen. Retti hats mir verboten. Sie hat gesagt, ich soll mir das gar nicht erst angewöhnen, weils deppert ausschaut. Eh, aber meine Fußsohlen haben so gebrannt und das Spielen ist im Sitzen leichter. Morgen ist die Promoaktion auf der Mariahilfer Straße. Ich muss mir bequemere Schuhe anziehen. Und ich muss mit Michi reden. Ich seh nicht ein, für eine Wohnung Miete zu zahlen, in der ich nicht wohne. Abends haben Retti und ich zusammen Friends geschaut und sie hat mich gefragt, ob alles in Ordnung ist, weil ich ihr so komisch vorkomme. Ich hab gelogen und gesagt, dass alles passt. Dafür hab mich getraut zu fragen, um wen es bei Leave Him geht. Sie hat mir von dem ersten Mädel erzählt, in das sie mit 15 verknallt war. Es geht also nicht um mich. Wenigstens das ist geklärt.

9. Februar

Elena kommt morgen zurück, weshalb ich mit Retti reden musste. Wie soll ich mit ihr in einem kleinen Bett schlafen, solange die Situation zwischen uns komisch ist? Tagsüber hab ich wieder gehackelt und abends haben wir geprobt. Danach wollte Retti das zweite E nehmen, das noch da ist. Das hat mich voll ausgefreakt. Was, wenn wir wieder schmusen? Will sie das? Will sie deswegen das E nehmen? Ich hab ihr ehrlich gesagt, dass ich unsicher bin, ob ich auf Frauen steh, und dass ich sie total lieb hab, vielleicht mehr als das, aber dass ich unsere Freundschaft nicht kaputtmachen will. Sie hat sich erst nicht ausgekannt, wovon ich rede, und dann hat sie sich voll abgehaut. Für sie hatte das Rumschmusen keinerlei Bedeutung. »Ecstasy made me do it.« Der Name kommt ja nicht von ungefähr. Retti hat gesagt, dass ich nicht bi bin, sondern Bestandteil des Patriarchats, in dem der male gaze so vorherrschend ist, dass wir alle lernen, Frauen begehrenswert zu finden. Keine Ahnung, was genau sie damit meint und ob das stimmt. Wir nehmen das E.

8. Februar

Beim zweiten Mal wars weniger intensiv als beim ersten, trotzdem besser als alle anderen Räusche davor. Ich war so happy, dass wir uns ausgesprochen haben. Ich freu mich so, Retti wieder nah zu sein. Wir haben zu Sgt. Pepper getanzt und haben Pläne für die Band geschmiedet. Wir wollen so schnell wie möglich live spielen und unsere erste CD aufnehmen. Zuerst eine EP. Retti kennt eine Grafikerin, von der haben wir uns die Homepage angeschaut. Die macht voll coole Sachen. Die wollen wir fürs Cover fragen. Wir haben online teures Bühnengewand bestellt, das meiste schicken wir eh wieder retour. Und wir haben Ideen für Musikvideos gesammelt. Eins soll in einem Theater oder in einem alten Kinosaal spielen. Das wird super! Beim Runterkommen musste ich mich übergeben und hab zum Plärren angefangen. Retti hat eine Lennon-Doku auf YouTube reingegeben. Am Nachmittag ist Elena heimgekommen und hat uns gesagt, dass sie zurück nach Italien geht. Das heißt, ihr WG-Zimmer wird frei.

 

3

»Unpackbar.« Caro starrte auf das Foto, das ihr Anna per Whats­­­App geschickt hatte. 

»Was ist?«, fragte David.

Sie griff nach ihrem Weinglas und trank einen Schluck des Pinot Noir. Zur Feier ihres Urlaubsbeginns hatte sie die Flasche Wein geöffnet, die sie ganz hinten im Schrank für einen besonderen Anlass aufbewahrt hatte. Auf dem Esstisch zwischen ihnen türmten sich leere und halb leere Styroporkartons von ihrem Lieblingschinesen.

»Was ist?«, fragte er lauter.

Sie schwieg weiterhin und fixierte fassungslos das Bild.

»Immer machst du das! Du reagierst auf was und sagst nicht, was los ist. Ist es was Gutes oder Schlechtes?«

Wortlos hielt sie ihm ihr Handy hin.

»Ist das Asche?«, fragte er.

»Jep.«

»Es ist weg.«

»Argh. Anna hat eingestellt, dass ihre Nachrichten automatisch nach dreißig Sekunden verschwinden. Wahrscheinlich hat sie von Politikern gelernt, dass man illegale Dinge nicht in Chats bespricht.«

»Wieso illegal? War das Feuer nicht angemeldet?«

»Das ist Rettis Asche.«

»Was?«

»Ja! Keine Ahnung, wie sie da rangekommen ist.«

»Was hat sie damit vor?«

»Nach Hamburg bringen. Wegen dem depperten Brief, den sie gefunden hat.«

»Welcher Brief?«

»Ach.« Caro winkte ab. David setzte den vorwurfsvollen Verheimlichst-du-mir-etwa-wieder-was-Blick auf, weshalb sie weitersprach. »Es gibt einen Zettel. Ursprünglich warens zwei. Ich hab meinen weggehaut. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie ihren noch hat. Wobei, das ist typisch Retti. Jedenfalls steht da drauf, was passieren soll, wenn eine von uns stirbt. Das war als Schmäh gemeint.« 

»Was ist das für ein Schmäh?«

»Wir waren vollkommen drauf, als wir das geschrieben haben. Unzurechnungsfähig.«

David hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, high oder drauf zu sein, und dass man in diesem Zustand Ideen für genial hielt, die sich nüchtern betrachtet als dumm herausstellten. Er verfügte über keinerlei Drogenerfahrung. Ein Kollege hatte ihm auf der letzten Weihnachtsfeier Koks angeboten, was David so entschieden abgelehnt hatte, dass er seitdem auch den Kollegen ablehnte. Das mochte Caro an ihm. Er kam aus einer anderen Welt, weit weg von dem Drugs-, Rock’n’Roll- und Sex-Lifestyle, den sie – in dieser Reihenfolge – geführt hatte. Während sie in ihren Zwanzigern keine Party ausgelassen und sich außer Heroin, Crack und Meth alles reingehauen hatte, was den Geist kurzfristig erfreute, aber Psyche und Körper langfristig ruinierte, hatte David in Mindeststudienzeit studiert, war anschließend von Montag bis Freitag arbeiten gegangen und hatte am Wochenende mit Freunden Basketball und Billard gespielt und dazu das ein oder andere Bier getrunken. Während Caros beruflicher Lebenslauf einer Cross-Country-Strecke mit selbstauferlegten Hürden glich, weil sie bis Anfang dreißig, dem – wie sie es nannte – ›albernen Teenagertraum von der großen Musikkarriere‹ nachgelaufen war, war David wie ein Pfeil dem Karriereziel entgegen geschossen. 

»Und was genau steht in dem Brief?«, fragte David nach einer Weile.

»Dass Anna und ich Rettis Asche in Hamburg im Bambi Kino verstreuen sollen. Beziehungsweise an dem Ort, an dem das Kino gestanden ist. Das hats schon nicht mehr gegeben, als sie das geschrieben hat.«

»Warum an diesem Ort?«

»Weil die Beatles dort in zwei Kämmerchen gehaust haben.«

»Kommen die Beatles nicht aus Liverpool?«

»Ja eh. 1960 haben sie ein paar Monate in Hamburg gelebt und sind jeden Abend aufgetreten. Im Indra-Club und im Kaiserkeller. George, Paul und Pete wurden dann ausgewiesen, John ist freiwillig ausgereist und Stuart ist in Hamburg geblieben. Im Jahr drauf sind sie wieder nach Hamburg gekommen, da waren sie um einiges bekannter und haben woanders gewohnt.«

»Und was hat das mit Retti zu tun?«

»Sie ist riesiger Beatles-Fan. Wie ihr Name verrät.«

David verstand es offenbar nicht.

»Loretta? Get Back?«

Er verstand noch immer nicht.

»Aus dem Lied hat sie ihren Namen. Galgenhumor quasi. Aus Loretta Martin hat sie Loretta Love gemacht, weil sie fand, dass das pornoartiger klingt. Typisch Retti. In dem Brief steht sogar, dass der Song beim Verstreuen gesungen oder abgespielt werden soll.«

»Nur, weil man von etwas Fan ist, will man doch nicht gleich, dass seine Asche dort verstreut wird.«