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Astrid Korten

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Beschreibung

LOST GIRL - DOPPELBAND 2 NO-NAME GIRL & POPPY Band 1: POPPY (Astrid Korten) Die sechsjährige Poppy lebt mit ihrer Mutter in einem heruntergekommenen Vorstadtviertel. Eines Tages ziehen sie in eine prachtvolle Villa zu dem neuen Mann ihrer Mutter. Der neuer „Papa“ erfüllt Poppy jeden Wunsch. Er sagt, er liebt sie, kann mit ihr Erwachsenengespräche führen, und überhäuft sie mit Geschenken. Poppys Mutter ist glücklich. Sie kann sich endlich kaufen, was immer sie möchte. Alles wäre gut, gäbe es da nicht die eine Sache … Erste Stimmen: „Einer der stärksten und gewagtesten Romane dieses Jahres, der auf wahre Begebenheiten beruht. Diese Geschichte über Psychospiele, Missbrauch und Resilienz ist sowohl herzerwärmend als auch unerträglich, vital und außerordentlich beängstigend, und wird von seiner liebenswerten Heldin Poppy beflügelt.“ WAZ BAND 2: NO-NAME GIRL (Astrid Korten & Eva-Maria Silber) Eine Geschichte auf, die sich in vielen Abschnitten so zutragen hat. Während ihrer Zeit bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main kamen Eva-Maria Silber diverse Missbrauchsfälle unter, die Grundlage für LOST GIRL waren. Ende März verschwindet in München die zwölfjährige Greta spurlos. Sie ist nicht die Erste, wissen Polizeihauptkommissarin Mo Celta und ihr Kollege Nico Braun von der Kripo München. Als wäre das nicht genug, werden die Ermittler mit über die Stadt verteilten seltsam inszenierten Skelettteilen konfrontiert. Zeitgleich taucht ein Teenager in der Fußgängerzone auf, gekleidet wie ein Obdachloser und völlig ausgehungert. Und das, obwohl er viel Geld in seinem Rucksack hat. Geld, das die Ausreißerin Peggy dringend braucht. Was ist das Geheimnis des autistisch anmutenden Teenies? Hat er etwas gesehen, was er nicht sehen sollte?

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Lost Girl

DOPPELBAND – Serie BLACK OUT

POPPY (Astrid Korten)

NO-NAME GIRL (Astrid Korten & Eva-Maria Silber)

 

Für Poppy

 

Das Mädchen aus dem Dorf, das alle komisch fanden.

Du kannst stolz auf dich sein und hast meinen allergrößten Respekt.

 

Über das Buch

 

„Das ist unser neues Zuhause“, sagt Mama.

„Poppy, du musst dich nie vor mir verstecken, weißt du das denn nicht?“, sagt er.

„Der hat ein Gesicht wie eine Bowlingkugel“, sagt Oma Becker.

„Euch klar ausdrücken, Leute, sagt einfach klar und deutlich, was ihr meint“, sagt der Lehrer.

Hilfe, denkt Poppy.

 

Die sechsjährige Poppy lebt mit ihrer Mutter in einem heruntergekommenen Vorstadtviertel. Eines Tages ziehen sie in eine prachtvolle Villa zu dem neuen Mann ihrer Mutter.

Der neuer „Papa“ erfüllt Poppy jeden Wunsch. Er sagt, er liebt sie, kann mit ihr Erwachsenengespräche führen, und überhäuft sie mit Geschenken.

Poppys Mutter ist glücklich. Sie kann sich endlich kaufen, was immer sie möchte.

Alles wäre gut, gäbe es da nicht die eine Sache …

 

Erste Stimmen:

„Einer der stärksten und gewagtesten Romane dieses Jahres, der auf wahre Begebenheiten beruht. Diese Geschichte über Psychospiele, Missbrauch und Resilienz ist sowohl herzerwärmend als auch unerträglich, vital und außerordentlich beängstigend, und wird von seiner liebenswerten Heldin Poppy beflügelt.“ WAZ

 

„In Poppy – nach einer wahren Begebenheit – gibt Astrid Korten dem Mädchen Poppy eine Stimme, und mit ihrem leichten, aber messerscharfen Ton gelingt es ihr, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. Sie wirft Licht auf ein dunkles Thema und weiß, wie man mit Humor eine erschütternde Geschichte erzählt - eine großartige Leistung.“ Stadtspiegel

 

1976

Szene 2 – TV-Spot (Zoe)

 

„Nicht alle Papas lassen ihr Kind auf den Vordersitz.

Er sagt, ich habe Glück.“

Ich schau zur Seite auf seinen alten, großen Kopf.

„Mama und ich haben Glück.

Wir sind ganz große Glückspilze.“

(Poppy, sechs Jahre)

 

Das schwarze Auto

 

 

Bei Frau Martin brennt das Licht. Ihre Gardine bewegt sich. Sie hat sie bereits dreimal beiseitegeschoben, um zu sehen, ob wir noch da sind. Wir sind immer noch da. Ich habe ihr zugewunken und geschrien, dass ich Geburtstag habe, aber Mama sagte: „Sei still, Poppy. Du weckst mit deinem Geschrei noch die ganze Straße auf.“

Wir stehen mit Koffern auf dem Bürgersteig vor dem Hochhaus. Weiße Schneeflocken rieseln auf unsere Schuhspitzen. Ich versuche, sie mit der Zunge aufzufangen. Frau Martin hat das falsch verstanden und verschwindet hinter ihrer Gardine.

Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber ich denke, noch sehr früh am Morgen, denn es ist ziemlich dunkel. Die Menschen in unserer Straße schlafen alle noch, außer uns und Frau Martin. Sie ist sehr reich. Innen ist ihr Haus ganz weiß, mit viel Gold und Pink. Ich durfte einmal mitkommen, als Mama dort geputzt hat. Eigentlich war das gar kein richtiges Putzen. Wir haben die ganze Zeit ferngesehen. Ich trank Cola, und Mama rauchte eine Zigarette. Am Ende wischte sie ein bisschen Staub. Ich durfte weiterschauen.

Mama mag das Putzen nicht. Weil sie nicht dafür geboren wurde, sagt sie. Aber sie hat einen Mantel aus lauter Silber gesehen und möchte ihn gern haben. Und Frau Martin wollte ihr fünfundzwanzig Mark bezahlen.

Am Ende des Tages kam Frau Martin in ihr weißes Haus zurück und sagte: „Das war ein einziges Mal, aber nie wieder.“

„Meine Rede“, hat Mama geantwortet. „Das ist ja auch nicht mein Ding. Ich bin Friseurin, ohne Scheiß.“

Heute bin ich sechs Jahre alt geworden. Ich habe noch kein Geschenk bekommen, aber das kommt bestimmt erst später. Mama hatte heute Morgen nicht mal Zeit, um für mich zu singen, denn sie musste die Koffer packen und sich superhübsch anziehen und ihre Beine rauf und runter rasieren und ihr Haar ganz toll föhnen. Ich habe sie schon zweimal gefragt, was wir vorhaben, aber sie hat ihren Finger auf den Mund gelegt und „Pst“ gesagt.

Wir warten. Und warten. Ich schaue auf die Koffer. Vielleicht fahren wir ja in den Urlaub, aber Urlaub kostet Geld, und das haben wir nicht. Plötzlich muss ich an Papa denken.

Juhu, wir warten auf meinen Vater!

Er kommt, um uns abzuholen, weil ich heute Geburtstag habe. Papa ist ein mieser, stinkender Bastard, sagt Mama immer nur, seit er mit dieser anderen Frau zusammenlebt, und ich darf nicht über ihn sprechen. Das mache ich auch nicht. Aber darüber nachdenken – davon hat Mama nichts gesagt. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie Papa aussieht. Vor langer Zeit, als ich noch fünf war, hab ich bei Großmutter Becker ein Bild von ihm gesehen. Ich wollte mir ein dickes Buch anschauen und dabei ist das Foto rausgefallen und auf den Boden gesegelt.

„Er hat die Spatzenschwindsucht, mein Kind, und ist auf und davon“, sagte Großmutter. Sie hat eine ganz raue Stimme. Mama sagt, das kommt vom vielen Rauchen.

Oma hat Papa aufgehoben und ihn sich angeschaut. Er hockte vor einer Heizung. Er war jung und schön auf dem Foto, und sah kein bisschen nach einer Vogelkrankheit aus. Er lachte auch, und ich lachte zurück und fragte Großmutter, ob sie weiß, wo Papa jetzt ist.

„Er ist auf und davon, nach Köln. Hat mit der Musik die Flatter gemacht“, hat sie gesagt und das schöne Foto in den Müll geworfen.

 

Gerade als ich Mama fragen will, ob wir nicht lieber wieder reingehen sollten, fährt ein schwarzes Auto in unsere Straße. Es ist ganz groß und glänzt. Mama steht plötzlich auf den Zehenspitzen und fängt an, wild zu winken. Das Auto kommt auf uns zu und bleibt stehen wie die Kutsche im Märchen. Ein Mann steigt aus. Ich bin ganz schön gespannt.

Aber das kann nicht Papa sein. Der Mann ist uralt. Er trägt einen grauen Anzug. Er hat riesig große Ohren, eine große Nase und eine riesige Brille. Er sieht aus wie ein Chef.

„Mensch, Pick-up, da bist du ja“, sagt Mama.

„Wie versprochen“, sagt der Mann ganz ruhig.

Zwei Worte. Die kurzen Wörter sind die allerbesten, sagt Großmutter immer.

„Und das hier ist meine Poppy.“ Mama zeigt auf mich.

„Sie ist sehr süß“, sagt der Mann im selben ruhigen Ton. Und danach: „Guten Tag, Poppy.“

Sieben Worte. Dann geht alles sehr schnell. Zuerst packen sie die Koffer in den Kofferraum, und nachdem Mama lächelnd auf dem Vordersitz Platz genommen hat, hebt mich der alte Mann hoch und setzt mich auf den Rücksitz. Innen ist alles aus Leder und Holz.

„Mama …?“ Sie hört mich nicht.

Kurz bevor wir wegfahren, sehe ich, wie Frau Martin die Vorhänge wieder öffnet. Jetzt hat sie glühende Augen wie in der Geisterbahn, weil sie das große, schwarze Auto sieht und immer wissen will, was Mama und ich machen. Ganz bestimmt.

Herr Martin steht jetzt auch am Fenster – in einem dunkelblauen Pyjama. Ich rufe: „Auf Wiedersehen“, obwohl ich sie nicht wiedersehen will, aber sie können mich nicht hören, weil der Winterwind jetzt so rauscht.

Frau Martin sagt etwas zu ihm.

Herr Martin zuckt mit den Schultern.

 

Szene 1

 

 

„Meine Mama sagt, das ist unser neues Zuhause.“

 

Das dunkelbraune Schloss

 

 

Mama schüttelt meine Schulter. „Wir sind da, Poppy.“

„Wo?“ Ich bin noch müde.

„Da, wo wir ab jetzt bleiben werden.“ Sie zeigt durch die Windschutzscheibe auf ein Haus, so groß wie ein Schloss.

Der alte Mann trägt unsere Koffer zur Haustür.

„Hier werden wir jetzt leben“, sagt sie, steigt aus dem schwarzen Auto, kommt an meine Tür und öffnet sie mit Schwung. „Komm!“

Ich muss beinahe weinen, weil ich ein bisschen Angst hab, aber sie sieht es nicht, weil sie schon zum Haus läuft. Ich steige schnell aus, laufe ihr hinterher und packe sie an ihrem Rock.

Sie dreht sich um und fragt genervt: „Was ist denn, Poppy?“

„Mama …“

„Was ist denn jetzt schon wieder? Lass meinen Rock los!“

„Aber alles ist doch noch zu Hause“, sage ich.

Der Mann ist bereits hineingegangen. Mama versucht, sich zu befreien, aber ich halte ihren Rock ganz fest.

„Du hast sie doch nicht alle“, schimpft sie. „In der Scheißwohnung gibt es nichts. Alles ist hier. Und jetzt lass sofort meinen Rock los!“

Ich gehorche, und Mama geht zur Haustür. Vor dem Haus ist ein großer Garten, mit kurzem Gras und hohen Bäumen. Auf der anderen Straßenseite steht ein Polizist. Er raucht eine Zigarette und winkt. Ich winke zurück. Dann laufe ich schnell meiner Mama hinterher. Nicht, dass sie noch die Tür schließt und ich alleine draußen stehe.

 

„Das ist jetzt unser Heim, Poppy“, erklärt Mama. Sie klingt ganz anders als normal. So vornehm.

„Was ist ein Heim, Mama?“

Sie rollt mit den Augen und seufzt. „Unser neues Zuhause“, antwortet sie.

Die Diele ist hoch und breit. An der Decke hängt eine Lampe mit Juwelen und silbernen Eiszapfen. Ich versuche, sie zu zählen. Als ich bei sieben bin, steht der alte Mann plötzlich neben mir.

„Ich habe gehört, dass du heute Geburtstag hast.“

Ich schaue zu Mama, die an der Garderobe steht und heftig nickt.

Ja, ich habe heute Geburtstag und hatte es fast schon wieder vergessen.

„Dann kommt mal mit mir“, sagt er.

Fünf kurze Wörter.

Wir gehen mit ihm in ein anderes Zimmer. Es ist dreimal so groß wie der Flur. Alles ist wieder aus Leder und Holz, genau wie im Auto. Es gibt eine große braune Ledercouch und zwei dunkelbraune Ledersessel. Ich sehe Wände mit dunkelbraunen Schränken davor. In einem dunkelbraunen Regal stehen ganz dicke Bücher, auch aus Leder. Dunkelbraun muss seine Lieblingsfarbe sein. Und dann entdecke ich in der Mitte des Raumes ein rotes Kinderfahrrad mit einer silbernen Schleife.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mama schon.

„Oh, Pick-up“, kreischt sie, „das ist verrückt! Oh, schau dir das an, Poppy, hinter dir, auf dem Tisch, da liegt noch mehr!“

Ich drehe mich um. Auf einem riesigen dunkelbraunen Tisch liegen viele Geschenke, ich weiß nicht, wie viele es sind. Mama zählt bis zehn, gibt dem Mann einen Kuss auf die Wange und einen Klaps auf den Hintern. Der Mann verzieht sein Gesicht und tritt einen Schritt von ihr zurück.

„Und weißt du, was so lustig ist, Poppy“, sagt Mama und deutet auf ihn. „Heute ist auch der Geburtstag von Pick-up!“

Er sieht gar nicht nach Geburtstag aus. Er lacht nicht und hat keinen Hut auf.

„Wie alt bist du geworden?“, fragt er mich.

„Sechs.“

„Ich bin zwei mal sechs“, sagt er.

Hm … Fünf Worte. Er will bestimmt auch ein Geschenk.

Mama blinzelt, als ob sie etwas Verrücktes sieht. „Zwei mal sechs? Wieso zwei mal sechs? Du bist doch nicht zwölf!“

„Wir haben kein Geschenk für ihn“, flüstere ich Mama ins Ohr.

„Das ist schon in Ordnung“, sagt der Mann, der mich trotzdem gehört hat.

„Pick-up? Na, ich bin dein Geschenk“, sagt sie und lacht so komisch dabei. „Aber noch nicht auspacken.“

Der Mann beachtet sie nicht und setzt mich auf mein neues Fahrrad.

„Was sagst du dazu, Poppy?“, fragt Mama nun.

„Dankeschön, Herr Pick-up.“

„Herr Pick-up? Verdammt, Poppy, bist du so dämlich? Das ist doch mein Spitzname für ihn. Denk dir mal einen eigenen Namen aus.“

Ich schaue den Mann an und sage: „Danke, Herr Onkelmann.“

Mama fällt fast vor Lachen auf den Boden. „Herr Onkelmann?“, kreischt sie, „Onkelmann! Nun, Pick-up, da hörst du es. Ich glaube, Poppy mag dich. Sie ist fast so eine Ulknudel wie ich, oder?“

Der Mann lacht nicht, er öffnet die Türen zum Garten, packt mich mit einer Hand am Kragen und schiebt mich auf meinem neuen Fahrrad hinaus. Draußen gibt er mir einen Schubs. „Radle ruhig mal ein wenig und sieh dir den Garten an.“

Ich und das Rad fallen sofort um.

„Sie kann doch noch gar nicht Fahrrad fahren, Pick-up“, ruft Mama.

Ich stehe gleich wieder auf und lache, um ihr zu zeigen, dass es nicht wehtut.

„Schau dich erst mal zu Fuß im Garten um, Poppy“, sagt Mama. „Herr Onkelmann wird dir später das Fahrradfahren beibringen.“

Ich laufe im Kreis durch den Garten mit dem kurzen Gras, drehe immer größere Runden, werde schneller und schneller, und breite meine Arme aus wie ein Flugzeug. Ich mache Geräusche, ich kann nichts dafür, so glücklich bin ich. Mama lacht und klatscht in die Hände. Dann bin ich plötzlich so schnell gelaufen und habe so laut geschrien, dass ich ganz schlimm husten muss.

„Sie wird noch ersticken, hol sie lieber wieder herein“, sagt Herr Onkelmann zu Mama.

Ich gehe ins Wohnzimmer, aber das Husten hört nicht auf. Mama klopft mir auf den Rücken, aber das tut wirklich weh.

„Hol Poppy mal ein Glas Limonade, Patricia“, sagt er.

Mama sieht sich um. „Wo finde ich welche?“

„In der Küche.“

Sie verlässt das Wohnzimmer.

Herr Onkelmann kommt näher. „Du bist ja schweißgebadet“, sagt er besorgt, zieht mein T-Shirt ein wenig hoch und legt seine Hand auf meinen nackten Rücken. Seine Finger gleiten von oben nach unten. „Völlig durchnässt, du armes Ding.“

Ich nicke und huste ein wenig extra.

„Heute Abend darfst du ein heißes Bad nehmen, Poppy.“

Ich finde es schön, dass er sich solche Sorgen um mich macht. Dann hören wir Mama. „Pick-up, ich finde die Küche nicht mehr!“ Der Mann verlässt den Raum. Als sie mit meiner Limonade zurückkommen, sagt Herr Onkelmann, dass er noch viel zu tun hat.

Mama schaut auf den Tisch mit den Geschenken. „Wir auch.“

Sobald Herr Onkelmann den Raum verlassen hat, beginnt sie sehr schnell, alles auszupacken. Aufgeregt sehe ich zu. Ich bekomme eine Puppe mit einer Babybadewanne, einen Arztkoffer mit einer Krankenschwesternuniform, ein Teeservice, Filzstifte in allen Regenbogenfarben und einen großen Beutel mit Murmeln.

„Nun“, sagt Mama, „Wenn er schon so anfängt, dann frage ich mich, was er mir zu meinem Geburtstag schenken wird.“

Und weil dies unsere erste Nacht in dem braunen Schloss ist, haben wir Thailändisch gegessen. Herr Onkelmann und ich haben das Essen mit dem großen schwarzen Auto geholt. Mama ist zu Hause geblieben und hat den Tisch gedeckt. Ich durfte im Auto sogar auf seinem Schoß sitzen und das Lenkrad halten. Später habe ich dann die leckeren Sachen gegessen, bis ich nichts mehr reingekriegt hab. Genau wie Mama.

Jetzt liegt sie auf der Couch und schaut fern, während Herr Onkelmann auf der Badematte kniet und mir T-Shirt, Hose und Unterhose auszieht. Die Badewanne ist fast voll.

Als ich nackt bin, muss ich kurz warten, denn zuerst fühlt er, ob das Wasser auch nicht zu heiß ist.

„Jetzt“, sagt er. „Ab in die Wanne mit dir.“ Er packt mich unter den Achseln, um mich über den Wannenrand zu heben. Als ich fast im Wasser bin, zieht er mich wieder hoch.

„Hm“, sagt er. „Das geht doch auch bequemer, oder was meinst du?“

Er hebt mich ganz oft hoch, um herauszufinden, was der bequemste Weg in die Wanne ist. Er sagt „Ups und Uppsala“ nach jedem erfolglosen Versuch.

„Hm“ ist ein sehr kurzes Wort genau wie „Ups“.

Das ist sooo lustig. Ich muss nach jedem Uppsala lauter lachen. Als er die bequemste Art gefunden hat – mit seiner Hand wie ein Kissen unter meinem Po – schwingt er mich über den Rand ins Wasser, zwischen die Enten und das Bötchen. Alles ist neu, und alles ist für mich. Aber ich darf nicht zu lange damit spielen. Ich soll ja auch gewaschen werden, meint Herr Onkelmann.

Das Waschen dauert sehr lange, bis das Wasser langsam kalt wird. Als ich schließlich wieder raus darf, schlottere ich, weil keine Handtücher da sind.

Er sagt, ich soll doch das Herr vor dem Onkelmann weglassen. Dann wäre es doch ein viel netterer Name.

Ich nicke. Onkelmann allein ist auch gut. Er ist ja sehr nett.

Onkelmann trocknet mich mit seinen Händen ab. Er gibt sich ganz viel Mühe.

In der Ferne höre ich aus dem Kassettenrecorder: Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp.

 

Apfelsaft

 

 

„Wenn Opa stirbt, bekommen wir das ganze Geld“, sagt Greta.

„Oh.“ Ich schaue sie mit großen Augen an.

„Pech für dich“, fährt sie fort. „Denn du bekommst nichts. Meine Mutter ist seine Tochter.“

Sie zeigt auf ihre Mutter, die Vanessa heißt und mit Mama mitten im Wohnzimmer in einem großen Loch mit vielen Kissen einen Kaffee trinkt. Es gibt auch eine Bar mit hohen Hockern und einem weißen Teppich.

„Ganz schön flott“, hat Mama gesagt, als wir ins Wohnzimmer gegangen sind. Dabei hat sie die Nase hochgezogen.

Greta und ich sitzen auf dem Boden in einer Ecke. Wir haben Kekse und ein Glas Apfelsaft bekommen.

Mama und ich leben jetzt schon viele Tage in dem großen braunen Schloss, und morgen gehe ich zum ersten Mal zur Schule. Greta ist in der gleichen Klasse. Sie stellt mir ständig Fragen und alle auf einmal.

„Ist dein Vater tot?“

„Nein“, antworte ich, „er ist Heizungsfachmann.“

„Aber tot?“

„Nein, ist er nicht.“

„Was macht deine Mutter dann bei meinem Opa?“

„Wohnen.“

„Bestimmt, weil er so reich ist“, sagt Greta.

Ich habe keine Lust mehr, mit Greta zu reden, aber Mama sitzt immer noch mit Tante Vanessa in dem Loch. Wenn wir etwas zum Spielen hätten, müssten wir nicht reden. „Wollen wir in dein Zimmer gehen?“, frage ich.

„Geht nicht, mein Papa ist oben.“

„Oh.“

„Er schläft. Er ist sehr müde von der Arbeit.“

„Oh“, sage ich noch einmal, weil mir nichts einfällt.

„Er arbeitet für Opa. Mein Vater ist der beste Verkäufer im ganzen riesengroßen Ausstellungsraum.“ Sie tunkt ihren Keks in den Apfelsaft, er fällt auseinander, und ein Teil plumpst ins Glas.

Greta ist die Einzige, mit der ich spielen darf. Sie ist jetzt meine neue Freundin, sagt Herr Onkelmann, denn sie ist harmlos. Wenn man so reich ist wie er, muss man nämlich sehr vorsichtig sein. Alles kann gestohlen werden, auch ich. Seit wir in dem dunkelbraunen Schloss wohnen, darf ich nicht einmal mehr alleine auf die Straße gehen.

„Woher hat deine Mutter diese verrückten Klamotten?“, fragt Greta.

„Gekauft.“ So verrückt sind Mamas Kleider doch gar nicht.

„Warum trägt sie blauen Lidschatten?“

„Sie mag es.“

„Ich nicht.“

Ich glaube Greta kein Wort. Mama ist die allerschönste Frau, die ich kenne. Sie sieht aus wie Barbie. Wenn ich meine Barbies nebeneinanderlege – es sind vierzehn und alle von Onkelmann –, und Mama wäre auch so klein, würde sie wunderbar dazu passen. Sie hat genau solche blonden Haare und blaue Augen. Deshalb ist sie meine Barbie-Mom. Sie trägt auch gerne so weiche Pullover mit Glitzer oder große farbige Sterne vorne oder hinten, die ganz toll aussehen. „Applikationsgirl“, nennt sie sich oft und muss selbst darüber lachen und meint dann: „Ooooh, ich bin vielleicht eine!“ Ich lache immer mit, auch wenn ich nicht weiß, was sie damit meint.

Aber das stimmt auch, ich habe vierzehn Barbies, aber meine Mama ist nur eine.

Gretas Mutter ist sehr dünn. Sie trägt einen Jeansanzug und hat einen großen Haufen orangefarbener Locken auf dem Kopf, wie ein Neger. Dschungelfroschhaar, würde Oma Becker sagen.

Greta und ich schauen zu, wie unsere Mütter Kaffee trinken, ohne irgendwas zu sagen.

„Besuchst du mich auch mal?“, frage ich. „Dann können wir mit meinen Barbies spielen.“

„Nee, darf ich nicht. Sagt meine Mutter.“

„Du darfst nicht mit Barbies spielen?“

„Ich darf nicht zu dir. Du darfst nur zu mir kommen.“

„Wieso?“

Greta antwortet nicht und schaut wütend ihre Pantoffeln an. Da steht Mama endlich auf und klettert aus dem Loch heraus. Sie muss ihren neuen Rock sehr weit hochziehen, sonst klappt das nicht. Ich kann ihre Unterhose sehen. Tante Vanessa und Greta sehen sie auch.

„Tssss“, sagt Greta und rümpft ihre Nase.

Mama zieht ihren Rock wieder runter. „Komm, Poppy, lass uns gehen. Verabschiede dich noch von Tante Vanessa.“

Ich stehe auf und gehe zu meiner neuen Tante, um ihr die Hand zu geben, so wie es mir Onkelmann beigebracht hat.

„Auf Wiedersehen, Tante Vanessa!“

„Auf Wiedersehen, Poppy!“ Sie lächelt nicht, sie sieht mich nur an. Sie hat Augen wie ein toter Goldfisch.

 

Abends am Tisch möchte Onkelmann wissen, wie ich Greta finde.

„Nett“, sage ich. „Sehr nett.“

Onkelmann unterhält sich lieber mit mir als mit Mama. Wenn sie etwas erzählt, hört er gar nicht richtig zu. Er sieht sie auch nicht wirklich an. Wenn ich aber spreche, achtet er auf jedes Wort. Er legt mir oft die Hand auf den Kopf. Oder wie jetzt auf mein Bein. Er drückt es und zwinkert mir dabei zu. Ich kann noch nicht zwinkern, also lächle ich. Danach lächle ich auch Mama an, aber sie sieht es nicht.

„Sag mal, Pick-up“, sagt Mama. „Deine Vanessa, aus der kommt nicht viel raus, sie ist stumm wie ein Fisch.“

„Ich finde, dass Tante Vanessa schönes Haar hat“, sage ich, um Mamas Worte wieder in Ordnung zu bringen. „Und sie haben ein flottes Haus, das hast du doch gesagt, Mama?“

„Wenn man so was mag. Aber billig war das alles sicher nicht, das konnte man sehen. Ich frage mich, wovon sie sich das alles lei…“

„Vanessa hat keine Kosten“, unterbricht sie Onkelmann.

„Wie meinst du das? Die zwei wohnen dort doch nicht umsonst?“

„Genauso umsonst wie du hier.“

„Bezahlst du denen das alles?“ Die Stimme meiner Mutter wird immer lauter.

Onkelmann zerquetscht plötzlich heftig seine Kartoffeln. Das bedeutet, er möchte, dass Mama den Mund hält. Mama sieht das Soßenboot, das er gebaut hat, eine Weile überrascht an. Dann lacht sie laut auf und sagt: „Nun, Pick-up, falls du mir auch eine Sitzgrube schenken willst, vergiss es! Brauch ich nicht. Viel zu umständlich. Da kletterst du eine halbe Stunde herum, um da wieder rauszukommen. Und diese Barmöbel sind bestimmt auch nicht billig. Aber wer will schon wie in einer Kneipe leben, oder?“

Mama beugt sich vor und zwickt Onkelmann in die Wange. Ich weiß, dass er das nicht leiden kann, aber sie hört einfach nicht damit auf. „Verrückt, nicht wahr, diese Vanessa hat alles, was ihr Herz begehrt, und doch kam es mir so vor, als ob sie eifersüchtig auf mich wäre. Die sah mich die ganze Zeit so merkwürdig an. Na ja, bei meiner guten Figur ist die dürre Zicke sicher vor Neid fast geplatzt.“

Onkelmann zerlegt das Boot wieder und isst seinen Teller leer.

Mama ist auch fast fertig.

Ich habe noch nicht einmal die Hälfte geschafft.

„Und Greta hat dermaßen angegeben, stimmt’s, Poppy?“

„Sie hatte leckeren Apfelsaft“, sage ich.

„Greta prahlte damit, dass ihr Vater den ganzen Betrieb alleine schmeißt.“

Onkelmann sieht Mama irritiert an.

„Ja“, lacht Mama. „Während du immer behauptest, dass er in der Zeltfabrik nichts gebacken bekommt.“

Das stimmt. Onkelmann hat schon oft gesagt, dass Tante Vanessas Mann so dumm ist wie ein Schweinehintern und dass er ohne Onkelmann nichts auf die Reihe bekommt.

„Was genau meinst du mit Zeltfabrik, Patricia?“

Mama glüht plötzlich im Gesicht. „Na ja, oder wie heißt es noch?“

„Weißt du denn, wie es heißt?“, fragt er mich.

„Es ist ein Laden für Campingzelte“, sage ich. „Für einen Urlaub.“

„Genau. Und wie heißt ein solches Anhängerzelt?“

„Liberty. Das bedeutet Freiheit.“

„Sehr gut, Poppy.“ Er legt seine Hand auf meinen Nacken.

„Ja, ja, ganz einfach, vier Hände auf einem Bauch. Macht nur!“, sagt Mama.

„Wir müssen heute mal wieder deine Haare waschen, nicht wahr, Poppy?“, sagt Onkelmann.

 

Es ist Sonntag. Sonntags, mittwochs und freitags wird mein Haar gewaschen. Ich mag es viel lieber, wenn Mama das macht. Aber nach dem Abendessen stellt Mama das Geschirr immer in die Spülmaschine und legt sich dann mit einer Lesemappe auf die Couch.

„Poppy hat kaum was gegessen“, sagt sie. „Das kommt von den vielen Keksen bei Greta.“

Ich hatte nur einen, aber das weiß Mama ja nicht.

„Noch fünfmal einen Bissen, dann bist du fertig“, sagt Onkelmann.

Sie sehen mich beide streng an. Onkelmann, weil er denkt, dass es wichtig ist, dass ich esse, und Mama, weil sie es für wichtig hält, dass Onkelmann der Boss ist.

Meine Kehle ist wie zugeschnürt, sodass es mir schwerfällt zu schlucken. Aber ich trau mich nicht zu sagen, dass ich keinen Hunger hab. Nach jedem Biss nehme ich schnell einen Schluck Wasser. Sobald mein Teller leer ist, steht Onkelmann sofort auf.

„Komm“, sagt er.

Mama schaut Onkelmann an. Vielleicht hält sie es heute auch nicht für notwendig. Mein Haar ist noch sauber vom letzten Mal. Aber Mama sagt nur: „Eins kann ich dir sagen: Wenn ich eine solche Figur wie Vanessa hätte, würde ich mich nicht in einen so lächerlich engen Anzug reinpressen.“ Dann steht sie auf, um abzuräumen.

Onkelmann nimmt meine Hand und führt mich ins Badezimmer.

 

 

Schöner geht es nicht

 

 

Eigentlich heißt er Ludovicus, aber Mama nennt ihn immer noch Pick-up, weil er uns mit seinem schwarzen Auto abgeholt hat. Pick-up ist ein englisches Wort und bedeutet abholen, hat Papa mir erklärt. Deshalb ist das jetzt sein Kosename. Er möchte, dass ich Papa zu ihm sage, aber ich vergesse es immer wieder. Ich denke, Onkelmann passt besser zu ihm.

Heute Morgen hatten wir im Auto ein echtes Gespräch. So nannte er es: ein echtes, ernstes Gespräch. Ich habe mich ganz erwachsen gefühlt. Denn es ist etwas Besonderes, wenn man sich mit jemandem gut unterhalten kann. Und er sagte, dass er mit mir gute Gespräche führen kann. Und dass ich sehr klug bin.

Er saß hinter dem Lenkrad des schwarzen Autos und rauchte eine Zigarre. Ich durfte neben ihm sitzen, dort wo sonst immer Mama sitzt. Ich konnte kaum atmen. Das lag am Zigarrenrauch, aber auch daran, dass er mich so gelobt hat. „Du bist ein besonderes Kind, Poppy“, sagte er und schnallte mich an, „sehr lieb und sehr klug.“

Er konnte den Gurt nicht richtig anlegen, sodass wir eine Weile eng zusammensaßen. Ich spielte währenddessen mit dem elektrischen Knopf am Fenster.

Dann meinte er: „Du darfst die Knöpfe nicht berühren. Und wenn du den Streifenpolizisten siehst, musst du dich ducken.“

„Okay.“ Ein lustiges Spiel.

Die Polizei wohnt direkt gegenüber von uns, aber oft ist gar keine da. Onkelmann sagt, die Dienststelle ist fast nie besetzt. In unserem Viertel ist es so schön und ruhig, weil es hier keine Schwarzen gibt, hat er mir verraten.

Als der Gurt endlich einhakt, hauchte er mir in den Nacken. „Ich glaube nicht, dass es viele Papas gibt, die ihr Kind auf den Vordersitz lassen. Was meinst du?“

„Nein.“

„Hast du ein Glück.“

Ich schaute zur Seite auf seinen alten großen Kopf und dachte: Ja, Mama und ich haben Glück. Wir sind ganz große Glückspilze. Zuerst haben wir in einer winzigen Wohnung gewohnt, in der Mama den ganzen Tag die Haare von anderen Leuten geschnitten hat. Sie hatte kein Geld für silberne Kleidung oder blauen Lidschatten. Ich hatte keinen Vater und kein Fahrrad. Jetzt leben wir in einem braunen Schloss mit glänzenden Fußböden, weißen Teppichen und Vasen aus China, auf die ich nicht klettern darf, aber wo ich laut sein darf, nur nicht, wenn Onkelmann ein Nickerchen macht. Wir haben ein Blumenservice mit goldenem Rand, und jede Woche kauft Mama neue Schüsseln und Teller dazu. Mama hat jetzt sogar einen Pelzmantel und eine Putzfrau und drei Paar Ohrringe mit Diamanten. Ich habe mein eigenes Zimmer mit einem geheimen Schrank. Und ein Bett mit einer rosa Decke und Poster mit Babypferdchen an der Wand.

„Weißt du, wohin wir fahren?“, fragte Onkelmann.

„Zum Spielzeugladen?“

Er nickte.

„Und weißt du, warum wir zum Spielzeugladen fahren?“

„Wegen der Ritter von Playmobil.“

„Genau“, sagte er, „die brauchst du.“

Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte. Aber ich wollte die Ritter wirklich gern haben.

Etwas wollen und etwas brauchen, ist das dasselbe?

Die Indianer hatte ich schon, also brauchte ich sie nicht mehr.

„Ja“, sagte ich, „ich brauche die Ritter.“

Wir fuhren aus der Stadt. „Wir müssen in eine andere Stadt“, erklärte Onkelmann, „Playmobil gibt es in Aachen noch nicht in jedem Laden.“

Ich nickte.

Dann sagte Onkelmann plötzlich ganz viele Sätze hintereinander, das macht er sonst nie. Aber deshalb war es eine echte Unterhaltung, glaube ich.

„Hör gut zu, Poppy. Es gefällt mir sehr, dass du und deine Mutter in mein Haus eingezogen seid. Das ist wirklich schön. Jetzt bin ich nicht mehr so allein. Das gefällt dir doch auch, oder?“

Ich nickte wieder.

„Dass du da bist, gefällt mir sehr. Deine Mutter und ich sind zwar sehr verschieden. Aber wir zwei sind uns in gewisser Weise ähnlich. Das liegt natürlich daran, dass wir am selben Tag Geburtstag haben. Das ist doch etwas Besonderes, oder was meinst du?“

„Ja, das denke ich auch.“ Und weil ich merkte, dass er oft das Wort gefällt benutzt hat, fügte ich hinzu, um ganz sicherzugehen: „Mir gefällt es auch, dass wir nicht mehr in dem Hochhaus wohnen.“

„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte er. „Und ich glaube, dass du niemals dorthin zurück möchtest. Weil du dort in einem Getto gelebt hast.“

Ich wusste nicht, was ein Getto ist, aber ich sagte: „Ja.“

„Du hattest dort nichts, oder?“

„Nein.“

„Kein Geld, keine schönen Kleider, niemals Urlaub, niemals Geschenke …“

„Nichts“, sagte ich.

„Das war sicher nicht schön?“

„Nein, nicht schön.“

„Aber jetzt hast du alles.“

„Ja“, sagte ich, „schöner geht es nicht.“

Draußen zogen die Wiesen und Kühe vorbei. Der Himmel war grau und düster. Großmutter Becker sagt dann immer: „Das richtige Wetter, um das Erbe zu teilen.“

„Und soll ich dir noch etwas sagen? Dann musst du mich aber kurz ansehen.“

Ich sah ihn an.

„Dass du und ich Freunde sind, Poppy, das ist das Wichtigste für mich. Wir sind vier Hände auf einem Bauch. Deshalb dürft ihr bleiben. Weil wir eine tolle Zeit zusammen haben. Denn wenn du nicht so ein liebes Kind gewesen wärst, hätte ich euch schon nach nur einem Tag zurückgeschickt. Wirst du dir das gut merken?“

Wieder ein Nicken.

„Glaubst du, dass du immer lieb bleiben wirst, Poppy?“

Ich werde schon ganz müde vom vielen Nicken.

„Verstehst du, was ich sage?“

„Ja, Onkelmann“, sagte ich.

„Du musst mich wirklich nicht mehr Onkelmann nennen“, sagte er. „Warum sagst du nicht einfach Papa zu mir? Du weißt doch, dass mir das viel besser gefallen würde?“

Ich wusste nicht, ob ich es ihm wirklich sagen sollte. Er ist einfach kein Papa. Er ist ein Herr. Ein Onkel. Er ist der Boss. In seinem grauen Anzug, mit dem Kopf eines alten Mannes, der Brille und den riesigen Ohrläppchen.

„Es ist nur, weil ich schon einen Papa habe“, sagte ich.

Onkelmann sah mich überrascht an. Vielleicht weiß er es nicht, dachte ich. Vielleicht hatte Mama vergessen, es ihm zu erzählen. Ich hoffte nur, dass es ihn nicht traurig machen würde, aber ich finde, er sollte es schon wissen.

„Deshalb kann ich dich nicht Papa nennen“, erklärte ich ihm, „denn wenn mein Papa zurückkommt, habe ich plötzlich zwei, und vielleicht wird es dann ein bisschen unordentlich.“

Onkelmann rauchte und schüttelte den Kopf. „Du hast keinen Vater mehr.“

„Doch“, sagte ich, „in Köln.“

„Wie bitte?“

„Er hat mit der Musik in Köln die Flatter gemacht. Das hat Oma gesagt.“

Wir standen eine Weile mit dem schwarzen Auto vor einer roten Ampel und schwiegen. Onkelmann rauchte weiter, aber er sah wütend aus. Großmutter Becker kann er nicht leiden. Dabei hat er sie noch nie getroffen, und das will er auch nicht. Er will auch Tante Herta oder Onkel Karl nicht sehen. Tante Herta ist die Mamas Schwester. Sie lebt zusammen mit Onkel Karl und ihren drei Kindern in Hürtgenwald.

Dort sind sie gut aufgehoben, meint Onkelmann. Ich glaube das nicht, weil sie nie Geld haben und weil sie in einem Wald wohnen. Das hört sich gruselig an. Bestimmt ist es ein dunkler Wald, in dem Kinder verschwinden und von Hexen mit glühenden Augen aufgefressen werden.

Oma hat schon siebzehnmal angerufen, um zu fragen, wann sie endlich unser neues Haus besichtigen darf, aber Mama sagt immer, sie sei gerade zu beschäftigt. Viel zu beschäftigt …

Sobald sie aufgelegt hat, sagt sie schnell: „…mit Shoppen, Poppy“, und dann lacht sie laut, aber es klingt nicht vornehm.

Als die Ampel wieder grün wurde, fragte Onkelmann: „Weißt du denn, was mit der Musik die Flatter machen wirklich bedeutet?“

Ich schließe meine Augen und sehe meinen jungen, schönen Vater vor mir. Er läuft ganz hinten in der Musikkapelle. Die Musik klingt superfröhlich. Mein Vater spielt kein Instrument, sondern marschiert nur wie ein Soldat und klatscht dabei im Takt in die Hände und schwingt seine Arme ganz doll. Köln ist so weit weg, und alle lieben es, dorthin zu flattern.

„Das bedeutet, dass er unauffindbar ist“, sagte Onkelmann.

Er merkte, dass ich immer noch nicht verstand, was gemeint war. „Die Flatter machen, das bedeutet, dass er fortgegangen ist und nie wieder gefunden werden will. Dein Vater wollte nicht mehr länger dein Papa sein.“

„Warum nicht?“

„Weil er dich nicht genug mochte.“

Mama hat mir das nie gesagt.

„Also die Chance, dass du deinen Vater jemals wiedersehen wirst, ist gleich null.“

Ich spielte mit dem Reißverschluss meiner Jacke, während er redete und redete.

„Es ist eine Tatsache – weißt du, was das ist, Poppy, eine Tatsache? Das ist etwas, das sicher ist –, es ist eine Tatsache, dass dein Vater dich nicht liebt und sich nicht um dich kümmert. Also ist es besser, ihn zu vergessen. Sieh mich an, Poppy, verdammt, ich rede mit dir.“

Ich sah ihn an.

„Ich versuche, dir die ganze Zeit zu erklären, dass du wirklich lieb bist“, sagte er. „Deshalb möchte ich dein Vater sein. Dann kann ich auf dich aufpassen.“

Er drückte seine Zigarre aus, legte seine Hand auf meinen Kopf und lenkte mit einer Hand weiter. Es fühlte sich sicher an, diese große Hand auf meinem Haar.

„Heiratest du meine Mama?“, fragte ich.

Ich weiß, dass Mama sich das wirklich wünscht. In den letzten Wochen hat sie Bilder von Brautkleidern aus Zeitschriften herausgerissen und sie auf den braunen Tisch neben seinem Frühstücksteller gelegt. Er schaut sie sich nie an.

„Wirst du immer lieb bleiben?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich.

„Ja, was?“

„Ja, gern.“

„Nein, Poppy. Nicht Ja gerne. Wer bin ich?“

Ich musste kurz nachdenken.

„Wer bin ich?“, fragte er erneut.

Dann begriff ich, was er meinte. „Ja, Papa.“

Er nickte mir zu und sagte: „Also, das war jetzt eine echte Erwachsenenunterhaltung, Poppy. Wir verstehen uns.“

Er parkte das Auto und stellte den Motor ab. Dann bückte er sich, um den Sicherheitsgurt zu lockern. Er tat es wieder sehr umständlich. Er packte den Gurt mit einer Hand und glitt dabei mit der anderen in meine Hose.

Eine Frau mit einem Hund stand auf dem Bürgersteig. Sie lächelte mich an. Ich lächelte zurück.

„Da ist eine Frau mit einem Hund“, sagte ich.

Er zog seine Hand raus. Das Öffnen des Sicherheitsgurts klappte sofort.

Als wir etwas später ausstiegen, legte er seinen Arm um mich. Wir gingen zum Spielzeugladen, wo er alle Ritterpuppen auf einmal kaufte. Er bezahlte mit Scheinen, die er aus seiner Handgelenktasche nahm.

Der Ladenmann lächelte mich an. „Du hast Glück, so einen Großvater zu haben.“

„Ich bin ihr Vater“, sagte Onkelmann.

„Oh, entschuldigen Sie!“ Der Verkäufer hatte jetzt einen hochroten Kopf, wie Mama manchmal, wenn Onkelmann sie ausschimpft. Onkelmann zwinkerte mir zu. Ich nickte zurück, weil ich immer noch nicht zwinkern kann, aber ihm zeigen wollte, dass wir vier Hände auf einem Bauch sind.

Ja, ich dachte, dass ich wirklich ein Glückspilz bin. Wenn dies mein Vater ist, sind wir sicher und anständig und ich bekomme für den Rest meines Lebens alles von Playmobil. Er kümmert sich um uns. Mama will das so, und sie braucht das. Deshalb ist sie auch ein Glückspilz.

 

Ein gut situierter Uhu

 

 

„Geld spielt überhaupt keine Rolle“, rief Mama, als wir Yvonnes Brautparadies betraten. Wir sind extra für diesen riesigen Laden nach Düsseldorf gefahren. Und weil Geld keine Rolle spielt, bedient uns Yvonne persönlich. Mein neuer Vater ist ein gut situierter Mann. So stand es in der Anzeige: Gut situierter Mann sucht eine Haushaltshilfe. Mama hat den Zeitungsausschnitt die ganze Zeit in ihrem Portemonnaie aufbewahrt, weil es so ein Knaller ist. Dass sie zuerst seine Haushälterin werden sollte. Aber das geschah nicht, weil Papa beim ersten Mal, als er sie traf, sich wahnsinnig in sie verliebt hatte. Mama erzählt Yvonne die ganze Geschichte, und ich höre aufmerksam zu.

„Als wäre es gestern gewesen“, sagt Mama. „Ich sehe mich immer noch mit dieser Anzeige in meinen Händen. Ich klingle an der Tür dieser riesigen Villa, und ein hübscher junger Mann öffnet mir. Ich sage: Hallo, ich bin Patricia aus Alsdorf. Ich bin eine alleinerziehende Mutter und komme wegen des Jobs als Haushälterin. Er sagte erst mal gar nichts, und dann stammelte er: Hallo, ich bin Ludovicus, ich habe noch nie eine so schöne Frau wie dich gesehen. Da verdiene ich tonnenweise Geld, obwohl ich kaum dreißig bin, aber jetzt bleibt mir einfach die Spucke weg. Jedenfalls bist du viel zu hübsch, um hier zu staubsaugen. Komm erst mal rein!“

Yvonnes Mund steht ein wenig offen.

„Das ist doch filmreif, oder?“, fragt Mama grinsend.

Yvonne und ich schauen beide sehr überrascht.

Wie ein Affe auf einer rostigen Glocke, würde Großmutter Becker sagen. Yvonne sieht so aus, weil sie das bestimmt nicht filmreif findet, und ich, weil ich diese Geschichte heute zum ersten Mal höre. Und ich weiß auch nicht, welchen jungen, gut aussehenden Kerl Mama meint. Papas Haare wachsen ihm aus den Ohren.

„Ja, so einfach kann das sein“, plappert Mama weiter, „so kann es im Leben gehen. Du gehst hin, um den Boden zu wischen, und nur ein Jahr später wirst du in die Flitterwochen kutschiert.“

Yvonne sagt, dass das ganz fantastisch ist und sie fast heulen muss. Dann schaut sie mich an. „Und wie alt bist du?“, fragt sie. „Fünf?“

„Fast sieben“, antwortet Mama. „Sie will nicht essen, deshalb ist sie so dünn. Er liebt sie, als wäre sie sein eigenes Kind. Ist das nicht wunderbar?“

Als die Anprobe beginnt, darf ich auch in die Kabine zu Mama, um alle Reißverschlüsse zu öffnen und zu schließen. Wir verbringen darin Stunden und Mama probiert eine Million Kleider an, glaube ich. Irgendwann fange ich an, hungrig zu werden, aber Mama kann nicht aufhören, die weißen Kleider an- und auszuziehen und ich kann das verstehen, weil die Kleider so schön an ihr aussehen. Yvonne sieht das auch so, denn jedes Mal, wenn Mama aus der Kabine kommt, sagt sie: „Oh mein Gott, das hier wird dem glücklichen Kitt aber gefallen“.

Sie nennt Papa einen Kitt, obwohl er mit seiner großen Brille wie ein gut situierter Uhu aussieht, aber das weiß Yvonne ja nicht. Egal.

„Klebstoff bleibt Klebstoff“, sagt Großmutter immer, „ob Uhu oder Kukident.“

Bei einigen Kleidern meint Yvonne, sie hätten ein echtes Gütesiegel, irgendwann sagte sie dann beides zusammen: „Dieses Traumkleid hat ein echtes Gütesiegel, das dem glücklichen Kitt gefallen wird“.

„Aber ich finde, sie sind alle zu hoch geschlossen, hier oben.“ Mama zeigt auf ihren Busen.

„Das ist jetzt modern“, sagt Yvonne.

Mama zieht das Kleid bis zu ihrer Unterhose hoch und deutet hin: „Und unten finde ich sie alle zu lang. Ich habe doch schöne Beine, oder, Yvonne?“

„Das lässt sich weiß Gott nicht bestreiten.“

„Na, dann wäre es doch eine Todsünde, sie zu verstecken?“

Yvonne hält es auch für eine Todsünde und führt uns in die einzige Ecke des Ladens, wo wir noch nicht waren. Dort gibt es einen großen weißen Schrank.

„Hier sind die ganz modernen Designer, Frau Becker. Für den exquisiten Geschmack.“

Mamas Augen fangen an zu leuchten, als Yvonne den Schrank öffnet. Die Kleider springen alle gleichzeitig heraus – eine große weiße Tüllwelle aus Glitzer, Perlen und Spitze.

„Und, hat der glückliche Kitt selbst schon eine Wahl getroffen?“

„Wer?“

„Ihr Zukünftiger, was wird er anziehen?“

„Oh, der. Diesem Mann steht einfach alles, manchmal bin ich ganz neidisch“, sagt Mama. „Wenn ein Kerl so jung und knackig ist wie er, kann er praktisch in Jeans heiraten.“

Jeans? Papa?

„Aber Geld spielt bei ihm ja nie eine Rolle, also wird es sicher etwas ganz Besonderes sein.“

„Sie haben aber wirklich das große Los gezogen mit so einem tollen Mann. Hat er vielleicht noch einen Bruder?“

Yvonne und Mama lachen. Dann bekommt Mama ein Kleid, das sich stark unterscheidet von all den Kleidern, die sie davor anprobiert hat. Es ist superweiß und funkelt von allen Seiten. Oben sieht man viel von Mamas Brüsten, unten ist es sehr kurz und hinten sehr lang. Yvonne sagt, dass dieses unglaublich schöne Kleid wie für Mama geschaffen ist und sie in ihm sicherlich viel Aufsehen erregen wird und dass es an einem so wichtigen Tag doch vor allem darum geht, dass er unvergesslich wird. Das denkt Mama auch. Yvonne sagt, dass sie aus dem gleichen Stoff noch ein Taschentuch für den Anzug des Glücklichen und ein Kleid für mich anfertigen könnte! Es kostet etwa zweitausend Mark, und es dauert drei Wochen, bis alles fertig ist.

„Was meinst du, Poppy?“, fragt Mama. „Wollen wir das machen? Du wie eine kleine Braut?“

Ich nicke. Yvonne fragt, ob Mama noch weitere Wünsche hat.

„Nein, ich glaube, das wäre dann alles.“

„Haben Sie denn schon etwas Blaues?“

„Blaues? Wieso?“

„Für das Glück“, antwortet Yvonne. „Man muss immer etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues haben, so sollte es sein.“

„Was für ein Unsinn! Ich mag keine alten oder geliehenen Klamotten. Und borgen hab ich nicht nötig. Das Kleid ist brandneu, das reicht doch, oder?“

Manchmal soll man dem Glück immer eine helfende Hand reichen, behauptet Oma.

Mama zwinkert der Verkäuferin zu und sagt: „Wissen Sie was, Yvonne? Wenn der große Tag kommt, ziehe ich einfach ein sexy blaues Spitzenhöschen an. Das hilft dem Glück auf die Sprünge, glaub mir!“

Das Glück besteht nur aus Buchstaben, meint Oma Becker und dass Mama bei meinem schönen, jungen Papa mit einem blauen Auge davongekommen ist. Bei der Hochzeit mit ihm hat Mama bestimmt keine blaue Unterhose getragen. Deshalb hat Papa mit der Musik die Flatter gemacht.

Nicht weil er mich nicht mehr liebhat.

 

Das Hintertürchen

 

 

„Du lieber Himmel“, sagt Oma, als sie endlich kommen darf, um sich unser neues Haus anzuschauen. Großmutter Becker ist klein, breit und immer wütend. Mama sagt, sie hat eine Taille von einem Meter vierzig, das wäre ihr Gürtel. Oma nennt es den Stau am mittleren Ring. Finde ich komisch, denn sie ist doch keine Autobahn. Tante Herta und Onkel Karl sind zum Glück nicht mitgekommen. Tante Herta sagte am Telefon zu Mama, dass sie sich jetzt nicht plötzlich einbilden soll, die Königin zu sein.

„Da hast du sicher recht“, erwiderte Mama. „Ich wohne ja nur mit meinem Millionär in einem Palast in Aachen, aber du hockst immer noch auf drei Quadratmetern in Hürtgenwald mit dem schnieken Karl und seiner Prothese und seiner chronischen Harnwegsinfektion.“

Darauf sagte Tante Herta etwas Merkwürdiges: Wenn man einen Haufen Scheiße lila färbt, bleibt es dennoch Scheiße. Aber warum sollte jemand so was tun? Bevor ich Mama fragen konnte, hatte sie schon den Hörer aufgeknallt. Wir haben uns das ganze Gespräch zusammen mit Papa noch einmal auf seinem neuen Tonbandgerät angehört. Es steht in seinem Büro unter einer transparenten Plastikhaube. Papa sagt, es schaltet sich ein, sobald jemand das Telefon abnimmt.

Mama hat nicht gewusst, dass alles aufgenommen wurde, aber als Papa uns ihr Gespräch mit Tante Herta noch einmal vorspielte, hat sie ihn dreimal gebeten, es zurückzuspulen, so lustig fand sie es.

 

„Verdammt, Patricia, das ist richtig schön hier, du hast sogar den Wald in der Nähe.“

Mama ist so stolz. Sie zeigt Oma alles, die Zimmer, das Geschirr, die Vasen und ein Bild meines neuen Vaters, damit Oma weiß, wie er aussieht, denn Papa ist in der Firma.

Großmutter hält das Foto ganz nah an ihre Augen. „Der hat auch kein Gesicht für den Spiegel“, meint sie. „Es sieht aus wie eine Bowlingkugel. Wie war noch mal sein Name?“

„Ludovicus.“

„So einen Namen in Butterbuchstaben kriegste auch nur, wenn du was Besseres bist.“

Oma Becker spricht sehr laut und nicht sehr vornehm. Opa Becker macht das auch. Ich mag ihn nicht, aber ich sehe ihn kaum, weil er trinkt, und dann kommt man nicht viel an die frische Luft. Großmutter sagt, dass er sich gestern bei einer Prügelei in der Kneipe die Nase gebrochen hat.

„Rate mal, wer letzte Woche vor meiner Tür stand“, fragt Großmutter.

„Und wer?“

„Jobst.“

„Jobst?“ Mama zieht die Stirn zusammen. „Was wollte der denn?“

„Mit mir Tischtennis spielen, was glaubst du? Er wollte natürlich wissen, wo du wohnst. Er möchte Poppy sehen.“

Mama wird ganz blass im Gesicht.

„Was hast du ihm gesagt?“

„Dass der Arsch sich vom Acker machen soll.“

„Und dann?“

„Dann nichts mehr.“

„Meint ihr meinen richtigen Vater?“, frage ich gespannt.

Mama und Großmutter reden weiter, als wäre ich nicht da.

„O mein Gott, o mein Gott!“

Ich glaube, Mama ist entsetzt.

„Er kann nichts machen. Was kann er schon tun?“, fragt Oma.

„Er könnte Poppy entführen, um Geld zu erpressen“, ruft Mama, während sie auf mich zeigt.

Großmutter schreit jetzt auch. „Was regst du dich denn auf? Er bekommt doch schon jeden Monat Knete?“

„Wer bekommt Geld?“

„Na, Jobst!“

„Von wem?“ Mama ist wirklich in Panik.

„Vom Weihnachtsmann, wem sonst!“

„Weihnachtsmann?“

„Na, von der Bowlingkugel!“

Weil Mama immer schneller atmet und immer noch nicht begreift, was Oma meint – und ich auch nicht –, zeigt Großmutter auf das Bild meines neuen Vaters.

„Solange Jobst sich von dir fernhält, muss er keinen Unterhalt zahlen. Und bekommt noch jeden Monat ein schönes Sümmchen dazu.“

Mama ist plötzlich ganz still.

„Hallo, aufgewacht?“, fragt Oma.

„Woher weißt du das?“, fragt Mama.

„Das hat mir Jobst selbst erzählt, als er vor meiner Tür stand.“ Großmutter sagt es laut und deutlich, als ob sie mit einem kleinen Kind sprechen würde.

Mama ist ganz still. Dann lächelt sie mich an. „Hast du das gehört, Poppy? Papa hat das wieder für uns geregelt.“

„Wie kommt es, dass du davon nichts weißt.“ Großmutter macht ihre Augen noch kleiner. „Es ist doch auch dein Geld, du bist ja schon bald die Frau von der Bowlingkugel.“

„Das interessiert mich nicht.“

„Sicherheitshalber würde ich mal dafür sorgen, dass alles schwarz auf weiß auf dem Papier steht“, meint Oma.

 

Großmutter steckt ihre Nase in jedes Eck im Haus. Sie beginnt in der Küche, wo sie alle Schränke öffnet. Dann geht sie weiter zu Mamas und Papas Schlafzimmer, wo sie sich sogar auf den Boden legt, um unter dem Bett nachzusehen. Im Wohnzimmer nimmt sie alle Lederbände aus dem Regal, um zu schauen, ob etwas dahinter versteckt ist. Aber da ist nichts. Sie sucht keuchend weiter. Zu guter Letzt will sie in Papas Büro.

Mama und ich glauben nicht, dass das eine gute Idee ist, denn Papa könnte ja früher nach Hause kommen. Aber Großmutter will nicht auf uns hören und rumpelt hinein. Sie sagt, sie hat das Recht zu wissen, welche Art von Fleisch in der Wanne liegt. Aber sie ist nicht mal im Bad.

Nach dem Tonbandgerät ist für Großmutter der Tresor am interessantesten. Er ist in der Wand. Davor hängt ein Bild von einem dicken braunen Pferd, aber Oma merkt sofort, dass das Bild nur dazu da ist, um etwas zu verbergen. Sie dreht eine Weile den großen Knopf mit den Zahlen auf der Vorderseite, aber natürlich passiert nichts, weil sie den Code nicht kennt. Mama und ich wissen auch nicht, was im Tresor ist.

„Darin liegen bestimmt seine Millionen“, behauptet Großmutter. Sie steht mitten in Papas Zimmer und stemmt die Hände in die Taille, obwohl da gar keine ist. „Du musst den Zahlencode herausfinden. Dann hast du ein Hintertürchen. Man braucht immer ein Hintertürchen.“

„Ich nicht, ich gehe nur durch die Vordertür!“, sagt Mama stolz.

„Bist du wirklich so blöd, oder tust du nur so?“, schnauzt Oma sie an.

Ich sehe, dass Mama das Gespräch jetzt unangenehm findet, denn sie seufzt laut und fragt: „Möchtest du vielleicht noch eine Tasse Kaffee, bevor du dich vom Acker machst?“

„Schmier dir deinen Kaffee doch ins Haar“, brummt Großmutter, hängt wütend das Bild zurück und tritt gegen Papas Schreibtisch. „Scheiße!“

Eine Stunde später verlässt Oma das Haus mit zwei vollen Einkaufstaschen: Reis, Makkaroni, Chips und Maggi hat sie aus der Speisekammer geholt und zwei Schnapsflaschen aus dem Barschrank und Käse, Cola und Butter aus dem Kühlschrank. Oben fehlen drei Paar dunkelbraune Socken und zwei hellblaue Hemden im Schrank meines Vaters.

 

„Hat deine Großmutter viel mitgenommen?“ Er wedelt mit dem Foto. Das Polaroid ist jetzt noch schwarz, aber bald werden wir sehen können, was drauf ist. Es ist wie ein Zaubertrick.

„Geht schon, nicht so schlimm“, antworte ich.

„Hat sie in die Schränke geschaut?“

„Nur ganz kurz.“

„Du musst mich nicht anschwindeln. Ich weiß immer mehr, als du glaubst. Das darfst du nie vergessen.“

Papa hat seine Tricks, er hat sie mir selbst gezeigt und „Pst!“ gemacht. Er spannt nämlich immer unsichtbare Fäden oder Klebeband, denn so kann er sehen, ob jemand in seinem Arbeitszimmer war.

„Schau jetzt hin“, sagt er. „Gleich werd ich dich auf das Foto zaubern.“

Ich stehe im Wohnzimmer. Ich bin ganz weiß und nackig. Papa wedelt noch ein wenig weiter, damit die Farben besser werden.

„Das werden wir jetzt jeden Sonntagmorgen machen. Es ist nämlich wichtig, dass wir genau sehen können, wie du wächst.“

Er setzt mich auf die Couch und macht noch zwei weitere Fotos. Einmal soll ich die Beine geschlossen halten und einmal aufmachen. Danach darf ich wieder aufstehen. Aber jetzt geht er in die Hocke und knipst mich von unten. Ich soll stillstehen. Darum schaue ich mir eine Stelle auf dem Teppich an und drücke erst das eine, dann das andere Auge zu, sodass die Stelle lustig von links nach rechts springt. Als ich es ein paarmal gemacht habe, merke ich, dass ich die Dinge hin und her zaubern kann. Und mich selbst vielleicht auch.

„Was machst du da, Poppy?“

„Gar nichts.“

Er zieht seinen Pyjama aus.

Ich schaue auf die Tür.

„Sonntags schläft sich Mama aus, das hat sie sich auch verdient“, sagt er. „Und wir zwei brauchen Zeit füreinander, um uns richtig kennenzulernen.“

Er dreht sich um und faltet seine Hose ordentlich zusammen.

Ich zwinkere mir in der gläsernen Gartentür zu. Er darf nie erfahren, dass ich das kann.

Zwinkern gehört mir. Es ist mein Zaubertrick.

 

Liberty de luxe

 

 

„Die Firma meines Vaters ist auf der anderen Seite der Hauptstraße.“ Ich stehe vor der Klasse. Dies ist mein erstes Referat, das ich mit meinem Vater zu Hause laut geübt habe.

Jeden Mittwoch kann jemand etwas über die Arbeit seines Vaters erzählen. Ich habe das Wort Liberty an die Tafel geschrieben und zeige darauf. „Das ist seine Handelsmarke: Liberty. Das bedeutet Freiheit auf Englisch. Es sind zusammenklappbare Campingzelte für den Urlaub. Mein Vater hat sie erfunden.“

„Ihr Vater ist mein Großvater“, ruft Greta, „sie spricht von meinem Opa!“

„Schön, Greta, wir haben dich gehört. Vorhin auch schon“, sagt Herr Hoffmann.

Es ist das dritte Mal, dass Greta mich unterbricht. Der Lehrer nickt mir zu. „Weiter, Poppy, lass dich nicht stören, du machst das sehr gut.“

„Die Libertys werden in Polen hergestellt, und wenn sie dort fertig sind, kommen sie mit dem Zug nach Aachen.“

„Mein Vater hält den Laden auf Trab“, funkt Greta dazwischen. „Ohne den läuft gar nix!“

„Greta!“ Die Stimme von Herrn Hofmann klingt bedrohlich.

„Ja, was?“ Ihr was klingt wie wat und hört sich ein bisschen brutal an.

„Poppy tut so, als sei sie etwas ganz Besonderes, weil mein Großvater ihr jede Woche zehn Barbies schenkt, aber mein Vater ist der beste Verkäufer in dem gesamten Laden.“

„Du gehst jetzt mal einen Moment nach draußen, Greta, und wartest auf dem Gang.“ Herr Hofmann hat noch nie jemanden hinausgeschickt. Greta wird zuerst schrecklich rot. Dann macht sie den Mund ganz weit auf und plärrt: „Warum muss ich auf den Gang? Das ist unfair! Es geht doch um meinen Großvater! Ich weiß viel mehr über ihn als sie!“

„Greta, es reicht!“ Herr Hoffmann steht auf.

„Sie bekommt alles von ihm! Sie hat das gesamte indische Dorf von Playmobil, sie darf jeden Tag neue Kleider tragen, sie fährt die ganze Zeit in den Urlaub nach Frankreich, und wenn sie sieben wird, bekommt sie ihr eigenes Pferd! Als ich Geburtstag hatte, kriegte ich bloß einen doofen Hüpfball!“

„Greta, verdammt noch mal. Ich habe dir gesagt, dass es reicht.“ Herr Hoffmann packt Gretas Arm.

„Aua!“

„Nix aua, du hältst den Mund. Raus mit dir!“

Aber Greta denkt gar nicht dran. Sie zeigt auf mich. „Ich weiß ganz genau, warum das alles so ist. Du glaubst, niemand weiß es, oder? Aber ich weiß es.“

Ich bekomme eine Gänsehaut, und mir wird ganz schwitzig. Das ist nicht möglich. Sie kann es nicht wissen. Niemand kann das. Ich schaue Herrn Hoffmann an, der große Schwierigkeiten hat, Greta aus dem Unterricht zu entfernen. Er muss sie mit zwei Händen festhalten und mit einem Fuß die Zimmertür aufstoßen. Greta windet sich und zappelt weiter und wird immer lauter: „Ich weiß genau, warum das so ist! Warum du die ganze Zeit alles von Opa bekommst. Meine Mutter hat es mir verraten!“

Ich möchte, dass die Schule einstürzt und Lava aus der Decke kommt, dass der Boden aufreißt und wir alle hineinfallen. Dass ein Kampfjet durch den Raum fliegt und bei jedem das Trommelfell platzt. Dann sind alle taub oder tot, und Greta kann nicht mehr sagen, was sie sagen will. Aber nichts passiert, und jeder kann sie hören, als sie kreischt. „Poppys Mutter ist eine Hure!“

Ich weiß nicht, was eine Hure ist, aber anscheinend ist es etwas Schlimmes, denn die ganze Klasse starrt mich entsetzt an. Und ich habe den Lehrer noch nie so wütend gesehen.

Ich setze mich und rülpse vor Erleichterung.

 

Herr Hoffmann glaubt, dass ich unter den gegebenen Umständen immer noch sehr gut abgeschnitten habe. Und wenn Greta nicht so widerspenstig geworden wäre, hätte ich auch die Fragen der Klasse beantworten können. Ich bekomme deshalb den Aufkleber eines Clowns auf meiner Stirn.

Ich bin glücklich, aber auch enttäuscht, und ich denke, Herr Hoffmann sieht mir das an, weil er mich nach dem Schlussgong um zwölf Uhr fragt, ob ich ein bisschen länger bleiben möchte, um es wirklich zu beenden. Er stellt viele Fragen zu Liberty, und ich weiß auf alles eine Antwort, und dann essen wir eine Mandarine.

Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Wenn Herr Hoffmann lacht, lächeln seine Augen mit.

„Herr Hoffmann?“

„Ja, Poppy?“

„Was ist eine Hure?“

Er muss erst darüber nachdenken. Es dauert fast eine Minute. Dann sagt er: „Es ist ein Schimpfwort, ein schlimmes Wort. Und es war sehr hässlich von Greta, das über deine Mutter zu sagen.“

„Aber was bedeutet es?“

„Etwas Hässliches.“

„Oh!“

„Und es ist sicher nicht wahr.“

„Okay.“

Dann öffnet er seinen Mund und schließt ihn wieder. „Nun“, sagt er schließlich und schaut auf seine Uhr.

„Ja“, sage ich.

„Deine Mutter wartet bestimmt schon eine Weile auf dem Schulhof.“

„Ja“, sage ich noch einmal.

„Du musst hungrig sein.“

„Geht schon.“

„Zumindest ich habe jetzt großen Appetit.“

Herr Hoffmann geht zur Tür. Ich folge ihm langsam.

„Poppy?“

„Ja?“

„Möchtest du mir noch etwas sagen?“

Darauf weiß ich keine Antwort.

„Was ist denn nur alles in deinem Kopf?“, fragt er.

„Gar nichts.“

„Ich glaub dir kein Wort“, sagt er und drückt seinen Daumen auf den Stirnaufkleber. Ich schließe meine Augen und lehne mich sanft an seinen Daumen. Ich könnte für den Rest meines Lebens so stehen bleiben.

Doch dann schaut Herr Hoffmann zum zweiten Mal auf die Uhr und meint, ich müsse jetzt aber unbedingt raus, weil Mama sonst sicher die Polizei anrufen wird.

 

Something in the way he moves

 

 

In den Wochen vor der Hochzeit ist Mama so fröhlich, wie ich sie noch nie erlebt habe. Sie singt Liebeslieder und cremt sich jeden Morgen mit Selbstbräuner ein. Sie möchte die ganze Zeit über den großen Tag sprechen, besonders mit Papa, aber er antwortet ihr nicht. Mama kümmert es nicht, sie plappert einfach weiter. Über ihr Kleid. Über den Kuchen. Über die Musik. Es kommen keine Gäste, nur ich. Mama fand das anfangs total blöd, aber als Papa sagte, sie könne zwischen einer Hochzeit auf seine Art oder gar keiner Hochzeit wählen, entschied sie sich für die Hochzeit von Papa.

„Weißt du, was dein Problem ist?“, sagt sie hin und wieder zu ihm. „Du bist eigentlich nur schrecklich eifersüchtig, weil du mich für dich allein haben möchtest. Denn wenn du mich später in diesem weißen Kleid siehst, wirst du völlig durchdrehen. Das ist der reine Wahnsinn! Und da kann ich schon verstehen, dass du lieber nicht möchtest, dass andere Männer mit deiner sexy Braut tanzen.“

Wenn Mama so etwas sagt, blitzen ihre Augen, aber Papa schaut die ganze Zeit in die Zeitung oder auf sein Essen.

 

Dann kommt endlich der große Tag. Mama und ich sitzen am frühen Morgen an ihrem Schminktisch, um uns schön zu machen. Wir haben bereits unsere Kleider und Schuhe angezogen. Ich habe warme Rollen in meinen Haaren. Sie sind sehr nah an meinem Kopf aufgerollt und fühlen sich heiß auf meiner Haut an. Ich sehe, wie Mama mit dem Zeigefinger blauen Lidschatten auf ihre Augen malt. Danach zerzaust sie sich die Haare stark, damit sie sehr hoch werden. Sie sprüht Haarspray in alle Richtungen, also auch direkt in mein Gesicht.

Mama hat sich etwas zu oft mit der braunen Salbe eingecremt, ihr Körper ist orange gefärbt. „Schau, Poppy, ich sehe aus wie eine Orange“, sagt sie. „Zum Glück bin ich ansonsten hübsch.“

Papas neuer Anzug liegt auf dem großen Bett. Man sieht ihn kaum, denn er ist genauso weiß wie das Bettlaken. Papa will keine besondere Kleidung, er will seinen eigenen Büroanzug tragen, der so dunkelbraun wie das Schloss ist. Das weiß Mama auch. Trotzdem gefällt ihr das überhaupt nicht, und gestern rief sie plötzlich: „In dieser Kluft geht er nur über meine Leiche zum Standesamt.“ Dann sind wir schnell in die Einkaufsstraße gefahren und fanden den weißen Anzug in einem speziellen Herrengeschäft. Er kommt aus Italien. Das Einstecktuch von Yvonne ist bereits in der Brusttasche und Papa bekommt auch weiße Lackschuhe. Mama hofft, dass der Anzug nicht zu eng ist, weil Papa keine Anprobe hatte. Er ist heute Morgen zur Arbeit gegangen und holt uns um halb elf ab.

Mama wird immer unruhiger. Sie greift mit zwei Händen in ihre Schüssel mit den Ohrclips. Für sich wählt sie Clips mit glänzenden Steinen und Perlen und für mich nur mit Perlen. Sie sind ganz schön schwer. Ich spüre, wie mein Herz in meinen Ohrläppchen schlägt.

Die Rollen gehen raus, und als ich in den Spiegel schaue, erschrecke ich über meinen Lockenkopf, aber Mama sagt „Perfekt“, und bindet eine weiße Schleife hinein. Gerade rechtzeitig zur Spraydose schließe ich die Augen. Sie sprüht meine Locken, bis sie steinhart sind. In der Zwischenzeit geht sie noch einmal alles mit mir durch.

„Du trägst den Korb mit den Rosenblüten, Poppy.“

„Ja.“

„Wann wirst du die Blüten werfen?“

„Am Ende.“

„Was hustest du denn die ganze Zeit?“

„Von der Spraydose.“

„Der Kassettenrekorder. Wo ist der Kassettenrekorder?“

„Hier.“

„Ist das richtige Band drin?“

„Ja.“

„Weißt du, wann du Play drücken sollst?“

„Ja.“

„Und Stop?“

„Ja.“

„Und die B-Seite ist für das Ende, nachdem wir gesegnet sind.“

„Dann kommen die Rosenblüten.“

„Du bist ein kluges Mädchen.“

Ich höre Papas Auto vorfahren. Mama schaut auf die Uhr und sagt, es wird Zeit. Sie nimmt ihren Brautstrauß und steht in der Mitte des Schlafzimmers, mit einem Arm in Seide und dem anderen nackt, das orangefarbene Bein streckt sie raus. Genau wie ein Fotomodell.

Als Papa hereinkommt, sagt er nur: „Seid ihr fertig?“

„Das siehst du doch?“ Mamas Stimme klingt ein bisschen wütend.

Aber Papa sieht gar nichts, nicht einmal Mamas schönes Kleid und den weißen Anzug, der auf ihn wartet. Mama zeigt darauf und fordert ihn auf, ihn schnell anzuziehen.

„Unsinn.“ Papa verlässt den Raum.

„Was wirst du tun, Pick-up?“, ruft Mama ihm nach.

„Ich bin im Auto.“

„Verdammt“, sagt Mama.

Ich nehme den Kassettenrekorder und meinen Korb mit Rosenblüten und folge Papa. Als ich zum Auto komme, raucht er hinter dem Lenkrad, aber als er mich sieht, steigt er schnell aus, um die Tür für mich zu öffnen.

„Was zum Teufel hast du denn alles dabei?“, fragt er.

„Nichts Besonderes“, sage ich, weil ich weiß, dass Mama möchte, dass es eine Überraschung wird.

„Nun, du siehst wunderschön aus“, sagt er. „Sollen wir schnell wegfahren?“ Er muss selbst darüber schmunzeln.