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Der schlimmste Tag deines Lebens hat mir die beste Version von dir geschenkt
Grace Shaw war einst das beliebteste und hübscheste Mädchen der Highschool - bis ein verheerender Brand ihr nicht nur ihre Schönheit, sondern auch all ihre Träume nahm. An der Sheridan University beachtet niemand mehr das Mädchen mit den Narben. Bis ausgerechnet West St. Claire - berüchtigter Bad Boy, mysteriöser Untergrund-kämpfer und der heißeste Typ auf dem Campus - ihr neuer Arbeitskollege wird. West sind Grace’ Narben egal, denn er hat genug eigene, auch wenn sie nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Die beiden merken schon bald, dass sie mehr gemeinsam haben als zunächst gedacht, trotzdem kämpft Grace gegen die Funken zwischen ihnen an. Denn sie weiß genau, wie gefährlich es ist, mit dem Feuer zu spielen ...
"LOVE LIKE FIRE ist emotional, einzigartig und durch den unnachahmlichen Stil von L. J. Shen ein Buch, das in jedem Bücherregal stehen muss." JASMIN von ABEAUTIFULBOOKBLOG_
Das neue Buch von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L. J. Shen
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Seitenzahl: 578
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. Shen
Love Like Fire
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anne Morgenrau
Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Grace Shaw nur einen Traum: endlich die Kleinstadt in Texas verlassen und auf der großen Theaterbühne spielen. Als hübsche und beliebte Cheerleaderin standen ihr alle Türen offen – bis ihr Zuhause in Flammen aufging und der Brand ihr nicht nur ihre Schönheit, sondern auch all ihre Träume nahm. Jetzt studiert Grace zwar Theaterwissenschaften an der Sheridan University, hält sich aber nur noch hinter den Kulissen auf. Niemand beachtet mehr das Mädchen mit den Narben, bis ausgerechnet West St. Claire – berüchtigter Bad Boy, mysteriöser Untergrundkämpfer und der heißeste Typ auf dem Campus – ihr neuer Arbeitskollege bei ihrem Nebenjob im Foodtruck wird. Grace ist ihm gegenüber aufgrund ihres Aussehens zunächst unsicher, aber West sind ihre Narben völlig egal. Er hat schließlich genug eigene, auch wenn diese nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, und kämpft seit Jahren mit den Dämonen aus seiner Vergangenheit. Die beiden merken schnell, dass sie mehr gemeinsam haben als gedacht, doch Grace wehrt sich vehement gegen die Funken zwischen ihnen. Denn sie weiß genau, wie gefährlich es ist, mit dem Feuer zu spielen …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Chele und Lulu
Es ist nie zu spät, das zu werden, was man hätte sein können.
George Eliot
My Chemical Romance – Helena
Bikini Kill – Rebel Girl
Blondie – Atomic
Sufjan Stevens – Mystery of Love
Rag ’n’ Bone Man – Human
Healy – Reckless
Powfu – Death Bed
Nach dem Feuer war nur der Flammenring meiner verstorbenen Momma vollkommen unbeschädigt geblieben.
Das Ding sah billig aus. So einen Ring bekommt man, wenn man in einer Shoppingmall einen Dollar in einen Automaten wirft und ein Plastikei herauskommt. Großmutter Savvy sagte, Momma habe immer gewollt, dass ich ihn bekomme.
Feuer symbolisiert Schönheit, Zorn und Wiedergeburt, erklärte sie mir. Zu dumm, dass es in meinem Fall nur für Untergang stand.
Grams hat mir Gutenachtgeschichten vom Phönix erzählt, der sich aus der Asche erhebt. Sie sagte, das sei es, was Momma wollte – sich über ihre Verhältnisse erheben und Erfolg haben.
Meine Momma wollte sterben und noch mal von vorne anfangen.
Geschafft hat sie nur eins davon.
Und ich? Ich habe beides getan.
17. November 2017
Sechzehn Jahre alt
Als ich zum ersten Mal in einem Krankenhausbett aufwachte, bat ich die Schwester, mir den Ring wieder an den Finger zu stecken. Ich führte ihn an die Lippen und sprach lautlos einen Wunsch aus, wie Großmutter es mir beigebracht hatte.
Ich wünschte mir nicht, dass das Geld von der Versicherung möglichst schnell eintreffen oder dass die Armut auf der Welt aufhören sollte.
Ich wünschte mir meine Schönheit zurück.
Erschöpft von meiner bloßen Existenz verlor ich kurz darauf das Bewusstsein. Im Dämmerschlaf bekam ich Gesprächsfetzen mit, während sich das Zimmer mit Besuchern füllte.
»… das hübscheste Mädchen von Sheridan. Diese elegante kleine Nase. Die vollen Lippen. Blond und blauäugig. Ach Heather, es ist jammerschade.«
»Sie hätte auch Model werden können.«
»Das arme Ding weiß nicht, was sie nach dem Aufwachen erwartet.«
Ganz langsam, ohne zu wissen, was mich auf der anderen Seite erwartete, kam ich aus dem künstlichen Koma zurück. Es fühlte sich an, als würde ich in Glasscherben schwimmen. Selbst die kleinste Bewegung schmerzte. Besucher wie meine Klassenkameraden, meine beste Freundin Karlie und mein Freund Tucker kamen und gingen, tätschelten und liebkosten mich und schnappten bei meinem Anblick nach Luft, während meine Augen geschlossen blieben.
Sie merkten nicht, dass ich bei Bewusstsein war und sie weinen, leise Schreie ausstoßen und stammeln hörte.
Mein altes Leben – Schulaufführungen, Cheerleader-Training und heimliche Küsse mit Tucker hinter der Tribüne – kam mir unwirklich vor wie ein grausam süßer Bann, unter dem ich gestanden und der sich nun aufgelöst hatte.
Um mich der Realität nicht zu stellen, ließ ich meine Augen noch geschlossen, als ich sie längst wieder öffnen konnte.
Bis zum letzten Moment.
Bis Tucker in das Krankenzimmer kam und mir einen Brief zwischen die kraftlosen Finger schob, die auf der Bettdecke ruhten.
»Es tut mir leid«, krächzte er und klang zum ersten Mal, als sei er mit den Nerven am Ende. »Ich kann nicht mehr, und ich weiß nicht, wann du aufwachen wirst. Das ist nicht fair. Ich bin einfach zu jung, um …« Er verstummte, und sein Stuhl kratzte über den Boden, als er aufsprang. »Es tut mir leid, okay?«
Ich wollte ihm sagen, dass er aufhören sollte.
Wollte zugeben, dass ich wach war.
Dass ich lebte.
Na ja.
So was in der Richtung.
Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich nur Zeit zu schinden versuchte, weil ich mit meinem neuen Ich nichts zu tun haben wollte.
Tatsächlich blieben meine Augen geschlossen, und ich hörte, wie er fortging.
Sekunden, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, öffnete ich die Augen und erlaubte mir, zu weinen.
An diesem Tag, nachdem Tucker schriftlich mit mir Schluss gemacht hatte, beschloss ich, mich den Dingen zu stellen.
Eine Krankenschwester huschte wie eine Maus in mein Zimmer, ihre Bewegungen waren rasch und effizient. Sie betrachtete mich mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier, als sei ich ein Monster, das ans Bett gekettet war. Aus der Eile, mit der sie aufgetaucht war, schloss ich, dass sie jeden Moment mit meinem Aufwachen gerechnet hatten.
»Guten Morgen, Grace. Wir haben schon auf dich gewartet. Gut geschlafen?«
Ich versuchte zu nicken, bereute meinen Ehrgeiz aber sofort. Mein Kopf fühlte sich schwammig an, fiebrig und wie angeschwollen. Mein Gesicht war komplett verbunden, was ich bereits bemerkt hatte, als ich das erste Mal zu mir gekommen war. Der Verband wies kleine Öffnungen für meine Nasenlöcher, meine Augen und den Mund auf. Wahrscheinlich sah ich aus wie eine Mumie.
»Okay, das werte ich mal als ein Ja. Hast du zufällig Hunger? Wir würden gern den Tubus entfernen und dich ein bisschen füttern. Ich kann jemanden schicken, der dir etwas Richtiges zu essen holt. Ich glaube, heute gibt es Frikadellen mit Reis und Bananenkuchen. Ist das in Ordnung, Liebes?«
Entschlossen, mich aus meiner eigenen Asche zu erheben, nahm ich all meine körperliche und mentale Kraft zusammen und sagte: »Das wäre schön, Ma’am.«
»Ich bin gleich wieder da. Und es gibt noch mehr gute Nachrichten: Heute ist der große Tag. Dr. Sheffield wird endlich die Verbände abnehmen!« Ich hörte die aufgesetzte Begeisterung in ihrer Stimme.
Geistesabwesend drehte ich den Ring an meinem Daumen herum. Ich war zwar absolut nicht bereit, mir mein neues Ich anzuschauen, aber es wurde allmählich Zeit. Ich war bei Bewusstsein, bei klarem Verstand und würde mich der Realität endlich stellen müssen.
Die Krankenschwester füllte eine Tabelle aus und verschwand. Eine Stunde später kamen Grams und Dr. Sheffield herein. Grams sah schrecklich aus. Abgemagert, runzlig und übernächtigt, obwohl sie ihr Sonntagskleid trug. Ich wusste, dass sie seit dem Feuer in einem Hotel lebte und sich im Krieg mit unserer Versicherungsgesellschaft befand. Ich fand es schrecklich, dass sie diese Sache allein durchmachen musste. Normalerweise war ich diejenige, die sich im Bedarfsfall mit solchen Dingen auseinandersetzte.
Grams nahm meine Hand und drückte sie an ihre Brust. Das Herz schlug wild unter ihren Rippen.
»Was auch immer geschieht«, sagte sie und wischte sich mit ihren ledrigen Fingern zitternd die Tränen ab, »ich bin für dich da, Gracie-Mae, hast du gehört?«
Sie berührte meinen Ring.
»Du trägst ihn ja wieder«, sagte sie verwundert.
Ich nickte, denn ich befürchtete, dass mir die Tränen kommen würden, sobald ich den Mund öffnete.
»Warum?«
»Wiedergeburt«, sagte ich nur. Im Gegensatz zu Momma war ich zwar nicht gestorben, dennoch würde ich mich aus meiner eigenen Asche erheben müssen.
Dr. Sheffield, der zwischen uns stand, räusperte sich.
»Sind Sie bereit?«, fragte er und lächelte entschuldigend.
Ich hob den Daumen.
Auf den Beginn meines restlichen Lebens …
Langsam entfernte er die Verbände. Systematisch. Sein Atem strich über mein Gesicht. Er roch nach Kaffee, Bacon, Pfefferminz und dem typischen Krankenhausaroma von Plastikhandschuhen und Desinfektionsmittel. Seine Miene verriet nicht, was er empfand, wobei ich bezweifelte, dass er überhaupt etwas fühlte. Für ihn war ich nur eine Patientin von vielen.
Er fand keine ermutigenden Worte für mich, als ich zusah, wie das lange, cremefarbene Band, das sich vor meinen Augen drehte, immer länger wurde. Mit dem Verband nahm mir Dr. Sheffield all meine Hoffnungen und Träume ab. Ich spürte, wie mein Atem mit jeder Drehung seiner Hand schwächer wurde.
Ich versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, die mir wie ein Klumpen in der Kehle saßen. Trost suchend blickte ich Grams an. Mit kerzengeradem Rücken und erhobenem Kinn stand sie neben mir und hielt meine Hand.
Ich suchte in ihrer Miene nach Hinweisen.
Während sich der Verband auf dem Boden zu einem Häuflein türmte, verzog sie vor Schreck, Schmerz und Mitleid das Gesicht. Mein Gesicht war erst halb zum Vorschein gekommen, da sah sie bereits aus, als wollte sie im Boden versinken. Mir ging es genauso. Tränen brannten mir in den Augen. Ich unterdrückte sie instinktiv und redete mir ein, es spiele keine Rolle. Schönheit war eine vergängliche Freundin, die einen letztlich immer verließ – und die nie zurückkam, wenn man sie wirklich brauchte.
»Sag etwas.« Meine Stimme war leise und schrecklich rau. »Bitte, Grams. Sag etwas.«
Von Geburt an hatte mir mein Aussehen Vorteile verschafft. Auf der Sheridan High drehte sich alles um Grace Shaw. Wenn wir nach Austin fuhren, wurden Grams und ich ständig von Modelscouts angesprochen. Ich war Cheerleaderin und die beliebteste Schauspielerin bei den Schulaufführungen. Es war offensichtlich, nein, es wurde erwartet, dass mein glanzvolles Äußeres mir den Weg ins Leben ebnen würde. Ich wusste, dass mein dichtes Haar, golden wie die Sonne in der Toskana, meine kesse Nase und die sinnlichen Lippen meine Fahrkarte aus dieser Stadt heraus sein würden.
»Ihre Mutter hat zwar nichts getaugt, aber die Schönheit hat Grace zum Glück geerbt«, hatte ich Mrs Phillips einmal in der Metzgerei zu Mrs Contreras sagen hören. »Hoffen wir, dass sie sich besser macht als dieses kleine Flittchen.«
Grams wandte den Blick ab. War es wirklich so schlimm? Die Verbände waren jetzt komplett verschwunden. Dr. Sheffield zog den Kopf zurück und inspizierte mein Gesicht.
»Ich möchte vorausschicken, dass Sie großes Glück gehabt haben, Miss Shaw. Was Sie da vor zwei Wochen durchgemacht haben … das hätten die wenigsten überlebt. Tatsächlich bin ich erstaunt, dass Sie es geschafft haben.«
Zwei Wochen? Ich liege seit vierzehn Tagen in diesem Bett?
Ich wusste nicht, welchen Anblick ich bot, und starrte ihn verständnislos an.
»Die entzündeten Bereiche sind noch nicht verheilt. Wenn es so weit ist, wird Ihre Haut weniger gereizt sein, vergessen Sie das nicht, und in Sachen plastischer Chirurgie gibt es eine Menge Möglichkeiten, die wir ausprobieren können. Verlieren Sie nicht den Mut. Also, möchten Sie Ihr Gesicht jetzt sehen?«
Ich nickte halbherzig. Ich wollte es hinter mich bringen … sehen, womit ich klarkommen musste.
Der Arzt stand auf, ging zur anderen Seite des Zimmers und holte einen Handspiegel aus einem Schrank, während meine Großmutter neben meinem Bett die Fassung verlor. Ihre Schultern zitterten, ihr dürrer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, ihre feuchtkalte Hand umklammerte meine wie ein Schraubstock.
»Was soll ich nur tun, Gracie-Mae? Oh mein Gott.«
Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit verspürte ich einen Anflug von Wut. Das hier war meine Tragödie, mein Leben. Es war mein Gesicht. Ich musste getröstet werden. Nicht sie.
Mit jedem Schritt, den Dr. Sheffield auf mich zukam, rutschte mir das Herz tiefer in die Hose. Als er mein Bett erreicht hatte, lag es dumpf schlagend neben meinen Füßen.
Er reichte mir den Spiegel.
Ich schloss die Augen, hielt ihn mir vors Gesicht, zählte bis drei und öffnete sie dann wieder.
Ich rang nicht nach Luft.
Ich schrie nicht auf.
Tatsächlich gab ich überhaupt keinen Ton von mir.
Ich starrte einfach die Person im Spiegel an – eine Fremde, die ich nicht kannte, und mit der ich mich vermutlich niemals anfreunden würde. Ich sah zu, wie mir das Schicksal ins Gesicht lachte.
Da war sie, die hässliche, unangenehme Wahrheit: Meine Mutter war an einer Überdosis gestorben, als ich drei war.
Es kam nie zu der Wiedergeburt, nach der sie sich gesehnt hatte. Sie erhob sich nicht aus der Asche.
Und wenn ich mir mein neues Gesicht ansah, wusste ich mit Sicherheit, dass mir dasselbe Schicksal bevorstand.
17. November 2017
Siebzehn Jahre alt
Die beste Gelegenheit, mich umzubringen, ergab sich vier Monate nach meinem siebzehnten Geburtstag.
Es war stockdunkel. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Straße. Ich befand mich auf dem Rückweg von meiner Tante Carrie und lutschte an einer grünen Zuckerstange. Tante Carrie schickte meinen Eltern jede Woche Lebensmittel und Gebete. Es fühlte sich mies an, das zuzugeben, aber meine Eltern schafften es einfach nicht, aus dem Bett hochzukommen, weder mit noch ohne die Gebete meiner Tante.
Pinien säumten die kurvige Straße zu unserer Farm. Sie führte einen steilen Hügel hinauf, bei dem der Motor vor Anstrengung keuchte.
Ich wusste, dass es wie ein Unfall aussehen würde.
Niemand würde etwas anderes vermuten.
Ein weiterer schrecklicher Zufall kurz nach der ersten Tragödie, die die Familie St. Claire heimgesucht hatte.
Die Schlagzeile in der Lokalzeitung am nächsten Morgen konnte ich mir bildlich vorstellen.
Jugendlicher, 17, stößt auf der Willow Pass Road mit Reh zusammen. Sofort tot.
Das Reh stand einfach da, mitten auf der Straße, und starrte reglos auf meinen Wagen, während ich immer schneller auf das Tier zuraste.
Ich betätigte die Lichthupe nicht. Ich bremste nicht.
Das Reh starrte mich einfach an, während ich Vollgas gab und mit weißen Knöcheln das Lenkrad umklammert hielt.
Das Auto raste derart schnell über das Eis, dass es bebte und bald ins Schleudern geriet. Ich verlor die Kontrolle. Lenk- und Reifenbewegungen verliefen nicht mehr synchron.
Na komm, komm schon, komm!
Ich kniff die Augen zu, biss die Zähne zusammen und ließ es geschehen.
Der Motor fing an zu stottern, der Wagen wurde langsamer, obwohl ich immer energischer aufs Gaspedal trat. Ich riss die Augen auf.
Oh nein.
Der Wagen verlor immer mehr an Fahrt.
Nein, nein, nein!
Einen Meter vor dem Reh verreckte der Motor, und das Auto blieb stehen.
Endlich beschloss das dämliche Vieh, zu blinzeln und von der Straße zu trotten. Leise klickend berührten seine Hufe das Eis.
Verficktes, bescheuertes Reh.
Verfickter, bescheuerter Wagen.
Und ich verfickter Idiot, der nicht aus dem gottverdammten Pick-up gestiegen war und sich die Klippe hinuntergestürzt hatte, solange es noch möglich war.
Für ein paar Sekunden herrschte Stille. Nur ich, der verreckte Pick-up und mein Herzschlag, ehe sich endlich ein Schrei meiner Kehle entrang.
»Fuuuuck!«
Ich hämmerte auf das Lenkrad ein. Einmal, zweimal, dreimal … bis meine Fingerknöchel zu bluten begannen. Ich stützte einen Fuß an der Mittelkonsole ab und riss beinahe das Lenkrad aus der Halterung. Frustriert schlug ich mir die Hände vors Gesicht.
Meine Lunge brannte, und Blut tropfte auf die Sitze, während ich den Innenraum des Pick-ups auseinandernahm. Ich riss das Radio aus seiner Halterung und warf es aus dem Fenster. Ich zertrümmerte die Windschutzscheibe mit dem Fuß. Trat das Handschuhfach ein. Das Reh hätte den Pick-up nicht gründlicher zerstören können.
Und trotzdem war ich noch am Leben.
Mein Herz schlug.
Mein Handy begann zu klingeln, die fröhliche Melodie schien mich zu verhöhnen.
Es klingelte immer weiter, hörte nicht auf.
Ich holte es aus der Tasche und checkte, wer der Anrufer war. Ein Wunder? Ein Eingriff des Himmels? Ein merkwürdiger Retter, dem ich etwas bedeutete? Wer konnte es sein?
Wahrscheinlich ein Telefonbetrüger.
Genau.
Ich bedeutete niemandem etwas, auch wenn sie das Gegenteil behaupteten. Ich warf mein Handy in den Wald, stieg aus dem Wagen und begab mich auf den Fünfzehn-Kilometer-Marsch zur Farm meiner Eltern.
Und ich hoffte tatsächlich, einem Bären zu begegnen, der den verdammten Job zu Ende bringen würde.
Gegenwart
»Beste Erfindung der Neunziger: Pony oder Snap-Armbänder. Du hast fünf Sekunden, dich zu entscheiden. Fünf.«
Karlie schlürfte ihre Frozen Margarita und schaute auf ihr Handy. Feuchte Hitzeschwaden schwebten unter der Decke des Food Trucks. Mein rosa Hoodie war schweißnass. Wir befanden uns mitten in einer texanischen Hitzewelle, obwohl der Sommer noch einige Monate entfernt war.
Meine dicke Make-up-Schicht löste sich auf und tropfte in orangefarbenen Flecken auf meine FILA-Schuhe. Gut, dass wir den Imbiss fünf Minuten zuvor geschlossen hatten. Mit weniger als zwei Schichten Foundation im Gesicht hielt ich mich nur ungern außerhalb des Hauses auf.
Ich freute mich auf eine kalte Dusche, warmes Essen und eine voll aufgedrehte Klimaanlage.
»Vier«, zählte Karlie im Hintergrund, während ich rasch eine Stellenanzeige schrieb.
Karlie reduzierte offiziell ihre Arbeitszeiten, worüber Mrs Contreras, ihre Mutter und Besitzerin des Food Trucks, alles andere als erfreut war. Und ich war natürlich traurig, weil ich nun seltener mit ihr zusammenarbeiten würde. Karlie war meine beste Freundin, seit die eine in Windeln im Garten der anderen herumgelaufen war. Es gab sogar ein Foto von uns – wahrscheinlich hing es in Mrs Contreras Wohnzimmer –, auf dem wir splitternackt auf zueinanderpassenden lila Töpfchen sitzen und in die Kamera grinsen, als hätten wir gerade die großen Geheimnisse des Universums gelöst.
Es stand zu befürchten, dass die Person, die Karlie – oder Karl, wie ich sie nannte – ersetzen sollte, mit meinem sarkastischen Naturell und meiner missmutigen Lebenseinstellung nicht klarkommen würde. Trotzdem verstand ich, dass sie kürzertreten musste. Karls Unterrichtspensum war irre, auch ohne die Praktika, die sie zusätzlich angenommen hatte, um ihren Lebenslauf mit Erfahrungen in journalistischer Arbeit zu schmücken.
»Drei. Es gibt nur eine richtige Antwort, und unsere Freundschaft steht auf dem Spiel, Shaw.«
Mit den Zähnen setzte ich die Kappe wieder auf den Edding, lehnte mich aus dem offenen Fenster und hängte das Schild daneben.
Gesucht!
That Taco Truck braucht Unterstützung.
Vier Tage die Woche,
einschließlich Wochenende.
$ 16 die Stunde plus Trinkgeld.
Bei Interesse sprechen Sie bitte mit dem Manager.
Ich öffnete den Mund, um Karlie zu antworten, und hob gleichzeitig den Kopf. Mein Körper erstarrte, jeder Zentimeter füllte sich mit einer Mischung aus Grauen und Wachsamkeit.
Mist.
Ein paar VIPs von der Sheridan University schlenderten auf den Truck zu. Acht Leute insgesamt. Das Üble war nicht die Tatsache, dass sie dasselbe College besuchten wie ich. Nein, ich war es durchaus gewöhnt, meine Kommilitonen zu bedienen.
Was mir Hautausschlag verursachte, war die Rolle, die sie an der Sheridan U spielten.
Diese Typen waren so etwas wie die Könige der zwölften Klasse, die Sahne auf der Beliebtheitstorte.
Da war zum Beispiel Easton Braun, der heiße Quarterback der Sheridan U, der sich jetzt in Zeitlupe mit den Fingern durch sein weizenblondes Haar fuhr, als wären wir in einem Werbespot für Schuppenshampoo. Er sah ekelhaft perfekt aus. Wie diese gemeißelt wirkenden Typen auf Pinterest, die Venen von den Ausmaßen eines Hotdogs an den Armen haben.
Reign De La Salle, der Linebacker mit den weichen schwarzen Locken und den sinnlichen Lippen, Mitglied der Studentenverbindung Sig Ep, der nachgewiesenermaßen mit allem schlief, was einen Puls hatte (und selbst das war nicht unbedingt nötig, wenn er betrunken genug war).
Und dann war da noch West St. Claire, ein völlig anderer Typ als Braun und De La Salle. Eine Legende an der Sher U, eine Liga für sich.
Er war kein Sportler und dennoch bei Weitem der Berüchtigtste von den dreien, als hitzköpfiger Schläger bekannt, der unangefochten die örtliche Untergrund-Kampfszene dominierte. Unverschämt, grob und absolut unnahbar jedem gegenüber, der nicht zu seinem engsten Kreis gehörte.
Und obwohl ich mit der städtischen Gerüchteküche nicht besonders vertraut war, wusste selbst ich, dass sich niemand mit St. Claire anlegte.
Weder seine Kommilitonen.
Noch die Bürger der Stadt.
Seine Professoren nicht und auch nicht seine Freunde.
Dass West St. Claire jedes Sexgott-Klischee auf der Liste erfüllte, war auch nicht hilfreich.
Sein dunkles Haar war immer zerzaust, und seine grünen Augen hatten dieses gefährliche Glitzern … es versprach, dass das Leben nach einer Fahrt auf seinem Motorrad nicht mehr dasselbe sein würde. Einhundertfünfundneunzig Zentimeter goldbraune Haut und definierte Muskeln. Breitschultrig, athletisch und auf unfaire Art hinreißend, dazu kräftige, ausdrucksvolle Augenbrauen, Wimpern, für die die meisten Starlets töten würden, und schmale, zu einer Respekt einflößenden Linie zusammengepresste Lippen. Er trug schmutzige Diesel-Jeans, verwaschene, auf links gedrehte Shirts und staubige Blundstone-Boots, und anstatt einer Zigarette hatte er immer eine grüne Zuckerstange mit Apfelgeschmack im Mundwinkel.
Er galt allgemein als dickster Fisch an der Sher U, den allerdings noch niemand gefangen hatte – und nicht, weil es niemand versucht hätte.
Die Mädchen, die die Typen begleiteten, waren genauso bekannt. Eine von ihnen war sogar beinahe eine Freundin von mir – Tess, eine schwarzhaarige Schönheit mit mehr Kurven als ein Fass voller Schlangen. Sie hatte Theater und Kunst als Hauptfächer belegt, genau wie ich.
»Zwei! Ich hätte jetzt gern eine Antwort, Shaw.« Karlie hielt mir ein imaginäres Mikrofon vors Gesicht, aber ich war in einer merkwürdigen Trance gefangen und konnte meine Stimme nicht finden.
»Eins. Die korrekte Antwort lautet: der Pony, Grace. Der. Pony. Ich meine, hallo? Kate Moss, circa 1998. Mode-Ikone.«
Sie kamen von der Sheridan Plaza aus, einem verlassenen Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite, auf den Food Truck zu. Die sogenannte Mall war ein nackter Betonklotz, den ein paar Bonzen aus dem Boden gestampft hatten, ehe ihnen klar wurde, dass sie damit kein Geld verdienen würden. Inzwischen shoppten alle nur noch online, besonders die Studierenden. Die beiden Raffinerien, die in der Nähe eröffnet werden sollten, hatten beschlossen, nach Asien zurückzugehen, sodass die erwartete Masseneinwanderung nach Sheridan ausblieb.
Jetzt hatten wir ein leer stehendes monströses Gebäude mitten in der Stadt.
Nur, dass es genau genommen gar nicht leer stand. Die Studis nutzten es für Raves, als illegale Kampfarena und als Kontaktbörse, alles mietfrei.
Wahrscheinlich kam die Gruppe gerade von einem Kampf zurück.
Tess lachte und warf die Haare zurück, dann sprang sie Reign auf den Rücken und schlang ihm die Arme um die Schultern.
»Gummibärchen in einer Frozen Margarita? Das ist doch bescheuert.«
»Oh nein, es ist orgasmisch«, gab Easton zurück. Seine Hand steckte in der Gesäßtasche irgendeiner Blondine. »Nicht zu glauben, dass ich noch nie bei diesem Food Truck war.«
»Die Leute hier schwören darauf. Selbst Bradley, der ein absoluter Taco-Purist ist, kommt hierher«, meldete sich ein anderes Mädchen zu Wort. Ich senkte das Kinn, führte meinen Daumenring an den Mund und sprach ein lautloses Gebet.
Ich hasste es, wenn Leute mir direkt ins Gesicht sahen.
Besonders Leute meines Alters.
Leute wie Easton Braun, Reign De La Salle und West St. Claire.
Ich hasste es, weil ich wusste, dass es nur zwei mögliche Reaktionen gab. Entweder fühlten sie sich von der schrecklichen Narbe unter meinem Make-up abgestoßen oder – und das war noch schlimmer – sie bemitleideten mich.
Allerdings würde es in diesem Fall wohl eine Mischung aus beidem werden.
Ich zog mir meine Base Cap tiefer ins Gesicht. Die Stimmen wurden lauter. Raues Gelächter und schrille weibliche Schreie hallten durch die Luft, und mir sträubten sich die Nackenhaare.
»Ach, verdammt«, sagte Reign, der Tess Huckepack trug, ohne in Schweiß auszubrechen. Er rülpste. »Bevor ich es vergesse: Wenn wir beim Truck sind, müsst ihr euch das Mädel ansehen, das eure Bestellungen aufnimmt. Gail oder Gill oder wie sie heißt. Ihre linke Gesichtshälfte ist komplett entstellt. Blau wie eine Pflaume. Und einen hübschen Streuselkuchen-Teint hat sie auch. Man kann ihn zwar nicht richtig sehen, weil sie sich mit einer Tonne Make-up zukleistert, aber er ist da. Anscheinend wird sie von den Leuten hier ›Toastie‹ genannt.«
Reign wollte nicht, dass ich es hörte. Er war definitiv betrunken. Aber das spielte keine Rolle. Galle stieg mir in die Kehle, der bittere Geschmack machte sich in meinem Mund breit. Mir stand ein weiterer Nehmen-wir-die-Verbände-ab-Moment bevor, und ich war absolut nicht darauf vorbereitet.
Tess schlug ihm auf den Hinterkopf. »Sie heißt Grace, du Trottel, und sie ist supernett.«
Easton starrte Reign wütend an. »Echt jetzt? Was ist los mit dir, du Idiot?«
»Er hat aber recht«, sagte Tess leise, ohne an das Echo zu denken, das das weitläufige Nichts um uns herum erzeugte. »Wir haben dieselben Hauptfächer, darum sehe ich sie ständig. Das ist voll traurig, denn abgesehen davon ist sie echt hübsch. Stellt euch mal vor, wie sich das anfühlen muss, wenn man ansonsten fast alles hat. Sie kann nicht mal am Theaterkurs teilnehmen, weil sie sich dermaßen für ihr Gesicht schämt.«
Tess war dabei gewesen, als ich im ersten Studienjahr zu einer Audition gegangen und vor dem Regisseur zusammengebrochen war, der mich aufgefordert hatte, meinen Text zu sprechen. Die Sache war sehr öffentlich, sehr peinlich und fast das ganze Semester lang Stadtgespräch gewesen.
»Oooh!« Die Blondine neben Easton legte sich eine Hand auf die Herzgegend. »Das ist aber traurig, Tessy. Ich kriege eine richtige Gänsehaut.«
»Was ist denn mit ihr passiert?«, fragte ein anderes Mädchen im Flüsterton.
»Ground Control to Major Shaw? Können Sie mich hören?« Karlie reckte den Kopf über meine Schulter, um nachzusehen, was mich in eine Salzsäule verwandelt hatte.
Direkt vor uns blieben sie stehen. Ich hatte mir eine gelassene bis gelangweilte Miene antrainiert, aber mein Herz schlug so heftig in meiner Brust, dass ich Angst hatte, es könnte mir die Rippen brechen.
Unterhalb des Fensters kniff ich Karlie in den Unterarm zum Zeichen, dass wir schon geschlossen hatten, und in der Hoffnung, dass ich die Horde wegschicken durfte.
Karlie schlug die Hand vor den Mund, als wäre der gesamte Kardashian-Clan aufgetaucht.
»Bro, wir bedienen sie. Wir haben noch reichlich Zutaten da. Du weißt doch, wenn es um Reste geht, versteht Mama Contreras keinen Spaß. Abgesehen davon«, sie kniff mich ebenfalls in den Arm, »sieh doch nur, wer das ist!«
Wir lebten in einer kleinen Collegestadt, in der jeder jeden kannte. Unser Division-1-Footballteam wurde mit nahezu religiösem Eifer verehrt. Die Spieltage ähnelten einem Kirchgang, Easton Braun und Reign De La Salle waren wie Heilige, und West St. Claire war Gott. Wir konnten sie einfach nicht abweisen, und wenn sie um drei Uhr nachts auftauchten und mit Monopolygeld bezahlen wollten.
»Hi, Grace!« Tess stieg von Reigns Rücken ab und trommelte auf den leuchtend türkisfarbenen Truck, während sie die Speisekarte begutachtete.
»Hi, Tess. Habt ihr einen schönen Abend?«
»Super, danke. Reign behauptet, dass ihr Frozen Margaritas mit Gummibärchen habt. Stimmt das?«
Viele Kunden waren enttäuscht, weil wir unsere Slushies zwar Margaritas nannten, aber kein Tequila darin war. »Ja, sicher. Allerdings nur alkoholfrei.«
»Etwas anderes hätte ich von dir auch nicht erwartet«, sagte Reign trocken und hickste. Die Mädchen brachen in Gelächter aus. Um meinen Job zu behalten – und nicht in den Knast zu kommen –, ignorierte ich seinen Seitenhieb.
Tess boxte ihm auf den Arm. »Kümmer dich nicht um ihn. Machst du uns zehn zum Mitnehmen? Und zwanzig Tacos, por favor.« Erneut warf sie ihr glänzendes Haar zurück. »Oh, hi Charlie.«
Karlie winkte Tess zu, ohne sich die Mühe zu machen, sie zu korrigieren. Ich hasste es, am Annahmefenster zu arbeiten, aber Mrs Contreras und Karlie bestanden darauf. Sie wollten, dass ich aus meinem Schneckenhaus kam, mich der Welt stellte, bla, bla, bla.
»Weich oder knusprig?« fragte ich.
»Halb und halb.«
»Kommt sofort.«
Ich machte mich an die Arbeit und zog mir ein Paar dünne schwarze Gummihandschuhe über. Mit den knusprigen Tacos fing ich an. Die waren schwieriger zu handhaben, weil sie ständig zerbrachen, darum wollte ich es schnell hinter mich bringen. Großmutter sagte immer, dass Menschen wie Tacos waren – je härter, desto zerbrechlicher. Weich zu sein hieß auch, anpassungsfähiger und flexibler zu sein.
»Wer weich ist, hält mehr aus. Und wenn du mehr aushältst, kann dich niemand brechen.«
Während ich die Tacos mit klein geschnittenen Salatblättern, Frischkäse und Mrs Contreras’ selbst gemachter Guacamole füllte, spürte ich die Blicke der anderen auf meinem Gesicht. Karlie wendete Fisch auf dem Grill und trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Reign ein Mädchen mit dem Ellbogen anstieß und mit dem Kopf auf mich deutete.
»Psst. Häusliche Gewalt?«
»Eher Brandstiftung«, äußerte das Mädchen seine Vermutung, wie ich an die Narbe gekommen war.
»Misslungene Schönheits-OP«, sagte eine Dritte und hustete in ihre Faust. Alle kicherten. In meinem Nacken brannte es wie Feuer.
Noch fünf Minuten, dann hast du’s geschafft. Du hast Physiotherapie, Operationen und Reha überstanden. Du wirst auch diese Idioten überstehen.
Als ich glaubte, es könnte nicht schlimmer werden, beschloss West St. Claire, sich doch noch zu erkundigen, worum es eigentlich ging. Er trat einen Schritt näher an den Truck heran. Sein Blick fiel auf meine linke Gesichtshälfte. Zum ersten Mal in den zwei Jahren, die wir dasselbe College besuchten, nahm er meine Existenz zur Kenntnis, obwohl wir in drei Fächern gemeinsame Kurse hatten. Ich schluckte und versuchte, die Magensäure hinunterzuzwingen, die mir in die Kehle gestiegen war.
Ich war mit den knusprigen Tacos fertig und begann mit den weichen. West machte einen weiteren Schritt auf mich zu, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine offensichtliche Faszination für meine Narbe zu verbergen. Unter seinem Blick fühlte ich mich nackt und bloß, und als er ihn von meiner Wange löste und auf unsere Stellenanzeige richtete, hätte ich vor Erleichterung beinahe geseufzt. Ich musterte ihn verstohlen. Falls er an diesem Abend gekämpft hatte, ließ er es nicht durchblicken. Er sah entspannt und ruhig aus. Beinahe friedlich.
»Suchst du ’n Job?« Reign lachte in sich hinein.
»Ernsthaft, Reign, lass es einfach sein«, schnauzte Easton ihn an, der vermutlich der netteste der drei war.
West riss das Stück Papier vom Truck, knüllte es zusammen und steckte es in seine Gesäßtasche.
»Wow, echt wild«, sagte Reign theatralisch und wich lachend einen Schritt zurück, das Gesicht zum Himmel erhoben.
»Ja, echt heftig, West.« Tess’ Stimme hatte nicht den strafenden Ton, den sie Reign gegenüber an den Tag legte. »Warum hast du das gemacht?«
West ignorierte die beiden, drehte den Kopf und sah mir ins Gesicht. Er rollte die Zuckerstange zwischen den Lippen wie einen Zahnstocher und warf mir einen Blick zu, der eine brisante Frage beinhaltete.
Was willst du dagegen machen, Toastie?
Ich zapfte die Frozen Margaritas in Rekordzeit und setzte die Rechnung für Tess auf, während Reign, Easton und der Rest der Mädchen zum Ende des Parkplatzes eilten, um sich über das Essen herzumachen. West blieb an Tess’ Seite, den Blick immer noch auf meine Narbe gerichtet.
Ich stellte mich auf eine Beleidigung ein und wurde innerlich hart wie ein Taco.
»Was ich dich noch fragen wollte«, schnurrte Tess, nahm seine Hand und drehte die Handfläche nach oben, sodass sein Bizeps gut zu sehen war. »Was bedeutet eigentlich dein Tattoo? Wofür steht das A?«
Ich traute meinen Augen nicht und warf rasch einen Blick auf das Tattoo, von dem sie redete. Es war eine schlichte Tätowierung, die den Buchstaben A darstellte. Kein spezielles Schriftbild oder Design. Nur ein Buchstabe in Times New Roman.
»Wahrscheinlich für Arschloch«, murmelte ich.
Beide starrten mich an.
Oh Gott. Ich hatte es laut ausgesprochen. Ich war so gut wie tot. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Du hast gedacht, dass er ein Arschloch ist. Weil es stimmt.
»Grace.« Tess schlug die Hand vor den Mund. »Schäm dich.«
Die schräg stehenden, glühenden Augen auf mich gerichtet, spuckte West die Zuckerstange auf den Boden. Mein Kopf war vor lauter Blutandrang kurz vor dem Explodieren. Nach langem Schweigen knallte er endlich zwei Einhundert-Dollar-Scheine in Tess’ ausgestreckte Hand, drehte sich um und ging mit katzenhafter Eleganz davon. Er hatte Essen und Getränke für alle bezahlt. Tess verdrehte die Augen und gab mir das Geld.
»Das mit der Stellenanzeige tut mir leid. Manchmal ist West ziemlich gemein. Ich versuche, ihm das abzugewöhnen.«
»Ist nicht deine Schuld.«
Ich zog die Gummihandschuhe aus und gab Tess das Wechselgeld. Sie ergriff meine Hand und schnappte nach Luft. Der unerwartete Hautkontakt ließ mich erschauern. Ich war es nicht gewohnt, berührt zu werden.
»Cooler Ring. Wo hast du ihn her?«
»Hat meiner Momma gehört. Hier ist dein Wechselgeld.«
»Behalt es.«
Skeptisch zog ich eine Braue hoch. Es war ein verdammt hohes Trinkgeld.
»Bist du sicher?«
Sie nickte.
»Er hat es verdient, so wie er sich benommen hat. Weißt du, West hat zwar einen schlechten Ruf, aber ehrlich gesagt ist er ein ziemlicher Softie. Wenn er will, kann er supernett sein.«
Ich konnte in West zwar nichts anderes als einen rasenden Psychopathen sehen, hatte aber keine Lust, dieses Gespräch weiterzuführen. Ich wollte hier weg, diesen Abend aus meiner Erinnerung löschen und solange Friends-Wiederholungen glotzen, bis mein Glaube an die Menschheit einigermaßen wiederhergestellt war.
»Alles klar«, sagte ich mechanisch. »Vielen Dank für den Besuch bei That Taco Truck.«
Tess warf mir ein strahlendes Lächeln zu, drehte sich um und lief zu ihren Freunden.
Ich folgte ihr mit meinem Blick. Sie kürzte über die goldgelben Dünen ab, die den Parkplatz begrenzten, und gesellte sich zu ihren beliebten Freunden. Sie stießen mit ihren Margaritas an, lachten, redeten und aßen. Mir drehte sich der Magen um.
Ich hätte Tess sein können.
Genauer gesagt: Ich war Tess gewesen.
Ich glaubte, das war der Teil meines Lebens, den ich am meisten hasste. Früher war ich eine Tess gewesen. Präsentierte meine Beine in winzigen Shorts. Hing mit Leuten wie West, Easton und Reign ab. Saß hinten auf dem Motorrad, wenn sie Wheelies auf der unbefestigten Straße beim Wasserturm am Stadtrand vollführten. Erklärte Normalsterblichen, wie der Verstand und die Seele von West St. Claire funktionierten, verriet ihnen damit ein exotisches Geheimnis.
Ich schloss das Fenster des Food Trucks. Als ich mich umdrehte, konnte Karlie ihre Aufregung nicht mehr zurückhalten und quietschte los. Sie klatschte mich ab. An guten Tagen war meine beste Freundin einen Meter zweiundfünfzig groß. Sie war gebräunt und kurvig und hatte ein rundes, hinreißendes Gesicht mit einem Streifen Sommersprossen von einer Wange zur anderen. Früher, als ich noch das Alphaweibchen unserer Schule gewesen war, hatte ich sie in den Kreis der coolen Kids aufgenommen. Aber das war vier Jahre her. Diesen Vorteil hatte ich nicht mehr zu bieten.
»Easton Braun und Reign De La Salle, Alter. Ich wäre gern die Pastrami auf ihrem Sandwich.« Sie fächelte sich Luft zu. »Aber der Käse auf dem Taco war West St. Claire. Ich glaube, er hat heute gekämpft.«
»Ich finde, er sah nicht sonderlich lädiert aus.« Ich schaltete den Grill aus und nahm das Putzzeug aus dem Fach neben dem Kühlschrank.
»Weil er mit diesen Typen den Boden aufwischt. Obwohl ich gehört habe, dass er sie ein- oder zweimal treffen lässt, damit die Leute auch mal auf jemand anderen setzen. Gott steh mir bei, seine Augen.« Karlie saugte den Rest ihres Slushies auf, bevor sie ihn in den Müll warf. »Sie sind radioaktiv-grün. Und mit seinen Wangenknochen kann man Metall schmieden. Ernsthaft, der Typ könnte mein Leben zerstören, und ich würde mich noch dafür bedanken.«
Ich grunzte nur und schüttete Wasser auf den Grill, der mir zum Dank Rauch ins Gesicht spuckte.
»Komm schon. Erzähl. Der Grill war zu laut, um zuzuhören. Haben sie was Interessantes erzählt? Irgendwelchen Klatsch?« Karlie stieß mich an.
Sie haben gesagt, dass ich ein Freak bin.
»Die waren total abgefüllt, zusammenhängende Gespräche sind da schwierig. Aber auf die Frozen Margarita sind sie voll abgefahren.« Ich schrubbte den Grill.
»Wow. Wie aufregend.« Sie verdrehte die Augen. »Glaubst du, dass Tess und West es miteinander treiben?«
»Wahrscheinlich. Aber sie sind doch ein hübsches Pärchen. Ich meine, um Himmels willen, sogar ihre Namen reimen sich!«
»Ein Pärchen? Davon träumt Tessa wohl. West lässt sich nur auf One-Night-Stands ein, das weiß doch jeder.«
Ich zuckte mit den Schultern. Genervt versetzte mir Karlie einen Schubs.
»Mein Gott, du bist die untalentierteste Klatschtante, die es gibt. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache. Letzte Frage: Würdest du zu therapeutischen Zwecken lieber die Leute in Michael Jacksons Black or White-Video im Internet stalken und darüber ausrasten, wie alt sie heute sind, oder Barbie einen Joe-Exotic-Vokuhila verpassen?«
»Letzteres.« Ich musterte sie mit einem müden Lächeln, als mir bewusst wurde, wie sehr sie mir fehlen würde, sobald ein neuer Mitarbeiter den Großteil ihrer Schichten übernahm. »Ich würde Barbie den Vokuhila verpassen, sie als Cowgirl anziehen, in ihr protziges Cabrio setzen und ein TikTok-Video davon machen, wie sie ›Die Bratz Dolls haben mein Hündchen gefressen‹ singt.«
Karlie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Ich spähte in ihren Taschenspiegel, der auf dem Fensterbrett lag, und checkte mein Make-up.
Die Narbe war noch gut abgedeckt.
Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Der knusprige Taco überlebt einen weiteren Tag. Angeschlagen, aber nicht gebrochen.
Gegen elf kam ich nach Hause. Grams saß in ihrem abgetragenen Baumwollkittel am Küchentisch. Aus dem Radio neben ihr plärrte in voller Lautstärke Willie Nelson.
Großmutter Savvy war schon immer eine exzentrische Frau gewesen. Sie war die Frau, die es an Halloween jedes Mal mit dem Kostüm übertrieb, wenn es darum ging, die Süßigkeitensammler zu begrüßen. Die Frau, die die Blumentöpfe auf ihrer Veranda mit lustigen – und oftmals unangemessenen – Figuren bemalte, die Frau, die auf jeder Hochzeit tanzte, als sähe niemand zu, und die bei Super-Bowl-Werbejingles zu weinen anfing.
Großmutter war schon immer schrullig gewesen, aber in letzter Zeit war sie auch verwirrt.
Zu verwirrt, um sie für länger als die zehn Minuten allein zu lassen, die zwischen dem Zeitpunkt lagen, wenn ihre Betreuerin Marla ging und ich nach Hause kam.
Ich war drei, als meine Mom, Courtney Shaw, an einer Überdosis starb. Sie lag auf einer Bank in der Innenstadt von Sheridan. Ein Schuljunge hatte sie gefunden. Er versuchte, sie mit einem Ast aufzuwecken. Als ihm das nicht gelang, rastete er aus und schrie die ganze Straße zusammen, was die Hälfte der Schulkinder unserer Stadt und ein paar Eltern anlockte.
Die Nachricht verbreitete sich schnell, Bilder wurden gemacht, und die Shaws wurden offiziell zu den schwarzen Schafen von Sheridan. Von da an war Grams die einzige Mutter, die ich kannte. Courtney hatte ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit einer Reihe von Speed-Junkies getrieben. Einer davon war mein Vater, nahm ich an, aber ich hatte ihn nie kennengelernt.
Grams hatte nie gefragt, wer mein Vater war. Wahrscheinlich hatte sie keine Lust, in ein Wespennest zu stechen und sich auf einen Sorgerechtsstreit mit Gott-weiß-wem einzulassen. Die Chancen, dass mein Vater ein respektabler, hart arbeitender Kirchgänger war, standen nicht besonders gut.
Grams zog mich wie ihre eigene Tochter auf. Es war nur fair, dass ich jetzt, da sie nicht mehr völlig selbstständig war, bei ihr blieb und mich um sie kümmerte. Abgesehen davon war es auch nicht so, dass ich ständig Angebote aus Hollywood bekam und mir eine großartige Karriere entgangen wäre.
Reign De La Salle war zwar gemein, aber er hatte nicht ganz unrecht. Mit einem Gesicht wie meinem würde ich nur Rollen als Monster ergattern.
Ich betrat die Küche und drückte Grams einen Kuss auf ihr weißes Zuckerwatte-Haar. Sie griff nach meinem Arm und zog mich zu sich nach unten, um mich zu umarmen. Ich stieß einen dankbaren Seufzer aus.
»Hi, Grams.«
»Gracie-Mae. Ich hab Kuchen gebacken.«
Sie stützte die Hände auf den Tisch und hievte sich stöhnend hoch. Meine Großmutter erinnerte sich an meinen Namen. Das war immer ein gutes Zeichen und wahrscheinlich auch der Grund, warum Marla sie allein gelassen hatte, bevor ich zurück war.
Unser Haus war ein Siebzigerjahre-Friedhof. Es enthielt alle Einrichtungs-Scheußlichkeiten, die für diese Ära typisch waren: grün gekachelte Arbeitsflächen, hölzerne Wandverkleidungen, alles Mögliche aus Rattan und Elektrogeräte, die so viel wogen wie ein Familienauto.
Selbst als wir nach dem Feuer große Teile unseres Hauses im Ranch-Style wiederhergestellt hatten, ging Grams in einen Trödelladen der Heilsarmee und kaufte die ältesten, nicht zueinander passendsten Möbel, die sie finden konnte. Es war, als sei sie allergisch gegen guten Geschmack, aber wie bei allen Eigenheiten der Menschen, die man liebte, lernte man, das Schöne darin zu sehen.
»Ich habe eigentlich keinen Hunger«, log ich.
»Es ist ein neues Rezept. Ich habe es aus einer der Illustrierten, die beim Zahnarzt herumliegen. Marla hat sich irgendwas eingefangen, die Ärmste. Konnte nichts davon probieren, dabei wollte sie so gern.«
Gehorsam setzte ich mich an den Tisch. Grams schob einen Teller mit Kirschkuchen und einer Gabel in meine Richtung und tätschelte meine Hand, die auf dem Tisch ruhte.
»Jetzt zier dich nicht, Courtney. Nicht bei deiner Mama. Iss.«
Courtney.
Nun, das hatte nicht lange gedauert. Grams nannte mich öfter Courtney. Nachdem das einige Male vorgekommen war, ging ich mit ihr zum Arzt, um wegen ihrer Vergesslichkeit ein paar Tests machen zu lassen. Der Arzt sagte, es sei zwar kein Alzheimer, aber wir sollten trotzdem im folgenden Jahr wiederkommen, falls es schlimmer werden sollte.
Das war nun zwei Jahre her. Seitdem weigerte sie sich, noch einmal hinzugehen.
Ich schob mir ein Stück Kirschkuchen in den Mund. Sobald es den Gaumen berührte, blockierte er und schickte eine Nachricht an mein Gehirn.
Mission abbrechen.
Sie hatte es wieder getan.
Salz und Zucker verwechselt. Kirschen statt Pflaumen. Und – wer weiß? – vielleicht auch Rattengift statt Mehl.
»Lecker, hm?« Sie beugte sich vor und stützte das Kinn auf die Fingerknöchel. Ich nickte, griff nach dem Glas Wasser neben meinem Teller und stürzte es hinunter. Mein Blick fiel auf mein Handy, das auf dem Tisch lag. Eine Nachricht blinkte auf.
Marla: Warnung: Der Kuchen von deiner Großmutter ist heute ziemlich schlecht.
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich wusste, dass du ihn mögen würdest. Kirschkuchen isst du am liebsten.«
Tat ich nicht. Courtney hatte Kirschkuchen geliebt, aber ich brachte es nicht übers Herz, sie zu verbessern.
Ich schluckte jeden Bissen hinunter, ohne ihn zu schmecken, überwand mich, alles bis zum letzten Krümel aufzuessen. Dann spielte ich ein Brettspiel mit ihr, beantwortete Fragen über Leute, die ich nicht kannte, die aber irgendwie mit Courtney in Verbindung standen, brachte Grams ins Bett und gab ihr einen Gutenachtkuss. Als ich aufstehen wollte, hielt sie mich am Handgelenk fest. Ihre Augen tanzten wie Glühwürmchen in der Dunkelheit.
»Courtney. Mein liebes Kind.«
Der einzige Mensch, der mich liebte, hielt mich für jemand anderen.
Am nächsten Morgen war ich früh beim Food Truck, um alles für das Tagesgeschäft vorzubereiten. Samstags war in Sheridan Bauernmarkt, was mehr Konkurrenz, mehr Food Trucks, mehr menschliche Interaktion und deren Nebenprodukt bedeutete – verstärkte Kriegsbemalung. Samstags hatte ich so viel Make-up im Gesicht, das es jedem Partyclown zur Ehre gereicht hätte.
Silberstreif am Horizont: Es war kein Rodeotag. Seit ein Kunde mein Gesicht mit einem Pferd verglichen und erklärt hatte, der Gaul würde in Sachen Schönheit gewinnen, weigerte ich mich, am Rodeotag zu arbeiten.
Karlie war spät dran, was nichts Ungewöhnliches war. Obwohl sie einer der fokussiertesten und fleißigsten Menschen war, die ich kannte, konnte sie alles verschlafen, den Dritten Weltkrieg eingeschlossen. Ihre Nachlässigkeit machte mir vermutlich weniger aus, als gut für mich war. Die Contreras bezahlten mich gut, ermöglichten mir flexible Schichten, und Karlie hatte sich in den letzten vier Jahren als großartige Freundin erwiesen.
Ich wusch den Fisch und schnitt ihn klein, putzte Gemüse, bereitete die Frozen Margaritas zu, schrieb eine neue Stellenanzeige und hängte sie auf. Um Viertel vor neun kam meine beste Freundin hereingestolpert. Sie trug große pinkfarbene Kopfhörer und ein Tanktop mit Bart Simpson darauf.
»Hola. Alles in Ordnung?« Sie ließ ihre Kaugummiblase vor meinem Gesicht platzen und nahm die Kopfhörer ab. Rebel Girl von Bikini Kill dröhnte daraus hervor, bis sie die Musik-App ausschaltete. Ich drückte ihr die Grillzange in die Hand.
»Bin heute Morgen mit dem Gefühl aufgewacht, dass irgendwas Schlimmes passiert.«
Das war keine Lüge. Als ich am Morgen aufgewacht war, hatte ich gesehen, dass der Flammenring an meinem Daumen letztlich seinem Alter erlegen war. Die Flamme war durchgebrochen, nur ein kleiner Rest und der Reifen waren übrig geblieben.
Draußen herrschten mehr als vierzig Grad – es war so heiß, dass man ein Ei auf dem Asphalt braten konnte –, und im Truck war es wahrscheinlich noch zehn Grad heißer. Irgendetwas an diesem Tag fühlte sich anders an. Er hatte etwas Monumentales an sich, so als hinge meine Zukunft über meinem Kopf und drohte, auf mich herunterzukrachen.
»Ach was, alles ist gut.« Karlie ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und klapperte mit der Zange vor meiner Nase herum. »Gut, aber arbeitsreich. Draußen steht schon eine Schlange. Beweg dich mal lieber zum Fenster, Julia.«
»Wenn Romeo morgens um neun schon Fischtacos isst, bleibe ich lieber Single.« Ich lachte und fühlte mich wieder ein bisschen mehr wie ich selbst und nicht wie das bemitleidenswerte Mädchen, das West St. Claire am vorherigen Abend aus mir gemacht hatte.
Mrs Contreras bestand darauf, dass wir ausschließlich Fischtacos nach ihrem Spezialrezept zubereiteten. Kein Tex Mex in diesem Food Truck. Wir boten nur eine Sorte Tacos an, aber die machte niemand so gut wie wir.
»Ah, das ist der Aspekt, auf den Shakespeare nicht weiter eingegangen ist. Romeo starb also an Julias Fischatem, nicht an Gift.«
»Und Julias Dolch?« Ich warf Karlie einen amüsierten Blick zu. Sie tat so, als würde sie sich die Grillzange wie ein Schwert in die Eingeweide stoßen, fasste sich an den Hals und gab würgende Geräusche von sich.
»Auch Zangen können tödlich sein.«
Lächelnd öffnete ich das Fenster des Trucks, entschlossen, den Abend zuvor aus meinen Gedanken zu verbannen.
»Guten Morgen und herzlich willkommen bei That Taco Truck! Was kann ich für Sie …«
Das letzte Wort blieb mir im Hals stecken, als ich sein Gesicht sah. Hinter ihm stand eine Reihe von Leuten.
West St. Claire.
Mein Lächeln verschwand.
Wieso ist er wieder hier?
»Geht es um das Trinkgeld, das Tess gestern gegeben hat? Das kannst du wiederhaben. Vielleicht kannst du dir davon ein paar Manieren kaufen.« Mein Magen zog sich zusammen. Mein Mund war wieder einmal schneller als mein Verstand.
Warum forderte ich meinen sozialen Tod heraus? War ich etwa unbewusst suizidgefährdet? Wie auch immer, ich bereute nicht, was ich gesagt hatte. Ich bezweifelte, dass West Tacos oder gepflegte Konversation wollte. Ich wusste, dass es keine gute Idee war, mit einem Typen wie ihm die direkte Konfrontation zu suchen, aber er war am Vortag unterkühlt und gemein gewesen, und ich konnte nicht anders, ich musste ihn darauf ansprechen.
West sah aus, als hätte er die Nacht durchgemacht. Er trug immer noch dieselbe Kombi aus Jeans und T-Shirt, und unter seinem unverwandten, gelangweilten Blick fühlte ich mich wie Dreck. Seine Augen waren gerötet.
Wortlos reichte West mir ein zusammengeknülltes Papier. Ich erkannte es sofort. Meine Miene verfinsterte sich, als ich es auseinanderfaltete. Es war die Stellenanzeige, die er vom Truck abgerissen hatte.
»Hab schon eine neue gemacht«, sagte ich kurz angebunden und warf das Papier in den Mülleimer vor meinen Füßen. »Kann ich sonst noch was für dich tun?«
»Hol den Manager«, versetzte er.
Das überraschte mich. Zunächst die Tatsache, dass er überhaupt gesprochen hatte, denn ich hatte ihn noch nie reden hören. Seine Stimme passte zu seinem Aussehen. Leise, rauchig und leicht verrucht. Zweitens schockierte es mich, dass er mit mir sprach. Aber am meisten überraschte mich, dass er die Dreistigkeit besaß, mich herumzukommandieren.
»Wie bitte?« Ich zog eine Augenbraue hoch. Meine gute, die rechte Augenbraue. Die Linke existierte nicht mehr. Ich malte sie mir allerdings auf, und da ich immer meine graue Baseball-Kappe trug, merkten es die Leute kaum. Die Kunden hinter ihm verloren allmählich die Geduld, schüttelten den Kopf und tippten mit den Zehen auf den Boden. Natürlich sagte niemand etwas. Da sei Gott vor, dass jemand ihn wegen seines Bullshits zur Rede stellte.
»Den Manager. Auch bekannt als die Person, die in diesem Truck das Sagen hat. Bist du begriffsstutzig?«
»Nein, angeekelt.«
»Na, dann beeil dich mal, damit du mich schnell wieder loswirst. Ruf deinen Vorgesetzten.«
Er sah mir unverwandt in die Augen. Aus der Nähe wirkten seine nicht wirklich grün, sondern wie eine wilde Mischung aus Salbei und Blau, umgeben von dunkler Jade.
Seine Freunde und er hatten sich am Abend zuvor einen großen Spaß daraus gemacht, zu erraten, was wohl mit meinem Gesicht passiert war. West hatte mich angestarrt wie einen Zirkusfreak. Ich hatte mich wie ein eingesperrtes Tier mit drei Köpfen gefühlt, das am liebsten die Gitterstäbe verbogen, sich auf die Leute gestürzt und mit seinen scharfen Krallen in Stücke gerissen hätte.
In der Realität glättete ich in diesem Augenblick die Plastikfolie über der Guacamole in der Bar mit den Beilagen.
»Entschuldige meine Offenheit, aber die Chancen, dass du in diesem Food Truck arbeiten willst, stehen ähnlich hoch wie meine Chancen für das Bolschoi-Ballett. Und jetzt raus mit deiner Bestellung, oder geh weiter. Die anderen warten.«
»Den Manager. Jetzt«, wiederholte er und ignorierte meine Worte. Ich spürte, wie meine Nasenflügel vor Frustration bebten. Ich hatte zwar gehört, dass er heftig werden konnte, aber es mitzuerleben, war ein Gefühl, als hätte jemand mein Herz in einen Mixer gesteckt und zwänge mich, zuzusehen, wie es zu Püree verarbeitet wird.
Karlies Gesicht tauchte aus dem Hintergrund auf. Als sie ihn sah, schrie sie vor Überraschung auf. »Oh mein Gott! Äh … ich meine, hi. West, richtig?«
Lässig. Sie hätte ihn sogar im Krabbenkostüm des Maskottchens der Sheridan University erkannt.
West glotzte sie an, ohne seine Identität zu bestätigen. Karlie reichte ihm durch das Fenster die Hand. Er tat so, als bemerke er sie nicht.
Kichernd zog sie die Hand zurück.
»Ich bin Karlie. Wir gehen zusammen auf die Sher U. Ich bin hier die Managerin. Na ja, jedenfalls ihre Tochter. Was kann ich für dich tun?«
»Ich bin wegen des Jobs hier.«
»Dein Ernst?«
»So ernst wie eine Herzattacke.«
Und genauso tödlich. Schick ihn weg, Karl.
»Fantastisch. Du bist eingestellt«, zwitscherte sie, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.
Mir entfuhr ein schrilles, nahezu hysterisches Lachen. Karlie und West drehten sich zu mir und sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Moment mal … meinten sie das etwa ernst? Ich blickte zwischen den beiden hin und her, und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Eine ältere Frau hinter West räusperte sich und winkte mir zu, als wäre ich diejenige, die für die Verzögerung verantwortlich war.
»Du machst Witze, oder?«, fragte ich, an Karlie gewandt.
Sie zuckte zusammen.
»Na ja, wir brauchen wirklich einen neuen Mitarbeiter …«
West konzentrierte sich jetzt auf meine beste Freundin und deutete mit dem Kinn auf den Bereich hinter meinem Rücken. »Können wir das in einem etwas privateren Rahmen besprechen?«
»Komm einfach rein.«
In den folgenden Minuten schien die Zeit zu schleichen. Karlie und West begaben sich in den hinteren Bereich des Trucks, während ich am Verkaufsfenster blieb und die Kunden bediente. Zehn Minuten später kam Karlie aus dem Truck, nahm die Stellenanzeige ab und schlüpfte wieder hinein.
»Gratuliere. Du hast einen neuen Kollegen«, trällerte sie, tänzelte zum Grill und drehte ein Stück Fisch um, das schon seit zehn Minuten verkohlt war.
Ich beachtete sie nicht, bereitete so schnell wie möglich Tacos zu und versuchte im Stillen, mich davon zu überzeugen, dass mein Leben nicht vorbei war und West St. Claire mich nicht aufgrund irgendeiner komplizierten Wette umbringen würde.
»Hast du mich gehört, Shaw?« Der Fisch, den Karlie wendete, zerbröselte in kleine, matschige Teile. Mir war heiß, ich war verschwitzt, wütender als eine nasse Henne und voller dunkler, bitterer Galle. Ich war mir sicher: Würde ich mich mit dem Messer aufschlitzen, das ich in der Hand hielt, um eine Packung geriebenen Käse zu öffnen, käme genau das zum Vorschein: schwarzer Schleim, der mir aus den Adern lief.
»Laut und deutlich. Ich dachte nur, ich hätte dabei ein Wörtchen mitzureden. Schließlich bin ich diejenige, die mit dem Ersatz zusammenarbeiten muss.«
»Hör zu. Er ist der bekannteste heiße Collegetyp der Sheridan U. Er wird haufenweise Kunden anziehen. Ich konnte nicht Nein sagen, obwohl ich wusste, dass du deswegen rumzicken würdest.«
»Genau.« Ich beugte mich vor und reichte mit einem künstlichen Lächeln einem Kunden seinen Taco mit angebranntem Fisch. Als ich mit der Highschool fertig war, war ich mir nicht sicher, ob ich aufs College gehen sollte. Mein Instinkt sagte mir, dass ich mich vor der Welt verstecken, mich zurückziehen und in Einsamkeit leben sollte. Aber ich begriff schnell, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste raus und Geld verdienen. Da mir ohnehin nichts anderes übrig blieb, als meinen Mitmenschen mein Gesicht zu zeigen, hielt ich das College für eine praktische, wenn auch grausame Lösung, um mir einen vernünftigen Job zu sichern.
»Er braucht einen Job, na klar.« Jetzt hatte ich einen Lauf. »Er braucht bestimmt dringend Geld, weil er im Plaza nichts verdient.«
Ich wusste, dass West St. Claire bei diesen Kämpfen richtig Kasse machte. Gerüchteweise hatte er im letzten Jahr achtzig Riesen gemacht, mit Ticketverkäufen und Wettgeldern und indem er ein Vermögen für gepanschtes Bier verlangte.
»Ich habe ihn danach gefragt. Er sagt, er muss sein Einkommen aufbessern.«
»Seine Manieren müsste er verbessern«, gab ich zurück.
»Warum? War er gemein zu dir?« Karlie zog die Brauen zusammen.
Der bloße Gedanke an den Vorabend machte mich wütend. Ich wandte den Blick ab und wechselte das Thema.
»Und wie meinst du das überhaupt: Du hast gewusst, dass ich deswegen rumzicken würde?«
»Ach, komm schon.« Sie hob die Arme, als würden wir beide die Antwort auf diese Frage bereits kennen.
»Was denn, komm schon?«
»Im Ernst? Na gut. Ich sage es dir. Aber versprich mir, dass du nicht wütend wirst.«
»Ich verspreche dir, dass ich nicht wütend werde.«
Weil ich es schon war.
»Nun, die Wahrheit ist, dass du dich leicht von Menschen einschüchtern lässt, Shaw. Du glaubst zu wissen, wie sie sind, und bildest dir auf dieser Grundlage eine Meinung über sie.«
»Gar nicht wahr!«
»Und ob. Sieh dich doch an. Du bist wütend, weil ich jemanden eingestellt habe, den du gar nicht kennst, und das nur, weil der Typ einen Ruf hat. Weißt du was? Wir haben alle einen Ruf. Tut mir leid, Grace, aber so ist es nun mal. Ich bin die von den Neunzigern besessene Besserwisserin, und du bist das Emo-Mädchen mit der Narbe. Wir werden alle in Schubladen gesteckt und eingeschätzt aufgrund unserer Fehler und Schwächen. Willkommen im Leben. Es ist scheiße, und dann stirbt man.«
Ich fürchtete, etwas zu sagen, das ich später bereuen würde, also hielt ich den Mund. Karlie hörte auf, extratoten Fisch zu wenden, wirbelte herum, packte mich bei den Schultern und zwang mich, sie anzusehen. Durch meinen pinkfarbenen Hoodie hindurch massierte sie mir die Schultern.
»Sieh mich an, Shaw. Hörst du mir zu?«
Ich antwortete mit einem Grunzen.
»Vielleicht ist er ja nett.«
»Wahrscheinlich aber nicht.«
Ich wusste, dass ich mich von meinen Unsicherheiten überwältigen ließ, aber angesichts seines Aussehens, seines Rufes und seines sozialen Status war West St. Claire der perfekte Kandidat, um mein Leben zu ruinieren.
»Wenn sich nach der ersten Schicht herausstellt, dass er ein Arschloch ist, sagst du es mir, und ich schmeiß ihn raus. Keine Fragen. Keine einzige.« Karlie zwang mir einen Handschlag auf, schloss einen einseitigen Handel mit mir ab. »Du hast mein Wort. Ich weiß, dass du glaubst, dass ich von ihm fasziniert bin, aber für mich ist er einfach nur ein Kommilitone, der sich etwas Geld verdienen will. Ich ersticke in Seminararbeiten, und wenn dieses Jahr vorbei ist, muss ich mich um meine Praktika kümmern. Ich brauche einfach jemanden. Kannst du jetzt bitte aufhören zu schmollen?«
Unglücklicherweise hatte Karlie recht. Im Grunde hatte West mir nichts getan. Im Gegenteil, er hatte mir ein Wahnsinnstrinkgeld gegeben und es nicht einmal zurückverlangt.
»Na schön.«
Sie grinste und drehte mich an den Schultern wieder zu den Leuten, die auf ihr Essen warteten.
»Braves Mädchen. Schnell, sag mir, ob du ihn auf dem Parkplatz noch sehen kannst. Ich habe ihn gefragt, ob er heute schon anfangen kann, um zu lernen, wie man den Grill bedient, aber er hat gesagt, er hätte zu tun. Ist er noch da?«
Widerstrebend erfüllte ich ihr den Wunsch und reckte den Hals. Ich entdeckte West sofort, was daran lag, dass er einen Kopf größer war als der Rest der Menschheit. Er lehnte an seiner roten Ducati M900 Monster und trug seine Wayfarer-Sonnenbrille.
Das Mädchen, das bei ihm war, erkannte ich sogar von hinten. Rabenschwarzes Haar, endlos lange, gebräunte Beine und winzige Shorts, die an einen breiten Gürtel erinnerten. Tess. Sie sprach angeregt mit ihm, ließ die Haare fliegen und kicherte. Wahrscheinlich hatten sie die Nacht miteinander verbracht. West reagierte nicht auf das, was sie sagte. Er drehte sich um, setzte ihr mit einer groben Bewegung einen Helm auf, schnallte ihn unter ihrem Kinn fest und stieg auf das Motorrad. Sie ließ sich hinter ihm auf den Sitz gleiten und schlang ihm die Arme um die Taille.
Er griff nach ihrer Hand und legte sie in seinen Schritt.
»Jep. Er reitet gerade mit Tess Davis in den Sonnenuntergang oder in die nächste Klinik für sexuell übertragbare Krankheiten.« Als sie in einer Staubwolke über den Parkplatz sausten, zerbrach ich aus Versehen einen knusprigen Taco.
Karlie verzog das Gesicht. »Sie zieht immer den besten Bullen. Ich frage mich, wen er als Nächstes flachlegt.«
Hoffentlich seine Hand. Wir wollen auf diesem Planeten keine Mini-Wests.
Die nächsten fünf Stunden verbrachte ich damit, Karlie über Wests Frauengeschmack lamentieren zu hören, Kunden zu bedienen und mich über die desaströse Wende aufzuregen, die mein Leben genommen hatte.
Als ich die Tür des Trucks öffnete, um nach Hause zu gehen, lag ein Paar Ballettschuhe auf der Treppe. Stirnrunzelnd hob ich sie auf. Sie waren ungefähr in meiner Größe, brandneu, aber ohne Karton. Eine nachlässig hingekritzelte Notiz war an ihnen befestigt:
Fang schon mal an zu üben.
»Was zum …?«
Meine Worte vom Morgen kamen mir in den Sinn.
»Die Chancen, dass du in diesem Food Truck arbeiten willst, stehen ähnlich hoch wie meine Chancen für das Bolschoi-Ballett.«
West St. Claire hatte Humor.
Leider hatte ich das Gefühl, dass ich in dieser Hinsicht demnächst sein Lieblingsopfer sein würde.
Bzzzz.
Bzzzzz.
Mein Handy tanzte über den Nachttisch, fiel auf den Boden und drehte sich dort im Kreis wie ein Maikäfer, der auf dem Rücken liegt.
Ich bückte mich, hob es auf und strich über das Display, um den Wecker abzustellen. Ein gedämpftes Kreischen zerriss mir das Trommelfell.
»Schätzchen, bist du das? Larry! Komm her. Er hat sich gemeldet.«
Verdammtes Scheißleben.
Zehn Stunden lang war ich komplett weggetreten gewesen, weshalb ich den monotonen Wach-endlich-auf-Ton des Weckers, der gleichzeitig auch mein Klingelton war, nicht registriert hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, einfach aufzulegen, aber dann dachte ich mir, dass ich meine Arschloch-Quote für diese Woche bereits erfüllt hatte, weil ich Easts vorgefertigte Sportlernahrung bis auf den letzten Rest aufgegessen hatte. Ich biss mir in die Faust, bis Blut kam, und drückte das Handy ans Ohr.
Hier kommen Nichts und sein gottverdammtes Arschloch von Cousin namens Ärger.
»Mutter.«
»Hallo! Hi!«, rief Mom verzweifelt. »Westie, ich kann kaum glauben, dass du abgehoben hast.«
Willkommen im Club.
»Was gibt’s?« Ich rollte mich zur Seite und setzte mich auf den Rand meines Bettes. Die Uhr auf dem Nachttisch sagte mir, dass es zwei Uhr nachmittags war. Sie sagte auch, dass ich ein absoluter Vollidiot war, der schon wieder verschlafen hatte. Die Abschlussprüfungen rückten näher, und ich wusste, dass ich die Sheridan University mit einem nutzlosen Diplom verlassen würde, aber es wäre doch nett, wenigstens so zu tun, als würde mich das irgendwie interessieren.
»Nichts, Schätzchen. Ich meine, alles in Ordnung. Alles gut. Wir wollten nur einmal nachhören, wie es dir geht. Easton hat uns auf dem Laufenden gehalten, aber wir hören deine Stimme einfach so gern.«
»Ist er das?« Im Hintergrund hörte ich meinen Dad schniefen. Dann ein Schlurfen. Sachen, die von einem Tisch gestoßen wurden. Sie drehten durch vor Aufregung. In mir erwachten Schuldgefühle, gefolgt von ihren loyalen Freunden, den Gewissensbissen. »Lass mich mit ihm reden. Westie? Bist du das?«
»Dad. Hi.«
»Schön, deine Stimme zu hören, mein Sohn.«