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Der letzte Tag im Leben von Lucian Trujilo-Ortiz begann mit einer großen, schweigsamen Hitze, die sich silbern in der Stadt ausbreitete. Sie schloss Fenster, zog Vorhänge zu und begrub das Leben unter sich. Ein windstiller, grau bewölkter Sonntag, der Tag nach dem Lärm der Regenbogenparade in Wien ... Lucian Trujilo-Ortiz führt ein Doppelleben. Tagsüber der wohlhabende Sohn des kubanischen Botschaftssekretärs und nachts der begehrteste Stricher der Donaumetropole. Mit den Gefühlen seiner Freunde und Freier spielt er ebenso so gerne wie mit seiner Identität. Am meisten leidet darunter der junge Daniel, der Lucian so sehr liebt, dass er ihn irgendwann nur noch hassen kann. Und Daniel wünscht seinem Liebsten den Tod. Jetzt, 15 Jahre später, kommt ein gewisser Richard Grier zurück in die Stadt. Er war damals nicht nur der erste Polizist am Tatort, er war selbst Kunde in der Stricher-Szene. Und von Lucian fasziniert. Doch Richard Grier belasten Fragen, die nach Antworten schreien. Was genau ist vor 15 Jahre passiert? Und wie konnte es zu der Tat kommen? Peter Nathschlägers neuestes Werk beleuchtet die Nachtseite Wiens. Zwischen Gier und Geld offenbart sich Schritt für Schritt das Leben der flammenden Herzen. Herzen, die sich nichts anderes wünschen, als geliebt zu werden. Doch Liebe braucht Hingabe, Opferbereitschaft und Vertrauen. Eigenschaften, die vor dem Spiegel der Eitelkeit missverstanden werden – auch wenn Spiegel immer die Wahrheit zeigen. Manchmal eine unerträgliche.
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Seitenzahl: 190
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Lucian im Spiegel
Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage Mai 2018
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-218-9
eISBN: 978-3-95771-219-6
Peter Nathschläger
Roman
Lucian im Spiegel
Autor
Peter Nathschläger
Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Schriften
Constantia
Covergestaltung
Marti O´Sigma
Coverbild
Marti O´Sigma
Lektorat
Thomas Pregel
Druck und Bindung
Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Mai 2018
ISBN: 978-3-95771-218-9
eISBN: 978-3-95771-219-6
Das Buch möchte ich
Ramazan Agca
widmen,
der einsam und traurig gestorben ist
und einfach vergessen wurde.
Und meinem Mann
Richard,
der unsterblich ist
und allein schon deshalb niemals vergessen werden kann.
P.N.
Er träumte davon, durch einen Birkenwald zu gehen, und das ist seltsam. Auf Kuba, wo er seine Kindheit verbracht hatte, gibt es keine Birken. Und hier, in Österreich, sind wir nie in einem solchen Wald gewesen. Im Traum ging er durch einen weiten Wald voller Birken, auf einem weichen Boden aus Laub und Moos, und er strich mit seinen Händen über jeden Stamm. Er rieb über die faserige Maserung, um das Leben in den Stämmen zu spüren, das geheime Leben der Bäume. Er wusste vom geheimen Leben der Bäume.
Wie also konnte er träumen, durch Birkenwälder zu gehen?
An guten Tagen war Lucian einfach nur unser Sohn. Er stand morgens auf, duschte, zog Jeans und T-Shirt an, frühstückte mit uns und ging zur Universität. Dann kam er nach Hause, aß mit uns gemeinsam zu Abend und erzählte von seinem Tag. So charmant konnte er sein. Sie wissen das sicher. Sehr einnehmend. Lucian war ein sehr einfühlsamer junger Mann. Wenn einer davon träumt, durch Birkenwälder zu gehen, um das geheime Leben der Bäume zu erfühlen!
Einmal, vielleicht als er mir zum ersten Mal von seinem Traum berichtete, von dem mit den Birkenwäldern, sagte ich zu ihm, er würde reden wie Reinaldo Arenas. Er fragte mich, Wer ist das? Und ich antwortete, Das war ein berühmter kubanischer Schriftsteller. Ein Revolutionär, ein Schwuler, ein Schriftsteller, der Anfang der Neunziger im Exil in den Vereinigten Staaten an Aids starb.
Ein paar Tage später hatte Lucian ein paar von Arenas̕ Büchern gekauft, Originalausgaben auf Spanisch. Wussten Sie, dass er fließend Französisch und Englisch sprach? Deutsch und Spanisch sowieso. Er war so talentiert.
Der andere Traum, von dem er seiner Mutter und mir erzählte, war noch symbolischer, wie ich finde. Er weihte mich in diesen Traum an einem dieser guten Tage ein, vielleicht einen Monat, bevor er ...
In diesem anderen Traum wachte er in einem sehr großen Zimmer in einem alten Haus mit hohen Decken auf. Es hatte drei Doppelfenster, die auf einen begrünten Innenhof hinausgingen. Dort war er allein und nur in diesem Zimmer. Er schlief, könnte man wohl so sagen, hier ein, und wachte dort als ein anderer Junge auf, der auch Lucian hieß. In diesem Zimmer, das vielleicht in Italien war, sagte er nebenher, Du, die reden dort Italienisch. Draußen, im Hof. Ihre Stimmen flattern von draußen rein wie Vogelgesang. Aber das war es nicht, worum es in dem Traum ging. Es war der Sperling. Immer, wenn er in diesem Zimmer erwachte, das voller Staub und alter Möbel war, schien die Sonne und das mittlere Fenster stand offen. Das Rauschen der alten, hohen Bäume war zu hören, und die Sonne schien. Und auf der Fensterbank saß ein Sperling. Lucian im Traum stand auf und nahm jedes Mal eine Schale mit Vogelfutter vom Tisch in der Mitte des Zimmers und stellte sie auf die Fensterbank. Der Sperling pickte darin herum und flog nach einer Weile wieder davon. Und es sah immer so aus, als ob er glänzte. So hell, als würde er in seinem eigenen Licht fliegen. Dass er immer nur in diesem Zimmer war, wenn er diesen Traum träumte, erschreckte Lucian nicht. Er empfand seine Anwesenheit dort als selbstverständlich und beruhigend.
An manchen, an viel zu wenigen Tagen war Lucian also nur unser Sohn. Doch an viel zu vielen anderen, den bösen Tagen, kleidete er sich anders. Er wurde dunkler und mutwilliger und herausfordernd. Wie eine Figur in einer Geisterbahn, die sich aus dem Licht ins Dunkle dreht. Es muss ein paar Wochen vor seinem Tod gewesen sein, als er in mein Arbeitszimmer stürmte, ohne anzuklopfen, und mir die Bücher von Arenas vor die Füße warf und mich anschrie, ob es mir gefallen würde, ihm durch die Bücher eines Fremden zu sagen, dass ich ihn für einen Arschficker hielt. Ja, schrie er, und er war wütend und verletzt, ja, Papa, ich bin schwul. Ich lasse mich von Männern in den Arsch ficken. Und weißt du was noch? Ich nehme Geld dafür, weil ich mag, wenn sie mich nachher dafür bezahlen! Ich ohrfeigte ihn über den Tisch hinweg, weil ich sah, dass er mich reizen, weil er meinen Zorn als Beweis seiner Überlegenheit wollte, und er richtete sich auf, streckte den Rücken durch und ging zu seiner Mutter ins Zimmer und weinte dort vor Wut mit ihr. Zu Hause war er oft wütend, verstehen Sie? Als ob er nichts von Liebe wüsste. Aber seine Freunde erzählten mir später, dass er alles von Glück und Liebe und Tanzen wusste, und alle, die um ihn waren, mit seiner Liebe und Freude ansteckte. Wenn er von den Birken träumte oder vom Sperling, dann konnte nur Liebe der Boden sein, auf dem die Träume wuchsen.
Wenn Sie über Lucian schreiben, vergessen Sie das nie. Ich weiß nicht, wofür er mich – uns – bestrafen wollte, warum er oft so zornig war und Einsamkeit ausstrahlte wie die Hitze eines Fiebers. Und warum die Schwärze an guten Tagen von ihm abplatzte wie eine dünne Patina und er für kurze Zeit der Sohn war, den wir uns immer gewünscht hatten.
Als feststand, dass Lucian von Kuba zu uns nach Wien kommen würde, ließ ich meine Beziehungen spielen und nahm die Nachbarwohnung dazu, um sie als erweitertes Büro zu nutzen. Das gab ich zumindest an. In Wirklichkeit hatte ich vor, ein großes Zimmer für Lucian zu reservieren und einen weiteren Raum für ihn als Arbeitszimmer einrichten zu lassen. Bis zu seinem elften Lebensjahr lebte Lucian bei seinen Großeltern mütterlicherseits in Tarará und besuchte dort die Schule. Das Ministerium stimmte einem Wechsel zu, wenn er diese Schule abgeschlossen hätte und gute Noten vorweisen könnte. Die hatte er, und er schloss die sechsjährige Primaria mit sehr großem Erfolg ab. Nach Wien zu kommen, war für ihn ein gewaltiges Abenteuer, und er flog allein von Havanna nach Madrid und von dort hierher. Vom Flughafen holten wir ihn mit einem kleinen Konvoi ab, und auf dem Auto, in dem wir ihn zu unserer Wohnung brachten, flatterten links und rechts die Wimpel Kubas. Ich weiß noch, wie aufgeregt er war und wie glücklich, dass wir ihm zutrauten, eine so weite Reise allein zu meistern. Er kam im Juni und konnte schon recht gut Englisch, aber er hatte einen harten, schroffen Akzent. Von Juni bis September lernten meine Frau und ich abwechselnd mit ihm deutsch. Er lernte sehr schnell – er sog Sprache auf wie ein Schwamm. Währenddessen waren die Handwerker in der Wohnung und legten in seinem Zimmer den Fußboden, malten die Wände aus und montierten die Möbel. Danach machten sie sich über das andere Zimmer her, und Lucian saß wie auf glühenden Kohlen, weil er endlich in sein eigenes Zimmer einziehen wollte. Für die Tage des Umbaus schlief er auf einem aufblasbaren Bett in einem großen Abstellraum, wo wir ein wenig Platz freigeräumt hatten. Schon zu dieser Zeit fiel uns auf, dass er, wie für die meisten kubanischen Jungs wohl üblich, über große Sinnlichkeit verfügte und sehr stolz auf seinen Körper war. Er trainierte. Jeden Tag begann er mit einer kalten Wäsche und einem kleinen Training: Liegestütze, Klappmesser, Kniebeugen, Dehnungsübungen. Vielleicht ist es zu stark vereinfacht, Lucians Tod damit zu begründen, dass er schon als kleiner Junge auf sehr charmante Art eitel war. Das Charmante daran sah vielleicht nur ich als sein Vater. Und meine Frau, weil sie seine Mutter war – und eine Frau ist.
Lucian lernte deswegen so schnell deutsch, weil er Angst davor hatte, ausgelacht zu werden. Als er dreizehn Jahre alt wurde und auch hier an der Schule gute Noten erbrachte, ließ meine Aufmerksamkeit ihm gegenüber nach. Dazu kam, dass wir in der Botschaft wegen der politischen Veränderungen auf Kuba wirklich viel zu tun hatten. Kurz, ich verlor ihn ein wenig aus den Augen. Und so entging mir wohl, dass sein Interesse an Männern mehr war als eine pubertäre Verwirrung. Dass seine Kleidung und seine Haare nach Rauch stanken und dass er immer öfter spät nach Hause kam und meine Frau versuchte, mich darauf hinzuweisen, dass sie mit den Methoden und Mitteln einer Mutter bei ihm nichts mehr zu bewirken vermochte und dass vielleicht väterliche Strenge von Nöten sei, um ihn zurück auf die richtige Bahn zu bringen. Ich aber sah das, was Lucian durchmachte, als Begleiterscheinungen für all die Änderungen, die vom Stimmbruch getragen wurden. Die Noten waren gut, er sprach Spanisch, Englisch und Deutsch und lernte in einer Gruppe für besonders sprachbegabte Schüler Griechisch, was uns halbwegs beruhigte und stolz machte, weil wir ja auch wollten, dass er später im diplomatischen Korps arbeitete. Griechisch zu können, war zwar nicht mehr zwingend nötig, um in einem Diplomatenberuf Fuß zu fassen, aber es war eine gern gesehene Qualität, durch die sich Traditionsbewusstsein und Strebsamkeit der Person einschätzen ließen.
Inzwischen lebte er in seinem Zimmer und hatte die Einrichtung zuerst unauffällig, später aber radikal an seine Bedürfnisse angepasst. Er stellte das Bett so, dass man es nicht mehr einsehen konnte, wenn man den Raum betrat. Sein Kleidungsgeschmack verdunkelte sich und wurde teurer, und ich gestehe ein, hier zu nachgiebig gewesen zu sein. Ich erfüllte ihm mehr oder weniger je-den Wunsch nach finanzieller Unterstützung, um ihn zufriedenzustellen und bei Laune zu halten. Viel zu spät wurde mir bewusst, dass sich sein Lebenswandel und die Markenkleidung nicht allein durch das Taschengeld fi-nanzieren und erklären ließen, das wir ihm gaben. Er hatte ein Konto, auf das ich ab und zu einen Blick warf, und es war immer gut im Plus, ein Schülerkonto, das sowieso nie ins Minus rutschen konnte. Dass es viel zu oft sehr hoch im Plus war, wurde mir nie bewusst. Jetzt, im Nachhinein – natürlich. Wenn er zu Hause war, und das kam doch durchaus oft vor, ging er in das Arbeitszimmer, das wir ihm hergerichtet hatten, und lernte, er lernte intensiv. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, scheint es mir so gewesen zu sein, dass er sich versteckte, zurückzog. Dass ihm das laute und wilde Leben zwar taugte, dass er aber auch zu schätzen wusste, hier in Sicherheit zu sein und seine Ruhe zu haben. Zu lernen war für ihn vielleicht so, als ob er in einen Raum ging und die Tür hinter sich schloss. Dann war der Raum dunkel bis auf das Knicklicht der Lampe am Schreibtisch. Er hörte leise Gitarrenmusik, wenn er lernte. Paco de Lucia. Pat Metheny, John Willi-ams. Untypisch für einen Jungen in seinem Alter. Ganz untypisch für einen, der nächtelang herumzog und Beute machte. So nannte er das mal, als wir ihn am Küchentisch fragten, wo er sich schon wieder herumgetrieben hätte. Er sagte, Herumstreifen und Beute machen. Einen Teil des Geldes, das er so verdiente, gab er aus für all die Sachen, die ihm gefielen. Und den anderen Teil zahlte er auf sein Konto ein. Als Lucians Leichnam geborgen wur-de, hatte er zweihundertfünfundsechzig Euro bar, zwei Gramm Kokain, vier Extasy-Tabletten – und auf seinem Studentenkonto bei der Sparkasse elftausendzweihun-dertfünfzig Euro. Das Geld selbst war ihm nicht wichtig, glaube ich, es hatte keinen Reiz auf ihn. Er gab es einer-seits gerne aus, und dann sparte er es, um sich eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern. Das war vielleicht die Triebfeder hinter allem, was er tat, was er anstrebte und versuchte. Er wollte unabhängig sein. Finanziell, sozial und emotionell. Dass ihn die Leute dann darauf reduzier-ten, dass er sich prostituierte, erfasste sein Wesen nicht, ganz und gar nicht.
Schreiben Sie das bitte. Lucian war mehr als nur ein Strichjunge. Er konnte lieben und tanzen. Er hatte die Kultur der Sprachen, die er beherrschte. Und er träumte von Sperlingen und dem geheimen Leben der Bäume! Einer, der nichts von Sprache und Liebe weiß, kennt solche Träume nicht!
D er letzte Tag im Leben von Lucian Trujilo-Ortiz begann mit einer großen, schweigsamen Hitze, die sich silbern in der Stadt ausbreitete. Sie schloss Fenster, zog Vorhänge zu und begrub das Leben unter sich. Das Leben war lang-sam und schwieg.
Ein windstiller, grau bewölkter Sonntag, der Tag nach dem Lärm der Regenbogenparade in Wien. Nach dem Feiern und Konfettistreuen, dem Trinken und Tanzen hatten viele die Nacht in den ausgewiesenen CSD-Lokalen beendet oder in der Regebogencity auf dem Naschmarkt zwischen Kettenbrückengasse und Pilgramgasse, hatten sich angeregt unterhalten und den Tag Revue passieren lassen. Unrasierte Männerwangen schabten aneinander, Blicke verhakten sich, Atem fand Atem. Andere fanden trunken vom Gefühl der Freiheit und Einigkeit in dunklen Ecken zu elektrisch summender Leidenschaft, ein großes Seufzen im trüben Licht des Mondes, das Gefühl auskostend, im Stehen, Mann an Mann, lieben zu können, und, für den Moment, uneingeschränkt geliebt zu werden und willkommen zu sein. Es waren zwei kraftlose Gegenveranstaltungen politischer Gruppen angetreten, die sich religiöse und volkshygienische Motive auf die Fahnen geheftet hatten, um dem schwulen Treiben die Standhaftigkeit des aufrichtigen, ehrlichen und braven Bürgers entgegenzusetzen, aber sie waren verlacht und von der Musik aus den Lautsprechern unzähliger Lastwagen vertrieben worden. Gaben ihre Standhaftigkeit auf, nicht ohne ihre Transparente und Tafeln mit Wut und Krach auf den Boden zu werfen. Einige Leute hatten es in ihrer Trunkenheit nicht mehr geschafft, ins nächste Lokal, nach Hause oder ins Hotel zu finden. Oder in die Arme eines Liebhabers zu sinken. Einige waren mit Taxis und den Öffentlichen auf den Kahlenberg gefahren, um von dort einen Blick auf die morgendunstige, windverwirbelte Stadt zu erhaschen, während sie Sektperlen ausrülpsten und verträumte, müde Küsse austauschten. Einige verzauberte Jungs waren mit der U-Bahn nach Kagran aufgebrochen, dort in den Bus gestiegen, bis zur Steinspornbrücke gefahren, über die Brücke gegangen und hatten die Nacht, die östlich langsam ins windige Zwielicht glitt, im Freien beendet. Die in weiten Stufen zum Wasser der Entlastungsrinne abfallende, wild wuchernde Wiese war mit großzügigen, Dunkelheit spendenden Büschen, Sträuchern und Wäldchen bewachsen. Tagsüber war das Areal rund um den Toten Grund ein beliebter Treffpunkt, um Männer zu suchen oder um von ihnen gefunden zu werden. Lucian war mit dieser Gruppe von trinkfesten jungen Schwulen zur Donauinsel gefahren, nachdem die letzte Basserschütterung der Parade in die schwülheiße Stadt gesunken war. Dort, im Freien, hatten sie ein paar Dosen gerade erträglich kühlen Biers getrunken, die Reste des Kokains aus den Plastikkügelchen gepusselt und sie vor dem abflauenden Wind schützend gezogen, und dann, bei den unbeholfenen und im Gekicher verendenden Versuchen, sich Liebe zu schenken, waren sie nackt im hohen Gras eingeschlafen.
Und da lagen sie, sieben junge Männer im Alter von sechzehn bis zweiundzwanzig Jahren, blass im graurosa Licht des dunstigen Sonnenaufgangs, ihre Kleider ordentlich gestapelt, die Zigarettenstummel zu einem Haufen gesammelt, das kleine Lagerfeuer gelöscht und die Feuerstelle mit Erde zugedeckt. Ihr Atem ging tief und ruhig, und über ihnen hing der säuerliche Geruch einer langen Nacht, in der viel geraucht, getrunken und getanzt worden war.
Lucian war der Schwarzhaarige, der mit dem schmutzigblonden Daniel Sperling im niedergetretenen Gras kuschelte. Mit trockenem Gel in den Haaren, das sie zu matten Stacheln geformt hatte, und Piercings in den Augenbrauen, der Zunge, den Ohren, der Nase. In den Brustwarzen. Sein ruhiger Atem strich, nach einem langen Tag voller Feierlichkeiten riechend, in einem samtweichen Schnarchen über die mädchenhafte Schulter Daniels, der ihm in der folgenden Nacht, kurz vor dem Zwielicht des Morgens, ein langes Messer in den Bauch und in die Brust rammen würde. Wieder und wieder und wieder.
Als ich fünfzehn Jahre später Gregory Patrman traf, der zu jener Zeit zu Lucians Freunden zählte, berichtete er mir in einem Kaffeehaus in der Innenstadt bei einer Tasse Tee, dass er Lucian geliebt hatte, obwohl er so schwer zu fassen war wie ein Aal, der sich jedem Versuch widersetzte, ihn zu fangen.
Gregory war halb Ire und halb Norweger. In seinem zehnten Lebensjahr strandeten er und seine Mutter nach der Scheidung von ihrem norwegischen Mann, der als Arbeiter auf einer Ölplattform sehr gut verdiente, mehr oder weniger unverschuldet und quasi mittellos in Wien. Gregory fand schon mit zwölf Jahren zu seiner Berufung als blonder, blauäugiger Edelstricher mit seinem entrückend schönen Gesicht, langen Haaren und einer sexuellen Schlüpfrigkeit, der sich kein Mann entziehen konnte, der mit Leidenschaft vor stimmbrüchigen Engeln auf die Knie sinkt. In jenem Sommer war er achtzehn Jahre alt und gehörte in der Stricherszene Wiens zu jener Art Inventar, das zwar noch genutzt, aber nicht mehr umworben wurde. Die Mundpropaganda war verstummt, und er hantelte sich mühsam von einem Kunden zum Nächsten, obwohl er durchaus mehr zu bieten hatte als die meisten anderen, körperlich und auch, was seine sexuelle Hemmungslosigkeit betraf. Sein Lächeln und sein Humor waren bitter geworden, als er eines Tages am Beginn dieses Sommers feststellte, dass man mit achtzehn Jahren für viele Kunden nicht nur zu alt sein konnte, sondern auch als Person vollkommen uninteressant. Die Karawane zieht weiter durch die Wüste, umschrieb das einmal ein junger Kunde von Gregory, der Sozialwissenschaften studierte und auf venezianische Lustknaben stand.
Mit einer Stimme, die raschelnd geworden war von Zigaretten und durchgemachten Nächten, sagte er, Lucian war ein ordentlicher Typ, und das war er, ohne sich zu zwingen oder einer aufgezwungenen Routine zu folgen. Auf seine Sachen aufzupassen, lag schlicht und einfach in seiner Natur. In dieser allerfrühesten Stunde, im Zwielicht des neuen Tages, war er der Einzige gewesen, der seine Kleidungsstücke auf die schlafenden Äste eines kleinen Apfelbaums gehängt hatte, um sie auszulüften. Als alle schliefen, erzählte Gregory und errötete ein wenig, stand ich auf und roch an seiner Unterwäsche. An seinen Schnürstiefeln und an seinem T-Shirt. Es roch nach Rauch, Schweiß und dem Parfum, das er zu jener Zeit benutzte. Was war das? Ich weiß es nicht mehr sicher, ein frisches Parfum jedenfalls, das zu seinem Aussehen passte. Südamerikanisch, würzig, irgendwie zitronig. Ich sage dir, Lucian hatte von uns allen vielleicht das beste Gespür, wie man Farben, Kleidungsstücke und Gerüche kombinieren musste, um einen maximalen Effekt zu erzielen. Wie ein brauner Indio mit chinesischem Einschlag sah er aus, war aber von europäischer Größe, nämlich über eins achtzig, und er war dazu geschaffen, dass man sich in ihn verliebte. Und noch etwas: An ihm sah alles teuer und stylish aus. Es war die Art, wie er seine Kleidung trug. Daniel machte das verrückt, denn er trug Sachen der gleichen Hersteller, was weiß ich, Boss, Armani, Versace, Diesel, Nike, Puma, Adidas, aber an ihm sah alles billig aus, und das ahnte er auch irgendwie. Damals war mir das nicht so bewusst, aber nach der Tragödie hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, wie lange schon das Gift in Daniels Brust wirkte und woraus es beschaffen war. Daniel sah Lucian oft von der Seite an. Vielleicht war es eine Mischung aus Begehren und Eifersucht, die ihn schließlich um den Verstand brachte und in der er sich schon ein oder zwei Jahre vor dem Verbrechen verloren hatte. Daniel fühlte sich neben Lucian blass und bedeutungslos, zu gering, ihn zu lieben. Doch gegen die Liebe kann man sich nicht wehren, oder. Oder?
Wir wachten nicht auf, wir glitten aus dem Schlaf ins Wachsein, so wie Taucher vom Meeresgrund nach oben zurückkehren. Der Kater schärfte an uns seine Krallen, aber es war nicht so schlimm, sich elend zu fühlen. Als ich erwachte, saß Lucian mit angezogenen Beinen nackt im dürren Gras, blickte traumverloren Richtung Kahlenberg und drehte seine mit getrocknetem Gel verpickten Haare zu stumpfen Spitzen. Daniel saß jammernd neben ihm und pusselte an seinen Zehennägeln herum, sah Lucian an und fragte, Woran denkst Du, Alter? Mit einem fast zaghaften Kopfschütteln grinste Lucian und antwortete, Ich versuchte mir gerade vorzustellen, wie es klingt, wenn man jemand eine Zigarette auf dem Augapfel ausdämpft.
Und, fragte Daniel, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.
Zafiss, machte Lucian und kicherte wie ein böses Kind. Marcel, der gerade an den beiden vorbeiging, um die Böschung runter zum Ufer zu kommen, hielt inne und sagte heiser, Alter, du hast einen epischen Knall!
Daniel und Lucian sahen sich mit weit aufgerissenen Augen hysterisch loslachend an, und Daniel brüllte, Du hast voll den epischen Knall, alter Indio!
Lucian stand auf, weil er Seitenstechen bekam und prustete, Mein Knall ist voll endlos, so schaut’s aus, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Später am Vormittag kam der mobile Eisverkäufer vorbei, und wir kauften Cola, Eiskaffee und ein paar labbrige Sandwiches. Woran ich mich noch immer so erinnere, als ob es gestern gewesen wäre, und dabei ist es nun so viele Jahre her, war die schwermütige Stille über allem. Die üblichen Gäste des stacheligen Biotops namens Toter Grund blieben aus, weil sie von den Partys, die an die Parade anschlossen, zu gerädert waren, um bei dieser Hitze irgendwohin zu gehen. Dazu war es auch noch schwül und windstill. Die Stechmücken plagten uns, aber wir waren viel zu trunken von unserer eigenen Jugend und high von den Flirts des Vortages, um Gelsen zu erschlagen. Nichts störte uns. Von Zeit zu Zeit schlenderten wir über die ausgetrocknete Wiese hinunter zu den Steintreppen, über die man in das spiegelglatte Wasser der Entlastungsrinne kam, schwammen ungefähr bis zur Mitte, spuckten uns mit Wasser an, lachten laut und kraulten zurück. Es waren fast keine Leute da, auch nicht auf der anderen Seite der neuen Donau. Unsere Anwesenheit erinnerte mich fern an jene utopischen Filme aus den Siebzigern, in denen es immer um irgendwelche perfekten Gesellschaften geht, die in einem Paradies der Langweile und Spannungslosigkeit leben und in diesem vollkommenen Mangel von Leben und Reibung den verordneten frühen Tod als Erlösung wahrnehmen. THX 1138 vielleicht. Oder die hilflosen jungen Menschen in dem Spielfilm Die Zeitmaschine. So nahm ich uns damals wahr: schöne junge Leute in einer eingeebneten, faden Landschaft ohne Aufgabe, Ziel und Wünsche, und doch erfüllt von einem Hunger nach dem Unmöglichen.
Natürlich erholten wir uns rasch. Gegen Mittag waren wir wieder so fit, Bier zu bestellen, und weil der mobile Getränkeverkäufer nach seiner ersten Runde nicht mehr auftauchte, schickten wir die zwei jüngsten, Marcin und Patrick.
Ich unterbrach Gregory und fragte, Marcin und Patrick waren auch mit auf der Insel? Das haben sie mir nie erzählt.