Lügen aus Zuckerguss - Christa Maria Böckmann - E-Book

Lügen aus Zuckerguss E-Book

Christa Maria Böckmann

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Beschreibung

Ein Unglück kommt selten allein und wenn es kommt, dann kommt es dicke. Diese Erfahrung muss die junge und äußerst naive Carolin machen, als sie einen gutaussehenden Mann kennenlernt. Blind vor Liebe sieht sie nicht, dass der Schein trügt und sie dem Falschen vertraut. Was ganz romantisch begann, entwickelt sich nahezu in einen Albtraum, bei dem es Carolin mit Gewalt, Einbruch und kriminellen Gestalten zu tun bekommt.

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„Und warum willst du nicht zu Anitas Feier?“, fragte mich Nils.

„Sie ist deine Freundin und nicht meine“, antwortete ich.

„Das ist ja wohl kein Argument! Anita ist großartig genug, um für uns beide eine Freundin zu sein!“

„Siehst du, genau das ist es! Ihre Großartigkeit! Ich würde sie eher als großkotzig bezeichnen. Sie ist arrogant und eingebildet. Ich mag sie nicht!“

„Also jetzt mach aber mal einen Punkt! Anita ist eine Traumfrau! Sie kann es sich leisten auch mal arrogant zu sein und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl zu haben! Dass du sie nicht magst, ist doch bloß Eifersucht! Außerdem beruht es auf Gegenseitigkeit, denn sie mag dich auch nicht! Und du kannst ihr einfach nicht das Wasser reichen.“, sagte Nils jetzt mit einiger Schärfe in der Stimme.

„Ach? Und ich bin wohl keine Traumfrau?“

„An Anita kommst du jedenfalls nicht ran. Das ist eine Tatsache!“

„Du bist ja gerade unglaublich charmant!“, sagte ich ironisch.

„Ich bin nur ehrlich!“

„Wenn Anita so eine Traumfrau ist, warum bist du dann mit mir und nicht mit ihr zusammen?“, fragte ich.

Dabei wusste ich, dass sie ihn schon mehrmals abgewiesen hatte, als Nils noch nicht mit mir zusammen war. Damit traf ich dann wohl Nils wunden Punkt. Er antwortete sichtlich gereizt:

„Carolin, was soll das jetzt? Kannst du nicht endlich Ruhe geben und einfach froh sein, dass ich dann dich genommen habe!“

Ich sah Nils intensiv an und suchte nach einem Lächeln oder Grinsen in seinem Gesicht, um zu wissen, dass das nur ein Spaß aber keinesfalls ernst gemeint war. Sein Gesicht zeigte leider nicht mal die Spur eines Lächelns. Mein Magen zog sich zusammen. Ich war also nur die zweite Wahl. Manchmal stellt sich ja heraus, dass die zweite Wahl die Bessere ist. Aber dazu kommen wir später. Damals konnte ich mich jedenfalls nicht damit abfinden, nur der „Trostpreis“ zu sein.

Am Ende der Diskussion war auch meine Beziehung mit Nils beendet. Aber schon vier Monate später, war der schlimmste Katzenjammer überwunden. Das Leben ging weiter. Und wie! Denn Nils war nur eine unwichtige kleine Episode meines Lebens. Nur ein kleiner Fehler. Leider sollten dem noch weitere folgen, die mich dann in eine üble Geschichte verstrickten und mein geordnetes Leben in ein einziges Chaos verwandelten.

Es fing alles an einem warmen, sonnigen Samstag ganz harmlos an. Ich wollte nur noch raus aus der Wohnung und mit einer Freundin etwas unternehmen. Als erstes versuchte ich meine alte Freundin Sybille zu erreichen. Aber leider meldete sich nur der Anrufbeantworter. Da ich auch sonst niemanden erreichte, blieb nur noch Martha. Die würde bestimmt zu Hause sein.

Martha ist korpulent und hat einen Damenbart. Aber man kann mit ihr Pferde stehlen, obwohl sie auch etwas anstrengend sein kann. Denn sie hat eine lebhafte Phantasie und schwärmt von „Morton Harket“, dem Sänger der norwegischen Pop-Gruppe „Aha“. Neulich erzählte sie, er hätte ihre Fanpost sofort beantwortet und wollte sie nun unbedingt persönlich kennen lernen, da sie die Frau seiner Träume wäre. Seitdem folgten immer wieder neue erfundene und unglaubwürdige Liebesgeschichten von Martha.

Ich beschloss daher allein das Straßenfest am Straßburger Platz zu besuchen und machte mich auf den Weg. Auf dem Straßburger Platz drehten sich ein paar Kinderkarussells und an den Bierständen und Würstchenbuden drängelten sich die Leute. Auf dem Flohmarkt war nicht mehr viel los. Die Verkäufer waren schon wieder am Einpacken. Ich graste die letzten Flohmarktstände ab, fand aber nichts, das mir gefiel und ging zu einer Würstchenbude, da ich Hunger hatte. Und dann sah ich diesen großen, sympathischen, überdurchschnittlich gutaussehenden blonden Mann. Ich war tief beeindruckt von seiner Erscheinung.

Er bemerkte mich gar nicht. Ich dachte noch, dass der bestimmt verheiratet sei und sah mich um, ob da nicht irgendwo Frau und Kind zu ihm gehörten. Er schien tatsächlich ganz alleine da zu sein. Ich warf einen langen schmachtenden Blick in seine Richtung. Hatte ich mich getäuscht, oder hatte er mich angelächelt? Mein Magen gab ein lautes, knurrendes Geräusch von sich. Ach ja, ich wollte mir doch etwas zu essen holen. Neben dem gutaussehenden Mann war circa ein viertel Meter Theke frei. Ich quetschte mich in die Lücke und bestellte eine Currywurst. Um zu bezahlen öffnete ich mein Portmonee. Leider hielt ich es verkehrt herum, und das ganze Kleingeld fiel heraus und kullerte auf dem Boden herum.

„Oh, nein!“, entfuhr es mir laut, und ich bückte mich, um es wieder auf zu heben.

„Halb so wild. Das kann schon mal passieren.“, sagte der Blonde und half mir, das Geld wieder ein zu sammeln.

„Ja, aber so etwas passiert immer nur mir!“, sagte ich.

„Also mir ist das auch schon passiert. Sogar schon öfter. So, hier ist noch ein Glückspfennig und dann haben wir es.“, sagte er lächelnd.

„Oh, vielen Dank. Das ist wirklich nett!“

„Kein Problem! Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann!“

Der sah nicht nur gut aus, der war auch noch nett und hilfsbereit! Ich bezahlte und nahm meine Wurst entgegen. Zum Dank schenkte ich dem Blonden noch ein Hundert-Watt-Lächeln und bemerkte nicht, dass ich die Pappe mit meiner Wurst so schief hielt, dass sie einfach herunterrutschen musste. Sie landete auf meiner weißen Bluse, hinterließ dort einen großen roten Fleck und plumpste zu Boden. Entsetzt von meiner Ungeschicklichkeit, dem roten Placken auf meiner Bluse und besonders über diese Blamage, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

Irgendjemand kicherte hinten in der Ecke, und ich bekam mit, wie jemand was von blond und blöd sagte. Mein Gesicht färbte sich in den gleichen Rotton, wie der Fleck auf meiner Bluse.

Während ich meine bekleckerte Bluse mit Servietten säuberte, bestellte der nette Mann mir eine neue Currywurst. Der musste mich für eine Vollidiotin halten!

„Das scheint ja heute nicht gerade dein Glückstag zu sein. Komm setz dich hier herüber und iss endlich was“, sagte er und bugsierte mich zu

den Biergarten-Garnituren, die um die Würstchenbude herumstanden. Ich setzte mich, und er stellte eine neue Currywurst vor mir auf dem Tisch ab.

„Da… Danke“, stammelte ich.

Appetit hatte ich allerdings keinen mehr. Ich war gerade fertig mit meiner Currywurst und wollte aufstehen, da stand er plötzlich wieder vor mir. Er stellte mir ein Bier auf den Tisch und setzte sich mit einem zweiten auf die Bank gegenüber. Dann grinste er mich an und sagte:

„Ich dachte, das könntest du heute gebrauchen! Ich bin übrigens Marcus.“

„Ich bin Carolin. Vielen Dank auch! Das gibt wenigsten keine Ketschupflecken!“, antwortete ich.

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da kam Wind auf und wehte den Pappteller mit dem Ketschup gegen meine Bluse. Wir sahen uns an und lachten beide laut los.

„So, jetzt ist der Ketschup wenigstens gleichmäßig verteilt!“, sagte ich.

Es wurde dann richtig lustig. Wir unterhielten uns und lachten viel und tranken Bier. Und dann noch eins und noch eins...

Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem Bett. Mein Kopf dröhnte, als hätte ich einen Presslufthammer samt Baustelle darin. Meine Augenlieder waren schwer wie Blei, und ich bekam sie kaum auf. Das war auch besser so, denn kaum hatte ich sie auf sparschlitzbreite geöffnet, drehte sich das ganze Zimmer um mich herum und mir war schlecht, mir war so schlecht. Ich rannte ins Bad und schaffte es gerade noch mich über die Kloschüssel zu hängen, um mir dann Essen und Trinken des Vorabends noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. Ich spülte meinen Mund aus und schleppte mich zurück ins Bett. Und dann dämmerte es mir wieder: Der blonde Mann. Mir wurde mit einem Mal ganz warm ums Herz. Er hatte so schöne blaue Augen. Und es war so nett, dass er mir Currywurst und so viele Biere (Igitt, und ich musste noch mal ins Bad) ausgegeben hat. Ja, aber was war dann? Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin. Hatte ich ihm meine Telefonnummer gegeben oder meine Adresse? Wahrscheinlich nicht.

Und was soll er jetzt nur von mir denken?!

Erst benehme ich mich wie eine tollpatschige Kuh und dann betrinke ich mich noch in aller Öffentlichkeit! Und dann? Was war dann? Mir dämmerte es. Nach dem dritten Bier fing ich an zu kichern, wie eine Irre, und nach dem Vierten zu heulen, wie ein Schlosshund, weil ich meine Bluse bekleckert hatte.

Den siehst du nie wieder, sagte ich zu mir selbst.

Mein Magen drehte sich erneut um. Ist auch alles egal, solange die Übelkeit vergeht und das Dröhnen in meinem Kopf aufhört.

Glücklicherweise dämmerte ich wieder in den Schlaf. Ich träumte irgendein wirres Zeug, und als ich Stunden später wieder erwachte, ging es mir erheblich besser. Jedenfalls körperlich.

Leider hatte ich immer noch dieses beklemmende Gefühl, mich ganz schrecklich blamiert zu haben. Irgendwie hoffte ich immer noch, dass Marcus, ich erinnere mich, so hieß er, sich melden würde. Aber wahrscheinlich hatte er nicht mal meine Telefonnummer.

Ich brauchte ganz dringend Trost. Also rief ich meine beste Freundin Sybille an. Sie war eine hervorragende Trösterin. Sie konnte geduldig zuhören, schaffte es immer wieder, die Dinge in ein besseres Licht zu rücken und hatte für jedes Problem eine Lösung. Sie war leider nicht zu Hause.

Ich musste aber mit jemandem reden!

Nach etlichen Versuchen bei den nächst besten Freundinnen gab ich es fast auf. Aber da fiel mir Martha ein. Sie ist nun nicht unbedingt für ihr Feingefühl bekannt, aber besser mit ihr zu reden als gar nicht. Nachdem ich ihr die Story erzählt hatte, kam prompt ihr Kommentar, und sie sagte irgendetwas von:

„Wie kann man sich nur so unmöglich benehmen! Den siehst du nie wieder! Tja, meine Liebe, da hast du wohl geloost! Selber Schuld kann ich da nur sagen! Weißt du eigentlich das Morten Harket mich angerufen hat?“

Daraufhin brach ich das Gespräch ab, mit der Ausrede, ganz dringend auf die Toilette zu müssen. Denn jetzt noch ihre erfundene „Popstar Lovestory“ anhören zu müssen, hätte meine Nerven arg überstrapaziert. Und das, nachdem sie mich nun mit Genuss niedergemacht hatte.

Etwa fünf Minuten später klingelte tatsächlich das Telefon. Ein Hoffnungsschimmer machte sich in mir breit: Ob er es vielleicht ist? Es wäre ja möglich, dass ich ihm doch meine Telefonnummer gegeben habe.

Ich hauchte ein erotisches „Hallohh“ in den Hörer. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Ja, also Morton von A-ha ...“, fuhr Martha unerschütterlich fort.

Diesmal rief ich: „Hilfe, mein Wasser kocht über. Ich muss unbedingt Schluss machen. Tschüs!“ In der Hoffnung, sie nun endgültig abgewimmelt zu haben.

Da klingelte wieder das Telefon! Jetzt war ich mit meiner Geduld am Ende! Ich riss den Hörer von der Gabel und brüllte:

„Mich interessieren deine blöden erfundenen Lügengeschichten nicht, Martha!"

Eine zurückhaltende Männerstimme sagte: „Oh, Entschuldigung, aber ich habe doch gar nicht gelogen. Und Martha heiße ich auch nicht, sondern Marcus. Tut mir leid, wenn ich störe.“

„Oh, äh, ich meinte …, Entschuldigung. Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass du anrufst. Also, das freut mich natürlich. Aber damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte, es wäre eine etwas schwierige Freundin von mir.“

„Also ich wollte wirklich nicht stören, wenn du gerade ein Problem mit deiner Freundin hast. Dann rufe ich später noch mal an.“

„Du störst überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich begrüße es, wenn meine Leitung jetzt blockiert ist. Dann kann Martha wenigstens nicht mehr anrufen.“

„Gut, dass ich dir wenigstens als Mittel zum Zweck dienen kann!“

„Also nein, Marcus! So, war das überhaupt nicht gemeint. Und was die gute Martha anbelangt, die ist im Grunde nicht verkehrt. Nur manchmal merkt sie einfach nicht, wenn es genug ist. Und das nervt dann. Diesen Punkt hatte sie eben bei mir erreicht. Ich dachte, ich hätte vergessen dir meine Telefonnummer zu geben. Da bin ich aber froh, dass ich es doch getan habe. Es ist mir so peinlich, dass ich einen im Kahn hatte. Das tut mir wirklich leid. Sonst betrinke ich mich nicht einfach so“, versuchte ich mich in ein besseres Licht zu stellen.

„Ich fand dich zu niedlich mit deinem Schwips. Eigentlich wollte ich wissen, wie es dir jetzt geht?“

„Oh, danke gut. Das heißt, heute Morgen war es allerdings nicht so doll. Und dir?“, fragte ich zurück.

„Ja, mir geht es immer gut. Besonders jetzt, wo ich deine süße Stimme vernommen habe. Ich fand es sehr amüsant mit dir. Du scheinst ja wirklich einen kleinen Filmriss zu haben.“

„Das ist mir alles so peinlich!“

„Ach was, jetzt bleib mal locker. Entspann dich mal.“

„Also ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, wie ich nach Hause gekommen bin. So was passiert mir normalerweise nicht!“

„Ich habe dich natürlich nach Hause gebracht. Bis vor die Haustür. Dein Schluckauf, der übrigens sehr niedlich war, störte dann allerdings doch etwas. Ich konnte dir durch das ständige Gehickse keinen vernünftigen Abschiedskuss geben. Aber kein Problem, das holen wir nach. Ich wollte dich nämlich zum Essen einladen. Hättest du Lust dazu?“

Ich versuchte meine Freude ein wenig zu verbergen. „Aber ja, gerne. Nur bitte nicht heute. Mein Magen muss sich erst wieder beruhigt haben.“

„Ist es dir recht, wenn ich dich am Mittwoch um 20 Uhr abhole?“

„Perfecto! Sehr recht!“, sagte ich.

„Na dann, bis Mittwoch. Ich freu mich schon!“

Und ich erst, dachte ich.

Ich freute mich wirklich wie ein Schneekönig. Am liebsten hätte ich Martha noch mal angerufen. Ich war wirklich nahe dran. Aber das ließ ich dann doch lieber. Stattdessen schwebte ich auf Wolken zurück in mein Bett.

Am nächsten Morgen schrillte der Wecker und riss mich aus süßen Träumen. Egal wie viel oder wenig ich schlafe, ich bin morgens immer müde und wie gerädert. Frühstücken liegt nicht drin, wenn ich ins Büro muss. Ich stehe fast immer viel zu spät auf und habe dann die Wahl zwischen Frühstück und Dusche. In der Regel entscheide ich mich für die Dusche. Während ich mich schminke, schütte ich einen Becher heißen Kaffee in mich hinein. Mein linker Arm steckt dann schon in der Jacke, während ich rechts die Bürste halte und versuche, mir noch die Haare zu kämmen. Dann sprinte ich mit Riesenschritten Richtung Bushaltestelle. Wenn ich Glück habe erwische ich noch meinen Bus, der mich zu U- und S-Bahn bringt, so dass ich in die Innenstadt fahren kann.

Im Büro angekommen sinke ich dann erschöpft auf meinen Drehstuhl. Meine Kolleginnen sind wirklich lieb, muss ich sagen. Ich bin heilfroh, dass bei uns so ein gutes Betriebsklima herrscht. Der einzige Wermutstropfen ist Frau Stöhr, unsere Vorgesetzte.

Denise, meine Kollegin, brachte mir eben einen Kaffee und fragte: „Na, Caro, wo hast du denn am Wochenende dein Unwesen getrieben?“

Ich grinste geheimnisvoll und sagte: „Ich war am Samstag bei uns auf dem Stadtteilfest am Straßburger Platz. Und stell dir vor, da habe ich dann ...“

Weiter kam ich leider nicht, da das Telefon klingelte und eine nörgelnde Kundin mich davon abhielt, die Geschichte meiner Eroberung zum Besten zu geben. Aber danach bekam ich doch noch die Gelegenheit dazu. Ich war mitten im Erzählen, da flog die Tür auf, und Frau Stöhr, unsere Vorgesetzte, stürmte das Büro. Sofort verstummte ich wieder und wühlte stattdessen schwer beschäftigt in meinem Ordner.

Und schon legte Frau Stöhr los. Unsere allmorgendliche Standpauke blieb auch heute nicht aus. Sie wetterte etwas von wegen Arbeitsmoral und mehr Einsatz, bla bla bla. Wir hörten nicht mal mehr hin, weil wir uns im Laufe der Zeit daran gewöhnt hatten.

Wir waren auch nicht die einzigen, die das über sich ergehen lassen mussten. Das war in jeder Abteilung so. Frau Stöhr war überall bekannt für ihre morgendliche Standpauke. Ob sie glaubte, dass wir dadurch besser und schneller arbeiten würden? Oder ob sie nur so für sich selber meckerte, um sich morgens zu erleichtern, von dem Frust, den ihre trüben und langweiligen Alt-Jungfern-Tage mit sich brachten? Das wird´s wohl sein. Frau Stöhr würde am liebsten auch am Wochenende arbeiten und auf Urlaub verzichten.

So trübe, wie ihr Leben, sah sie auch aus. Ganz die graue Maus, bis auf den roten Lippenstift, der ihre schmalen Lippen als Strich betonte. Weiße Bluse, grauer knielanger Faltenrock und Birkenstock Gesundheitsschuhe.

„Ist sie nicht sexy?!“, sagte ich, nachdem sie unser Büro verlassen hatte. Denise kicherte.

Nach Feierabend fuhr ich noch zu Sybille, denn ich musste ihr unbedingt noch von Marcus erzählen. Leider reagierte sie ganz anders, als ich erwartet hatte. Begeisterung und Glückwünsche blieben gänzlich aus. Stattdessen warnte sie mich.

„Carolin, sei vorsichtig. Du kennst ihn erst ein paar Stunden, und du warst noch nicht mal nüchtern.“

„Anfangs schon!“, sagte ich ziemlich beleidigt. Was sollte das? Sie sollte sich gefälligst mit mir freuen. Gönnte sie mir mein Glück etwa nicht?

„Ich meine es nur gut mit dir. Jetzt guck nicht so beleidigt. Du bist doch schon so oft reingefallen. Behalte einen klaren Kopf und sei etwas vorsichtiger. Dann ist die Enttäuschung nicht so groß hinterher.“

Was sollte das denn?! Jetzt hatte ich schon keine Lust mehr, mich mit Sybille zu unterhalten. Von wegen verständnisvoll und alles ins rechte Licht rücken! Sie nahm mir meine ganze Freude.

Ich wurde sauer: „Was denn, von wegen Enttäuschung?! Erzähl du mir noch mal was von positivem Denken und so. Du sagst doch immer, ich sei so negativ. Und wenn ich das Schlechte immer erwarten würde, würde ich es auch bekommen. Deine Worte! Wer ist denn jetzt negativ, häh? Jetzt ärgere ich mich richtig, dass ich hergekommen bin. Ich dachte, du freust dich mit mir, stattdessen machst du mir jetzt alles madig. Also ich geh jetzt! Mach es gut! Tschüs!“

Sybille schüttelte den Kopf und sagte: „Caro, jetzt sei doch vernünftig! Du benimmst dich ja wie ein verliebter Teenager. Ich mache mir doch nur Sorgen. Vielleicht täusche ich mich ja auch. Vielleicht hast du ja wirklich deinen Traumprinzen gefunden. Ich wünsche es dir von Herzen. Ich meine doch nur, dass du realistisch bleiben solltest. Du sagst doch selber immer, dass es keine Traumprinzen gibt.“

„Das ist etwas ganz anderes, wenn ich es sage. Außerdem bestätigen Ausnahmen die Regel“, sagte ich.

Trotzdem hatte ich jetzt genug und wollte gehen. Sybille nahm mich versöhnlich in den Arm und sagte: „Ich wünsche dir Glück. Und halt mich auf dem Laufenden. Und sei mir vor allem nicht mehr böse.“

Ich drückte sie auch und sagte: „Du bist schlimmer als meine Mutter.“

Jetzt war ich aber wieder ausgesöhnt. Denn irgendwie hatte sie ja Recht. Wenn ich nur geahnt hätte, wie Recht sie hatte!

Als ich gerade das Treppenhaus betrat, hörte ich schon von unten mein Telefon klingeln. In Riesensätzen hechtete ich die vier Treppen in den zweiten Stock hoch. Mein Telefon klingelte immer noch, als ich oben ankam.

In meiner geräumigen Tasche suchte ich nach dem Haustürschlüssel. Dann schloss ich auf. Noch immer klingelte es. Ich stürmte zum Telefon, riss den Hörer von der Gabel und meldete mich völlig außer Atem. Knacks. Genau in dem Moment wurde aufgelegt!

Einen Anrufbeantworter lehne ich ab, weil ich es hasse, selbst darauf zu sprechen. Das liegt an meiner Stimme. Ich kann meine eigene Stimme einfach nicht ertragen.

Das Unangenehme an verpassten Anrufen ist, dass ich dann die ganze Zeit darüber nachgrübele, wer da wohl angerufen hat. Es macht mich dermaßen verrückt, dass ich dann alle möglichen Leute anrufe und nachfrage, ob sie mich vielleicht gerade angerufen haben.

Das nervt nicht nur mich!

Diesmal grübelte ich darüber nach, ob es vielleicht Marcus war. Anrufen und fragen konnte ich ja nicht, da ich immer noch nicht seine Telefonnummer hatte. Ich nahm mir fest vor, ihn das nächste Mal danach zu fragen.

Nach dieser Hetzjagd ging ich duschen. Ich war gerade von Kopf bis Fuß eingeschäumt, als das Telefon wieder klingelte. Diesmal kriege ich dich, sagte ich zu mir selbst. Huschte triefend nass und voller Schaum aus der Dusche heraus und wollte gerade losrennen. Mit dem Seifenschaum an den Füßen war es so glitschig, dass ich ausrutschte und hinfiel. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich. Ich musste erst mal liegen bleiben und die Zähne zusammenbeißen. Bis ich mich dann endlich hochgerappelt hatte, war das Telefon verstummt. Also ging ich wieder zurück unter die Dusche. Statt mit Bodylotion balsamierte ich mich mit Schmerzsalbe ein. Danach legte ich mich ins Bett.

Er hat nicht angerufen, dachte ich. Aber vielleicht waren die verpassten Anrufe doch von ihm. Egal, übermorgen werde ich ihn ja sehen. Dann werde ich mich aufstylen und toll anziehen und ...

Oh Gott, was sollte ich anziehen?

Ich schoss aus dem Bett hoch und ging an den Kleiderschrank. Zwei Stunden später hatte ich viel erreicht. Zwar wusste ich immer noch nicht, was ich anziehen sollte, aber dafür war mein Kleiderschrank jetzt nahezu leer und mein Zimmer sah aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte.

Mittlerweile war es ziemlich spät geworden. Am nächsten Morgen musste ich wieder früh raus. Also watete ich durch die auf dem Boden verteilten Kleiderhaufen zurück in mein Bett.

Der nächste Arbeitstag verlief normal. Bis auf Frau Stöhr, die einen leichten Anfall bekam, weil ich etwas früher Feierabend machte. Das war aber wichtig für mich, da ich unbedingt noch in die Stadt wollte, um mir etwas Schönes zum Anziehen zu kaufen.

Also ging ich zu H&M und kaufte eine enge schwarze Jeans. Dazu fand ich eine toll geschnittene rosa Bluse mit Strass-Applikationen. Das Ganze konnte ich noch mit einer abgefahrenen Jacke in Schlangenleder-Optik abrunden. Danach war ich pleite. Ich konnte nur hoffen, dass Marcus mich einladen würde.

Zuhause drehte ich mich begeistert vor dem Spiegel und bewunderte mein neues Outfit, als das Telefon klingelte. Mit klopfendem Herzen nahm ich den Hörer ab und hauchte: „Hallohh. Hier ist Carolin.“

„Hier ist Martha! Ich dachte, ich tröste dich mal in deinem Kummer. Wo du nun traurig und alleine zu Hause sitzt. Nachdem du dir ja, durch deine eigene Dummheit, die Chance auf eine Liebe kaputt gemacht und den Traumprinzen vergrault hast. Wirklich sehr schade!“, schwafelte sie völlig übertrieben.

Ich bemerkte echte Schadenfreude in ihrer Stimme. Dabei waren wir doch Freundinnen. Zugegeben, nicht die allerbesten, aber trotzdem.

„Da muss ich dich leider enttäuschen!“, sagte ich überlegen. „Von Kummer und Gram keine Spur. Und so dumm war ich dann wohl doch nicht, da ich ihn keineswegs vergrault habe, meine liebe Martha. Ich bin nämlich morgen mit ihm verabredet. Aber ich weiß es durchaus zu schätzen, dass du so besorgt um mich bist!“

Das saß. Ich spürte förmlich, wie ihr der Mund offenstand.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie: „Och, na ja, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.“

Als sie dann wieder mit A-ha angefangen hatte, versuchte ich das Gespräch möglichst schnell zu beenden.

Um sechs Uhr morgens, suchte mich dann wie immer das Morgengrauen heim. Mir graute es ja jeden Morgen davor aufzustehen, selbst wenn ein schöner Tag bevorstand. Nach einem langen und nervigen Arbeitstag war es dann endlich soweit. Nicht das Date, sondern der Moment vor dem Spiegel. Kein Kaffeefleck auf der neuen Bluse. Kein dicker Pickel verunzierte meine Nase. Meine Haare fielen in weichen, blonden Wellen über meine Schultern, während meine Augen strahlten, dank Kajal und Wimperntusche. Mein Mund war zum Kussmund geschminkt. Das war ein ganz seltener Moment in meinem Leben. Ausnahmsweise war ich einmal mit meinem Spiegelbild zufrieden.

Er konnte kommen. Ich war vorbereitet.

Es ist doch erstaunlich, wie weit gutes Aussehen das Selbstbewusstsein steigert. Leider klappt das nicht immer so, denn eigentlich war es bisher so, dass ich bei wichtigen Ereignissen von Pickeln, Gerstenkörnern oder Lippenbläschen verunstaltet wurde. Meistens im Zusammenhang mit störrischen vom Kopf abstehenden Haaren. Aber heute gab es wirklich nicht das Geringste an mir auszusetzen.

Ich setzte mich auf die Couch und rauchte eine Zigarette, um mich mit Vorfreude auf den bevorstehenden Abend einzustimmen. Es klingelte.

Ich schoss von der Couch hoch. Mein Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals, und meine Knie wurden in dem Moment weich als ich die Tür öffnete.

Marcus beugte sich zu mir herunter und gab mir einen laut schmatzenden Kuss, genau auf den Mund. Danach sagte er erst: „Hallo, schön dich zu sehen!“

Ich sagte: „High, möchtest du was trinken?“

„Ja, aber erst später. Das Taxi wartet.“

Ich griff schnell nach Jacke und Handtasche. Dann rannten wir die Treppen herunter. Also ehrlich, ich bin noch nie in meinem Leben mit einem Taxi abgeholt worden.

Wir fuhren zu einem noblen Restaurant in Harvestehude und setzten uns an einen Tisch, der in einer gemütlichen Ecke stand. Das Restaurant war nur schwach beleuchtet, und überall auf den Tischen brannten Kerzen. Im Hintergrund spielte schöne Musik. Die Atmosphäre war romantisch. Einfach unbeschreiblich!

Der Kellner kam, brachte die Speisekarten und fragte, ob wir schon ein Getränk gewählt hätten.

„Du trinkst doch auch Sekt, oder ist dir etwas anderes lieber?“, fragte Marcus mit einem tiefen Blick in meine Augen.

„Ja, Sekt wäre schön.“, sagte ich daraufhin mit einem verträumten Lächeln.

Marcus bestellte eine ganze Flasche Sekt, die wenig später in einem Eiskübel vor uns auf dem Tisch stand. Das Essen war eigentlich Nebensache. Jedenfalls für mich, denn ich genoss Marcus‘ Gesellschaft und die gegenseitigen tiefen Blicke.

Wir stießen mit den Sektgläsern an, dass sie klirrten. Der Sekt schmeckte köstlich und perlte auf der Zunge und etwas später im ganzen Körper. Wir unterhielten uns während des Essens über Gott und die Welt. Der Sekt begann zu wirken, und wir flirteten immer intensiver. Vom Sekt berauscht und von der Musik beschwingt, fühlte ich mich schon wie im siebten Himmel.

Marcus nahm meine Hand an seine Lippen und schmeichelte: „Oh Carolin, du siehst so hübsch aus. Und deine Augen, die sind so faszinierend. Deine ganze Ausstrahlung ist einfach umwerfend. Du bist heute noch viel schöner als am Samstag. Dabei habe ich geglaubt, das könnte man nicht mehr steigern. Wie machst du das nur?“

Kunststück, dachte ich, heute hatte ich ja auch Zeit, Mühe und Geld in mein Aussehen investiert. Und das nicht zu knapp. Mir wird jetzt noch ganz schlecht, wenn ich daran denke, was meine neuen Klamotten gekostet haben. Es hat sich aber anscheinend gelohnt. Das konnte ich natürlich nicht sagen. Also antwortete ich mit unschuldigem Augenaufschlag: „Findest du? Ich bin noch genauso wie am Sonnabend. Allerdings um ein paar Tage älter. Und wenn du mich heute hübscher findest, liegt das bestimmt an dieser Beleuchtung. Ist ja auch ziemlich dunkel hier. Trotzdem danke! Und du bist übrigens auch nicht von schlechten Eltern.“

„Also mal ganz ehrlich, ich habe mir auch richtige Mühe gegeben“, sagte er. Siehst du das nicht? Nagelneue Jeans und ein neues Shirt. Außerdem war ich beim Friseur. Ich hatte die Hoffnung, der könnte meine dünnen Federn in Haare verwandeln. Das ist ihm leider nicht gelungen, wie du siehst.“

Ich musste wieder lachen. Und dann gestand ich ihm, dass ich mir auch neue Kleidung gekauft hatte und dass ich nun pleite sei.

Er sagte: „Egal! Ich lade dich sowieso ein.“

Das war mir nun peinlich. Hoffentlich dachte er nicht, dass ich darauf spekuliert hatte.

„Deswegen habe ich das nicht gesagt. Ich wollte nur sagen, dass ich mir auch neue Kleidung gekauft habe, da ich nichts Passendes anzuziehen hatte. Und ehrlich gesagt, war ich auch etwas darauf aus, gut auszusehen.“

„Du kannst gar nicht anders als gut aussehen!“, schmeichelte er wieder. „Hast du eine Ahnung! Kann ich wohl. Du hast mich noch nicht gesehen, wenn ich morgens aus dem Bett komme. Da bin ich unübertrefflich hässlich. Da ist selbst Quasimodo schöner. Aber trotzdem danke.“

„Also, das glaube ich dir erst, wenn ich es selbst gesehen habe. Da solltest du mich möglichst bald von überzeugen. Heute wäre eine gute Gelegenheit.“

„Ich habe nicht vor, dich jetzt schon in die Flucht zu schlagen. Warten wir lieber noch ein bisschen.“

"Deine neuen Sachen stehen dir übrigens sehr gut. Aber dass du auch beim Friseur warst, hast du noch nicht zugegeben. Da wirst du wohl auch ordentlich investiert haben, für diese kleinen Kringellöckchen.“

„Nein, das sind echte Naturhaare. Ich meine Naturkrause. Dafür brauche ich kein Geld aus zu geben.“

„Also ich habe es für eine Perücke gehalten!“

Mir blieb der Mund offenstehen, so verdattert war ich.

„Ehrlich? Ich dachte immer, man würde das sehen, dass es echte Haare sind.“

Marcus lachte schallend los und sagte: „Das war ein Witz. Ich wollte dich bloß ein bisschen aufziehen. Du hast so was Naives und Unschuldiges an dir. Das ist richtig süß. Wahrscheinlich lügst du auch nicht, oder vielleicht doch, wenn es sein muss?"

Ich sagte: „Du bist ja wirklich witzig. Ein richtiger Witzbold! Zum Glück habe ich Humor. Du hast recht, ich lüge nie!“

„Wirklich nie?“ fragte er. „Nicht mal eine kleine Notlüge? Na komm schon, gebe es zu. Jeder Mensch gebraucht hin und wieder eine kleine Notlüge. Ist doch auch nichts Schlimmes.“

„Nein, ich lüge nicht. Ich bin absolut ehrlich und habe nichts zu verbergen“, war meine Antwort. „Ich brauche keine Lügen. Und du? Was ist mit dir, lügst du öfter mal?“

Er ging nicht darauf ein, sondern fragte: „Und es gibt wirklich keine Situation, in der du lügen würdest? Also, ich glaube, gerade jetzt lügst du.“

„Nein, ich lüge wirklich nicht! Wenn es gar nicht anders geht, wenn ich die Wahl habe, zwischen Lüge oder jemanden zu verletzen, würde ich versuchen, nicht darauf einzugehen. Wenn dieser jemand aber auf eine Antwort besteht, würde ich lügen, um ihn nicht zu verletzen. Als Beispiel: Jemand fragt mich, findest du das ich hässlich bin? Und derjenige ist wirklich hässlich, würde ich nein sagen. In dem Fall wäre es eine Schonungslüge“, sagte ich. „Würde ich die Wahrheit sagen, von wegen hässlich und so, wäre es doch für diese Person so niederschmetternd, dass ich es einfach nicht fertig bringen würde.“

„Schonungslüge! Ich halte es nicht aus! Was du dir für Worte ausdenkst. Diese Vokabel gibt es überhaupt nicht“, sagte er lachend.

„In meinem Wortschatz schon. Ansonsten gilt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nimmermehr! Und wie ist das bei dir?“

„Also, also, bei mir ...“ stotterte er. „Ja, also, ich sehe das nicht ganz so eng. Ich bin schließlich kein Moralapostel.“

„Das heißt im Klartext, du lügst öfter mal? Oder wie meinst du das?“

„So würde ich das nun nicht ausdrücken. Eine kleine Notlüge hier und da, wenn es wirklich nicht anders geht. Aber im Grunde genommen bin ich ein ehrlicher Mensch. Das weißt du doch!“, sagte er mit einem tiefen Blick in meine Augen.

Und ich dachte, das sind wirklich ehrliche Augen. Mit so schönen blauen Augen kann man einfach niemanden anlügen. Dann lächelte er mich einvernehmend an und sagte: „Wenden wir uns einem erfreulicheren Thema zu. Du bist ja wirklich sehr ehrlich!“

„Meine gute Erziehung. Worüber möchtest du denn reden?“

„Erst mal darüber, dass du den guten Sekt schal werden lässt“, sagte er und goss mir nach. „Es gibt schließlich etwas zu feiern!“

„Wieso? Hast du etwa Geburtstag, und ich weiß nichts davon?“

„Nein, ich habe nicht Geburtstag. Ich wollte feiern, dass ich die süßeste und wundervollste Frau meines Lebens kennen gelernt habe. Ich kann es einfach nicht fassen, dass es so etwas Wunderbares wie dich gibt!“, schmeichelte er mir.

Ich zerfloss wie Butter in der Sonne. Das war aber mal etwas ganz anderes, als was Niels mir damals erzählte. Im Grunde hatte er ja das Gleiche gesagt, wie Marcus, nur nicht über mich, sondern über Anita. Jetzt war ich wirklich überzeugt, dass ich mit Marcus den einen Glücksgriff gemacht hatte. Ich nahm einen großen Schluck Sekt. Alles was ich dann herausbrachte, war ein lang gezogenes „Ooh“.

Als sich endlich die Röte aus meinem Gesicht verzogen hatte, sagte ich: „Dankeschön! Dass ist sehr lieb von dir, so etwas zu sagen. Aber du kennst mich doch kaum.“

„Dafür habe ich einen Blick, die entsprechende Menschenkenntnis und den richtigen Instinkt. Ich täusche mich nur selten“, sagte er.

Leider bin ich für Schmeicheleien und Komplimente äußerst empfänglich. Und an besagter Menschenkenntnis mangelte es auch mir nicht.

Dachte ich!

Diese schönen Worte und die ganze romantische Atmosphäre des Restaurants hatten mich so eingelullt, und ich war vor Verliebtheit so erfüllt, dass ich einfach alles glaubte, was er mir sagte. Noch ein intensiver Blick in seine Augen, und ich war absolut überzeugt, dass er alles so meinte, wie er es sagte.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich wie im siebten Himmel. Ich döste noch glücklich vor mich hin und erinnerte mich, wie Marcus mich nach Hause gebracht hatte. Vor meiner Haustür hatte er mich ganz fest umarmt und auf die Stirn geküsst. Als er mich losließ, sagte ich: „Also, tschüss dann, und danke für ...“

Weiter kam ich nicht, denn dann zog er mich noch einmal an sich und küsste mich so, dass mir die Luft wegblieb. Dann blieb mir allerdings noch einmal die Luft weg, als mir jemand die Türklinke der Haustür in den Rücken rammte. Es war Frau Krotzmann von oben.

„Unverschämtheit!“, schnauzte sie mich an. „Hier mitten in der Nacht die Haustüre zu blockieren!“

„Guten Abend, Frau Kotzmann“, sagte ich. „So spät noch unterwegs? Oder konnten sie vor lauter Neugierde wieder kein Auge zu tun?“

Sie lief puterrot an, während sie irgendetwas von nächtlicher Ruhestörung, Respektlosigkeit und Nachspiel keifte.

Marcus grinste und sagte: „Nette Nachbarn hast du! So was braucht kein Mensch! Aber dir fehlt eben ein Mann, der dich in solchen Fällen unterstützt. Dann würde diese Gewitterhexe sich nichts mehr trauen. Jede Wette!“

Daraufhin blödelte ich mit übertriebenen Augenaufschlag: „Ach, willst du mein edler Ritter in schimmernder Wehr sein?“

Markus lachte und tat so als würde er ein Schwert schwingen. „Oh, du Liebste mein. Ich werde jetzt mit dir diese Festung erklimmen und an deinem Bette wachen!“

„Nein, auf keinen Fall! Du kommst nicht mit rauf!“

„Schade, aber einen Versuch war es doch wert, und ein tapferer Ritter gibt nicht so schnell auf. Also, Angebetete!“, dröhnte er mit tiefer Stimme. „So erhöre mich doch!“

Über uns riss Frau Krotzmann ihr Fenster auf und kreischte: „Ruhe da unten! Oder ich hole die Polizei!“

Ich sagte darauf hin zu Marcus: „Mein armer Ritter, gegen diesen Drachen hast du keine Chance. Du kannst aber beruhigt nach Hause gehen, denn in meiner Burg bin ich sicher. Außerdem bleibe ich heute keusch.“

Er zog ein mauliges Gesicht, küsste mich noch einmal zum Abschied und ging. In dieser Nacht träumte ich, dass ich ein Burgfräulein wäre und Marcus in Gestalt eines Ritters mit Rüstung um meine Hand anhält. Genau in dem Moment, als er meine Hand galant an seine Lippen zieht, entreiße ich sie ihm und renne mit aufgebauschtem Kleid von ihm weg und herüber zum Feuer speienden Drachen. Dann schwinge ich mich auf dessen Rücken und fliege mit ihm davon.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es bereits Viertel nach sieben. Mein Dienst im Büro beginnt um acht Uhr. Da ich keinen fliegenden Drachen, sondern nur Bus und Bahn zur Verfügung hatte, war höchste Eile angesagt.

Mit wehenden Fahnen rannte ich die Treppen herunter und prallte mit Frau Krotzmann zusammen, die gerade ihren Müll herausbringen wollte. Der Mülleimer flog ihr aus der Hand, und der Müll verteilte sich im gesamten Hausflur.

„Oh, Entschuldigung und guten Morgen!“, sagte ich und lief weiter, während sie mich wütend beschimpfte und mich aufforderte sofort das Treppenhaus zu putzen.

„Keine Zeit!“, rief ich und rannte weiter bis zur Bushaltestelle.

Natürlich verpasste ich den Bus. Als ich um acht Uhr zwanzig ins Büro hechtete, stand Frau Stöhr bereits vor meinem Schreibtisch, die Hände in die Hüften gestemmt und mit einem Gesicht, als nahe der Weltuntergang.

Ich wollte ihr den Wind aus den Segeln nehmen und sagte ganz besonders freundlich: „Guten Morgen, Frau Stöhr! Tut mir wirklich leid, dass ich mich ein wenig verspätet habe. Aber ich bin leider aufgehalten worden, weil ...“.

Sie bellte sofort los: „Ein wenig?! Ein wenig?! Zuviel Frau Bäcker, zu viel! Das geht entschieden zu weit! Ihr Mangel an Disziplin ist in meiner Firma nicht vertretbar! Das war das letzte Mal, das sage ich ihnen. Ansonsten werde ich mich an die Betriebsleitung wenden, und was das bedeutet, werden auch sie verstehen!“

„Entschuldigung!“, murmelte ich kleinlaut, dachte aber, sie hat meine Firma gesagt. Dabei ist sie als Vorgesetzte genauso angestellt, wie wir anderen auch.

„Und das während der Terminarbeiten! Unverschämtheit!“, zischte sie noch und rauschte aus dem Büro.

Denise, Suzie und Nadja, die bis eben noch sehr beschäftigt und konzentriert aussahen, sahen jetzt auf und kicherten.

„Na, bist du jetzt wach?“ witzelte Nadja.

„Ich kann dir sagen, mir dröhnen immer noch die Ohren. Ist Kaffee fertig?“

„Bedien‘ dich“ sagte Denise. „Tu aber möglichst beschäftigt nebenbei, falls die Stöhr noch mal hereinkommt. Die ist heute mal wieder besonders gereizt!“

Suzie fragte: „Heute? Ich kenne sie nur so.“

Ich musste lachen, obwohl mir doch etwas flau im Magen war. Das war etwas viel Stress am frühen Morgen und auf nüchternem Magen.

„Und?“, fragte Denise.

„Was und?“, tat ich unschuldig.

„Nun erzähl doch mal. Wie war dein Date?“

„Ach, mein Date. Ja, das war gut“, sagte ich, während die Erinnerung daran mein Gesicht zum Strahlen brachte.

„Du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd!“, sagte Suzie.

„Na, das muss ja ein ganz toller Hecht sein“, lästerte Nadja. „Wie sieht er denn aus?“

„Gut“, sagte ich, „sogar sehr gut.“

„Also jetzt kann ich mir etwas darunter vorstellen!“, sagte Denise ironisch. „Jetzt möchte ich aber klare Fakten hören! Haarfarbe, Augenfarbe, Körpergröße? Und die Frage aller Fragen: was ist er von Beruf?“

„Äh, ich, äh ... also, ich weiß es nicht so genau“, stammelte ich. „Ich glaube er fährt so durch die Gegend.“

„Das glaube ich einfach nicht!“, sagte Denise, „Das war dein zweites Date und du weißt nicht mal, was er beruflich macht?“

„Das sagte ich doch schon, er ist viel unterwegs, fährt viel herum.“

„Mit was fährt er herum? Vielleicht im Peterwagen? Ist er vielleicht Polizist? Oder mit dem Krankenwagen als Notarzt? Er könnte auch Kapitän, Schaffner oder Müllmann sein“, zählte Nadja auf.

„Ja, oder er liefert Pizza aus“, warf Suzie ein.

„In einem Taxi nach Paris ...“, sang Denise plötzlich. „Ist er vielleicht Taxifahrer? Hier ist das heitere Berufe raten. Meine Damen und Herren, wer hat die Lösung? Wer errät den Beruf des Herrn Marcus? Wie heißt er eigentlich weiter?“

„Ach, lasst mich doch alle in Ruhe! Ich weiß es eben nicht“, sagte ich, und mir wurde bewusst, dass ich wirklich nicht allzu viel von ihm wusste. Dann wendete ich mich wieder meiner Statistik zu: 575; 86; 228; 72 ...

„Wie alt ist er denn?“ fragte Suzie.

Ganz mit der Statistik beschäftigt antwortete ich: „68.“

„Was, so alt?! Carolin, weißt du eigentlich, was du da tust?“

Ich sah von meiner Statistik hoch und fragte: “Wie meinst du das? Von wegen was ich da tue?“

„Dich mit einem 68jährigen Tattergreis einzulassen. Hast du plötzlich einen Vaterkomplex oder was?“, fragte Suzie.

Verwundert fragte ich: „Wie kommst du denn da drauf?“

„Du hast es doch eben selbst gesagt, als Suzie dich gefragt hat.“

„Was hab‘ ich selbst gesagt?“

„Naja, dass er 68 ist.“

„So ein Quatsch! Das habe ich nie gesagt!“

„Oh, mein Gott!“, stöhnte Denise, während alle anderen die Augen verdrehten. „Du bist total durch den Wind. Suzie hat gefragt wie alt er ist.“ „Wer?“

„Der Mann, mit dem du dich gestern getroffen hast“, sagte Denise.

Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht genau. Also schätzungsweise Anfang 30 würde ich sagen. Plus minus zwei, drei Jahre.“

Denise schüttelte den Kopf: „Du weißt nicht einmal wie alt er ist? Weißt du denn überhaupt irgendetwas?“

„Nein, weiß ich nicht!“, sagte ich trotzig. „Was spielt das denn überhaupt für eine Rolle? Ich liebe ihn und er liebt mich. Und das ist alles was zählt!“

In dem Moment wurde das Gespräch unterbrochen, da Frau Stöhr unser Büro betrat und nach der Statistik verlangte. Die war leider noch nicht fertig und Frau Stöhr einem Anfall nahe. Der Rest des Tages verlief dann ohne weitere Zwischenfälle.

Ich erwischte nach Feierabend meine U-Bahn und fand sogar einen Sitzplatz. Jetzt nur entspannen, dachte ich und sich nur noch guten Gedanken hingeben. Aber meine Kolleginnen hatten Recht, ich wusste wirklich nicht viel von Marcus. Ich wusste ja noch nicht mal wann wir uns wiedersehen und ob wir uns überhaupt wiedersehen würden.

Ob er wohl anruft heute Abend? Wenn nicht, dann rufe ich ihn eben an. Da machten sich auch schon wieder diese unangenehmen Gedanken breit. Seine Telefonnummer hatte er mir ja noch gar nicht gegeben. Was wäre, wenn er nicht mehr anrufen würde? Wenn er nun nie wieder anruft?

Ein Hoffnungsschimmer kam, ich könnte im Telefonbuch nachsehen und ihn ausfindig machen, beruhigte ich mich. Kein Problem also. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich ja noch nicht einmal seinen Nachnamen wusste. Ein schrecklicher Gedanke jetzt ganz und gar von seinen Launen abhängig zu sein. Falls er nun keine Lust mehr hatte, sich bei mir zu melden, könnte ich gar nichts unternehmen und nur hoffen.

Sind wir jetzt eigentlich ein Paar oder noch nicht? Vielleicht wollte er nur ein kleines Abenteuer und meldet sich nie wieder? Ach, Quatsch! Für ein Abenteuer ist bisher viel zu wenig passiert. Er ruft bestimmt wieder an, sicherlich noch heute Abend. Und ich werde dann zu Hause und bereit sein.

Ich gelangte in meine Wohnung, ohne der ollen Krotzmann über den Weg zu laufen. Dann holte ich mir ein Feierabend-Entspannungsbier aus dem Kühlschrank und machte mir ein paar Häppchen dazu. Danach überlegte ich ganz entspannt, wie ich mir die Zeit bis zu seinem Anruf vertreiben könnte. Ich könnte bis dahin ein bisschen herumtelefonieren. Ach nein, keine so gute Idee. Dann würde ich ja nur meine Leitung blockieren, und der arme Marcus würde sich die Finger wund wählen und nicht durchkommen. Also nahm ich mir ein Buch und stellte das Telefon neben mich.

Ich hatte es mir auf meiner Couch so richtig gemütlich gemacht. Trotzdem konnte ich mich nicht sonderlich gut auf das Buch, das sicher sehr interessant war, konzentrieren. Als ich auf Seite vier war, klingelte endlich das Telefon. Mein Herz begann wie wild zu hämmern. Ich räusperte mich gründlich, um mich dann mit zuckersüßer Stimme zu melden.

„Halloho. Jaha“, hauchte ich in den Hörer.

„Hallo, hier ist Sybille. Ich wollte mal hören wie es dir so geht.“

„Oh, hallo Billie! Also mir geht es gut. Und dir?“

Sybille lachte: „Mir geht es doch immer gut. So wie den meisten rationalen und Vernunft gesteuerten Menschen. Darum mache ich mir ja auch immer Sorgen um dich. Du bist eben weniger rational, und dafür umso mehr emotional.“

Jetzt wurde ich schon wieder leicht säuerlich. „Willst du damit sagen, dass ich eine dumme und gefühlsduselige Gans bin?!“

„Das hast du gesagt, nicht ich. Ich habe nur emotional gesagt. Was ja nun nicht unbedingt negativ ist. In den richtigen Dosen und in Verbindung mit etwas Verstand ist es etwas sehr Schönes. Leider gibt es zu viele emotionale Krüppel auf der Welt. Aber das kann man von dir nun bestimmt nicht sagen. Als deine beste Freundin habe ich wohl das Recht, mich dazu zu äußern. Oder?“

„So! Und woher willst du überhaupt wissen, dass du meine beste Freundin bist? Wo du doch so ein Vernunftmensch bist und scheinbar die Intelligenz mit Löffeln gefressen hast?!“

„Das, meine liebe beste Freundin, sagt mir eben meine hohe Intelligenz und mein messerscharfer Verstand“, sagte sie lachend.

Jetzt musste ich auch lachen. Wenn jemand mich zum Lachen bringt, kann ich einfach nicht mehr länger böse sein.

„Was macht deine Eroberung?“, fragte sie.

„Ach Billie, wir waren wieder zusammen aus, und es war einfach traumhaft. Das muss ich dir unbedingt erzählen. Aber nicht jetzt, denn ich warte gerade auf seinen Anruf. Sei nicht böse.“

„Ach, das tut mir aber leid, dass ich es nur war, die angerufen hat. Du hast bestimmt gedacht, er wäre es? So eine Enttäuschung!“

„Ja, allerdings war das eine schwere Enttäuschung, du olle Miesmacherin. Aber ich vergebe dir. Allerdings nur, wenn wir dieses Telefonat ein andermal fortsetzen können. Und stell dir vor, ich habe mich trotzdem gefreut. Obwohl es nur du warst. Danke für deinen Anruf. Ich rufe bald zurück. Mach es gut. Bis dann. Tschüss!“

„Oki doki! Dann pass‘ auf dich auf. Und bis bald. Tschau!“

An diesem Abend klingelte das Telefon noch zwei weitere Male. Jedes Mal hatte ich Herzklopfen. Und jedes Mal war ich enttäuscht. Marcus hatte nicht angerufen. Mit ungutem Gefühl legte ich mich in mein Bett, um dann schlecht und unruhig zu schlafen.

Um 7 Uhr 45 erwachte ich und fühlte mich wie gerädert. Trotz der sofort einsetzenden Panik, weil ich schon wieder verschlafen hatte, bekam ich meine Augen kaum auf. Egal, zum Schminken hatte ich ohnehin keine Zeit mehr. Kämmen brachte rein gar nichts, da meine Haare wie Stahlwolle in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Ich sah einfach horrormäßig aus.

Vielleicht sollte ich mich krankmelden? Und dann den ganzen Tag darüber nachdenken, warum Marcus sich nicht gemeldet hat? Lieber nicht! Ich hatte, wenn ich ehrlich bin, etwas Angst vor Frau Stöhr. Zwar

war ich ihre morgendlichen Meckertiraden gewohnt, trotzdem ist es etwas anderes, wenn die ganze Abteilung zur Schnecke gemacht wird als wenn man ganz alleine dran glauben muss.

Ich war bereits eine ganze Stunde zu spät. Eine originelle und glaubwürdige Ausrede fiel mir auch nicht ein. Ich hoffte, nur nicht in Tränen aus zu brechen, da ich durch Marcus schon ziemlich angeschlagen war.

Als ich dann endlich an meinen Arbeitsplatz ankam, erwartete Frau Stöhr mich nicht am Schreibtisch, wie ich erleichtert feststellte. Allerdings guckten meine Kolleginnen ziemlich bedrückt drein. Bevor wir dazu kamen, uns auszutauschen klingelte mein Telefon. Frau Stöhr! Sie kommandierte mich zu sich in `s Büro. Nachdem ich eingetreten war, schloss sie Fenster und Türen. Das Donnerwetter, das dann folgte, war so gewaltig, dass ich mit aller Macht gegen meine Tränen ankämpfen musste.

Wie hatte sie mich genannt? Dreist, dümmlich, unfähig? Ich weiß es nicht mehr genau. Die Situation war so Stress geladen, dass ich die einzelnen Worte gar nicht mehr erfassen konnte. Dann schossen mir sintflutartig die Tränen in die Augen, und ich heulte los, wie ein Schlosshund. Und genau da geschah das Wunder! Frau Stöhr hielt mitten im Satz inne und guckte völlig erstaunt, fast so als hätte sie Mitgefühl. Sie kam auf mich zu, tätschelte unbeholfen meine bebende Schulter und sagte: „Kindchen, ist ja gut. Nun nehmen sie sich das doch nicht so zu Herzen. Ich meine es ja gar nicht so. Mein Temperament ist wohl etwas mit mir durchgegangen. Natürlich muss ich darauf achten, dass nicht jeder kommt und geht, wie er lustig ist. Kommen sie, und setzen sie sich erst einmal hin. Ich hole ihnen eben ein Taschentuch und einen Kaffee. Ich konnte doch nicht wissen, dass sie so zart besaitet sind.“

Jetzt war ich so fertig, dass mir der letzte Schluchzer im Hals stecken blieb. Ich konnte es nicht fassen. Was war denn mit der Stöhr los? Diese Frau hatte ja menschliche Züge!

Es stellte sich während unseres weiteren Gespräches heraus, dass sie sogar richtig nett war. Ob sie schon immer so war und wir es nur nicht gemerkt hatten?

Als sie mit Taschentüchern und Kaffee zurückkam, redeten wir noch eine ganze Weile miteinander. Erst über die Arbeit und dass sie, abgesehen von meinen Verspätungen, meine Arbeit wirklich schätzen würde. Dann sagte sie, dass Arbeit ja etwas sehr Wichtiges sein würde aber schließlich nicht alles im Leben. Und sie wäre ja auch einmal jung gewesen und hätte früher das Leben genossen. Bis zu dem tragischen Unfall ihrer Mutter.

Frau Stöhr war gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte einen netten Verlobten. Sie wollten bald heiraten. Damals war ihr die Arbeit auch noch nicht so wichtig. Aber mit dem Unfall änderte sich schlagartig alles. Ihre Mutter wurde zum Pflegefall und war nun ständig auf ihre Hilfe angewiesen. Frau Stöhr hatte noch eine Schwester, die aber mit ihrem Mann in Amerika lebte. Der Vater war damals nicht aus dem Krieg heimgekehrt. So musste sie die Last allein tragen. Tagsüber kam zwar eine Krankenschwester, die sich um die Mutter kümmerte, damit Frau Stöhr weiter ihrer Arbeit nachgehen konnte. Aber in ihrer Freizeit musste sie sich nun ständig um ihre Mutter kümmern.

Eigentlich war es ihr Wunsch zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht. Leider ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung. Der Traum platzte. Mit ihrer Freiheit war es vorbei. Dem Verlobten wurde es bald zu viel, immer mit ihr und ihrer kranken Mutter in dem nach Desinfektionsmitteln riechenden Haus zu sitzen. Er wollte ausgehen, reisen und was vom Leben haben.

Es kam wie es kommen musste. Er wendete sich bald einer anderen zu. Das war vor fünfundzwanzig Jahren. Und alles, was Frau Stöhr geblieben war, war ihre Arbeit hier und die aufopfernde Pflege ihrer Mutter.

Ich saß schweigend da, denn ich fühlte mich sehr betroffen. Jetzt wurden meine Augen schon wieder feucht, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Nach einer Weile sagte ich dann, dass es mir wirklich sehr leidtäte, ich aber Hochachtung davor habe, wie sie ihr eigenes Leben zurückgestellt hat, um für ihre Mutter da zu sein. Die meisten Menschen sind viel zu egoistisch, ein derartiges Opfer zu bringen. Dazu gehört schon echte Größe. Aber so etwas nennt man Nächstenliebe, und ich bin sicher, dass sie irgendwann dafür belohnt werden würde.

Sie lächelte mir dankbar zu, meinte dann aber, dass es jetzt Zeit wäre, wieder an die Arbeit zu gehen.

Als ich wieder in unser Büro zurückkam, sagte Suzie: „Du warst aber lange bei dem alten Drachen. Ein Wunder, dass sie dich nicht gefressen hat!“

„Sie ist gar kein alter Drachen!“, sagte ich. „Eigentlich ist sie sogar richtig nett!“

Denise, Nadja und Suzie starrten mich an als ob ich nicht alle beisammen hätte.

„Sie hat es nicht leicht und ein ziemlich freudloses Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat. Wir sollten wirklich etwas nachsichtiger mit ihr sein und auch etwas netter.“

„Hat sie dir eine Gehirnwäsche verpasst oder was? Tickst du noch richtig?“, fragte mich Nadja.

Daraufhin erzählte ich ihnen alles was ich jetzt von Frau Stöhr wusste.

Denise sagte: „Du hast recht. Das ist kein leichtes Schicksal. Wer weiß, wie wir wären, wenn wir so eine Last am Hals hätten.“

„Ich glaube, sie sieht es gar nicht so als eine Last an. Sie hält es einfach für ihre Pflicht. Nur dass es eben auf Kosten ihrer eigenen Wünsche geht. Auf jeden Fall sollten wir in Zukunft etwas netter zu ihr sein und uns nicht über sie lustig machen. Das hat sie wirklich nicht verdient.“

An diesem Tag geschah im Büro noch ein zweites kleines Wunder: Marcus rief mich an. Dummerweise war ich noch so durcheinander als ich den Hörer abnahm.

„Bu Bu Buchhaltung. Bä Bä Bäcker“, meldete ich mich.

„Hallo. Hier ist Marcus!“

Ich wusste nicht, ob ich wegen meines Gestotters vor Scham in den Erdboden versinken sollte oder ob ich vor Freude Luftsprünge machen müsste.

„Da da das ist ja ein Ding“, stotterte ich weiter.

„Störe ich dich gerade? Du scheinst etwas durcheinander zu sein.“

Plötzlich war es mucksmäuschenstill um mich herum. Die Mädchen lauschten angespannt, was ich sagte bzw. stotterte.

„Nein, Markus, überhaupt nicht. Ich wundere mich nur, dass du meine Büronummer hast. Aber ich freu‘ mich natürlich über deinen Anruf“, sagte ich mit zuckersüßer Stimme.

Er antwortete: „Aber du hast sie mir doch selber gegeben, an unserem ersten Abend. Fforschichtshalba damiddu swei Nummern haschd, falschtumich nich erreischt“, machte er mein alkoholisiertes Gelalle nach.

„Ach Marcus, mach dich bitte nicht noch darüber lustig. Es war mir sowieso schon peinlich.“

„Aber ich fand es trotzdem niedlich. Das habe ich dir ja schon gesagt. Ich musste dich im Büro anrufen, weil ich leider ein kleines Problem habe. Also, ich habe morgen, ausgerechnet am Samstag, keine Zeit für dich. Meine Schwester zieht um, und ich bin da voll eingespannt. Das wird bis spät in die Nacht dauern, mindestens.“

Mein Herz rutschte mir bereits in die Hose. Keine tolle Aussicht, das Wochenende ohne ihn zu verbringen.

„Deswegen wollte ich mal fragen, ob du vielleicht heute Nachmittag frei nehmen könntest, damit wir uns wenigstens heute noch sehen können. Wir könnten uns dann gleich in der Stadt treffen.“

Das ist zu schön um wahr zu sein, dachte ich und sagte: „Ausgerechnet heute! Ich bin heute schon in Ungnade gefallen, weil ich viel zu spät gekommen bin, da kann ich sicher nicht einfach früher gehen. Außerdem haben wir gerade Terminarbeiten. Wenn ich jetzt sage, dass ich früher gehen möchte, flippt meine Vorgesetzte aus.“

Darauf sagte er ziemlich lässig: „Na ja, macht doch nichts, wenn du heute keine Zeit hast. Dann eben ein anderes Mal.“

„Halt Stopp!“, sagte ich, da ich Angst hatte, dass er gleich auflegen würde.

„Stopp! Ich meine, fragen kann ich ja trotzdem mal. Gib mir doch bitte mal deine Telefonnummer, damit ich zurückrufen kann, ja?“

„Also nein. Das geht jetzt gerade nicht. Ich bin unterwegs. Aber frage doch mal eben. Ich bleibe solange dran. Lass uns doch einfach blaumachen. Es ist so ein schöner Tag.“