Lügen lügen nicht - Nina M. Dorman - E-Book

Lügen lügen nicht E-Book

Nina M. Dorman

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Beschreibung

Exzessiv, luxuriös, sorglos. Das Leben von Orasia ist perfekt. Die Achtzehnjährige ist reich, beliebt und attraktiv. Sie kann sich alles kaufen, was sie will und sie kann tun, was sie will. Doch ein Schicksalsschlag stellt ihr ganzes Leben auf den Kopf und sie muss sich fragen, ob Geld wirklich alles ist, was zählt.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für meine Mutter, die immer hinter mir steht.

© 2015, 2023 Nina M. Dorman

2. Auflage, Vorgängerausgabe 2015

ISBN Softcover: 978-3-384-01209-8

ISBN Hardcover: 978-3-384-01210-4

ISBN E-Book: 978-3-384-01211-1

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Widmung

Titelblatt

Urheberrechte

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Lügen Lügen nicht

Lügen Lügen nicht

Cover

Widmung

Titelblatt

Urheberrechte

Teil 1

Teil 3

Lügen Lügen nicht

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Teil 1

Mit quietschenden Reifen und der Musik auf voller Lautstärke biegt Orasia auf den Parkplatz der Privatschule ein. Der rubinrote Lack ihres Mercedes Cabrio blitzt in der Morgensonne und der Wagen hüpft leicht auf und ab, als die Räder viel zu schnell über den abgesenkten Bordstein fahren.

Es ist der erste schöne Tag seit langem. Nach einem ungewöhnlich warmen Frühling waren die ersten Sommermonate eher regnerisch und kühl gewesen. Doch heute ist es bereits um acht Uhr morgens warm genug, um das Cabrio ohne Verdeck zu fahren und für den Nachmittag wurden um die dreißig Grad und strahlender Sonnenschein angekündigt. Perfektes Wetter, um sich an den Pool zu legen und sich ein bisschen zu bräunen.

Orasia hätte heute liebend gern die Schule geschwänzt und schon am Morgen mit dem Sonnenbaden begonnen, aber ihre Eltern hatten sie in einem plötzlichen Anflug von elterlichem Pflichtbewusstsein dazu überredet, doch wenigstens für ein paar Stunden in die Schule zu fahren.

Kaum hält Orasia in ihrer Parklücke, ist ihr Auto auch schon von Schülerinnen umringt. Einige jüngere Mädchen stehen wie jeden Morgen bereits seit über einer halben Stunde hier Wache, um zu verhindern, dass jemand anderes Orasias Parkplatz besetzt. Auch wenn spätestens seit dem letzten Vorfall ohnehin niemand mehr auf diese Idee kommen würde.

Vor ein paar Monaten, am ersten Schultag nach den Osterferien, hatte ein neuer Referendar mangels besseren Wissens seinen Wagen aus Versehen auf Orasias Parkplatz abgestellt. Orasia hatte daraufhin einen mittelschweren Wutanfall bekommen und das im Weg stehende Auto kurzerhand mehr oder weniger zu Kleinholz zerlegt. Da niemand darauf erpicht ist, diese Wut ebenfalls zu spüren zu bekommen, bleibt der Parkplatz, der dem Haupteingang der Schule am nächsten ist, seitdem immer frei.

Orasia schiebt ihre große, getönte Designersonnenbrille mit dem Zeigefinger ein Stück herunter, sodass sie über ihren Rand sehen kann, und ihre grünen Augen bleiben für eine Sekunde an einem der Mädchen hängen. Sie wirft ihm ihre Schultasche zu und dieses fängt sie strahlend auf, glücklich sie tragen zu dürfen. Dann öffnet Orasia schwungvoll die Autotür, ohne darauf zu achten, dass sie eines der anderen umstehenden Mädchen damit so schmerzhaft am Schienbein trifft, dass dieses in die Knie geht, und steigt aus.

Sofort richten sich alle Blicke auf Orasias Outfit, schwarze High Heels und ein grünes, figurbetontes Sommerkleid mit einem tiefen Rückenausschnitt, dessen Farbe zu ihren Augen passt. Sie trägt immer die neusten, teuersten und angesagtesten Klamotten und ist für viele Mädchen ein Vorbild in Sachen Mode. Alle wollen sie aussehen wie sie und sein wie sie. Oder zumindest von ihr gemocht werden. Denn manchmal, wenn sie sich besonders großzügig fühlt, verschenkt Orasia eines ihrer alten Kleider oder ein Paar Schuhe, das sie nicht mehr trägt.

Während Orasia bereits mit großen Schritten über den Parkplatz Richtung Schulgebäude stolziert und dabei wirkt, als würde sie gerade eine Modenschau laufen, beschäftigen sich einige der Schülerinnen noch immer mit ihrem Auto. Sie schließen das Verdeck und streiten sich darum, wer von ihnen den Schlüssel bekommt, um ihn Orasia nach Schulende wieder überreichen zu dürfen. Der Rest der Gruppe läuft aufgeregt kichernd und flüsternd in einigem Abstand hinter ihr her.

Orasia steckt sich die Sonnenbrille in ihr langes, gelocktes Haar und trifft auf den Stufen vor dem Haupteingang auf ihre beiden besten Freundinnen, die Zwillinge Natascha und Sabrina, die wie Orasia aus einem sehr reichen Elternhaus stammen. Die drei küssen sich zur Begrüßung auf die Wangen und betreten dann gemeinsam die Schule. Orasia macht mit einer Hand eine Geste über ihre Schulter und die Gruppe von Mädchen hinter ihr zerstreut sich. Niemand will sie verärgern. Auf dem Schulhof duldet sie diese Art der Aufmerksamkeit, doch ansonsten hat sie es nicht gern, verfolgt zu werden. Die Einzige, die jetzt noch hinter ihr gehen darf, während sie durch die Flure läuft, ist das Mädchen, das ihre Tasche trägt. Sie hält sich einige Meter hinter den drei Freundinnen und folgt ihnen so unauffällig wie möglich bis zum Klassenraum.

Auf der Privatschule, die Orasia besucht, gibt es zwei Arten von Schülern. Orasia unterteilt sie ganz einfach in Reiche und Stipendiaten. Letztere kann sie nicht leiden. Nachdem ihre Eltern der Schule einen Haufen Geld gespendet haben, hat die Schulleitung sogar persönlich dafür gesorgt, dass keiner von ihnen einen Kurs gemeinsam mit Orasia hat.

Fordernd streckt Orasia die Hand aus, als sie ihren Klassenraum erreicht und schnippt ungeduldig mit den Fingern. Sofort hastet das Mädchen zu ihr und gibt ihr den Riemen der Tasche in die Hand. Sie öffnet den Mund und setzt zu einer Frage an, aber Natascha würgt sie ab, bevor sie auch nur ein Wort herausbringen kann.

„Pscht“, zischt sie.

Der Blick, mit dem sie das Mädchen dabei ansieht sagt deutlich, dass jemand, der für Orasia nur die Tasche trägt, es nicht wert ist, ein Gespräch mit ihr zu führen. Enttäuscht blickt das Mädchen zu Boden und schleicht davon.

Orasia braucht die vielen Mädchen, die sie vergöttern. Sie steigern ihr Ansehen und auch ihr Selbstbewusstsein. Dennoch sieht sie sie nicht als gleichwertige Menschen an. Sie würde sie niemals mit dem gleichen Respekt behandeln wie ihre Freunde.

Im Klassenzimmer wurden die Tische bereits einzeln in mehreren Reihen aufgestellt. Orasia wählt sich einen Tisch in der Mitte des Raumes aus, lässt ihre Tasche darauf fallen und setzt sich. Sabrina kommt herbei und befestigt das übliche Schild an die Vorderseite von Orasias Tisch - eine aus Gold gefertigte Plakette, etwa so groß wie ein Schulheft, in die das Wort Queen graviert wurde. Orasia lächelt zufrieden und zieht einen kleinen Spiegel hervor, um ihre Frisur zu prüfen. Ihre dunkelbraunen Haare fallen ihr in perfekten Wellen über die Schultern. Nicht ein einziges Härchen, das aus der Reihe tanzt. Dennoch holt sie eine Flasche Haarspray aus ihrer Tasche und sprüht so viel von deren Inhalt auf ihre Haare, dass das Mädchen am Tisch hinter ihr in dem klebrigen, süßlich duftenden Nebel zu ersticken droht. Orasia wirft noch einen kurzen Blick auf den sanften Lidschatten, der ihre schönen, mandelförmigen Augen noch größer wirken lässt, und tupft noch etwas mehr Lippenstift auf ihre bronzefarben geschminkten Lippen.

„Guten Morgen meine Damen und Herren, bitte setzen Sie sich.“

Der Lehrer kommt herein, in der Hand einen Stapel Papier. Ohne seine Anwesenheit sonderlich zu beachten, steckt Orasia langsam ihren Spiegel weg und schiebt sich einen Kaugummi in den Mund. Erst dann widmet sie ihre Aufmerksamkeit halbherzig der Matheklausur, die der Lehrer vor den Schülern auf den Tischen verteilt.

„Sie haben vier Stunden Zeit“, verkündet er, als jeder Schüler eine Klausur vor sich liegen hat, und setzt sich hinter sein Pult. „Sie dürfen anfangen. Viel Erfolg.“

Alle Schüler greifen zu ihren Stiften und beginnen, hektisch auf ihre Klausuren zu kritzeln oder etwas in ihre Taschenrechner zu tippen. Orasia dagegen blickt kurz zu ihrem Sitznachbarn hinüber und wirft ihm einen fragenden Blick zu. Er nickt in stiller Zustimmung und sie lehnt sich entspannt zurück. Sie gibt sich nicht einmal Mühe, so zu tun als würde sie versuchen, die Aufgaben zu lösen. Während ihre Mitschüler angestrengt über der Klausur brüten, guckt sie gelangweilt aus dem Fenster, kaut ihren Kaugummi und lässt immer wieder geräuschvoll große, pinke Blasen vor ihrem Mund zerplatzen. Draußen auf dem Rasenplatz kann sie eine andere Schulklasse beobachten, die im Sportunterricht Fußball spielt.

Nach einiger Zeit hebt ihr Lehrer den Kopf, sieht sie geradewegs an und räuspert sich. Orasia starrt ungerührt zurück.

„Fräulein Harrison, wenn Sie schon meinen es nicht nötig zu haben, Ihre Aufgaben selbst zu bearbeiten und Ihnen die Vorbereitung aufs Abitur scheinbar nicht so wichtig ist, möchte ich Sie doch bitten, wenigstens Ihre Mitschüler nicht zu stören und Ihren Kaugummi zu entfernen.“

Orasia schenkt ihm ein vermeintlich freundliches Lächeln.

„Natürlich, Herr Münzer“, sagt sie zuckersüß. „Ich nehme gerne mein Kaugummi raus. Aber setzen Sie dann auch Ihre furchtbare Perücke ab? Meine Mitschüler fühlen sich dadurch ebenfalls gestört.“

Die Klasse prustet los, während Herr Münzer beschämt zu Boden sieht und versucht, seinen gesamten Kopf inklusive Toupet hinter seinem Mathebuch zu verstecken, was ihm natürlich nicht gelingt. Orasia lächelt triumphierend und richtet ihren Blick dann wieder aus dem Fenster.

Nach etwa der Hälfte der Zeit reicht Orasias Sitznachbar ihr eine fertige Klausur, wofür sie ihm den leeren Bogen zurückgibt, der vor ihr liegt. Während er sich erneut ans Rechnen macht, steht sie auf, packt unüberhörbar laut ihre Sachen in ihre Tasche und geht nach vorne zum Lehrerpult, um die Arbeit abzugeben. Herr Münzer streckt die Hand danach aus, doch Orasia wirft die Blätter unachtsam vor ihm auf den Tisch, nimmt stattdessen mit zwei Fingern ihr Kaugummi aus dem Mund und drückt es dem Lehrer in die geöffnete Hand. Dann grinst sie breit, wirft ihre Haare zurück und stolziert, ohne irgendjemanden noch eines weiteren Blickes zu würdigen, aus dem Raum und lässt die Tür mit einem Knall hinter sich zufallen.

„Ich gehe davon aus, es ist es gut gelaufen, Jona?“, fragt Orasia in der Pause ihren Sitznachbarn aus Mathe.

Er grinst.

„Du weißt doch, dass ich ein Mathegenie bin! Das sollte eine eins für uns beide werden.“

Orasia nickt zufrieden.

„Du kennst den Deal. Was willst du haben? Geld oder ein Date?“, fragt sie.

„Geld habe ich selbst“, gibt er trocken zurück.

Natascha öffnet den Mund und will zweifellos verkünden, dass Orasia eindeutig mehr Geld hat, aber Orasia fährt dazwischen, bevor ihre Freundin etwas sagen kann.

„Halt die Klappe, Tascha. Hol uns lieber was zu essen.“

Sie drückt ihr einen Zehn-Euro-Schein in die Hand und Natascha verschwindet gemeinsam mit ihrer Schwester in Richtung Kiosk. Orasia bleibt mit Jona allein zurück und schließt für einen Moment die Augen. Sie sitzen an einem der runden Holztische auf dem Schulhof in der Sonne, die mittlerweile schon ziemlich heiß vom Himmel brennt. Mehrere andere Schüler schauen interessiert zu ihnen hinüber, wagen es jedoch nicht, näherzukommen.

„Dann ist es also das Date“, schließt Orasia das Thema.

„Ich hol dich heute Abend gegen sieben ab“, erwidert Jona und Orasia nickt zustimmend.

„Warum bist du eigentlich noch hier, Orasia?“, mischt sich Sabrina ein, die soeben zurückgekehrt ist und sich neben diese auf die Bank gesetzt hat. „Du hättest doch schon längst nach Hause fahren können. Die Klausur ist seit zwei Stunden für dich gelaufen und den Rest des Tages haben wir nur langweiligen Kram.“

„Du tust ja grade so, als würde ich nur zu den Klausuren in die Schule kommen“, erwidert Orasia entrüstet und nimmt einen Donut entgegen, den Natascha ihr hinhält. „Du vergisst, dass wir gleich Musik haben. Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen!“

Sie zwinkert Sabrina zu, grinst und beißt von ihrem Donut ab. Eine dünne Schicht Zucker bleibt an ihren Lippen kleben. Jona tut, als hätte er ihren Kommentar überhört. Auch wenn er heute ein Date mit Orasia hat, weiß er, dass das nichts zu bedeuten hat. Das macht sie jedem von Anfang an klar. Ein Date mit ihr ist stets eine einmalige Sache, nichts weiter. Da ist kein Platz für Gefühle oder Eifersucht.

Seit einiger Zeit hat die Schule einen neuen, jungen und sehr attraktiven Musiklehrer. Und seit er zum ersten Mal vor die Klasse getreten ist, hat Orasia es sich zur Aufgabe gemacht, ihn zu verführen. Eigentlich ist es eine ihrer leichtesten Übungen, Männer mit ihrem Charme und ihrem Aussehen um den Finger zu wickeln, aber der Musiklehrer hat sich davon bisher wenig beeindrucken lassen. Vor allem, da es ihm so gar nicht passt, dass Orasia von den anderen Lehrern gute Noten bekommt, obwohl sie nichts tut, um diese zu verdienen. Und das lässt er sie spüren.

Aber eine Herausforderung wie diese ist ihr durchaus willkommen. Dafür nimmt sie es sogar in Kauf, zwei Stunden in der Schule warten zu müssen und strengt sich selbst in seinem Unterricht freiwillig an. Orasia liebt solche Spiele. Sie sind ihr bei weitem wichtiger als die Schule. Die Manipulation von Menschen, vor allem Männern, Feiern und Shoppen gehen, sind ihr liebster Zeitvertreib. Wenn sie sich mal in der Schule blicken lässt, dann weniger um etwas zu lernen, als um eine gute Zeit mit ihren Freundinnen zu haben, sich bewundern zu lassen oder sich ein neues Opfer für ihre Spielchen zu suchen.

Würde sie nur ein wenig der Zeit, die sie in Clubs, Boutiquen oder mit Männern verbringt ins Lernen investieren, bräuchte sie niemanden, der ihre Klausuren für sie schreibt. Orasia ist keinesfalls dumm. Sie ist lediglich sehr bequem. Sie hat noch nie eingesehen, warum sie sich selbst anstrengen sollte, wenn sie auch andere dafür bezahlen kann, es für sie zu tun? Bis auf den Musiklehrer lassen ihr das alle Lehrer durchgehen und ihre Eltern kümmert es meistens nicht, was Orasia tut oder nicht tut. Mit Hilfe eines Schecks verschwinden die Stunden, die Orasia versäumt ganz schnell wieder von den Zeugnissen. Ebenso wie ein paar Geldscheine auch die Noten aufpolieren können. Ihr Abitur schafft sie so oder so. Solange sie sich ab und zu in der Schule blicken lässt und ihre Schulpflicht erfüllt und ihre Eltern weiterhin großzügige Spenden an die Schule machen, schauen alle weg.

Es klingelt zum Pausenende. Jona verabschiedet sich mit den Worten „Bis heute Abend“ und geht zu seinem nächsten Kurs, während Orasia mit den Zwillingen zum Musikraum schlendert. Sie setzt sich an den Tisch direkt vorm Lehrerpult, wo sie in diesem Kurs immer sitzt, seit der neue Lehrer da ist. Sabrina und Natascha nehmen neben ihr Platz. Auch sie haben einen Crush auf den Lehrer, vielleicht sogar noch mehr als Orasia, würden es jedoch niemals wagen, ihn ihr streitig zu machen. Orasia wirft erneut einen prüfenden Blick in den Spiegel, doch an ihrer Schönheit hat sich seit dem letzten Check nichts geändert.

Herr Paul lässt lange auf sich warten. Schließlich kommt der Schulleiter herein und verkündet, dass Herr Paul krank sei und die Stunden ausfallen. Orasia zieht eine wütende Grimasse und steht auf.

„Und das fällt Ihnen erst jetzt auf?“, blafft sie.

Der Schulleiter entschuldigt sich sofort überschwänglich. Auch wenn Orasia sich ihm gegenüber nicht gerade respektvoll verhält, macht er gute Miene zum bösen Spiel. Die Schule könnte es sich nicht leisten, mit Orasias Eltern die größten und großzügigsten Geldgeber zu verlieren.

Ohne ein weiteres Wort oder einen weiteren Blick zum Schulleiter verlässt Orasia als erste den Raum. Zornig, dass sie so viel unnütze Zeit in der Schule verbracht hat.

Erst auf dem Schulhof bleibt sie stehen und ruft laut:

„Schlüssel!“

Die Fenster vieler Klassenzimmer sind auf den Schulhof gerichtet und bei den sommerlichen Temperaturen zum Glück geöffnet, sodass ihr Rufen sofort gehört wird. Von draußen ist zu vernehmen, wie in einem der Klassenzimmer lautstark ein Stuhl über den Boden kratzt, Füße hektisch trampelnd zur Klassentür laufen und diese kurz darauf zuknallt. Nur wenig später kommt ein Mädchen keuchend und außer Atem auf den Schulhof gestolpert und bleibt vor Orasia stehen.

„Hier ist dein Schlüssel, Orasia“, bringt sie hervor. „Soll ich dir dein Auto vorfahren?“

Das Mädchen will schon zum Parkplatz eilen, aber Orasia reißt ihr die Schlüssel aus der Hand und faucht:

„Schon gut, ich mach das selbst.“

Beim Zurücksetzen aus ihrer Parklücke fährt sie beinahe eine Macke in einen anderen Wagen, bremst aber gerade noch rechtzeitig, legt den Vorwärtsgang ein und rast mit quietschenden Reifen und laut dröhnender Musik vom Schulparkplatz.

Unterwegs beruhigt sie sich langsam wieder. Orasia ist es gewohnt, dass die Dinge genau so laufen, wie sie es will. Wenn das nicht passiert wird sie schnell ungehalten und launisch.

Sie fährt das Verdeck des Cabrios wieder herunter und der lauwarme Wind lässt ihre Haare hinter ihr her wehen, während sie über eine Landstraße fährt, auf deren Asphalt sich einzelne Streifen Sonnenlicht mit den Schatten abwechseln, die die hohen Bäume zu beiden Seiten der Straße werfen.

Das Display im Armaturenbrett leuchtet auf, zeigt einen eingehenden Anruf von Natascha an und unterbricht damit die Musik. Orasia drückt auf den Knopf der Freisprechanlage.

„Süße, alles in Ordnung?“, fragt Nataschas Stimme sofort.

„Jaja“, winkt Orasia ab. „Ich war nur sauer, dass der blöde Typ nicht gekommen ist. Heute hätte ich ihn rumgekriegt“, sagt sie überzeugt.

„Das wird schon noch“, versucht Natascha sie aufzumuntern.

„Natürlich wird das noch, Tascha!“, faucht Orasia. „Jeder Mann erliegt früher oder später meinem Charme.“

Es bleibt kurz still.

„Heute Abend ist erstmal dein Date mit Jona“, gibt Natascha schließlich zu bedenken.

„Jona ist ein Idiot“, tut Orasia ab und tritt auf die Bremse, um an einer roten Ampel zu halten.

„Ich dachte du magst ihn… Ich finde ihn ziemlich süß“, sagt Natascha leise.

„Tascha!“, sagt Orasia streng. „Hast du unseren Grundsatz vergessen? Jungs sind nicht süß. Sie sind Idioten, die uns nur ausnutzen. Also machen wir dasselbe mit ihnen!“

Natascha nuschelt etwas Unverständliches. Auf der Linksabbiegerspur neben Orasia hält ein weiteres Auto an der Ampel an.

„Tascha, ich lege jetzt auf. Ich stehe an der Ampel und im Auto neben mir sitzt ein total süßer Typ! Komm doch mit Sabrina gleich vorbei, wir können am Pool chillen“, sagt sie, laut genug, dass der junge Mann zu ihr herübersieht.

Orasia schenkt ihn ein strahlendes Lächeln.

„Ich dachte, Typen sind nicht …“, beginnt Natascha verwirrt.

Orasia drückt rasch das Gespräch weg, streicht ihre Haare zurecht, die vom Wind zerzaust sind, und lächelt dem Typen erneut zu, wobei ihre perlweißen Zähne so hell leuchten, als würde sie Werbung für eine Zahnpastamarke machen.

Orasia fährt die lange, gewundene Auffahrt zu dem Anwesen hinauf, in dem sie mit ihren Eltern lebt. Der Kiesweg ist auf beiden Seiten von dichten, grünen Hecken gesäumt, hinter denen sich ein parkähnlicher Garten erstreckt. Die kleinen Steinchen knirschen unter ihren Reifen und spritzen zu beiden Seiten davon.

Sie parkt ihren Mercedes auf dem großen Vorplatz, in dessen Mitte eine eindrucksvolle Steinstatue nachdenklich in den Himmel schaut, und steigt aus. Zügigen Schrittes betritt sie die imposante Villa, in der problemlos eine ganze Fußballmannschaft komfortabel leben könnte. Das Geräusch ihrer Absätze auf dem Fußboden hallt von den hohen Decken und Wänden der Eingangshalle wider. Die Haushälterin Carla, eine kleine, liebenswürdige Frau mit einem runden, freundlichen Gesicht, kommt ihr entgegen.

„Orasia, Liebes. Ist die Schule schon aus?“, fragt sie mit starkem, spanischem Akzent.

Orasia nickt.

„Carla, ich habe ein paar Freunde eingeladen. Wir wollen uns bei dem schönen Wetter ein bisschen an den Pool legen. Würdest du uns ein paar Cocktails und Snacks fertig machen?“, fragt sie freundlich.

Carla lächelt liebevoll.

„Natürlich, meine Kleine.“

Orasia gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

„Danke, du bist die Beste! Ich gehe mich kurz umziehen.“

Schon läuft sie die lange, gewundene Marmortreppe empor ins Obergeschoss, folgt einem langen Flur bis zur vorletzten Tür auf der linken Seite und betritt ihr Ankleidezimmer. An jeder der vier Wände hängen an Kleiderstangen farblich sortiert Unmengen an Kleidern, Hosen, Jacken, Röcken, Pullovern und anderen Oberteilen. In einem hohen Regal, das bis zur Decke reicht, sind einige besonders schöne und teure Schuhe ausgestellt und in der Mitte des Raumes, in einer großen quadratischen Kommode mit Schubladen an allen Seiten, befinden sich Wäsche und Bikinis. Durch eine dicke Glasscheibe kann man außerdem auf eine Auswahl an Schmuck und andere Accessoires in den obersten Schubladen hinabschauen.

Orasia öffnet eine der unteren Schubladen, in der Bikinis und Badeanzüge in allen Formen und Farben liegen, wählt einen cremeweißen Bikini mit Triangel-Top aus, zieht dazu ein paar neue High Heels an und kehrt ins Erdgeschoss zurück.

Im Garten hat Carla bereits ein paar Liegen mit Handtüchern und einen großen, weißen Sonnenschirm an den Pool gerückt. Die Mittagssonne ist herrlich warm und das Wasser in dem riesigen Becken strahlt hellblau und glitzert einladend.

Orasia liegt noch keine halbe Stunde in der Sonne, als auch schon ihre Gäste eintreffen. Wie auch die meisten anderen Kleidungsstücke, tragen Natascha und Sabrina auch ihre Bikinis im Partnerlook. Diesmal im Leopardenmuster.

Fünf Minuten nach den Zwillingen kommt der Typ, den Orasia an der Ampel getroffen und spontan eingeladen hat, über die hellen Marmorfliesen der Terrasse geschlendert, die nahtlos in die Verfliesung des rechteckigen, langgezogenen Pools übergehen. Er trägt lediglich eine dunkelblaue Badehose und zeigt darüber seinen gut trainierten Oberkörper. Er hat zwei Freunde mitgebracht, die nicht schlecht staunen, als sie die Villa, den Pool und den riesigen Garten sehen. Im Gegensatz zu den Zwillingen sind sie diesen Anblick noch nicht gewöhnt und auf ihren Gesichtern ist deutlich zu lesen, dass sie auf solch ein Anwesen nicht alle Tage eingeladen werden.

Viele Besucher, die die Villa zum ersten Mal sehen, sagen, dass das Gebäude mit seinen zahlreichen Zimmern, hohen Decken, riesigen Kronleuchtern, den Säulen und eleganten Möbeln eher einem Schloss aus einem Film als einem normalen Haus ähnelt. Jede Fliese, jedes Gemälde, jede Statue, jedes noch so kleine Detail und die schiere Größe des Grundstücks lassen keinen Zweifel am immensen Reichtum seiner Bewohner.

Im Sommer kommt fast jeden Tag der Gärtner vorbei, den Orasias Mutter umgehend eingestellt hatte, als sie vor vielen Jahren in das Anwesen gezogen waren. Er hält den Garten in Stand, was bei dessen Größe beinahe ein Fulltime-Job ist. Blumen in allen Farben verwandeln ihn in ein buntes Blütenmeer. Dazwischen erstreckt sich eine riesige Fläche mit kurzgeschnittenem, saftig dunkelgrün leuchtendem Rasen, so groß wie mehrere Fußballfelder. Das gesamte Grundstück wird von einer hohen Hecke und dahinter zusätzlich von einem Zaun umrahmt, der in einem Tor ausläuft, welches nachts geschlossen ist.

„Wow“, sagt der Typ von der Ampel und lässt sich auf die Liege neben Orasia fallen.

Er stellt sich den anderen Mädchen als Nick und seine Kumpels als Tom und Simon vor.

„Nick gehört mir“, zischt Orasia ihren Freundinnen zu, ohne dass die Jungs es hören können. „Die anderen könnt ihr haben.“

Carla kommt mit einem Tablett mit Cocktails, Schälchen mit verschiedenen Eissorten und diversem frischem Obst aus dem Haus.

„Dieses Anwesen ist echt der Wahnsinn, Orasia!“, stellt Nick fest. „Was arbeiten deine Eltern, wenn ich fragen darf? Oder war deine Familie schon immer reich?“

„Mein Dad ist Softwareentwickler und meine Mutter handelt mit Aktien. Sie sind beide sehr erfolgreich und haben sich das alles selbst erarbeitet!“, erzählt sie stolz.

„Dann sind sie bestimmt selten zu Hause“, sagt Nick und sieht sie beinahe mitleidig an.

„Ja, aber das ist schon okay“, entgegnet sie achselzuckend und nimmt sich einen Cocktail und eine Schale mit Eis von dem Tablett, das Carla ihr hinhält. „Dafür kaufen sie mir alles, was ich will. Und ich habe ja Carla und meine Freundinnen, die mir Gesellschaft leisten.“

Sie lächelt zu Carla empor, die auch an die anderen die Getränke und Snacks verteilt und schiebt sich einen vergoldeten, mit Schnörkeln verzierten Löffel mit Stracciatella-Eis in den Mund. Nick zieht die Augenbrauen hoch, als störe ihn etwas an ihrer Aussage, beißt aber statt etwas zu sagen nur in ein Stück Wassermelone und starrt vor sich hin.

Bis Orasia um sechs Uhr schließlich verkündet, sie müsse sich nun für ihr Date mit Jona umziehen, hat die Gruppe so viele Cocktails geleert, dass Carla mit dem Mixen kaum hinterherkommt. Sowohl Orasia und Nick als auch Sabrina und Tom sind zwischenzeitlich an etwas privatere Orte verschwunden und erst nach längerer Zeit wieder zurückgekehrt. Natascha dagegen sitzt mit Simon am Rand des Pools und die beiden lassen die Beine ins Wasser baumeln, unterhalten sich und scheinen sich sehr gut zu verstehen.

„Jungs, ihr müsst unbedingt mal wiederkommen, wenn ich eine richtige Party schmeiße!“, sagt Orasia noch, bevor sie im Haus verschwindet und mühsam auf ihren High Heels Stufe für Stufe die Treppe zu ihrem Zimmer hochsteigt, sich mit einer Hand krampfhaft am hölzernen Handlauf festkrallend, um nicht zu stürzen.

Ihr ist ein wenig schwindelig.

„Liebes, bist du sicher, dass du dich nicht lieber hinlegen willst?“, fragt Carla besorgt und eilt hinzu, um ihr zu helfen. „Du kannst ja kaum noch laufen.“

„Das geht schon Carla. Jona fährt ja“, verspricht Orasia. „Ich brauche nur ein Glas Wasser oder besser noch einen Kaffee.“

Nach gefühlten fünf Minuten kommt Jona schon hupend auf den Vorplatz der Villa gefahren. Rasch kippt Orasia den zweiten Espresso hinunter und hofft, dass er mehr Wirkung zeigen wird als der erste. Sie steckt sich eine Kreditkarte in die Hosentasche ihrer engen dunkelblauen Jeans, die sie mit einem trägerlosen, schwarzen Top kombiniert hat.

„Ich haue jetzt ab, Leute!“, ruft sie ihren Gästen zu, die gerade im Pool Wasserball spielen. „Bleibt so lange, wie ihr wollt. Fragt Carla, wenn ihr noch etwas braucht. Von mir aus könnt ihr auch hier pennen, aber wartet nicht auf mich. Ich komme vermutlich erst morgen früh wieder.“

Sie zwinkert den Jungs zu und wirft den Mädchen eine Kusshand hinüber. Dann dreht sie sich auf dem Absatz um und geht zu Jona, der aus seinem Wagen gestiegen ist und davor auf sie wartet. Er trägt eine lockere beige Stoffhose, weiße Sneakers und ein weißes Leinenhemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet sind.

„Jona, du hast dich ja richtig schick gemacht!“, stellt Orasia fest.

Jona antwortet nicht und macht nur ein Gesicht, als wäre er nicht sicher, ob das gerade ein Kompliment oder eine Beleidigung war.

„Wohin möchtest du fahren?“, fragt er, als sie schon einige Zeit unterwegs sind. „Das Übliche?“

„Mir egal. Such du aus.“

Sie lächelt matt.

„Gute Laune?“

Jona grinst und meint damit wohl die für sie unübliche Großzügigkeit, mit der sie ihm die Wahl lässt.

„Betrunken…“, gibt sie zurück.

„Geht es dir gut?“, fragt Jona besorgt. „Ich meine, möchtest du trotzdem in ein Restaurant gehen?“

„Jaja, es geht schon“, reißt sie sich zusammen und ringt sich ein Lächeln ab, obwohl ihr mehr als übel ist.

Die vielen Cocktails und die stechende Sonne waren keine gute Kombination. Vielleicht hätte sie doch auf Carla hören und einfach zuhause bleiben und sich ins Bett legen sollen.

„Bringen wir es hinter uns“, sagt sie und gibt sich Mühe, möglichst überzeugt zu klingen.

„Bringen wir es hinter uns?“, wiederholt Jona verdutzt ihre letzten Worte. „Was meinst du?“

„Du weißt schon. Das Übliche halt. Essen gehen, dann fahren wir zu dir und so weiter…“

„Das ist doch gar nicht so wichtig!“, entgegnet er sofort.

„Nicht?“, fragt sie verwirrt. „Aber das ist deine Belohnung. Du schreibst die Klausur für mich, dafür bekommst du ein Date. So ist es doch immer. Also bringen wir es hinter uns. Ich bin ungern jemandem etwas schuldig.“

„Aber dir geht es nicht gut“, wirft Jona ein.

Orasia seufzt.

„Dann fahr mich bitte nach Hause und ich zahle dich aus, oder wir holen das Date irgendwann nach.“

Mittlerweile ist ihr so übel, dass das Essengehen tatsächlich ein sehr unangenehmes Erlebnis werden könnte. Für alle Beteiligten.

„Denkst du denn, es geht mir nur darum, mit dir zu schlafen?“, fragt Jona ungläubig und hält den Wagen am Straßenrand an, um ihr ins Gesicht sehen zu können.

„Natürlich! Das ist es doch, was alle von mir wollen. Entweder meinen Körper oder mein Geld.“

„Du musst wirklich ganz schön betrunken sein, dass du so von dir redest.“

Jona lacht bitter. Orasia sieht ihn an, als wäre ihr plötzlich wieder eingefallen, dass sie betrunken ist, reißt die Autotür auf und übergibt sich ins hohe Gras am Straßenrand.

„Ich fahre dich jetzt zu mir nach Hause, okay?“, fragt Jona als sie fertig ist und zieht sie zurück ins Auto. „Das ist näher.“

Orasia sinkt auf dem Sitz zusammen und nickt nur schwach.

Jona parkt seinen Wagen vor der Garage eines Einfamilienhauses, steigt aus und läuft um das Auto herum, um Orasia zu stützen. Langsam gehen sie nebeneinander den schmalen, gepflasterten Weg bis zur Haustür entlang.

Drinnen angekommen bringt Jona Orasia direkt in sein Zimmer, legt sie in sein Bett, deckt sie zu und reicht ihr ein Glas Wasser. Dann setzt er sich zu ihr, legt den Arm um sie und fragt:

„Möchtest du reden?“

Sie schüttelt den Kopf, wehrt sich aber auch nicht gegen seine Nähe. Also liegen sie einfach nur dort nebeneinander inmitten der Kissen, bis sie beide irgendwann einschlafen.

Am nächsten Morgen wacht Orasia früh auf. Jona ist trotzdem schon vor ihr wach und scheint ihr beim Schlafen zugesehen zu haben.

„Guten Morgen“, sagt er lächelnd, als sie die Augen öffnet. „Möchtest du Frühstück?“

Orasia sieht ihn nachdenklich an.

„Bringst du mich bitte nach Hause? Tut mir leid, dass ich gestern Abend so betrunken war. Habe ich irgendetwas Schlimmes gemacht oder gesagt?“

„Nein, nichts Schlimmes…“

Sie sieht ihn fragend an.

„Sondern?“

„Hast du vergessen, was du zu mir gesagt hast? Dass du denkst, dass dich alle nur wegen deines Geldes und deines Körpers wollen?“

„Hab ich vergessen. Aber… ja! Und? Stimmt ja auch. Jona, können wir jetzt bitte fahren?“

Er nickt und führt sie aus dem Haus, das bei weitem nicht an die Ausmaße der Villa von Orasias Familie herankommt. Die beiden steigen in sein Auto und er fährt rückwärts vom Hof auf die Straße. Sein Arm ruht lässig auf Orasias Rückenlehne.

Eine Weile sind sie beide still, dann greift Jona das Gesprächsthema von zuvor erneut auf.

„Du schienst traurig darüber zu sein“, sagt er.

Orasia sieht ihn verständnislos an.

„Wovon redest du?“, fragt sie verwirrt.

„Unser Gespräch von eben“, hilft er ihr auf die Sprünge. „Gestern. Du schienst traurig darüber zu sein, dass alle entweder dein Geld oder deinen Körper wollen.“

„Nein. Ist doch cool! Ich habe Geld, ich habe Spaß, ich habe jede Menge Freunde und jede Menge Dates. Worüber sollte ich da traurig sein?“

Jona starrt auf die Straße vor sich.

„Ich dachte, du hättest doch so etwas wie ein Herz“, sagt er schließlich, ohne Orasia noch einmal anzusehen.

„Sei nicht albern, Jona. Natürlich habe ich ein Herz. Jeder Mensch hat ein Herz.“

Orasia lacht schnaubend.

„Du weißt was ich meine. Ich dachte, wir würden uns vielleicht etwas näher stehen…“

Sie lacht erneut.

„Näher als was? Jona, sei mir nicht böse, aber auch du bist kein barmherziger Samariter. Auch du schreibst die Klausuren für mich, weil du dir im Gegenzug etwas dafür erhoffst. Was auch immer das ist… So war schon immer der Deal.“

Jona bremst abrupt und Orasia, die nicht damit rechnet, wird so unsanft nach vorne geschleudert, dass sie sich beinahe den Kopf am Armaturenbrett stößt.

„Hey!“, ruft sie. „Warum hältst du an?“

„Steig aus, Orasia!“, verlangt Jona und in seiner Stimme liegt keinerlei Freundlichkeit mehr.

„Du spinnst wohl. Fahr mich nach Hause!“, protestiert sie.

„So lasse ich mich nicht von dir behandeln, Orasia. Du bist eine oberflächliche, geldgeile Schlampe ohne Charakter und das weißt du auch!“

„Ich… was?“, ruft Orasia verständnislos und empört.

Sie versteht die Welt nicht mehr. Aber Jona macht keine Anstalten, ihr irgendetwas zu erklären. Stattdessen beugt er sich über sie hinweg, öffnet die Autotür auf der Beifahrerseite und schiebt sie nach draußen, sodass Orasia ziemlich unsanft auf der Straße landet. Dann knallt er die Tür von innen zu, wendet mit quietschenden Reifen und fährt davon, bevor Orasia irgendwie reagieren oder realisieren kann, was soeben geschehen ist.

Sie bleibt allein zurück. Auf einer verlassenen Landstraße, mehrere Kilometer von ihrem oder irgendeinem anderen Haus entfernt. Ohne ein Handy, mit dem sie ein Taxi oder jemand anderen anrufen könnte. Denn ihre Devise ist eigentlich: Wenn ich kein Handy dabeihabe, kann mich auch niemand stören. Jetzt bereut sie diesen Gedankengang zutiefst. Auf dieser Straße kommt so gut wie nie jemand vorbei. Die Kreditkarte steckt zwar noch immer in ihrer Hosentasche, aber das nützt ihr auch nichts, wenn niemand da ist, den sie damit bezahlen kann.

„Jona, komm sofort zurück!“, brüllt sie ihm hinterher, obwohl sein Wagen längst außer Sicht- und Hörweite ist. „Ich habe doch gar nichts gemacht! Du kannst mich doch nicht einfach hier stehen lassen! Ich kann nicht den ganzen Weg nach Hause zu Fuß laufen. Wenn mich jemand so sieht…“

Doch Jona kommt natürlich nicht zurück.

„So behandelt mich niemand“, knurrt Orasia und stampft wütend mit dem Fuß auf. „Das wird er noch bereuen!“

Mit ihren hohen Schuhen kommt Orasia auf dem unebenen Straßenbelag, der sich durch die Baumwurzeln an den Seiten zusätzlich wölbt, nur langsam voran.

„Diese Schuhe sind doch nicht fürs Laufen gemacht“, flucht sie vor sich hin und murmelt immer wieder: „Das kann er doch nicht machen. Das wird dieser Idiot bereuen!“

Die Sonne scheint bereits wieder mit ziemlicher Kraft vom Himmel und brennt auf der Haut. In ihrem Kopf hämmert der Kater vom Alkohol des vergangenen Tages. Die Vögel zwitschern so laut, als wollten sie das Mädchen verspotten, das sich mühsam die lange Straße entlangquält und sich fühlt, als hätte sie das letzte Mal vor mehreren Tagen ihre Haare gekämmt, ihre Zähne geputzt, geduscht oder sich gewaschen. So muss es sich anfühlen, wenn man allein in der Wildnis überleben muss.

Es dauert über eine Stunde, bis Orasia endlich die Villa erreicht. Sie hat Blasen an den Füßen und große Schwierigkeiten, über den Kies der Auffahrt zu laufen, ohne hinzufallen, obwohl sie mittlerweile ihre High Heels in der Hand und nicht mehr an den Füßen trägt.

Endlich in der Eingangshalle angekommen, pfeffert sie die Schuhe wütend in eine Ecke und stößt einen Schmerzensschrei aus.

„Liebes, was ist denn passiert?“

Carla kommt auf sie zugeeilt und sieht sie besorgt an.

„So ein Idiot…“, will Orasia eine Schimpftirade beginnen, hält dann aber inne. „Carla, hat jemand hier übernachtet?“

Carla nickt.

„Die Mädchen. Sie sind noch in deinem Zimmer. Soll ich euch Frühstück hochbringen?“

Orasia lächelt dankbar.

„Das wäre toll! Danke, Carla.“

In Orasias Zimmer ist es noch dunkel, als sie eintritt. Sie kann nur schemenhaft zwei Umrisse in dem großen Boxspringbett erkennen, das an einer Wand steht. So zügig es ihre schmerzenden Füße zulassen, marschiert sie zu dem großen Fenster, reißt unbarmherzig die schweren Vorhänge auf und lässt die Morgensonne herein.

„Ihr glaubt nicht, was mir gerade passiert ist“, verkündet sie, während Natascha und Sabrina erschrocken die Augen aufreißen und in der plötzlichen Helligkeit blinzelnd versuchen, etwas zu sehen.

Orasia kocht innerlich vor Wut und muss ihre Aggressionen endlich loswerden und jemandem von dieser Ungerechtigkeit erzählen, die Jona ihr angetan hat.

„Und du glaubst nicht, warum die Jungs weg sind…“, gibt Sabrina zurück, die sich im Bett aufgesetzt hat und sich die Augen reibt.

Orasia hält inne und zieht fragend die Augenbrauen zusammen.

„Warum?“, will sie wissen.

„Nick meinte, er wolle nichts mit jemandem zu tun haben, der mehrere Dates an einem Tag hat und nur mit den Männern spielt“, erklärt Sabrina.

Orasia stößt ein empörtes, zischendes Geräusch aus.

„Das schien ihm aber noch nicht so viel auszumachen, als seine Zunge in meinem Mund war.“

Sie lässt sich erschöpft zwischen die Zwillinge auf ihr Bett fallen.

„Was ist denn eigentlich mit dir passiert?“, fragt Natascha, die erst jetzt richtig wach wird und nun Orasia von oben bis unten mustert. „Du siehst ja schrecklich aus.“

Orasia wirft ihr einen wütenden Blick zu.

„Tascha, ich sehe niemals schrecklich aus! Mir ist nur etwas Schreckliches passiert! Nämlich noch so ein Idiot wie Nick.“

Sie geht hinüber in das angrenzende Badezimmer, um sich die wirren Haare zu bürsten und Pflaster auf ihre Blasen zu kleben. Sabrina und Natascha folgen ihr, setzen sich auf den Rand der freistehenden Badewanne und sehen Orasia erwartungsvoll an.

Es klopft an der Schlafzimmertür und Carla kommt mit einem voll beladenen Frühstückstablett herein. Sie stellt es auf dem großen Tisch im Schlafzimmer ab, an dem Orasia vor allem an den Wochenenden immer gerne ihr Frühstück zu sich nimmt, wünscht einen guten Appetit und verschwindet leise wieder.

„Jona“, verkündet Orasia so laut, dass die Zwillinge zusammenfahren. „Er hat mich einfach mitten auf der Straße ausgesetzt und ist weggefahren. Ich musste den ganzen Weg nach Hause zu Fuß gehen. Und ich hatte High Heels an!“

Sabrina zieht erschrocken die Luft ein.

„Er hatte bestimmt einen Grund…“, versucht Natascha Orasia leise zu beruhigen, aber das macht ihre Freundin nur noch wütender.

„Beschützt du ihn etwa, Natascha?“, zischt sie. „Bist du auf seiner Seite?“

Natascha zieht den Kopf ein, als würde sie gleich Schläge erwarten.

„Natürlich nicht! Was für ein Arschloch!“, sagt sie rasch und Orasias Blick wird etwas milder.

Sie ist fertig mit dem Kämmen ihrer Haare, zieht nun Hose, Top und Unterwäsche aus, stopft alles mit angewidertem Gesicht direkt in den Badezimmermülleimer und steigt unter die Dusche. Sabrina und Natascha sehen taktvoll in eine andere Richtung, bis sie die Tür der Duschkabine geschlossen hat und durch das Milchglas nur noch verschwommen erkennbar ist.

„Was haben die bloß genommen? Haben sich Nick und Jona irgendwie abgesprochen oder warum labern beide den gleichen Scheiß?“, sagt Orasia laut über das Rauschen des Wassers hinweg.

Die Zwillinge blicken sich bedeutungsvoll an, was Orasia natürlich nicht sehen kann.

„Ähm… Orasia…“, setzt Sabrina an, doch die redet bereits weiter, als hätte sie ohnehin nicht geglaubt, die beiden könnten diese Frage beantworten.

Wütend schlägt sie mit der Hand so stark gegen die Glastür der Dusche, dass diese heftig wackelt.

„Jona hat doch tatsächlich geglaubt, wir hätten irgendeine Art besondere Connection oder so“, schnaubt sie. „Dieser Langweiler… Was sollte an dem schon interessant sein? Er ist weder besonders reich, noch besonders nett, noch besonders irgendwas“, regt sie sich auf. „Er sieht maximal ganz in Ordnung aus. Aber er ist nur ein Streber, der meine Arbeiten schreibt und ab und zu meine Hausaufgaben erledigt. Er hat bisher immer eine ausreichende Gegenleistung erhalten, also warum kann er nicht einfach damit zufrieden sein?“

Wieder will Sabrina etwas sagen, aber Natascha boxt sie mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Nein! Sei bloß still!“, warnt sie ihre Schwester leise.

Sie spürt, dass Orasia durchaus in der Stimmung ist, ihnen eine zu scheuern, wenn sie etwas Falsches sagen. Orasia steckt den Kopf aus der Dusche.

„Habt ihr was gesagt?“, fragt sie und stellt kurz das Wasser ab.

Sie mustert die beiden misstrauisch. Natascha schüttelt rasch den Kopf.

„Ich wollte nur sagen, dass du vollkommen recht hast. Jona sollte sich nicht beschweren. Er sollte sich freuen, dass er die Klausuren für dich schreiben darf!“

Sabrina nickt zustimmend heftig mit dem Kopf. Zufrieden mit der Antwort verschwindet Orasia wieder in der Dusche.

„Er hat gesagt, ich wäre eine oberflächliche, geldgeile Schlampe ohne Charakter“, fährt sie fort.

Natascha entfährt ein aufgebrachter Schrei.

„Wie kann er so etwas nur sagen? Süße, der hat doch keine Ahnung, wie du wirklich bist.“

Sie sieht ihre Schwester vielsagend an.

„Richtig!“, stimmt Orasia bestärkt zu und spült das Shampoo aus ihren Haaren. „Ich bin doch nicht geldgeil. Ich habe Geld und ich gebe es wieder aus. Aber ich bin doch immer großzügig, oder etwa nicht?“

„Natürlich bist du das! Du verschenkst total oft Sachen an andere, die weniger Geld haben. Und du gibst großartige Partys und lädst alle ein“, ist von vor der Dusche zu hören.

Orasia lächelt. Sie fühlt sich schon wieder viel besser.

„Und ich bin auch keine Schlampe. Ich genieße nur mein Leben. Daran ist doch nichts verwerflich!“, fährt sie fort.

Sie tastet nach einem Handtuch außerhalb der Dusche und wickelt es sich um den Körper.

„Das ist so ungerecht. Wenn Männer mit mehreren Frauen schlafen, sind sie cool, aber wenn Frauen mit mehreren Männern schlafen sind sie gleich Schlampen. Wer hat das bitte entschieden?“

Sie marschiert zurück ins Schlafzimmer und schnappt sich ein Orangenfilet von dem Tablett, das Carla zuvor gebracht hatte. Orasia stellt sich vor einen großen Spiegel, dessen Rahmen mit goldenen Schnörkeln verziert ist, lässt ihr Handtuch fallen und begutachtet ihr Spiegelbild zufrieden von allen Seiten.

„Was kann ich dafür, wenn ich gut aussehe und die Männer mich wollen?“

Ihre Stimme hebt sich um eine Oktave.

„Deshalb bin ich doch keine Schlampe! Ich lebe mein Leben. Na und?“

Sie hebt das Handtuch wieder auf.

„Und ich schlafe ja auch nicht mit jedem beliebigen Typen!“

Was Jona gesagt hat, hat ihr mehr zugesetzt, als sie zugeben will.

„Und oberflächlich bin ich auch nicht…“, sagt sie immer noch mehr zu sich selbst.

Orasia sucht sich ein Outfit aus ihrem Kleiderschrank zusammen und kehrt damit ins Schlafzimmer zurück.

„Ich habe doch einen Charakter… Sagt doch auch mal was!“, faucht sie die Zwillinge an, die ihrem Monolog und ihren Bewegungen kaum folgen können.

„Natürlich hast du einen Charakter, Orasia! Jeder Mensch hat einen Charakter… Du bist großzügig und nett und schlau und…“

„Der ist doch bloß eifersüchtig, weil mein Leben so viel besser ist als seins. Das Einzige, was der blöde Streber mir gebracht hat, sind Blasen an den Füßen. Darauf kann ich echt verzichten. Und jetzt will ich nicht weiter darüber reden. Wehe, ihr erzählt irgendjemandem davon!“

Sie starrt die beiden Mädchen so durchdringend an, dass sie sofort hastig den Kopf schütteln.

„Gut!“

Orasia setzt ein zufriedenes Lächeln auf und wechselt das Thema, als wäre nichts gewesen.

„Was haltet ihr von einer Party? Ich brauche jetzt dringend ein bisschen Ablenkung.“

„Heute?“, fragt Natascha.

„Ja, Tascha, heute! Heute Abend. Ist das ein Problem für dich?“, fragt Orasia genervt.

„Naja… wie sollen wir das so schnell organisieren? Außerdem müssen wir gleich zur Schule. Und morgen auch…“

Orasia verdreht die Augen.

„Sei nicht immer so ein Spießer! Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist viel zu spät, um jetzt noch in die Schule zu gehen. Und außerdem, glaubst du, ich gehe mit diesen Blasen irgendwohin? Wie soll ich denn da laufen?“

„Aber heute Abend… und wir kriegen Fehlstunden…“, wirft Natascha erneut unsicher ein.

„Oh Gott, Tascha, mach dir nicht immer so viele Sorgen. Davon bekommst du bloß Falten“, sagt Orasia kalt und setzt sich an den Tisch, um endlich zu frühstücken.

„Sie hat Recht, Natascha. Das wird schon“, stimmt Sabrina Orasia zu und setzt sich ebenfalls, während Natascha zum Spiegel läuft und ihr Gesicht hektisch nach Falten absucht.

„Du tust es schon wieder, Natascha“, sagt Orasia streng. „Komm´ jetzt her und entspann dich!“

Über Orasias gebieterischen Tonfall mag sich Natascha nicht hinwegsetzen und kommt zum Tisch gedackelt.

Nachdem die drei Mädchen in Ruhe ein ausgiebiges Frühstück genossen haben, machen sie sich daran, alles für die Party vorzubereiten. Orasia beauftragt Carla damit, sich um genügend Essen und Getränke zu kümmern und die Zwillinge fahren für einige Zeit nach Hause, um sich Outfits für den Abend zu holen. Gäste sind schnell gefunden. Orasias Partys sind in der ganzen Umgebung berühmt. Beinahe jeder, dem sie eine Einladung schickt, sagt sofort zu. Außer Natascha scheint sich niemand daran zu stören, dass es mitten in der Woche ist.

Als Sabrina und Natascha zurückkehren, ist Orasia gerade dabei, mit dem DJ, den sie kurzfristig engagieren konnte, die Playlist für den Abend durchzugehen und einige persönliche Musikwünsche hinzuzufügen. Sie weist die Zwillinge an, schon mal ein paar Decken bereit zu legen, damit die Partygäste, die später zu betrunken oder zu müde sind, um nach Hause zu fahren, in der Villa übernachten können.

Die Zeit, die schließlich noch übrigbleibt, bis die ersten Gäste kommen, nutzen die Mädchen, um sich zu schminken, die Haare zu stylen und das passende Outfit für Orasia zu finden. Sie wird wie immer der Star des Abends sein und muss dafür natürlich besonders gut aussehen.

Es wird schon langsam dunkel, als die ersten Leute eintrudeln. Carla hat zur Dekoration ein paar mannshohe Fackeln in den Rasen gesteckt und entzündet. Sie schaffen eine gemütliche Atmosphäre und verbreiten ihren feurigen Schein im ganzen Garten, erleuchten die große Rasenfläche, die Blumenbeete, den Pool und den langen Holztisch, auf dem Carla ein üppiges Buffet mit diversem Fingerfood und einer riesigen Auswahl an alkoholischen Getränken und Softdrinks aufgebaut hat. Es ist noch immer so warm, dass die Feier zum Großteil draußen stattfinden kann.

Orasia hat sich letztendlich für einen kurzen schwarzen Rock mit silbernen Reißverschlüssen an der Seite und ein figurbetonendes weißes Top entschieden. Schlicht aber sexy. Dazu trägt sie flache Sandalen, aus deren Sohle sich viele dünne Lederbändchen um den Fuß und ihr Bein winden, aber geschickt ihre Blasen verschonen.

Immer mehr Leute kommen an und der Garten füllt sich rasch. Zunächst stürzen sich alle auf das Essen, mit dem der Koch sich mal wieder selbst übertroffen hat, doch nach und nach finden sich die meisten in kleinen Grüppchen zusammen, unterhalten sich, lachen und trinken. Die Musik spielt unterschwellig aus den großen Lautsprechern, die fest in der Hauswand installiert sind. Orasia dreht einige Runden, um sich mit Freunden und Bekannten zu unterhalten und bleibt schließlich beim Beerpong-Tisch hängen.

Je später es wird, desto lauter spielt der DJ, der mit seinem Mischpult mitten in der Menge steht, die Musik, um die Gäste zum Tanzen zu animieren.

Das eiserne Tor am Eingang des Grundstücks ist diese Nacht offen, bleibt aber bewacht. Ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben rollt langsam über den Kies der Auffahrt und erreicht den Wachmann. Das Fenster auf der Fahrerseite wird heruntergelassen und eine Hand streckt dem uniformierten Mann einen Ausweis entgegen. Dieser macht ein überraschtes Gesicht, lässt den Fahrer aber mit einer Handbewegung passieren.

Noch unbemerkt von den Jugendlichen nähert sich das Auto der Villa und hält davor an. Die Scheinwerfer werden ausgeschaltet, die Fahrertür öffnet sich und ein bärtiger Mann, gekleidet in eine helle Jeans und ein weites, grobkariertes Holzfällerhemd, steigt aus. Er folgt zielstrebig einem schmalen, gepflasterten Weg, der an einer Seite durch die Hauswand und an der anderen Seite durch Beete mit üppigen, duftenden Rosen begrenzt wird und in den Garten führt.

Ohne dass ihn jemand sonderlich beachtet, mischt er sich unter die feiernden Jugendlichen und kann sich einmal nur durch einen raschen Satz zur Seite davor retten, in den Pool geschubst zu werden. Der Mann sieht sich in der Menge um, bis er gefunden hat, was er sucht. Schnellen Schrittes geht er auf Orasia zu, die gerade verführerisch mit einem jungen Mann tanzt, und tippt ihr auf die Schulter.

„Fräulein Harrison? Könnte ich Sie kurz sprechen?“

Orasia dreht sich um und mustert den Mann prüfend. Sie hat ihn noch nie zuvor gesehen und kann nicht einschätzen, wer er ist oder was er von ihr möchte. Aber er wirkt irgendwie sehr seriös und wenn er um diese Uhrzeit auftaucht, scheint sein Anliegen wichtig zu sein. Orasias Tanzpartner versucht, seinen vermeintlichen Konkurrenten wegzudrängen, aber Orasia sagt zu ihm:

„Los, verzieh dich. Ich klär das!“

Sie führt den Mann ins Innere der Villa, wo es im Gegensatz zu draußen ziemlich ruhig und leer ist. Nur wenige der Jugendlichen halten sich hier auf.

„Gibt es vielleicht einen Platz, wo wir ungestört reden können?“, fragt der Mann.

Orasia ist ein wenig verwundert, wie viel ungestörter er es noch haben möchte, stimmt aber zu und führt ihn in das Arbeitszimmer ihres Vaters, das für die Gäste tabu ist. Sie schaltet das Deckenlicht ein und schließt die Tür hinter ihnen.

„Ich bin Kommissar Weller“, stellt sich der Mann nun vor, nachdem er auf einem breiten, bequemen Wildledersofa Platz genommen hat.

Orasia geht ein paar Schritte weiter zum Schreibtisch, der dem Sofa gegenübersteht. Er ist eine originalgetreue Nachbildung des Resolute Desk, des Schreibtisches des amerikanischen Präsidenten, der im Oval Office steht. Sie schiebt ein paar Dokumente beiseite und setzt sich auf die vordere Kante, sodass sie den Kommissar ansehen kann.

„Gibt es ein Problem?“, fragt sie unschuldig. „Ist die Musik zu laut? Wir möchten keinen Ärger mit der Polizei.“

Eigentlich ist ihr bereits klar, dass die Polizei keinen Kommissar in Zivil schicken würde, wenn es nur um zu laute Musik ginge, zumal es keine direkten Nachbarn gibt, deren Ruhe sie stören könnten. Das Grundstück ist weit und breit nur von Wäldern und Wiesen umgeben. Aber sie kann sich auch keinen anderen Grund für sein Auftauchen ausmalen.

„Ich fürchte den haben Sie be…“, setzt der Mann an, unterbricht sich dann aber und beginnt einen neuen Satz. „Nein nein, es geht nicht um Ihre Party. Es ist eher etwas Persönliches. Die Angelegenheit betrifft im Besonderen Ihre Eltern. Sie haben mich ihretwegen gebeten, möglichst diskret zu sein, auch wenn das vermutlich wenig helfen wird. Dennoch bemühen wir uns zunächst darum. Bitte überlegen Sie sich einen guten Grund, um Ihre Feier jetzt zu beenden.“

Orasia sieht ihn entgeistert an.

„Was? Jetzt? Ist das denn wirklich notwendig? Hat das nicht alles bis morgen Zeit? Es ist doch schon mitten in der Nacht!“

„Es ist leider wirklich dringend“, entgegnet der Mann und seine Stimme lässt keinen Zweifel am Ernst der Lage.

Orasia schluckt und nickt dann.

„Gut. Warten Sie hier auf mich. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“

Auf ihrem Gesicht zeichnet sich tiefe Besorgnis ab, als sie das Arbeitszimmer verlässt. Obwohl sie einiges getrunken hat, fühlt sie sich auf einen Schlag wieder vollkommen nüchtern. Sie versucht, sich einen Reim darauf zu machen, was passiert sein könnte, kommt aber einfach auf kein Ergebnis.

Auf dem Weg in ihr Zimmer überlegt sie fieberhaft, wie sie den Leuten unten erklären soll, dass die Party schon vorbei ist, wo sie doch gerade erst angefangen hat. Aus einem Tresor in ihrem Kleiderschrank entnimmt sie ein Bündel Geldscheine und kehrt damit zurück in den Garten. Sie bittet den DJ, die Lautstärke der Musik runterzudrehen und klettert kurzerhand auf das DJ-Pult, um sich die Aufmerksamkeit der Gäste zu verschaffen. Orasia räuspert sich und erhebt die Stimme.

„Leute, hört mal kurz zu! Leider hat es einen kleinen Zwischenfall gegeben…”, setzt sie an.

Ein Flüstern geht durch die Menge. Alle Augen sind auf sie gerichtet.

„Meine Eltern…“, sie zögert, „…hatten einen Unfall. Es ist wohl nichts Schlimmes, aber ich muss zu ihnen ins Krankenhaus. Deshalb können wir heute leider nicht hier weiterfeiern. Ich hoffe ihr versteht das. Ich werde euch ein paar Taxis rufen, die euch in einen Club in der Stadt bringen. Ich rufe da sofort an und werde was drehen, damit sie euch alle reinlassen. Nehmt euch ruhig Getränke für die Fahrt mit. Und für den Rest“, sie wirft Sabrina das Geldbündel zu, „sorgt Sabrina.“

Die Gäste applaudieren. Niemand wirkt verärgert. Die Musik wird wieder lauter gedreht und alle feiern einfach weiter, bis die Taxis auf den Hof fahren und sie mitnehmen. Orasia spricht inzwischen mit den Zwillingen, die sich Sorgen machen und fragen, ob sie nicht bleiben sollen. Aber Orasia lächelt bestärkend.

„Es wird schon nicht so schlimm sein. Fahrt ruhig mit. Ich komme schon klar.“

Sie schiebt die beiden zu einem Taxi und wartet, bis auch der letzte Wagen vom Hof gefahren ist. Dann kehrt sie eilig ins Haus zurück, ohne auf das Chaos davor zu achten. Sie bemüht sich, ihre übliche, gelassene Miene aufzusetzen, als sie erneut das Arbeitszimmer betritt, aber es gelingt ihr nicht ganz. Auch wenn sie sonst noch so selbstbewusst und unbeirrbar ist, wenn es um ihre Eltern oder eine Angelegenheit mit der Polizei geht, nimmt Orasia das Ganze sehr ernst. Ihre Eltern haben sie schon als sie noch klein war stets ermahnt, sich bei der Polizei keine Feinde zu machen. Die einzige Regel, die es jemals für sie gab.

Kommissar Weller sitzt nicht mehr dort, wo sie ihn zurückgelassen hat. Das Deckenlicht ist ausgeschaltet und er steht am Fenster und scheint im Schutz der Dunkelheit das Treiben unten im Garten beobachtet zu haben. Nur das Licht der Fackeln dringt schwach herein und ein Handydisplay wirft seinen Schein auf das Gesicht des Mannes, der dadurch sehr viel älter wirkt. Orasia drückt auf den Schalter neben der Tür und der Raum wird wieder von einem warmen Licht erleuchtet.

„Ich habe sie alle weggeschickt und ihnen erzählt, meine Eltern hatten einen Unfall“, berichtet sie.

„Einen Unfall?“

Der Kommissar schenkt ihr wieder seine Aufmerksamkeit und zieht die Augenbrauen hoch.

„Ist das denn so unwahrscheinlich?“, entgegnet Orasia und zupft etwas nervös ihren Rock zurecht. „Außerdem, weshalb sind Sie sonst hier? Jetzt können Sie es mir doch sagen.“