Lunaspina - Martin Pichler - E-Book

Lunaspina E-Book

Martin Pichler

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Beschreibung

Martin Pichler, Jahrgang 1970, lebt in Bozen. "Lunaspina" ist sein erster Roman. Mit suggestiv-kraftvollen Bildern zieht er den Leser in den Sog einer alltäglich-abgründigen Familiengeschichte. Ausgezeichnet mit dem Prosapreis der Städte Brixen und Hall.

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Für meine Mutter

Come tarda questa notteLa mia lunaspinaVenga giù alla finestraQuella luce bambinaVenga giù dal silenzioMia cara compagniaCoi miei muscoli stanchiSono qui che aspetto

Fiorella Mannoia

Das Zitat auf Seite 3 stammt von:Fiorella Mannoia/Ivano Fossati aus dem Album Di terra e di vento, CBS Inc. 1989

ISBN 978-3-7099-3570-5

Ungekürzte E-Book-AusgabeHAYMON Verlag, Innsbruck-Wien 2012www.haymonverlag.at

© 2001 by Skarabæus in der StudienVerlag Ges.m.b.H.Erlerstraße 10; A-6010 Innsbruckwww.skarabaeus.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder/Circus, InnsbruckSatz: StudienVerlag/Günther Reinalter

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.skarabaeus.at.

Inhalt

Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Zwei

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Drei

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Eins

1

Als Magda Stofner die Vorhänge der Terrassentür zur Seite schiebt, leuchtet die Morgenwelt im kalkweißen Licht. Beim Öffnen der Glastür gleiten die Strahlen über sie hinweg und reizen ihre Augen, daß sie blinzeln muß, gerade so, als hätte sie ausgiebig und tief geschlafen. Eine frische Brise weht ihr ins Gesicht, vermischt mit dem pelzigen Geruch der Geranienstöcke, die heuer besonders schön blühen. In dichten Büscheln überragt ihr üppiges Rot das Geländer. Ihre Brennenden Lieben.

Im Rückenkreuz löst sich eine Verspannung, die von der vergangenen Nacht herrühren muß, obwohl sie von schlechten Träumen nichts weiß. Vielleicht hat sie in einer unbequemen Schlafstellung im Bett gelegen, oder es rächt sich jetzt das allzu eifrige Arbeiten vom Vortag, von dem sie einen dumpfen Schmerz zurückbehalten hat. Erst im Laufe des Tages wird er sich aus ihrem Körper zurückziehen, sie kennt das ja.

Sie muß sich schonen, denkt sie, aber da wird sie an die Arbeit erinnert, die auf sie wartet, unerledigt wie ein Vorwurf, weil sie gestern abend leichtfertig alles auf den nächsten Tag geschoben hat.

Niemand zwingt dich zur Eile, meint Karl und weist sie auf ihre Verantwortung hin: du mußt halt selbst schauen, daß du dich nicht überforderst. Aber sie kann es nicht sehen, wenn die Dinge herumstehen, wenn der Dreck sich auf dem Boden sammelt und der Staub zwischen den Regalen, sie liebt es so sehr, wenn alles aufgeräumt und blitzblank am richtigen Platz steht, daß es eine Augenweide ist, und sie ein paar Mal daran vorbeigehen muß, um sich an diesem Anblick zu ergötzen:

Schaut hin, wie ich alles geputzt habe! Habt ihr gesehen, wie alles glänzt? Und die Blumen, sind die nicht schön?

Ihre Männer haben für so was keine Augen. Nur wenn sie sie manchmal mit der Nase darauf stößt, nicken sie ohne Begeisterung, murmeln zufrieden hmm, aber es geschieht selten, daß sie ihr ein Kompliment aussprechen, das sagt ihnen einfach nichts, obwohl sie versucht, ihnen diese Schönheit zu erklären: Wie sich hinter ihrer eifrigen Hand die Ordnung wieder herstellt und der klare Zauber der Dinge offenbar wird, daß es bei jedem Vorbeigehen ein einfaches Glück ist oder ein Herzzuschnüren und nicht anzusehen, wenn alles drunter und drüber, staubfangend herumsteht wie in einer Rumpelkammer.

Manchmal glaubt sie sich in den großen Zimmern des Hauses zu verlieren, soviel Raum ist da, der geputzt, geordnet werden will, daß die Sonne mit einem weiterwandert im Schrubben und Wischen.

Noch kommen die Sonnenstrahlen unschuldig daher, erst später werden sie in einem leichten Brennen auf die Haut fallen wie kleine Nadelstiche. Magda wird die Jalousien zuklappen und die Küche in dämmriges Licht tauchen. Schon durchzieht die Luft ein Flirren, die Ränder der Geranienblätter an dem Balkongeländer rollen sich ein, verlangen nach Wasser.

Michael ist noch nicht auf. Es ist schon nach acht.

Magdas Blick streift am Berghang entlang, wo sich auf dem vorgelagerten Hügelmassiv verschiedene Dörfer hinziehen, hell umrissene Häuser macht sie auf der Sonnenseite aus, der Zwiebelturm einer Kirche scheint ein abgerissenes Streichholz, darüber die baumbestandenen Hänge, zusammengezurrt wie dicker, sich fältelnder Stoff.

Magda läßt die Terrassentür offen, noch genießt sie das verschwenderische Licht, das die Küche erhellt, die frische Luft, die hereinweht, vom Rascheln des Kirschbaums begleitet, der schon kleine, blaßgelbe Früchte trägt: Weißkirschen. Vom Balkon aus kann man sie sich pflücken. Nach so vielen Jahren blüht er im Frühling immer noch in einer buschigen Blütenpracht auf und ist im Frühsommer dann voller Kirschen, daß sie einen Obstladen auf dem Platz beliefern können und damit einige Lire dazuverdienen.

Magda stellt den Kaffee auf, schaltet das Radio ein, schiebt sich den Stuhl etwas abseits des Windzugs, Handgriffe, wie viele andere auch, die sie jeden Morgen verrichtet und auf die sie um nichts in der Welt verzichten möchte.

Am schönsten hat man es ja doch zu Hause.

Als Michael noch klein war, fuhren sie ein paar Jahre lang für eine Woche ans Meer nach Bibione, länger hielten sie und Karl es nicht in völliger Untätigkeit aus, obwohl für Magda die wenigen freien Tage keine richtige Erholung bedeuteten. Wenn sie auch die Zeit unter ihrem Sonnenschirm genoß, den Geruch des Meeres liebte und dankbar war für die kühlenden Windböen, die über den Strand strichen, so merkte sie dem Urlaub den Unterschied zu ihrem Arbeitsalltag kaum an, weil ihr letztendlich auch hier das Putzen, Kochen, Aus- und Einräumen im Appartementhaus nicht erspart blieb, das sie jedes Jahr mieteten, weil dies für sie erschwinglicher war als der sündhaft teure, einwöchige Aufenthalt in einem Hotel.

Andere Familien riefen am letzten Tag ihrer Ferien eine Putzfirma, die das Reinemachen für sie erledigte, aber die hunderttausend Lire waren halt doch erspartes Geld, ansonsten bloß zum Fenster hinaus geworfenes, wo Magda im Flug alles selbst wieder in Ordnung bringen konnte. Der schmerbäuchige Mann von der Agenzia, der in seinem Dreirad herangebraust kam und den Gasanschluß schließlich wieder abmontierte, war immer voll des Lobes, wenn er im blitzblank geputzten Wohnungsflur stand und anerkennend bemerkte, daß nicht einmal die Putzfrauen der Reinigungsfirma so sauber und gründlich arbeiteten wie die Signora Stofner. Es erfüllte sie jedesmal mit Freude, wenn Karl dabei stand und das Kompliment mitanhörte.

Schon ewig liegen ihre beiden Badeanzüge in irgendeiner Schublade im Schlafzimmerkasten, oder vielleicht sind sie längst zusammen mit anderen Kleidungsstücken, die abgetragen, ausgewaschen oder aus der Form geraten waren, auf Nimmerwiedersehen in einen Caritas-Sack gewandert.

In Bibione traute sie sich nie weit ins Wasser hinein, weil sie sich, auf allen Vieren gegen die Wellen rudernd, wie ein plumper Frosch vorkam, und deshalb immer gleich zum Strand zurückkehrte, sobald das Wasser ihre Oberschenkel erreichte. Wenn ihr auch alle versicherten, daß das Meer weiter draußen sauberer wäre, so bedeutete ihr das nichts, und wie zum Trotz tauchte sie ihre Unterarme in die sanddurchwirbelten, niederen Wellen, als reiche ihr das zur Abkühlung vollkommen. Während die Hitze des Nachmittags ihr das salzige Meerwasser von der Haut fraß, daß es angenehm kribbelte und sie die Sonne nicht mehr als so stechend empfand, betrachtete sie ihre feisten Oberschenkel, bleich und blaugeädert, wie sie waren, mit den zerkratzten Waden und den paar Schrammen, die sie sich in ihrer Arbeitswut zu Hause zugezogen hatte. Manchmal zeigte sie darauf und stieß Karl oder Michael an: Schau, wie groß!, als wäre jede Beule und jeder Blaue eine Auszeichnung.

Ihr langes Leibchen, das kühl auf der Haut auflag, zog sie nur in Ausnahmefällen aus, weil es bequem zu tragen war, auch am Abend, wenn sie an Verkaufsständen entlang flanierten und Karl immer den Kopf schüttelte über die maßlos überteuerten Preise, in seinem Mischmasch aus Dialekt und italienischen Wortfetzen zu feilschen begann, daß Magda sich vor Lachen kaum halten konnte und der arme Verkäufer, des Deutschen zwar mächtig, einen Schweden oder Holländer vor sich zu haben glaubte. Nur manchmal träumte sie von den Vorzügen eines Urlaubs im Hotel und malte sich aus, wie es wohl wäre, das Essen dreimal am Tag serviert zu kriegen, bedient zu werden von Kellnern und Zimmermädchen, und nicht mit dem halben Hausrat angefahren zu kommen in einem vollbepackten Auto.

In einem Sommer öffnete sich auf der Rückfahrt nach Bozen plötzlich der Deckel des Kofferraums, der all das hineingepreßte Gepäck nicht mehr tragen wollte, sondern stückeweis auf die Straße rumpeln ließ, bis Karl endlich durch das entsetzte Hupen anderer Fahrer auf das Unheil aufmerksam wurde. Ein andermal drang irgendwo durch das übereinander gestapelte Frachtgut ein beißender, säuerlicher Geruch, der sie über eine weite Strecke der Hinfahrt begleitete, bis sie schließlich nach anstrengendem Umpacken und Durchwühlen ein gesprungenes Gurkenglas zutage förderten, aus dem der Essig ausgeronnen war.

Zum Glück ist nie etwas Ernsthaftes passiert.

Sie ruckt etwas von der Lehne ab und rutscht tiefer in ihren Stuhl, genießt diese wenigen Minuten, die sie nur für sich hat, bevor in die Küche hektisches Leben wirbelt, das zwischen Tischknarren, Tassenklappern und Badetürschlagen sich erschöpft, um hinter ihrem Rücken wieder das Weite zu suchen, ohne ein Wort an die Frau zu richten, die stillhält und stumm wie ein Schattenriß vor der Terrassentür hockt, als wollte sie sich selbst fortdenken aus dem Raum, um niemandes Bewegungen noch mehr zur Eile zu treiben.

Sie ist eben da, läßt die Zeit verstreichen und bettet die Hände in den Schoß, wartet zu, bis das gereizte Schweigen eines jeden Morgens hinter einer zugezogenen Tür zerstäubt.

Liebe Magdalena,

die ungewöhnliche Anrede ist ihr gleich ins Auge gesprungen beim Auffalten des Papierbogens, wie eine Zärtlichkeit, die ihr gar nicht zustand, und sie glaubte in einem fremden Brief zu lesen, der durch eine unglückselige Fügung in ihr Postkästchen gelangt sein mußte, ein lächerlicher Irrtum also, der sie das Kuvert hatte aufreißen lassen und hastig das Blatt entfalten, als enthielte es eine schlimme Nachricht, weil sie immer an Postkarten, Glückwunschkarten, Urlaubsgrüße, aber nicht an Briefe gewöhnt war. Sie überflog schon die ersten Zeilen, folgte dem sauberen Schriftzug, der kein Zögern und Stocken kannte, sondern ganze Seiten zu füllen vermochte, gleichmäßig, in königsblauer Tinte, wie früher in der Schule ohne Kleckse und Fehler Barbaras Hefte neben ihr, als sie endlich begriff, natürlich, Barbara hatte ihr geschrieben, Barbara, die die Schulbank neben ihr hütete und mit ihr auf dem Nachhauseweg den Schritt hielt: Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm.

Die Anrede wühlt etwas auf in ihr, da sie auf den Namen Magdalena schon lange nicht mehr hört und auch in ihrer Mädchenzeit bloß die Lena war, jetzt aber Magda gerufen wird, in dem drängelnden Ton, der ihrer Brust jedes Mal einen unmerklichen Stoß versetzt, weil sie auf den Ruf hin gleich angelaufen kommen soll, um die ungeduldige Stimme nicht länger warten zu lassen vor unerledigten, verlegten, unauffindbaren, zerrissenen, in Brüche gegangenen Dingen. Magda!, die zweite Silbe wie abgerissen, als spüre man dort noch die Bruchlinie, die Ahnung eines in Stille zurückfallenden Echos, von Silben, die noch kommen müßten.

Kein anderes Mädchen in der Klasse konnte Barbara das Wasser reichen, ihr Schularbeitenheft lag immer obenauf, während Lenas Heft, eingebunden in kartonfarbigem Packpapier, sich unter den letzten, den mißratenen Aufsätzen fand, die voller Fehler waren und die aufs Pult krachten, während die oberen nur leicht zitterten in dem markerschütternden Niederknallen des Stapels, mit dem die Lehrerin aufhorchen machte in ihrer Mahnpredigt. Niemals wollte Lenas Heft nach oben klettern, dem sternchenübersäten Himmel von Barbaras Hefteinband zu.

Barbara durfte ans Pult treten und der Klasse vorlesen, obwohl sie das in Wahrheit haßte, wie sie der Lena anvertraute, sich also den Himmel vors Gesicht hielt, hinter der hereingebrochenen Sternennacht die Nase rümpfte und in ihrer aufsässigen Stimme vorlas, während Lena sich fragte, warum sie den Ernst und das stolze Glück jener Augenblicke nicht begriff. Sie, Lena, hätte alles darum gegeben, um nur einmal vor die Klasse zu treten mit dem Heft in der Hand.

Einmal trat das Wunder ein, und nichts war, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, sie stand vor der Klasse und vor den vielen aufgerissenen Augen knickte etwas ein in ihr, daß sie nicht mehr weiterwußte. Am liebsten wäre sie in Heulen ausgebrochen, da riß die Lehrerin ihr das Heft aus den Händen und las ihren Aufsatz zu Ende, denn sie hätten schließlich auch noch anderes zu tun:

Die Zwiebel. Die Zwiebel ist sehr nützlich. Der Fleischsuppe gibt sie eine goldene Farbe, dem Reis einen guten Geschmack. Aber sie hat nicht nur ihre guten Seiten, davon weiß die Köchin ein Wörtchen zu reden. Meine Mutter öffnet immer alle Fenster und Türen, wenn sie Zwiebeln schneidet. Meine Schwester Margareth haßt das Zwiebelschneiden, weil sie mit ihren Fingern nicht gleich an die brennenden Augen herankommt, sie trägt nämlich Augengläser.

Nun lebt Barbara in der Steiermark, und nie ist sich ein Besuch ausgegangen, obwohl in all ihren Briefen die Einladung an Magda und Karl ergangen ist, Magda aber nur abgewunken hat, nein, zur Zeit geht es leider nicht, denn die Reben sind zu schneiden oder die Äpfel auszuzwicken, der Stall zu entrümpeln und auf dem Dachboden schaut es auch schrecklich aus, so ist immer etwas dazwischengekommen, das ihre Reise in die Steiermark aufgeschoben hat. Vielleicht klappt es ja den nächsten Frühling, oder im Sommer, oder nach der Ernte im Herbst, vertrösteten sie einander, als glaubten sie noch daran.

Was soll sie nur zurückschreiben, überlegt sie sich und legt sich schon die Sätze zurecht im Kopf, die alles schnell in eins fassen und kein Mißtrauen erwecken:

Michael arbeitet jetzt bei einer Freundin in einer Buchhandlung, er hat sein Studium in Wien abgebrochen, Karl und ich waren recht enttäuscht, aber er muß selbst wissen …

Der Balkonboden ist rissig, scharfkantig heben Schattenlinien die Unebenheiten und flachen Krater hervor, Sonnenblumenkerne blinken auf, an den Rändern der Blumenschalen der ins Freie gestellten Zimmerpflanzen sammelt sich Staub.

Magda hört Schritte die Stiegen herunterkommen, schon verkrampft sich etwas in ihr, weil sie sich nie an Michaels Schweigen gewöhnen wird, an seine Einsilbigkeit, mit der er sie seit einiger Zeit von sich stößt, sie bis vor den Balkon drängt und ihren Blick festnagelt an die Terrassenaussicht. Aber diesmal geht keine Küchentür auf, nur die Haustür schnappt zu, und mit dem Zuschnappen löst sich der unmerkliche Druck unter dem Brustknochen. Nun ist sie wieder mit sich allein.

Magda rückt den Stuhl zum Tisch, stellt sich das Brot und den Kaffee hin, die Semmel reißt sie in kleine Stücke und läßt sie in die Schale fallen, damit sie aufgeweicht werden, dann knarzt der Stuhl wieder ein Stückchen über den Linoleumboden zurück, damit sie die Beine übereinanderschlagen kann und die Arme verschränken. Ihre Brust hebt sich leicht über den Tischrand, jedesmal wenn sie einatmet.

Aus dem Radio klingen dumme Schmonzetten, schnulzige Schlager über verlorenes Glück und unerwiderte Liebe.

Mit dem Löffelchen fischt sie nach den aufgeweichten Brotstücken in dem Kaffee, führt sie bis an den Tassenrand, um sie gegen die Schalenwand zu pressen und das vollgesogene Brot etwas abtropfen zu lassen. Ein breiter Strahl gleißenden Sonnenlichts fällt auf den Tisch, streift ihre Nase und durchschneidet in der Diagonale das Karomuster des Wachstuchs. Staub funkelt, als hätte man die Luft zu Lichtscheiten gekloben, über den Tisch in den freien Küchenraum gestapelte, durchscheinende Späne, die wie aufblitzende Gitterstäbe um sie stehen. Tief über den Tisch gebeugt hockt Magda da, und ihr Mund fährt flink unter das Löffelchen, damit nichts auf die saubere Küchenschürze kleckst.

Wie Milchhaut verfangen sich die Reste des eingetunkten Brotes in ihren Zähnen, als sie den Kaffee austrinkt.

2

Während Michael Stofner in die Pedale tritt und aus den Augenwinkeln heraus Einfriedungen, Zäune, Tore und Holzgatter an sich vorübergleiten sieht, hat er das seltsame Gefühl, sich in einer Endlosschleife um die eigene Achse zu drehen, als hätte sich die Zeit zusammengerollt, und er wäre immer noch der Volksschüler, der sich die Beine abstrampelt, um rechtzeitig in die Schule zu kommen.

Die Telegraphenstangen schieben sich an ihm vorbei mit ihren in der Vormittagshitze sirrenden Drähten, und während die Fahrradreifen gegen den Kies knirschen, knüpfen sie in Michaels Kopf ein durchhängendes Seil, das an seinem Elternhaus vorbeiläuft, wo jetzt seine Mutter sicher in dem Holzstuhl sitzt und ihren Kaffee trinkt.

Vielleicht streift ein Sonnenstrahl ihr Gesicht, daß sie tiefer in die Stuhlbeuge rutscht, in den Schattenzipfel des Vorhangs, wo ihr selbstzufriedenes Lächeln grau wird um die Mundwinkel, und das Licht Ausflucht nimmt über Stirn und Haare hinweg auf die Küchenwand. Nur ihre Füße rucken nach vorne, und sie scheinen eingepaßt ins Fußbett der Birkenstock-Sandalen, daß sie nur die Zehen tanzen lassen können vor dem ersten Riemen, tändeln im Licht.

In die Küchenstille hinein fällt vielleicht ein Klageton, ein unwillkürlicher Atemzug, der an kein bestimmtes Unglück gebunden ist und unter dem sich ihr Oberkörper hochzieht, um dann tiefer in den Holzstuhl hineinzusinken wie in eine zweite Haut, die ihr übergewachsen ist, rauhes Horn und beißende Ungeduld, weil die Arbeit inzwischen unerledigt herumsteht, sich ansammelt und türmt in Tellern, Wochentagshosen, Fußböden, Leintüchern und milchigtrüben Fensterscheiben.

Dennoch ist etwas anders in letzter Zeit. Michael hat bemerkt, daß sie immer häufiger tatenlos herumsitzt im Haus, als habe sie endlich alle Zeit der Welt, sich von einer unbeschreiblichen Erschöpfung zu erholen, und er muß sich fragen, wodurch eine so große Müdigkeit über sie gekommen sein soll.

Es ist, als umschließe ihr Schweigen ein Geheimnis, das Wunder genug bereithält für einen Tag voller Gedanken.

„Die Wechseljahre setzen ihr übel zu, das ist für viele Frauen ein Problem!“

Sein Vater sprach davon, als habe er zwar sein liebes Leid mit ihr, wolle aber nicht weiter damit belästigt werden, als wäre ihm im Grunde ihr Verhalten unbegreiflich. Michael nickte bloß, er wollte Verständnis zeigen, war aber froh, als sein Vater es dabei beließ.

Im ganzen Haus sind Mutters Spuren aufzulesen und weisen auf ihr Altern hin: Silbergraue Haare verfangen sich im Kamm; im Bad riecht es penetrant nach dem billigen Haarfestiger, den sie gebraucht, vermischt mit dem süßen Unterton weiblicher Ausdünstungen, die Michael immer die dunkle Wirklichkeit ihres Körpers ins Gedächtnis rufen. Über die hohen Rückenlehnen der Stubensessel sind Decken gelegt, heimlich genossene Gemütlichkeit vor dem Fernseher. Die Kaffeetasse, die sie am Morgen zweimal mit Filterkaffee füllt, steht immer griffbereit mit Löffelchen im Regal. Gläser reihen sich milchigtrüb auf dem Eisenrost der Abstelle. Der Topf, der auch am Abend wieder gebraucht wird, bleibt auf dem Küchenherd stehen, das erspart ihr ein bißchen Arbeit und das mühevolle Bücken zum untersten Schrankregal. Auf dem Nachtkästchen auf ihrer Seite des Ehebetts stehen Medikamente in kleinen, beschrifteten Fläschchen, aufgereiht wie Zinnsoldaten, ausgeschickt, den Kampf gegen ihre eingebildeten Wehwehchen aufzunehmen: Vitaminpräparate, Aufbaumittel, Phiolen Activarol, Klosterfrau Melissengeist, Homöopathisches. Das Maria-Treben-Buch liegt aufgeschlagen auf dem Kopfpolster. Von Schulmedizin will sie nichts wissen, schon der Gedanke, einen Arzt aufzusuchen, und sei es nur für eine Routinekontrolle, versetzt sie in panische Angst. Sie läßt sich nicht ihr Fleisch abklopfen und abfingern, um aus den Schluchten, Windungen, Falten und Erhebungen ihres Körpers Gefahrenherde herauszulesen wie aus dem Verlauf der Handlinien eine unheilvolle Zukunft.

Michael fühlt sich aufgefordert, bloß weil ein silbergraues Haar in der Waschmuschel liegt oder der Stuhl wie ein abgedrängtes Möbelstück vor der Terrassentür steht. Er kann ihr nichts ersetzen, und doch flicht sie allerorts ihre stumme Anklage ein, in Dingen, die am Boden liegen bleiben oder vergessen im Ausguß stehen, die das Wasserrohr verstopfen könnten oder sich plötzlich einem in den Weg stellen.

„Gell, du bleibst heute abend bei mir? Karl muß zur Musikprobe, ich hoffe, daß zumindest du zu Hause bleibst.“

Dabei bleibt er an den Feierabenden und Wochenenden fast immer zu Hause und entzieht sich den Einladungen seiner Freunde. Er sitzt dann in seinem Zimmer herum, als wäre er wie sie an dieses Haus gefesselt und scheue jeden Fuß hinaus.

Es hat Anläufe gegeben, sich ihrer Anhänglichkeit zu entziehen und ihre Fürsorge auszuschlagen. In seinem vierten Oberschuljahr hat Michael sich ein eigenes Zimmer auf dem Dachboden eingerichtet, einen kleinen, holzgetäfelten Raum mit einer niederen, auf einer Seite flach abfallenden Decke. Der Heizanschluß war kein Problem, die wenigen Möbelstücke konnten hinaufgetragen werden mit Hilfe seines Vaters, es machte Michael sogar Spaß, neue Tapeten an die Wand zu kleistern, und auch sonst zeigte er sich voller Zuversicht, weil er sich nun ja seinen Freiraum verschafft hatte, nur nicht wußte, nach all dem Möbelschleppen, dem Kabellegen und Tapetenkleistern, wie es dann weitergehen sollte.

Als er im letzten Oberschuljahr die Matura bestand, suchte er nach dem geeigneten Studienort. Ihm war von Anfang an klar, daß er nur in einer großen, weit entfernten Stadt studieren wollte, obwohl ihn der Gedanke daran schon erschreckte, soviel Sicherheit aufzugeben. Als er sich für Wien entschied, hing ihm seine Mutter wochenlang in den Ohren, er solle sich doch an der Universität Innsbruck einschreiben, dann könne er jedes Wochenende heimfahren, und auch sonst halte diese Lösung viele Vorteile bereit, als wäre alles nur eine Frage der Kosten, der Nähe und kurzen Anfahrtszeit.

Er würde es nicht aushalten dort, so ganz auf sich allein gestellt – das hat sie nicht gesagt. Und doch läßt er sie dies nun büßen.

Er fährt zur Arbeit, und es ist derselbe Weg, den er auch früher Tag für Tag in die Schule zurückgelegt hat. Wie eine Talschlucht öffnen sich jetzt zwei Häuserflanken und muten an wie aufgestellte Wände, in der Fenstervierecke ausgespart sind und kleine Balkone. Michaels Blick verengt sich, fällt auf die Guckkastenaussicht am anderen Ende, auf den Rosengarten, der wie aus dem blassen Blau geschnitten scheint.

Wie in den Werbeprospekten für Touristen würde bei der Heimfahrt der Berg in seinem Rücken in blaßrotem Widerschein glühen.

Die vierkantigen Säulen der faschistischen Architektur ziehen an Michael vorbei, neigen sich in die Schräge, um sich hinter ihm gleich wieder aufzurichten und neu Spalier zu stehen für den nächsten Morgen.

Vor dem Rot der Ampel bleibt er stehen.

3

Hanna schneidet die Schnüre der Pakete durch, klappt die Kartondeckel auf und holt beidhändig ein Stapel eingeschweißter Bücher hervor.

Als Michael ihre langen Finger sieht, die sich an den Paketen zu schaffen machen, fällt ihm wieder ein, was Hanna ihm einmal bedeutet hat, das Überwältigende ihrer frechen Art, die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn von Anfang an in ihren Bann gezogen hat. Sie durchkreuzte seine Zurückhaltung, indem sie die ersten Schritte tat und ihn unter Zugzwang brachte, sie trug ihm eine Freundschaft an, der er sich zu beugen hatte, und bald erfüllte es ihn mit Stolz, diese zehn Jahre ältere Frau als Freundin gewonnen zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben arbeitete Michael ernsthaft an sich, um Hanna zu gefallen, er schmückte sich mit Wissen und Humor, um zu bestehen vor all ihrer Wundersamkeit.

Wie die Beine eines Weberknechts streichen ihre Finger über die Seiten der Bücher, spinnen sich um Buchrücken und wirbeln durch die Blätter, um die Ware zu prüfen.

Einmal hat er Hanna beobachtet, wie sie ein Buch aufgeschlagen hat, mit der Hand über den Deckel gefahren ist und heimlich ihre Nase an die Faltstelle gehalten hat, vielleicht um den Geruch nach Leim und frischem Papier einzuatmen. Es schien, als probierte sie einen neuen Liebhaber aus, als befühlte sie die Spur seiner Muskeln, den Geruch seiner Haut.

Die Geschichten in einem Buch sind für Hanna nicht das Vorrangige, zumeist erfreut sie sich an den Nebensächlichkeiten, die eifrige Leser außer Acht lassen, an der gestochen sauberen Schrift etwa, den malerischen Deckblättern oder geschnörkelten Kapitelüberschriften, oder bloß an dem Gefühl des faserigen Papiers zwischen den Fingern, an der ruhigen Schwere eines Buches auf der flachen Hand. Das Aufklappen irgendwo, und wohin das Auge auch fällt, Buchstaben, vor dem fliegenden Blick sauber gestanzte Landschaften.

Hanna beginnt, die Neuzugänge in den Computer einzutippen, das Tastaturenbrett klappert, während ein Sonnenstrahl auf ihre bloßen Arme fällt und die Haut aufleuchten läßt wie heller Kaffee. Zu Beginn ihrer Freundschaft stand Michael verzaubert vor ihrem Körper und versuchte sich die Gier vorzustellen, die ein junger Mann so vielen Reizen gegenüber wohl empfinden mochte: die halbmondförmigen Grübchen ihres Lächelns, das seidige Stoppelhaar, das unter der flachen Hand knistert und in der Sonne wie Glimmerstein funkelt, die dunklen, murmelgroßen Augen, die einen forsch ansehen, Hannas Fröhlichkeit, die einem entgegenspringt von den hohen Backenknochen, daß man von ihrem Lachen nicht mehr lassen kann, es immer wieder hervorlocken möchte mit jedem neuen Wort.

Michael hat gesehen, wie Männer diesem Lachen in die Falle gehen, wie sie hin und her gerissen sind zwischen Hannas anmutiger Schönheit und ihrer kaltschnäuzigen Art, aber er hat auch bemerkt, welche Blöße sich Männer geben, weil sie, ganz eingeschüchtert von Hannas Angriffslust, sich in unnatürliche Posen werfen und mit plötzlicher Stummheit geschlagen sind, woraufhin Hannas Interesse gleich erlischt. Sie kennt es zur Genüge, wie Männer ihre Ehre gegen Zurückweisungen zu retten suchen, sie weiß von den abschätzigen Bemerkungen, in denen der verletzte Männerstolz nach oben kommt. Von Dritten werden ihr manchmal die dummen Sprüche ehemaliger Liebhaber zugetragen, was sie am meisten ärgert, weil sie dann keinen ihrer giftigen Pfeile mehr nachschießen kann.

Andererseits kann sich Hanna in die unmöglichsten Männer verlieben, worauf sie all ihre Ruppigkeit verliert, um dem Angebeteten ein Königreich an turbulenten Gefühlen zu Füßen zu legen. Michael kann sich dann angesichts ihrer Schwärmerei nur an den Kopf greifen, denn für ihn ist es nicht zu erklären, weshalb sie gerade an solche Langweiler, eitle Pfauen oder dumme Laffen ihr Herz verliert. Wenn ihre Liebesbezeugungen mit Füßen getreten oder mit Befangenheit aufgenommen werden, dann schärft sie sich vergeblich ein, in ihrer Liebe eine Spur leiser zu treten, um die Selbstachtung nicht zu verlieren, und sie zermartert sich den Kopf mit guten Vorsätzen, die bloß das unausweichliche Ende der Beziehung einleiten.

„Das muß ja eine heiße Nacht gewesen sein, Michael, deine Haare und die Ringe unter deinen Augen lassen keinen Zweifel daran!“

Unwillkürlich fährt Michael sich über sein Haar, sucht es zu glätten, aber auch ohne Spiegel erkennt er, daß der abstehende Haarschopf nicht zu bändigen ist. Gewöhnlich kann er es nicht ausstehen, wenn Leute ihn sticheln, um ihm ein Geständnis abzupressen, nur Hanna kreidet er diese Neugierde nicht an. Nur sie ist von seiner schnellen Reizbarkeit ausgenommen und darf sich Dinge erlauben, die ihn bei anderen zur Weißglut treiben würden. Er weiß, dies ist ihre Art, mit der Tür gleich ins Haus zu fallen, nichts weiter.

Steckt sie gerade in einer kritischen Phase ihrer Verliebtheit, dann kann sie mit ihrem Leid nicht mehr an sich halten, denn Liebeskummer macht sie weit gesprächiger als jedes Glück. Jedem beliebigen Nächsten wirft sie sich an die Brust, als gäbe es das kein zweites Mal auf dieser Welt, so von der Verständnislosigkeit der Männer geschlagen zu sein. Bis sie sich wieder fängt, denn dann tut sie ihre verrückte Liebschaft ab, als wäre sie bloß ein Witz, ein dummer Irrtum von ihr gewesen: sein knackiger Hintern oder sein amüsanter Sprachfehler, der Hornrand seiner Brille oder der makellose Glanz seiner eleganten Schuhe.

„Komm mir jetzt nicht mit deinen Eroberungen, ich bin gerade nicht in Stimmung für so etwas“, winkt sie ab.

Ein kleiner Anstoß genügt, den Stein ins Rollen zu bringen:

„Ist dein Wochenende etwa nicht gut gelaufen?“

Jetzt schaut Hanna von ihrem Computer auf und schiebt einen Stapel Bücher zur Seite. Gleich würde sie erzählen, und dann gäbe es kein Halten mehr.

Manchmal ist Michael süchtig nach ihren Geschichten, nach all den komplizierten Verstrickungen, den lockenden Details und amüsanten Wendungen, von denen ihm keine vorenthalten werden, wenn er auch bloß nickt oder lächelt oder die Schultern hochzieht, kein Urteil abzugeben, keinen Ratschlag zu erteilen und keine weitere Frage einzuwerfen weiß. Wenn sie einmal richtig in Fahrt ist, dann achtet Hanna nicht auf seine Einsilbigkeit, die nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist: Michael behält all ihre Liebesdramen im Gedächtnis, als hätte er selbst sie erlebt und sich meisterhaft verhalten oder lausig gelitten unter dem eigenwilligen Diktat der Liebe.

„Ich habe mich mit Thomas gestritten, mit seinen fünfunddreißig Jahren hat ihn plötzlich die Torschlußpanik gepackt, drum hat er mich um mein Jawort gebeten und triftige Gründe dafür aufgezählt, als gäbe es das, einen triftigen Grund, um zu heiraten. Sein Gelabere über Familiengründung und vorrückendes Alter hat mich fuchsteufelswild gemacht, also hat er zu betteln und flehen angefangen, dann zu fluchen, um schließlich ein Donnerwetter auf mich herabzuschicken, weil ich kein Verständnis für seine Bedürfnisse habe, kein Entgegenkommen zeige, wo er mich doch so liebt und ein Leben mit mir plant usw. Ich hasse es, wenn einer mir Vorschriften machen will, wie ich mein Leben zu planen habe, und mich erpreßt mit seinen Gefühlen.“

Manchmal tut sie genau dasselbe mit ihren Männern, wenn sie Hals über Kopf in sie verliebt ist, aber das behält Michael im Augenblick für sich.

„Dann ist es sowieso aus, wenn jemand sich anmaßt, mir zu sagen, was gut für mich ist und auf was für ein gräßliches und trostloses Leben ich zusteuere, wenn ich nicht endlich seßhaft werde. Es hätte nur gefehlt, daß er von dem abfahrenden Zug und dem verpaßten Anschluß spricht, und ich hätte meinen können, meine Mutter vor mir zu haben. Bei der eigenen Mutter ist ein bißchen Mittelalter ja noch erträglich, aber bei einem Mann, mit dem eine Frau noch ins Bett gehen soll, da ist es dann aus mit der Lust!“

Hanna greift nach einem leeren Bücherkarton und stopft ihn unter den Ladentisch, sie zerknüllt das Einpackpapier, sammelt die Schnüre ein und hält Michael die Rechnungszettel hin.

„Thomas hat mich einfach falsch eingeschätzt, wie fast alle Männer sieht er eine Frau vor sich und macht sich dann bestimmte Vorstellungen. Daß ich aus Fleisch und Blut bin, und nicht zu vergessen aus einer Menge übermütiger Hormone, das hat er nicht verstehen wollen. Für ihn sind wir alle daraufhin programmiert, den Hafen der Ehe anzusteuern. Da hat es bei mir wohl einen Fabriksfehler gegeben. Ich habe es ihm ganz klar gesagt: Ich will mich noch austoben, mir ist ein einziger Schwanz noch nicht genug. Das muß ihn dann wohl etwas gekränkt haben!“

„Du redest dich wieder einmal auf den Sex hinaus, vielleicht liegt das Problem aber ganz woanders!“ entgegnet Michael ungehalten.

„Macht dir Sex immer noch Angst, Michi? Du bist zweiundzwanzig, bring es hinter dich, mach keinen Mythos daraus!“

Ohne daß er es will, spürt er plötzlich sein Gesicht brennen. Für einen Moment haßt er Hanna und ihre vorschnelle Zunge.

Eine eiserne Wendeltreppe, die von einer Spiegeltür an der Rückseite des Ladens weggeht, führt ins Magazin. Dunkle Eisenschränke erinnern daran, daß hier einmal eine Eisenwarenhandlung ihr Lager hatte. Das Surren irgendwelcher Generatoren dringt von den angrenzenden Geschäften durch die Wände, Reifenquietschen und unverständliches Menschengeschrei von nebenan, wo eine Videothek vor kurzem aufgetan hat. An der Wand hängen Verlagsplakate und Werbeposter für Bücher. Eine Neonröhre spendet blasses Licht.

Trotz der Abgeschiedenheit, der Stille und des leicht muffigen Geruchs fühlt Michael sich hier wohl, umgeben von bis an den Rand vollgepfropften Schränken, den Kartons und Ordnern mit Rechnungen und Verlagsprospekten. Ein etwas abgewetzter Perserteppich verleiht dem Raum eine wohnliche Note, und ein Heizkörper spendet im Winter wohlige Wärme. Jetzt, im Juni, ist er ausgeschaltet, bleibt stumm an die Wand gehakt wie das aufgezogene Blasgebälk einer Ziehharmonika.

Manchmal scheint ihm, er sei aus Wien fortgelaufen, um hier bei Hanna unterzukriechen, und es müßte etwas geschehen, ihn aus diesem ereignislosen Traum zu schrecken. Man verscherzt sich sein Leben nicht mit einem abgebrochenen Studium und planlosem In-den-Tag-hinein-Leben, denkt er und wünscht sich den Tag, der ihn aus seiner Lethargie reißen würde, herbei wie eine Strafe.

Es liegt erst einige Monate zurück, daß er angefangen hat, für Hanna die Buchhaltung zu machen und ihr auch sonst zur Hand zu gehen in dem Laden, und doch ist ihm, als wäre er schon seit eh und je hier, umgeben von diesen grob verputzten Wänden, stehend zwischen den Regalen, den Blick auf Buchrücken und Zahlenlisten gerichtet. Nur manchmal erfaßt ihn eine Unruhe, und alles scheint an ihm vorbeizufließen in einem dunklen Strom verpaßter Gelegenheiten. Dann denkt er an Hanna, denkt daran, daß sie ihm ein Glück ersetzen könnte, weil in ihrer Nähe die lähmende Unzufriedenheit von ihm genommen ist und alles Leben mit Händen zu greifen scheint.

Mit einem dumpfen Summton schaltet sich der Computer an, auf dem Schirm spulen sich weiße Buchstabenzeilen ab, Ziffern und Kürzel, bis das graue Feld erscheint, träge, in diesem matten Glimmen, ein leerer Fensterausschnitt.

Mit der Maus klickt er das Programm an.

4

Liebe Barbara,

sie rückt vom Tisch ab und hält die Hände mit dem Bogen Briefpapier von sich gestreckt, denn trotz der Brille sieht sie ihre Schrift ineinanderfließen wie durch tränende Augen, dabei ist sie bloß etwas aufgeregt, weil sie nicht weiß, was sie schreiben und der Barbara in der Steiermark von sich erzählen soll, wo so viele Jahre sich zwischen sie geschoben haben und die Wörter in die Ferne gerückt.

Magda geht mit dem Kopf etwas zurück, um auf ihre fahrig hingeschriebene Anrede hinabzuschauen, aber die Weitsichtigkeit ihrer Augen scheint ihr üble Streiche zu spielen, denn der sich schärfende Blick fällt auf eine zittrige Schrift, mit krakeligen Schleifen und vornüberkippenden Buchstaben, an der sie die eigene Handführung nicht wiedererkennt. Sie versteht nicht, woher das Zittern kommen soll, das Geschütteltwerden schon mitten in diesen ersten Worten.

Sie setzt den Füller ab und breitet die Hand auf den Tisch, um das Pochen im Gelenk zu beschwichtigen, doch da legt sich in ihrer Erinnerung eine andere Hand über die ihre und löscht sie aus, eine Mädchenhand, dunkelhäutig und kräftig, mit den sich abzeichnenden Adern und der rauhen Hornkruste, wo die Haut abgewetzt ist vom Halten der Rebschere, oder wo sie olivgrüne Fleckenränder zurückbehalten hat vom Saft der Weinblätter.

Lena braucht nicht lange hinzuschauen, dann erkennt sie schon, was Klara, ihre älteste Schwester, ihr zeigen will, den Knopf am linken Zeigefinger, den harten Auswuchs, der von Tag zu Tag anzuwachsen scheint, ein häßliches Auge, das von dem Fingerknöchel aus schielt, und beim Mittagessen, oder jedesmal, wenn die Mutter mit im Zimmer ist, zwischen den zusammengedrückten Fingern verschwinden muß.

„Leg die Hand neben deinen Teller!“

„Was hast du da? Zeig her, du mußt zum Arzt, gleich morgen nach dem Mittagessen, der macht das weg.“

Am nächsten Tag gibt es ein furchtbares Gewitter, dicke Regentropfen prasseln gegen die Fensterscheiben. Mitten am Nachmittag ist es stockfinster in allen Zimmern, in die Lena eingeschlossen bleibt, weil die Mutter bei dem Teufelswetter sie nicht außer Haus lassen will zum Herumstrabanzen. Nur Klara macht sich auf den Weg, mit Regenschirm und in Vaters Regenmantel gehüllt, der ihr zu groß ist. Die Mutter schaut ihr nicht nach, wie sie die Treppen hinuntersteigt, als würde sie von dem Regen, der ihr in den Rücken fällt, vorwärts gepeitscht und über die Straße gejagt. Sie hält sich nah am Gemäuer, am innersten Rand des Trottoirs, dann verschwindet sie um die Ecke.

Die Mutter steht vor dem großen Stubenfenster, wie in den Dielenboden gegossen, ein dunkler Schatten vor dem schmutziggrauen Regenvorhang, der in gläsernen Seidenfäden schief in die Fensterscheibe fällt, um dort zu zerfasern, in dünnen Rinnsalen an dem sich spiegelnden Gesicht abzurinnen. Als würde die Mutter weinen. Aber sie weint nicht, sie bemerkt auch nicht ihre Tochter, denn die schaut schon auf sich selbst und ist alt genug. Sie wartet darauf, daß das Trippeln gegen das Fensterglas einen härteren Ton annimmt und das Weiß plötzlich in dem Zinkgrau aufblitzt wie grobes Salz. Damit sich ihre Angst bestätigt: Der Hagel wird unsere Apfelernte vernichten, mit einem Schlag.

Am späten Nachmittag lichtet es sich, helle Umrisse brechen in der graugefügten Wolkendecke auf. Blitzende Zacken gleiten über die Spiegelflächen des Regens. Es tropft von der Dachrinne und den Ästen, und ein unregelmäßiges Ticken geht irgendwo im Haus. Vom Nebenzimmer dringt dumpf Klaras Heulen, verebbt für kurze Zeit und hebt dann in einem ergebenen Raunen wieder an, als spräche die Schwester ein endloses Reuegebet laut vor sich hin.

„Macht die Anstalten, wehleidig wie sie ist!“ Jetzt kann sich die Mutter anderen Dingen zuwenden, froh darüber, daß es nicht gehagelt hat. Und sie, ihre jüngere Tochter, schämt sich ein bißchen für Klara, weil sie jetzt weint wegen einer Kleinigkeit. Am liebsten möchte sie sich die Ohren zuhalten, um sich das nicht weiter anhören zu müssen, denn dieses Geflenne verträgt sich schlecht mit der herrischen Überlegenheit, die Klara sonst immer an den Tag legt und mit der sie das Vorrecht der ältesten Schwester wahrnimmt.

Wochen später vertraut ihr Klara die ganze Geschichte an, das Stirnrunzeln des Arztes, sein unverständliches Gemurmle, dem sie zu folgen suchte, um mitzukriegen, was auf sie zukäme, weil in dem kalkweißen Raum mit den Glasvitrinen, den lakenbespannten Patientenliegen, den Nadeln und Spritzen, den in einer Aluminiumschale bereitliegenden, seltsam geformten medizinischen Instrumenten plötzlich alles möglich war.

„Das Beste ist, wir schneiden es weg!“

Sie hatte nicht richtig hingehört, sich am Armgelenk fassen lassen und zu spät das Messer in der anderen Hand des Arztes ausholen gesehen, sodaß ihre Hand nur ein wenig zuckte, bevor das Blut herausgeschossen kam, und sie nichts spürte, als die scharfe Schneide des Messers wie eine geschliffene Sichel die Warzenhaut wegsäbelte. Fühllos stand der Finger ab von ihrer Hand, als wären alle Nervenenden durchtrennt worden. Erst als sie aus ihrer Benommenheit erwachte und der Arzt ihren Finger verband, schoß der Schmerz in sie wie nachfließendes Blut.

Es war der Schock, der sie so heulen ließ, die erlittene Schmach. Aber mit solchen Erklärungen hielt man sich damals nicht lange auf. Auch ansonsten war es undenkbar, zur Mutter zu laufen und sie mit Problemen zu behelligen, man hätte nicht gewußt, was sagen, mit welcher Bitte oder Frage an sie herantreten, denn ein Grund konnte nie dringlich genug sein, die Mutter aus ihrer Plackerei herauszureißen. Immer schien es, als würde man ihr ins Wort fallen, oder sonst eine Ungehörigkeit begehen, wenn man mit seinen Kleinigkeiten angelaufen kam, mit irgendeinem Kinderkram.

„Das wirst du schon noch lernen.“

„Wer hat dir denn das schon wieder eingeredet?“

Kein Wort über das Notwendige hinaus.

Nur einmal ging Lena ohne zu zögern zu ihrer Mutter, bettelte, versprach ihr alles, das Wenige, was ein folgsames Kind geloben konnte, wenn sie sie nur aus der Schule nahm.

Sie würde das ihrer Mutter nie vergessen, daß sie ihr damals diesen einen Wunsch erfüllt hat.

Im übrigen war es schwierig, die Mutter nicht zu ärgern, so sehr man sich auch zusammennahm und alle Regeln zu befolgen suchte, denn mancher Versuchung konnte man einfach nicht widerstehen und für manche Fehler war man zu dumm, sie zu begreifen. Der Übeltäter war sich seiner Schande gleich bewußt, ein Blick der Mutter konnte einen zusammenstauchen zu einem wertlosen Nichts. Sie hielt sich nicht mit Predigten auf, ehe sie sich lange auf die Wörter besann, kamen schon die Schläge, daß man besser daran tat, gleich zu spuren auf ihren Fingerzeig hin.

„Was soll der Dreck in der Küche?“

„Bevor nicht abgespült ist, gehst du mir nicht aus dem Haus!“

„Und schleich dich nicht immer so heran, Lena, du erschreckst mich jedesmal!“

Ein einziges Mal war das Unglück groß genug, sogar die Mutter in die Knie zu zwingen. Magda erinnert sich an den Tag, an dem sie ihre eiserne Beherrschung verlor, an dem ihr die Maske der Strenge vom Gesicht glitt, und ihre ganze Hilflosigkeit wie eine darunterliegende, ungeschminkte Haut zum Vorschein trat. Später wollte Lena nicht mehr so recht daran glauben: War ihre Mutter damals wirklich so in Sorge? Hat sie sie weinen gesehen?

Direkt an den Bauernhof schloß ein Bauplatz an, auf dem ein Hochhaus entstehen sollte, eines von vielen, die mit der Zeit um sie herum aus dem Boden gestampft wurden, sie einzukreisen von allen Seiten und ganz einzudecken mit Schatten, emporragendem Zement und dunklen Fensterlöchern. Am Rand des Kraters, vor einem mannshohen Zaun standen Holzspulen, einige davon mit nahezu zwei Metern Durchmesser, auf denen zuvor noch Draht oder anderes Kabelmaterial aufgewickelt gewesen war. Die Rollspur war von kleinen Holzleisten durchzogen, die wie die Sprossen einer Leiter einem geübten Kletterer Halt gaben, sich aufzuschwingen in schwindelerregende, schaukelnde Höhen.

Wenn einer gegenstützte, damit die Rolle einem nicht unter den Beinen entwischte, konnte der andere, mit seinen Zehenspitzen sich am äußersten Rand abstützend, sich hochziehen lassen, genau so, als würde man eine träge Menschenlast aufwinden. Wer einmal den Scheitelpunkt erreicht hatte und die Balance zu halten verstand durch geschickte Beinarbeit, der wurde mit einer überwältigenden Aussicht belohnt, weil man in augenblicklicher Schnelle zu einem Riesen heranwuchs. Wie auf langen Stelzen überragte man alle anderen, der Blick wurde weit, wie ein fächerförmig sich öffnendes Augenfenster. Das in Augenhöhe Gewohnte wurde zusammengestaucht zu einem bedeutungslosen Etwas am Sehrand. In der neuen Aussichtshöhe spannten sich die karmesinroten Ziegeldächer wie Schirme in der Ferne und die Fensterbögen starrten wie Mundhöhlen vor einem, daß der Mörtel schlampig hingekleistert schien und nicht ebenmäßig glatt wie vom Boden aus gesehen.