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Ein Fall für den sogenannten "Geheimnis-Krämer" - ein Thriller von Besteller-Autor Markus Heitz! - Exklusiv als E-Book! Es fallen Schüsse im Gerichtssaal von Leipzig. Der Richter selbst hält die Waffe in den Händen und erschießt mehrere Verbrecher, teils auf der Anklagebank, teils im Zuschauerraum. Was zuerst wie ein Rachefeldzug des todkranken Richters Rotmann aussieht, entwickelt sich zu einer wohldurchdachten Mordserie. Täter und Orte sind stets verschieden. Nur eine verstörende Gemeinsamkeit, ein kurzer Satz, findet sich immer am Tatort wieder: »Gott mit uns«. Tycho Krämer, Millionär und Ermittler aus Spaß am Geheimnis, versucht herauszufinden, ob jemand im Hintergrund die Fäden zieht, um vermeintlich böse Menschen umzubringen. Seine Recherchen führen ihn von Leipzig nach Berlin und Hamburg bis nach Wien und Monte Carlo. Wo liegt die Verbindung und wieso sterben die Mörder kurz nach ihrer Tat? Aber auch Krämer hat Geheimnisse, die er keinesfalls gelüftet wissen möchte ... »Lyssa« von Markus Heitz ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!
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Seitenzahl: 301
Markus Heitz
Lyssa
ein Geheimnis-Krämer-Fall Thriller-Novelle
Knaur e-books
Ein Fall für den sogenannten »Geheimnis-Krämer« - ein Thriller von Besteller-Autor Markus Heitz!
Es fallen Schüsse im Gerichtssaal von Leipzig. Der Richter selbst hält die Waffe in den Händen und erschießt mehrere Verbrecher, teils auf der Anklagebank, teils im Zuschauerraum. Was zuerst wie ein Rachefeldzug des todkranken Richters Rotmann aussieht, entwickelt sich zu einer wohldurchdachten Mordserie. Täter und Orte sind stets verschieden. Nur eine verstörende Gemeinsamkeit, ein kurzer Satz, findet sich immer am Tatort wieder: »Gott mit uns«. Tycho Krämer, Millionär und Ermittler aus Spaß am Geheimnis, versucht herauszufinden, ob jemand im Hintergrund die Fäden zieht, um vermeintlich böse Menschen umzubringen. Seine Recherchen führen ihn von Leipzig nach Berlin und Hamburg bis nach Wien und Monte Carlo. Wo liegt die Verbindung und wieso sterben die Mörder kurz nach ihrer Tat? Aber auch Krämer hat Geheimnisse, die er keinesfalls gelüftet wissen möchte ... Exklusiv als eBook!
Sämtliche im Roman geschilderten Begebenheiten entspringen Erdachtem.
Ähnlichkeiten zu lebenden, toten und erfundenen Personen, Institutionen, Einrichtungen, Organisationen et cetera sind rein zufällig – abgesehen von den im Roman erwähnten historischen Fakten, die jedoch wiederum mit Fiktion verknüpft wurden. Welch Durcheinander – aber so ist das Leben.
Deutschland, Sachsen, Leipzig
»Das erlebt man selten.« Tycho A. Krämer sah sich kurz im Saal um, in dem es keinen freien Platz gab. Er erkannte vor allem Reporter, lokale und überregionale, sowie freie Journalisten, wie er einer war, dazu ein halbes Dutzend aus dem Ausland. Dann saßen da noch eine Handvoll Neugieriger und die Familienangehörigen des Angeklagten: des russischen Paten von Leipzig.
Tychos unbekannte Sitznachbarin reagierte auf seinen Kommentar nicht, sondern schrieb altmodisch in ihr schwarzes Notizbuch.
Es herrschte fühlbare Anspannung unter den Zuschauern und unter den Beteiligten des Prozesses.
An den Türen standen gepanzerte Polizisten mit Maschinenpistolen, ebenso in der Nähe des Russen in auffälligem Trainingsanzug. Die Sicherheitsvorkehrungen am Einlass waren rigoros gewesen. Niemand hatte ein Handy mit hineinnehmen dürfen, erlaubt wurden nur Diktafone, Papier und Block.
Dann kann ja wenig schiefgehen. Tycho strich sich über die halblangen, grauen Haare und richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Sein Rücken schmerzte für eine Sekunde, rebellierte gegen die hastige Bewegung. Das kannte der Mittfünfziger zu gut.
»Schildern Sie dem Gericht nochmals, was Ihnen der Angeklagte in jener Nacht vom 23. März 2012 persönlich auftrug, Herr An…« Staatsanwalt Fred Rochinsky stockte und warf einen Blick auf die Akte vor sich.
»Anissimow«, half ihm der Mann im billigen grauen Polyesteranzug halblaut aus, der sich im Zeugenstand befand. Seine Augen zuckten zur Seite, der Blick richtete sich auf die Anklagebank, die hinter einer schusssicheren Glaswand lag.
Dort saß ein breitschultriger älterer Mann in auffälligem rot-goldenem Jogginganzug, der auf Brusthöhe einen Aufnäher mit dem Schriftzug Billionaire Club trug. Sein Kopf mit den kurzen grauen Haaren war leicht in die Höhe gereckt, das Kinn mit dem getrimmten Lenin-Bart zielte auf den Zeugen, als könnte er damit schießen und töten.
Rochinsky nickte. »Entschuldigen Sie, Herr Anissimow.« Er machte eine auffordernde Geste. »Bitte.«
Der Zeuge räusperte sich, faltete die Hände, das rechte Bein zitterte in einem nervösen Tic. Er zwang sich, den Blick vom Angeklagten auf den Staatsanwalt zu richten.
»Ich wette, dass er schweigt«, wisperte Tycho seiner Sitznachbarin im gefüllten Zuschauerraum des Landgerichts zu. »Sogenannte Angstamnesie.«
Sie schrieb ihre Notizen unbeeindruckt in ihr schwarzes Buch. »Was für eine Amnesie?«
»Furcht. Vergessen aus Furcht.«
Tycho drehte den Kopf und musterte Anatol Bilunov, der statuenhaft auf dem Stuhl saß, die Hände locker auf den Knien, die Augen unverwandt auf Anissimow gerichtet, während sein Gesichtsausdruck lautlose Flüche des Verderbens schleuderte.
»In meiner Laufbahn ist mir so ein Blick noch nie begegnet«, raunte er seiner Sitznachbarin zu, seine Stimme klang rau wie ein Reibeisen.
»Herr …« Sie schaute einen halben Herzschlag lang auf seinen Presseausweis. »… Krämer, ich versuche, mich zu konzentrieren.«
»Aber Anissimow redet doch gar nicht.«
Sie rollte mit den Augen. »Irgendwann muss er …«
»Ich kann mich nicht erinnern, Herr Staatsanwalt«, sagte der Russe mit leichtem Akzent ins Mikrofon, seine leise Stimme hallte verstärkt aus den Boxen, und sofort ging ein Raunen durch den Raum. »Ich weiß auch nicht mehr, wo ich das Handy habe, auf dem das Gespräch aufgezeichnet ist.«
»Wie bitte?« Rochinskys Kopf schnellte hoch, sein fassungsloser Blick sprach Bände. »Sie wollen mich wohl verarschen!«
Anissimows Verteidiger sperrte den Mund auf vor Überraschung und fing sich nur mit Mühe, flüsterte seinem Mandanten hastig was ins Ohr.
»Herr Staatsanwalt. Bitte achten Sie auf Ihren Tonfall«, kam es tadelnd vom Vorsitzenden Richter, der sich dann an den Zeugen wandte. »Herr Anissimow, ich verstehe, dass es nicht leicht für Sie ist, gegen den Angeklagten auszusagen. Aber Ihr Rechtsbeistand hat im Vorfeld des Prozesses eine Kronzeugen-Regelung ausgehandelt«, fasste er bestimmt, doch ruhig zusammen. »Sie wissen, dass diese Regelung nur gilt, wenn Sie aussagen und die versprochenen Beweise vorlegen?«
Das Murmeln im Saal hörte nicht auf. Die Journalisten reckten die Aufnahmegeräte, um jedes Wort zu erhaschen.
Wie hieß der Vorsitzende noch gleich?
Tychos Sitznachbarin schrieb wie der Teufel, auf dem Papier stand: Vors. Ri. Rotmann hakt ein.
Er wandte sich halb um, langsam und vorsichtig, wegen seines Rückens, und betrachtete die Reihen mit den Angehörigen und Neugierigen.
Wenn er sich nicht sehr irrte, befand sich unter ihnen auch Pavel Horák, der schärfste Konkurrent des Paten. Zwar trug er Hut, Bart, Sonnenbrille und Schal, aber wenn man wusste, wer er war, erkannte man den schmächtigen Tschechen sofort. Auch zwei Rocker der HellHounds lungerten im Saal, unschwer am Outfit zu erkennen. Sie saßen in den Startlöchern, um ihre Macht in Leipzig auszudehnen, und die Präsenz beim Prozess sollte ihren Anspruch untermauern.
Tycho fuhr sich ordnend durch den schwarz-silbernen Schnauz-, dann über den Kinnbart. Er vermutete, dass Horák hinter der Verhandlung steckte und einige halb Hinweise platziert hatte. Dummerweise würde es ohne die Aussage und Beweise des festgenommenen Helfers schwer werden, Bilunov beizukommen.
»Das weiß ich, Herr Vorsitzender«, antwortete Anissimow stockend. »Aber ich bin heute Morgen in meiner Zelle gestürzt. Schwer gestürzt. Und seitdem weiß ich einiges aus der Vergangenheit nicht mehr. Sie können den Gefängnisarzt fragen.«
Die Miene des Tschechen verfinsterte sich. Er lehnte sich nach vorne und zeigte seine Goldarmbänder sowie die Tätowierungen an den Handgelenken, die sich unter dem Hemd sicherlich weiter nach oben zogen. Spätestens nun gab es keinen Zweifel mehr an seiner Identität.
Bilunov indes erlaubte sich ein Lächeln und senkte den Kopf, der Bart zeigte schräg nach vorne auf den Boden. Der Pate witterte bereits das Ende des Prozesses.
»Geben Sie sich Mühe!«, herrschte Rochinsky Anissimow an. »Mann, wegen Ihrer Aussage machen wir den ganzen Aufriss!«
»Herr Vorsitzender! Der Staatsanwalt will den Zeugen zuungunsten meines Mandanten beeinflussen und unter Druck setzen!«, erhob Bilunovs Verteidiger sofort Einspruch. An seiner Stimme war deutlich herauszuhören, dass er sich keinesfalls über die Amnesie wunderte.
Rotmann nickte beschwichtigend. »Langsam, Herr Kollege.« Seine Blicke richteten sich auf den Zeugen. »Ich erkläre Ihnen noch einmal, welche Folgen es für Sie hat, die Aussage zurückzuziehen. Ihnen konnten zwei Morde nachgewiesen werden, die Beweise sind eindeutig, und Sie wurden von zwei Zeugen dabei gesehen und identifiziert. Dazu kommen, und das nenne ich nur der Ordnung halber: mehrfache Körperverletzung, illegaler Waffenbesitz, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz.« Er legte die Hände zusammen. »Damit verschwinden Sie lebenslänglich im Gefängnis, Herr Anissimow. Ist Ihnen das bewusst?«
Tycho sah, dass des Paten Verteidiger den Mund öffnete und wieder zuklappte.
Anissimow wand sich. »Ich weiß, Herr Vorsitzender.«
»Sie sagten aus, dass Anatol Bilunov Ihnen den Auftrag erteilte, die beiden Menschen umzubringen, deren Tod Ihnen nachgewiesen wurde«, preschte Rochinsky wütend vor. »Sie haben es unterschrieben, Menschenskind! Und Sie sagten, Sie haben es aufgezeichnet!«
»Aber mein Kopf«, erwiderte Anissimow verzweifelt und berührte sich im Nacken. »Schmerzt. Alles ist weg. Und da ich es nicht weiß, kann ich es nicht wiederholen oder zugeben.« Er sah verstohlen zum Paten.
Bilunovs Verteidiger erhob sich siegessicher. »Hohes Gericht. In Anbetracht der Umstände erbitte ich eine Freilassung meines Mandanten. Er wird die Geldsumme von zwanzigtausend Euro wegen wiederholten Fahrens ohne Führerschein natürlich bezahlen und die Punkte in Flensburg akzeptieren.« Aufwendig blätterte er in seinen Akten hin und her. »Nein, sonst konnte ihm nichts angelastet beziehungsweise bewiesen werden, wenn ich die Unterlagen richtig studierte.«
»Ich beantrage Untersuchungshaft für den Angeklagten, bis unser Zeuge seine Erinnerung zurückerlangt hat«, sprach der Staatsanwalt aufgebracht.
»Einspruch«, rief Bilunovs Verteidiger sofort. »Es liegen keine Gutachten zur voraussichtlichen Dauer dieses Erinnerungsverlustes des Zeugen vor. Sie können meinen Mandanten nicht auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam halten.«
»Dann Untersuchungshaft für die Dauer der gründlichen medizinischen Untersuchung, die genaue Auskunft über das Krankheitsbild des Zeugen gibt.« Rochinsky schüttelte leicht den Kopf, ohne die Blicke von Anissimow zu wenden, als versuchte er, in dessen Kopf zu lesen, welche Gründe dieser Rückzug hatte. »Herr Vorsitzender, beim Angeklagten ist Fluchtgefahr gegeben. Er verfügt über genügend finanzielle Mittel und Kontakte. Wir werden ohne einen Gewahrsam nicht verhindern können, dass er untertaucht.«
Ich hätte darauf wetten sollen. Tycho fand den Fall mäßig spannend, auch wenn die Aufregung im Gerichtssaal wogte. Die Wendung überraschte ihn nicht. Jeder hatte mit der Einflussnahme auf den Zeugen gerechnet, der die Bombe spektakulär im Zeugenstand platzen ließ.
Bilunov, dem manch einer Zugehörigkeit zum Ismailowskaja-Kartell nachsagte, entging den Gerichten schon seit Jahren – warum sollte sich das ändern? Kein Mensch war eine Insel, auch nicht Anissimow, und wenn man dessen Umfeld bedrohte, bekam die eigene Erinnerung eben Lücken.
Tycho betrachtete Pavel Horák, der mehr und mehr die Farbe aus dem Gesicht verlor. Er schien bereits an neuen Plänen herumzudenken, um zu verhindern, dass ein Killerkommando oder Bilunov persönlich demnächst vor seiner Tür stand. Die beiden HellHounds hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten.
Alle Augen richteten sich auf den Vorsitzenden Richter, der sich Notizen machte und wohl abwog, was zu tun war.
»Das Gericht wird sich aufgrund der neuen Gegebenheiten gleich zur Beratung zurückziehen und die Verhandlung für eine halbe Stunde unterbrechen«, verkündete Rotmann und legte den Stift zur Seite. »Aber bevor ich das tue, bitte ich Sie, Herr Anissimow, aufzustehen und mit mir hinüber zum Angeklagten zu gehen.«
»Äh«, machte Anissimows Beistand überrumpelt. »Ich weiß nicht, ob das der Prozessordnung …«
»Es dauert nur eine Minute. Vielleicht wird es die Erinnerung des Zeugen zurückbringen.«
Der Vorsitzende erhob sich und verließ seinen Platz, umrundete den Tisch und begleitete den Zeugen zur Überraschung sämtlicher Personen im Saal zu Bilunov. Mit einer knappen Anweisung ließ Rotmann die schwere Sicherheitsglaswand zur Seite schieben, sodass sich Anissimow und Bilunov gegenüberstanden. Auge in Auge, Atem in Atem.
Nun wird es spannend. Tycho fand den Vorsitzenden erfrischend anders.
Die Polizisten reckten sich, ließen ihre Blicke aufmerksam über die Menge schweifen. Die Zuschauer verstummten, weil sie jedes Wort vernehmen wollten.
»Sehen Sie genau hin: Dieser Mann«, begann Rotmann und zeigte auf den Paten, »ist mutmaßlich beteiligt an den schlimmsten Verbrechen der letzten Jahre in Leipzig, in Sachsen, in Berlin und in Sankt Petersburg. Nachweisen konnten ihm weder die russischen noch die deutschen Behörden etwas.«
Bilunovs Wangenmuskeln zuckten, er presste die Zähne zusammen und richtete den Kopf langsam in die Höhe, sodass der getrimmte Spitzbart wieder auf Anissimow wies. »Ich protestiere«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Das ist …«
Rotmann brachte ihn mit einer energischen Geste zum Verstummen.
»Unglaublich«, murmelte Tycho und hatte die spontane Idee, über diesen Vorsitzenden, von dem er nichts wusste, ein Feature zu machen. Ein persönliches Interview.
»Sehe ich auch so«, pflichtete seine Sitznachbarin bei.
»Herr Anissimow. In den Augen Ihres Gegenübers können Sie die Schuld und die Gnadenlosigkeit ablesen, mit der er seine Geschäfte weiterbetreiben wird, sollte es nicht zu einer Verurteilung kommen. Ich appelliere an den schäbigen Rest Ehre in Ihrem Leib«, sprach Rotmann eindringlich. »Wagen Sie es, die Wahrheit auszusprechen. Was immer der Angeklagte Ihnen androhte – wir können es verhindern.«
Bilunov lächelte kalt und stieß einen verächtlichen Laut aus. Weder der Staatsanwalt noch die Rechtsbeistände trauten sich, die Stimme zu erheben und sich einzumischen.
»Sehen Sie, wie er Sie verabscheut, Herr Anissimow? Er würde Sie umgekehrt in einem Prozess mit seiner Aussage sofort über die Klinge springen lassen, wenn es ihm Vorteile brächte.« Rotmann blickte zum Angeklagten. »Ich habe keine Angst vor Ihnen, Herr Bilunov. Und wenn mir der Zeuge die Aussage liefert, die wir brauchen, verschwinden Sie für eine lange Zeit in einer Zelle.«
Nun wurde geraunt, spontaner Beifall erklang von den Zuschauern. Tycho vermutete Angehörige der Opfer. Der Tscheche grinste gehässig.
»Herr Vorsitzender, das ist nun genug spektakulärer Appell. Mein Antrag auf Freilassung besteht weiterhin«, hakte der Verteidiger ein. Er schien seinen Mut wiedergefunden zu haben. »Unterbrechen wir jetzt?«
Plötzlich lehnte Bilunov den Opferkörper leicht nach vorne, er ignorierte den warnenden Zuruf seines Beistands. »Ich denke nicht, dass Sie die Aussage bekommen, Herr Vorsitzender«, entgegnete er kalt. »Dieser Mann fantasiert. Ein solches Gespräch zwischen ihm und mir fand niemals statt. Also kann es keine Aufzeichnung geben.«
Ein Mann und eine Frau sprangen erregt auf und schrien in Russisch quer durch den Raum, schüttelten die Fäuste und mussten von ihren Begleitern zurückgehalten werden. Sicherheitskräfte eilten sofort nach vorne, um eventuelle Angreifer abzufangen.
Der Tumult war laut, blieb jedoch überschaubar, wenngleich er die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog und band.
Tycho hingegen betrachtete unverwandt Bilunov, Anissimow und Rotmann. Er wollte wissen, was die Ansprache des Vorsitzenden ausgelöst hatte.
Der Zeuge schluckte, erbleichte. »Ich … ich kann nicht«, raunte er kaum verständlich.
»Halt!«, erklang der Ruf eines Polizisten, als ein Mann in teuren Joggingklamotten über die Absperrung flankte und wütend zur Anklagebank stürmte; er drohte und fuchtelte mit den Armen. Im Vorbeigehen nahm er sich einen Kugelschreiber aus der Hand eines verdutzten Journalisten und hielt ihn wie ein Messer zum Stoß gereckt.
Zwei, drei Uniformierte warfen sich auf den schreienden Angreifer und rangen ihn zu Boden, wo er tobte und weiterbrüllte.
Tycho ließ sich nicht ablenken – und sah, wie Rotmann unter seine Robe langte und etwas herauszog, während der gesamte Saal auf den lauten Mann am Boden blickte. Eine Pistole! Bevor er eine Warnung ausstoßen konnte, feuerte der Vorsitzende.
Die erste Kugel traf Bilunov von unten ins Kinn; der Pate brach zusammen und kassierte im Fallen eine zweite Kugel durch den Hals, Blut spritzte. Der gepflegte Bart zerfledderte durch den Druck der Treibladung.
Das dritte Geschoss bahnte sich seinen Weg durch Anissimows rechtes Auge, das vierte jagte in die Brust. Auch er fiel nieder, wo er stand.
Die Menschen schrien auf und wussten zunächst nicht, woher die Schüsse kamen. Die bewaffneten Polizisten rissen die Maschinenpistolen in den Anschlag, die Mündungen schwenkten suchend umher und richteten sich auf die HellHounds, die sofort die Arme hoben.
Tycho konnte die Augen nicht von Rotmann wenden, der den Staatsanwalt zurückstieß und auf den Tschechen anlegte, dann den Abzug dreimal betätigte, als habe er das hundertmal geprobt.
Alle Projektile fanden ihr Ziel, trafen Brust und Kopf. Horák fiel nach vorne und hing über der Absperrung, während sein Blut auf den Boden plätscherte.
Scheiße, was wird das? Tycho ging im Gegensatz zu den meisten Leuten nicht in Deckung.
Rotmann schritt mit vorgehaltener Waffe auf die Zuschauerbank zu. Einer der HellHounds warf einen Stuhl nach ihm und tauchte ab, aber der Richter wich aus und setzte seinen Weg fort.
Die Polizisten hatten ihn anvisiert, riefen ihm zu, er solle die Pistole weglegen. Keiner wagte es, auf den Vorsitzenden zu schießen. Die Verwirrung war zu groß.
Tycho sah den Richter auf sich zukommen, der lange Lauf zitterte nicht ein bisschen. Als der Mann nach den Rockern schoss, eröffnete der erste Polizist das Feuer und traf ihn ins Bein.
Aber Rotmann blieb stehen und feuerte weiter auf die krauchenden HellHounds, die unter den Einschlägen aufkreischten. Drei weitere Projektile trafen den Vorsitzenden in den rechten Arm, in die Schulter und die Brust, sodass er seine Waffe fallen ließ.
Aber er stand noch immer und bückte sich schwankend, um die Pistole mit der anderen Hand aufzuheben.
Tycho glaubte nicht, dass Rotmann eine Weste trug, dafür lief zu viel Blut aus der Torsowunde. Was hat der Mann für eine Konstitution!
Die Polizisten schrien ununterbrochen, er solle aufgeben, aber Rotmann fischte keuchend nach der Waffe und richtete sich auf. Es hatte etwas Erhabenes, wie er da stand, in der Robe, die Pistole in der Hand und voll mit seinem eigenen Blut, das ihn mit Spritzern bemalte und auf den Boden tropfte.
Als habe die Justiz unvermittelt aus Recht Gerechtigkeit werden lassen. Tycho sah Rotmann in die Augen mit den winzigen Pupillen – und las nichts anderes als Zufriedenheit. Glück. Genugtuung und Überzeugung, das Richtige getan zu haben.
Lächelnd richtete Rotmann den Blick auf ihn und hob den Waffenarm Stück um Stück, aber nicht, um auf ihn anzulegen. »Gott mit uns«, wisperte er. »Mehr besiegt, als ich dachte.«
Es knallte mehrmals hintereinander.
Die Einschläge der Geschosse in die Seite des Vorsitzenden brachten ihn zum Taumeln. Er ruderte mit den Armen, dann stürzte er unbeholfen vor dem Richterpult nieder und riss zwei Stühle mit um.
Tycho verfolgte, wie der Blick des Richters brach, während zwei Polizisten herbeisprangen und ihm die Pistole aus der Hand traten.
Jetzt gehörte diesem Vorfall Tychos gesamte Aufmerksamkeit, das Vorhersehbare war durch das Unglaubliche ersetzt worden. Doch das persönliche Interview mit Rotmann konnte er vergessen.
Deutschland, Sachsen, Leipzig
»Du bist echt ein Phänomen«, sagte Elisabeth mit schlafmatter Stimme.
Tycho hob den Blick von dem Bericht, den er auf dem Tablet intensiv studierte, und sah zu seiner Lebensgefährtin, die unter der Decke im Bett gegenüber vom Tisch lag. »Weil?«, erwiderte er und lächelte. Er trug einen grau-schwarz-weiß karierten Bademantel, neben ihm dampfte eine Tasse Kaffee.
Sie befanden sich im einzigen Raum seiner Wohnung, auch wenn der dreihundert Quadratmeter umfasste. Das Obergeschoss einer ehemaligen Brauerei hatte sich Tycho unter den Nagel gerissen und modernisieren lassen. Riesige Glasfenster erlaubten den Blick über Ost-Leipzig und bis zum Südfriedhof, wo sich die Türme des Krematoriums erhoben. Panorama pur.
»Weil du schon wieder am Kramen bist.« Elisabeth zog die Decke zurecht und sah ihn an. Ihre langen schwarzen Locken lagen zerzaust um ihren Kopf und malten abstrakte Muster auf das helle Kissen. »Wir sind erst vor fünf Stunden ins Bett.«
Tycho warf ihr einen Kuss zu. »Und es war wundervoll.« Er tippte auf das Tablet. »Aber das hier ist zu spannend, um sich nicht damit zu beschäftigen.« Er goss ihr einen Kaffee ein. »Extrastark, Frau Oberkommissarin. Du musst in zwei Stunden zum Dienst.«
Sie stieß einen entnervten Stöhnlaut aus, der zeigte, dass es viel zu früh für sie war, doch sie stieg aus den Laken, gekleidet in eine schwarze Frottee-Hotpants und ein viel zu weites weißes T-Shirt. »Mein Vater wird mich mal wieder anschreien, wenn er rausbekommt, dass ich dir die Unterlagen mitbrachte.« Sie kam zu ihm, küsste ihn auf den Kopf und setzte sich auf den freien Lehnstuhl, der noch aus dem Biedermeier stammte.
Wild verstreut und ohne erkennbares Muster verteilten sich Möbel aus den verschiedensten Epochen in dem Loft, das Bad mit der riesigen frei stehenden Badewanne mittendrin. Es gab nur ein winziges Gästeklo, das die Bezeichnung Raum nicht verdiente und das man durch eine separate Tür erreichte. Das Loft war eine einzige Wohnlandschaft, über dem sich ein Balkenhimmel spannte, aus dem Boxen und Lampen baumelten.
»Er ist es doch gewohnt, dass ich überall auftauche.« Tycho schob Brötchentüte, Butter und alle anderen Frühstückszutaten zu ihr hin, dann drückte er auf dem Tablet herum, und schon erklang leise klassische Musik aus einem Dutzend Boxen.
»Was nicht bedeutet, dass es ihm gefallen muss.« Elisabeth gab Zucker in den Kaffee und rührte, ohne dass der Löffel gegen das Porzellan klirrte. »Du weißt, wie sie dich seit dem Nebel-Fall nennen?«
»Neureiche Nervensäge?«
»Geheimnis-Krämer.«
Tycho lachte. »Gar nicht schlecht.« Er legte das Tablet hin und sah die junge Frau liebevoll an. »Hast du über meinen Antrag nachgedacht?«
Elisabeth grinste frech und nahm einen Schluck. »Ein Mittfünfziger will eine Mittzwanzigerin heiraten, die noch dazu eine Polizistin ist, deren Vater den Sprung zum Kriminalrat macht und den Mittvierziger hasst. Ja, klingt nach einer guten Idee.«
»Aber ich bin wohlhabend!«, warf Tycho gespielt entrüstet ein. »Ich bin eine gute Partie. Du wirst alles erben. So alt, wie ich schon bin.«
»Und hattest vor mir wie viele Freundinnen und Affären?«, hielt sie dagegen. »Ich kenne Zwanzigjährige, die gegen diese Zahl keine Chance hätten.«
»Du schmeichelst meinem Rücken.« Er wurde ernst. »Du bist die Erste, der ich einen Antrag machte.«
Elisabeth verlor das Ironische. »Das hat mich auch sehr gerührt und bewegt, aber lass mir Zeit. Wir sind erst seit einem halben Jahr zusammen.« Sie lehnte sich zurück, sodass ihr weites Shirt verrutschte und den Blick auf die Ansätze ihrer festen, prallen Brüste freigab. »Da ist der Sex auch noch wild und heiß.« Nun klang sie wieder herausfordernd.
»Das wird er bei uns immer sein.«
»Dreißig Jahre Altersunterschied«, murmelte sie neckend und nahm sich ein Brötchen.
»Dann ist er eben faltig, wild und heiß.« Tycho sah auf ihren Hals und ihre Oberweite, die sich gegen den Stoff wölbten. »Sehr schade, dass du zum Dienst musst.«
»Du bist ein mieser Schauspieler. Ich sehe dir an, dass du dich gerne mit dem Fall beschäftigst.« Elisabeth schnitt das Brötchen auf, warf Wurst, Gewürzgurkenscheiben und Käse drauf und klappte die Hälfte darüber, um gleich abzubeißen.
Tycho nahm einen Schluck Kaffee, zubereitet von einem sehr teuren Vollautomaten. Seit dem Lottogewinn vor zwei Jahren hatte sich sein Leben insofern verändert, dass ihn keine Geldsorgen mehr plagten und er tun und lassen konnte, was er wollte.
Allerdings: Einmal Reporter, immer Reporter.
Als »freier Aufklärer«, wie er sich gerne bezeichnete, ging er den Fällen nach, die ihn interessierten. Mal waren sie groß, mal klein, aber sie endeten meistens mit einer Überraschung, weil Tycho nicht lockerließ und suchte und – genau: – kramte. Das Geld erleichterte ihm manches Mal, an Informationen zu kommen.
»Mein Vater verglich dich vor Kurzem mit zwei Typen aus einer Fernsehserie«, sagte Elisabeth zwischen zwei Bissen. »Eine Mischung aus Danny Wilde und Lord Brett Sinclair. Ich musste erst im Internet nachschauen, wen er meint.«
Tycho grinste. »Die Zwei.« Eine englische Serie über einen reichen großmäuligen Amerikaner und einen adligen versnobten Briten, die in Kriminalfälle verwickelt wurden. »Ich bin beide?«
Sie nickte. »Er meinte das nicht schmeichelhaft, glaube ich.« Tycho riss sich von ihrem Anblick los und sah auf das Tablet.
Die Bericht- und Nachberichterstattung über den blutigen Verhandlungstag in der 3. Strafkammer des Leipziger Landgerichts lief auf vollen Touren.
Die Boulevardpresse nannte Rotmann reißerisch Judge Dredd, manche Richter Amok, andere Gerechtigkeitsrichter. Nationale und internationale Medien brachten Meldungen über die »gezielten Hinrichtungen«, wobei niemand zu Schaden gekommen war außer den Verbrechern. Und final Rotmann.
Elisabeth hatte Tycho die Liste der Opfer, deren Akten und die ersten Ermittlungserkenntnisse mitgebracht. Dazu kamen Fotos aus dem Haus des Richters, die Ergebnisse der Durchsuchung und die Obduktionsberichte der Leichen.
Was er las, bestätigte ihn in seiner Annahme, einer Sache auf der Spur zu sein, die genau seinen Geschmack traf.
Arno Rotmann war seit mehr als zwanzig Jahren Richter am Landgericht Leipzig gewesen, hatte viele Kriminalfälle verhandelt, wurde von seinen Kollegen für seine besonnene Art geschätzt, sprach aber Tacheles mit allen Beteiligten, um einen Prozess voranzutreiben. Insofern passte seine direkte Ansage im Prozess gegen den Paten ins Bild.
Die Obduktion des Mannes hatte ergeben, dass er – abgesehen von den diversen Schusswunden – einige Besonderheiten unter seiner Haut verbarg. Die Sehnen seiner rechten Hand und linken Hand waren gereizt, die Haut an den Fingern und die Gelenke zeigten deutliche Spuren der Überbeanspruchung.
»Er hat exzessiv das Schießen geübt«, folgerte Tycho halblaut und scrollte. »Kein Waffenschein. Er besorgte sich eine Pistole und Munition und spielte den Ablauf im Gerichtssaal durch.«
»Es war eine Makarow. Ein gängiges osteuropäisches Modell, leicht zu beschaffen, gerade an der Grenze«, kommentierte Elisabeth.
»Du hättest sehen sollen, wie souverän er agierte. Ich glaubte glatt, dass Rotmann jahrelanges Mitglied eines Schützenvereins ist.« Er scrollte weiter. »Sein Blut war voller illegaler Aufputschmittel, die er wohl nahm, um durchzuhalten.«
»Wegen seiner Krankheit«, warf sie kauend ein.
»Ohne diesen Cocktail hätte er sich kaum bewegen können, ohne vor Schmerzen zu schreien. Multiple Sklerose und Lymphdrüsenkrebs.« Tycho streifte die halblangen, grauen Haare zurück und überlegte. »Ein Richter, der weiß, dass er bald stirbt, besorgt sich eine Knarre und Munition, übt vermutlich an einem abgelegenen Ort, um im Prozess Verbrecher zu erschießen.«
»Bislang kannte man das nur aus Serien.« Elisabeth schlürfte laut am Kaffee. »Finale Grande. So nenne ich es.«
»Du bist so eine schöne Frau – würdest du bitte keine unschönen Geräusche machen?«, sagte er liebevoll. Es hatte Jahre gedauert, bis er herausfand, dass er selbst an Misophonie litt: Er hasste Kau- und Essgeräusch, Niesen und Schniefen, manchmal sogar das Atmen, ganz gleich, wer es fabrizierte. Nur mit äußerster Beherrschung gelang es ihm, seine Abscheu in Grenzen zu halten. Ein Krankheitsbild, entstanden in Teenager-Tagen, und es gab wenig Hoffnung, dass es wieder verschwand.
»Soll ich dich Papa nennen?«
Tycho ließ die Musik lauter erklingen. »Das Finale Grande würde passen, wenn er in die Riege der Hardliner gehört hätte. Doch er war besonnen.«
»Und so gut wie tot«, beharrte sie. »Warum nicht ein Abgang mit Gerechtigkeit? Du solltest hören, wie man bei uns von ihm spricht. Sie nennen ihn einen Helden, der dem Steuerzahler viel Geld gespart hat. Und die Straßen seien jetzt sauberer.«
Tycho konnte sich vorstellen, dass man Rotmann gerne ein Denkmal setzen würde. »Die Munition war was Besonderes«, sagte Elisabeth. »Es sind sogenannte Manstopper-Projektile. Sie zerbrechen oder verformen sich sofort, sobald sie in den Körper eingedrungen sind. Damit reduziert sich die Geschwindigkeit, und es soll verhindert werden, dass sie aus dem Opfer austreten und Unschuldige verletzen.«
»Ähnlich wie Dumdumgeschosse.«
»Ungefähr. Sie waren nicht selbst gemacht. Wir hören uns gerade um, wer so etwas besorgen kann.«
Tycho deutete auf die Liste mit Aufputschmitteln. »Und die hier?«
»Mit Geld ist vieles möglich.«
»Daran kommt garantiert kein Hausarzt: Methamphetamine, Schmerzkiller, diverse Morphium-Derivate und brutalste Aufputschmittel, die man in Drogenlaboren hochzüchtet.« Er sah sie an. »Er hat sich auf den Punkt für diesen Tag vorbereitet.«
»Er oder jemand?«, ergänzte Elisabeth aus Spaß, sah ihm aber an, dass er den Gedanken bereits gehabt hatte. »Oh, nein. Was heckst du schon wieder aus?«
Tycho lächelte sie hinreißend an. »Kannst du mich in seine Wohnung bringen, Frau Oberkommissarin? Ich würde mich gerne umsehen. Die Kriminaltechniker sind doch schon lange fertig. Danach darfst du zum Dienst.«
Elisabeth bedachte ihn mit tödlichen Blicken. »Du bringst mich jedes Mal in Schwierigkeiten.« Sie zeigte auf das Tablet. »Reicht dir das nicht?«
»Es ist niemals genug.« Er prostete ihr mit dem Kaffee zu. »Ich sorge dafür, dass man dich befördert, wenn ich den Fall löse.«
»Auf die Straße wird man mich befördern«, grummelte sie und erhob sich. »Ich ziehe mich an, und dann fahre ich dich rasch hin.«
Tycho warf ihr eine Kusshand zu, was Elisabeth aber nicht mitbekam, weil sie sich schon umdrehte.
Die unsichtbare Liebesbekundung segelte an ihr vorbei und klatschte in seiner Vorstellung gegen den Paravent, hinter dem die riesige Glaskabine der Dusche stand.
Welch trauriges Ende für einen Kuss. Er nippte an der Tasse, während Elisabeth hinter dem Sichtschutz verschwand, und las das Dossier erneut. Rotmanns Geheimnisse mussten von ihm aufgedeckt werden.
Da war zum Beispiel der Vermerk des Gerichtsmediziners, dass er bei der Obduktion mehrere alte Tätowierungen gefunden hatte: ein Anker am linken Unterschenkel, ein Frauenname an einem Baum auf der linken Brust. Dem Anschein nach verbrachten die Bilder schon mehr als dreißig Jahre in seiner Haut. Und es fanden sich Spuren einer frischen, sehr kleinen Zeichnung am rechten Arm.
Dummerweise war die Kugel einer Maschinenpistole hindurchgefetzt und hatte die Haut zerstört. Von dem neu gestochenen Motiv blieb lediglich die Eintragung des Arztes, dass grüne und schwarze Farbe verwendet worden war. Eine Analyse der Inhaltsstoffe hatte er sich erspart.
Tycho sah aus dem Fenster und verfolgte das Wolkenspiel über Leipzig.
Wäre es nicht ein netter Gedanke, wenn bestimmte Farben nach einer gewissen Zeit Wirkstoffe freisetzen, die eine Bewusstseinsveränderung herbeiführen? Tätowierte würden süchtig nach weiteren Motiven oder Amok laufen, wenn sie keine weiteren Motive bekämen. Verzögerte Wirkstofffreisetzung wie bei den kleinen Gelbkörperhormonstäbchen, die sich Frauen einsetzen ließen, anstatt die Pille zu schlucken.
Sollte ich mir patentieren lassen.
Das Duschwasser rauschte, Elisabeth sang laut einen Song, der aktuell im Radio dudelte.
Tycho grübelte, weswegen sich der Richter vor seinem spektakulären Abschied ein Tattoo hatte stechen lassen. Zu gerne kennte er das Motiv, das Foto des Berichts ließ nicht mal eine Vermutung zu. Ihm blieb die Hoffnung, in der Wohnung von Arno Rotmann mehr zu finden.
Deutschland, Sachsen, Leipzig
Tycho streifte durch das Appartement, das Arno Rotmann gehört hatte. Es lag im dritten Geschoss eines Gebäudes mit Eigentumswohnungen in der Sebastian-Bach-Straße im Bachviertel. Vier Zimmer, Küche, Bad, beste Lage, beste Ausstattung, bester Preis.
Elisabeth hatte ihm ein neues Siegel in die Hand gedrückt, das er später an der Wohnungstür anbringen sollte, und sich zur Arbeit verabschiedet. »Sollte man dich schnappen, habe ich damit nichts zu tun«, schärfte sie ihm ein, und er nickte natürlich. So weit käme es noch, seine Lebensgefährtin mit hineinzureißen.
Tycho atmete tief ein. Der Richter war Nichtraucher gewesen, es lag ein Hauch von Männerparfüm in der Luft; Küchengerüche fehlten vollständig. Der Tote hatte es gediegen gemocht, stilvoll, doch nicht zu modern, dunkler gebeiztes Holz, Sessel, viele Bücher und eine hochwertige Musikanlage, sogar ein eigener Weinkühlschrank fand sich.
Die Beamten hatten bei der Durchsuchung darauf geachtet, kein Chaos zu hinterlassen, aber Tycho erkannte sofort, dass sämtliche Schränke und Ablagen von Unbekannten durchforstet worden waren, ohne die Gegenstände danach an ihre ursprüngliche Lage zurückzuversetzen.
Die Geräusche aus der Straßenschlucht stiegen hinauf und waberten an den Fenstern vorbei, drangen leise an Tychos Ohr. Wonach er Ausschau hielt, wusste er nicht. Er vertraute darauf, dass ihm etwas ins Auge sprang, das ihm Aufschluss über Rotmanns radikales Verhalten ermöglichte. Er schlenderte umher, die Blicke wanderten über alles, die Gedanken schweiften.
Es gab inzwischen Vermutungen im Internet, dass jemand den Richter ausgebildet und gezwungen hätte, die bekannten, mächtigen Verbrecher auszuschalten – eine größere Mafiaorganisation aus dem Ausland, die Leipzig übernehmen wollte. Tycho hielt dies für unsinnig.
Die tödliche Erkrankung des Mannes war noch nicht publik geworden. Sollte dies mit der Kunde über den Drogencocktail im Blut die Runde machen, würde man weitere schwachsinnige Theorien über Rotmann in die Welt setzen.
Und wenn er schlicht einen filmreifen Rächer-Abgang haben wollte? Tycho entdeckte nichts Besonderes in den Räumen, sooft er hin und her wanderte. Sollte es doch so einfach sein?
Etwas in ihm sträubte sich gegen diese Erklärung, auch wenn es nicht auszuschließen war, gerade mit dem Hintergrund der persönlichkeitsverändernden Substanzen im Blut des Richters, die ihn unberechenbar machen konnten.
Tycho setzte sich an den Schreibtisch des Mannes und zog die Lederhandschuhe an, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Eine Schublade nach der anderen wurde von ihm geöffnet und gemächlich geprüft.
Doch es wirkte alles furchtbar normal und unauffällig. Weder gab es größere Geldeingänge noch -abgänge in den Unterlagen, keine riesigen Anschaffungen und keine kryptischen, hingekritzelten Notizen oder Memos, Schließfachnummern oder Zugangsdaten für Websites.
Unzufrieden machte sich Tycho an die Durchsuchung der restlichen Wohnung. Aber Rotmann führte anscheinend ein überschaubares Leben, das von seinem Beruf eingenommen wurde, wie die Unzahl von Fachliteratur in den Regalen bewies.
Der letzte erkennbare Urlaub war ein halbes Jahr her, wie die Fotos und die Hotelbuchung bewiesen. Er hatte sich fünf Tage in Wien aufgehalten und mehrere eindrucksvolle Gebäude und Kirchen von innen und außen fotografiert, die Tycho nichts sagten. Dazu kannte er sich zu wenig mit dieser Stadt aus. Anbei war die Anschrift eines Arztes im Ersten Bezirk notiert. Hatte er ihn wegen seiner Krankheit konsultiert? Ein Freund?
Oder verschaffte er Rotmann die Mittel? Es wäre halbwegs gewagt, mit einem Sack voller illegaler Substanzen über die Grenze zu fahren. Doch die Kontrollen fanden heutzutage so gut wie nicht mehr statt.
Tycho notierte sich die Anschrift und setzte das Suchen fort, ohne auf Ungewöhnliches zu stoßen – was ihn sehr grämte. Schließlich machte er sich sogar die Mühe, die Bücher durchzublättern. Ohne Resultat.
Drei Stunden später verließ er das Appartement und brachte das Polizeisiegel an, ging zum Fahrstuhl und fuhr nach unten.
Mist. Wenigstens die Nummer des Tätowierladens hätte er gerne in Erfahrung gebracht, doch diese blieb im Dunkeln. Theoretisch müsste er jeden Leipziger Hautbemaler aufsuchen, das Bild vorzeigen und fragen, ob der Richter da gewesen sei. Auszuschließen war jedoch nicht, dass Rotmann die neue Zeichnung in einer anderen Stadt hatte machen lassen.
Der Lift hielt an.
Tycho verließ die Kabine und trat ins Freie, wo ihn die Menschenmenge bei schönstem Wetter umspülte.
Es roch nach Bratwurst, nach Frühlingsblumen, und irgendwo spielten die unvermeidlichen Straßenmusiker einen Song, den Tycho nicht erkannte. Die Leipziger Welt folgte dem alten Trott, ihr waren die Toten im Landgericht gleichgültig.
Aber mir nicht. Er erstand einen Kaffee zum Mitnehmen, grübelte und schritt langsam in Richtung Marktplatz. Er weigerte sich, das Einfache anzunehmen.
Tycho ging in Gedanken den Verhandlungstag durch, den Ablauf der Hinrichtungen, die Rotmann mit exakten Bewegungen vorgenommen hatte. Kein Fehlschuss, keine Hektik, nur unbändiger Wille und Drogen, die ihn durchhalten ließen.
Was sagte er, bevor sie ihn erschossen? Es kostete ihn keine Mühe, sich an die letzten Worte zu erinnern. Er hatte sie sich gleich aufgeschrieben, um sie bloß nicht zu vergessen.
Gott mit uns.
Mehr besiegt, als ich dachte.
Er sagte: besiegt. Man besiegte Gegenspieler und Feinde.
Die Formulierung sprach für die Abrechnungs- beziehungsweise Gerechtigkeitstheorie, kurz vor dem Tod wenigstens die größten Arschlöcher umzubringen, da die Justiz sie nicht zu fassen bekam.
Rotmann hatte offenkundig nicht damit gerechnet, mehr als Anissimow und Bilunov zu erwischen. Vermutlich waren der Horák und die HellHounds willkommene Zugaben gewesen.
Dann die Formulierung Gott mit uns.
Tycho setzte sich auf den sonnengewärmten Sandstein des S-Bahn-Eingangs und nahm sein Smartphone heraus, prüfte den Satz auf die Schnelle. Es gab jede Menge Hinweise auf die Herkunft.
Zurückgeführt wurde Gott mit uns auf die Übersetzung eines biblischen Spruchs. Seit 1701 war es als Wahlspruch des preußischen Königshauses genutzt worden, darüber hinaus griff der deutsche Kaiser darauf zurück; diverses Militär riss sich Gott mit uns unter den Nagel, inklusive Reichswehr und Wehrmacht.
Die Truppen des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf schrien es ihren Feinden ebenso entgegen wie die Brandenburger während des Dreißigjährigen Krieges.
Angeblich fand sich der Spruch auch auf dem Völkerschlachtdenkmal über der Statue des Erzengels Michael. Ach? Tycho stutzte.
Er nippte am Kaffee und versuchte, beim Schlucken keine Geräusche zu machen. Was er von anderen verlangte, galt für ihn erst recht.
War Rotmann ein harmloser Fan des preußischen Königshauses gewesen oder doch ein militaristischer Hardliner oder ein kundiger Besucher des Völkerschlachtdenkmals, der den Spruch passend zu seinem Abgang fand?
Tycho schloss die Augen und drehte das Gesicht in die Sonne. Er war mit dem Fall noch lange nicht fertig.
Jeder hat ein Geheimnis.
Deutschland, Berlin, Berlin-Mitte, Unter den Linden
»Hast du das gelesen, Enrico? Das geht ja in deinem Wahlkreis ganz schön ab.«
»Haben sich die Assis wieder gegenseitig umgebracht?« Enrico Johann von der Osten saß mit seinem Assistenten Fred Riedelmayer im Café Zweistein und wühlte ungerührt in der zentimeterdicken Vorlage, über die am Abend im Bundestag abgestimmt werden sollte. Ein Bote hatte ihm den Packen vorhin ins Büro gebracht, eingeschweißt.
Riedelmayer hielt ihm ein Tablet hin, sodass er das Bild sah: ein blutverschmierter Gerichtssaal, viele Beweismarker am Boden. Darüber stand: Judge Dredd säubert Leipzig.
Von der Osten schlug die Vorlage zu und nahm das Gerät, scrollte und las quer, dann pfiff er durch die Zähne. »Der alte Rotmann. Leck mich am Arsch.« Er gab das Gerät zurück und rückte die Sonnenbrille zurecht.
Sie saßen im Freien, die Passanten trieben an ihnen vorbei, manche verrenkten sich die Hälse, um einen Blick in das Café hineinzuwerfen. Es war bekannt, dass sich Regierungsmitglieder und Minister sowie Ministerinnen darin trafen, auch um Dinge außerparlamentarisch zu regeln.
Von der Osten saß seit achtzehn Jahren im Bundestag, aber ihn erkannte niemand. Der perfekte Mann der dritten Reihe, der Delegierte und Bälle in der Luft hielt, während Minister und Kanzler kamen und gingen. Er fand es entspannend, nicht angestarrt zu werden.
»Kanntest du ihn?«, erkundigte sich Riedelmayer.