Maigret und die Keller des Majestic - Georges Simenon - E-Book

Maigret und die Keller des Majestic E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Als die Leiche von Mimi Clark, Gattin eines amerikanischen Industriellen, im Keller des Luxushotels Majestic an den Champs-Élysées gefunden wird, fällt der Verdacht schnell auf einen der Angestellten. Kommissar Maigret aber hat Zweifel und nimmt in den Katakomben des Hotels Ermittlungen auf, die das Personal zermürben. Dann führt ihn eine Spur in Mimis Vergangenheit, als sie noch Animierdame in einem Nachtclub in Cannes war. Und plötzlich wird eine zweite Leiche im Hotelkeller gefunden ... Maigrets 20. Fall spielt rings um die Champs-Élysées, im Bois de Boulogne und in Cannes.

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Der 20. Fall

Georges Simenon

Maigret und die Keller des Majestic

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Cornelia Künne

Kampa

1Prosper Donges Fahrradreifen

Eine Autotür schlug zu. Das war immer das erste Geräusch am Morgen. Der Motor lief weiter. Wahrscheinlich gab Charlotte dem Fahrer die Hand. Dann entfernte sich das Taxi. Schritte. Der Schlüssel im Schloss, der Lichtschalter.

Aus der Küche hörte man, wie ein Streichholz angezündet wurde und das Gas mit einem »Pfffttt« aufflammte.

Langsam kam Charlotte die noch neue Treppe herauf, wie jemand, der die ganze Nacht auf den Beinen gewesen ist. Leise betrat sie das Schlafzimmer. Wieder wurde ein Lichtschalter angeknipst, und eine Glühbirne ging an, über der als Schirm nur ein rosa Taschentuch mit Holzeicheln an den vier Ecken hing.

Prosper Donge schlug die Augen nicht auf. Charlotte zog sich aus und betrachtete sich dabei im Schrankspiegel. Als sie ihr Korsett aufhakte und ihren Hüftgürtel abnahm, seufzte sie. Sie war dick und rosig wie die Frauen auf den Bildern von Rubens, aber sie hatte diese Marotte, sich einzuschnüren. Als sie nackt war, rieb sie sich das Fleisch an den vielen Druckstellen.

Sie hatte eine unschöne Art, ins Bett zu steigen: Sie kniete sich zuerst darauf, wodurch sich die Matratze zu einer Seite senkte.

»Du bist dran, Prosper!«

Er stand auf. Schnell schmiegte sie sich in die warme Kuhle, die er hinterlassen hatte, zog sich die Decke über den Kopf und rührte sich nicht mehr.

»Regnet es?«, fragte er, während er Wasser in die Waschschüssel goss.

Ein vages Brummen. Es spielte keine Rolle. Das Wasser, mit dem er sich rasierte, war eisig. Man hörte Züge vorbeifahren.

Prosper Donge zog sich an. Hin und wieder seufzte Charlotte, weil sie nicht einschlafen konnte, solange das Licht brannte. Als er mit der linken Hand schon nach der Türklinke griff und den rechten Arm zum Lichtschalter ausstreckte, sagte sie mit träger Stimme:

»Vergiss nicht, die Rate für das Radio zu bezahlen.«

Der Kaffee auf dem Gasherd in der Küche war heiß, zu heiß. Er trank ihn im Stehen. Dann wickelte er sich, wie jemand, der jeden Tag zur gleichen Zeit die gleichen Handgriffe macht, einen Wollschal um den Hals, zog seinen Mantel an, setzte seine Mütze auf, nahm sein Rad, das im Flur stand, und schob es auf die Straße hinaus.

Zu dieser Uhrzeit schlug ihm draußen immer kalte, feuchte Luft entgegen; das Pflaster war nass, obwohl es nicht geregnet hatte. Die Leute, die jetzt noch hinter den geschlossenen Läden schliefen, würden wahrscheinlich nur einen sonnigen, milden Tag erleben.

Die von kleinen Häusern und Gärtchen gesäumte Straße fiel steil ab. Manchmal sah man zwischen zwei Bäumen, wie tief in einer Schlucht, die Lichter von Paris aufblitzen.

Es war nicht mehr Nacht, aber es war auch noch nicht Tag. Die Luft war lilagrau. Hinter einigen Fenstern ging Licht an. Prosper Donge trat auf die Bremse, bevor er den Bahnübergang erreichte, der geschlossen war. Er überquerte ihn durch die kleinen Seitentüren.

Hinter der Brücke von Saint-Cloud bog er links ab. Ein Schlepper mit einer ganzen Kette von Lastkähnen hinter sich hupte wütend vor der Schleuse um Durchlass.

Der Bois de Boulogne … Die Seen, in denen sich ein blasser Himmel spiegelte, die Schwäne, die gerade erwachten …

Als Donge an der Porte Dauphine anlangte, war der Boden unter seinen Rädern plötzlich härter. Er fuhr noch einige Meter weiter, sprang dann ab und stellte fest, dass sein Hinterreifen platt war.

Er sah auf seine Uhr. Es war zehn vor sechs. Sein Rad schiebend, ging er schnell zu Fuß weiter und hatte dabei eine kleine Wolke vor den Lippen, während ihm von der Anstrengung immer heißer wurde.

Avenue Foch … Geschlossene Läden an allen Villen. Nur ein höherer Offizier trabte gefolgt von seinem Burschen über den Reitweg …

Hinter dem Arc de Triomphe wurde es hell. Er beeilte sich … Ihm wurde wirklich heiß …

Genau an der Ecke der Champs-Élysées neben dem Zeitungskiosk stand ein Polizist in Pelerine und rief ihm zu:

»Einen Platten?«

Er nickte. Noch dreihundert Meter. Links das Hôtel Majestic, dessen Rollläden noch alle geschlossen waren. Die Straßenlaternen hatten ihre Leuchtkraft schon fast verloren.

Er bog in die Rue de Berri ein, und dann in die Rue de Ponthieu. Eine kleine Bar war geöffnet. Zwei Häuser weiter befand sich eine Tür, die Passanten nie auffiel: der Personal- und Lieferanteneingang des Majestic.

Ein Mann kam heraus. Man ahnte, dass er unter seinem grauen Mantel einen Frack trug. Er war barhäuptig, sein Haar voller Pomade, und Prosper Donge meinte in ihm den Tänzer Zebio zu erkennen.

Er hätte einen Blick in die Bar werfen und sich vergewissern können, aber der Gedanke kam ihm nicht. Immer noch sein Rad schiebend, betrat er den langen grauen Flur, in dem eine einzige Lampe brannte. Er blieb vor der Stechuhr stehen, drehte die Kurbel bis zu seiner Nummer, der 67, steckte seine Karte hinein und blickte auf die Uhr des Apparats, die zehn nach sechs zeigte. Ein Klicken.

Damit stand fest, dass er das Majestic um zehn nach sechs, zehn Minuten später als sonst, betreten hatte.

 

So sagte es Prosper Donge, der Chef der Kaffeeküche des Luxushotels an den Champs-Élysées, jedenfalls später aus.

Im Folgenden, versicherte er, habe er sich genauso verhalten wie an jedem anderen Morgen.

Zu dieser Stunde war keine Seele in dem riesigen Kellergeschoss mit den verwinkelten Fluren, den vielen Türen, den Wänden, die wie in einem Frachter grau gestrichen waren. Durch die Glaswände sah man nur hier und dort die schwachen Glühbirnen der Nachtbeleuchtung.

Alles war verglast, die Küchen zur Linken und dann die Backstube. Gegenüber befand sich der sogenannte Kuriersaal, der Speiseraum für die höheren Hotelangestellten und das Personal der Gäste, für die Zimmermädchen und Chauffeure.

Ein Stück weiter lag der Speisesaal des gewöhnlichen Personals mit langen, blank gescheuerten Holztischen und Bänken, die an Schulbänke erinnerten.

Schließlich war da noch ein kleinerer Glaskäfig, der dieses Kellerreich wie die Kommandobrücke eines Schiffes überragte: der Platz des Buchhalters, dessen Aufgabe es war, die Bons für alles, was aus den Küchen kam, entgegenzunehmen und aufzuspießen.

Als Prosper Donge die Tür zur Kaffeeküche öffnete, hatte er den Eindruck, dass jemand die enge Treppe hinaufging, die in die oberen Stockwerke führte, aber er achtete nicht weiter darauf. Jedenfalls erklärte er das später bei der Vernehmung.

Wie Charlotte beim Nachhausekommen zündete nun auch er ein Streichholz an, und das Gas unter der kleinsten Kaffeemaschine, die er als erste für die wenigen Frühaufsteher ansteckte, machte »Pfffttt«.

Erst dann ging er in den Umkleideraum. Es war ein ziemlich großer Raum, der an einem der Flure lag. Dort gab es mehrere Waschbecken, einen blinden Spiegel, und an den Wänden erstreckten sich hohe, schmale Metallspinde, von denen jeder eine Nummer trug.

Mit seinem Schlüssel öffnete er Spind 67. Er legte Mantel, Schal und Mütze ab und wechselte die Schuhe, denn zur Arbeit trug er lieber weiche Schuhe mit Gummisohlen. Dann streifte er eine weiße Jacke über.

Noch ein paar Minuten … Um halb sieben begann es im Keller lebendig zu werden.

Oben schlief noch alles – außer dem Nachtportier, der in der verlassenen Hotelhalle auf seine Ablösung wartete.

Die Kaffeemaschine pfiff. Donge füllte eine Tasse mit Kaffee und ging die Treppe hinauf, die jenen geheimnisvollen Treppen hinter den Kulissen der Theater ähnelte, die an gänzlich unerwartete Orte führen.

Nachdem er eine schmale Tür aufgestoßen hatte, befand er sich in der Garderobe der Hotelhalle. Niemand hätte hinter dem großen Spiegel, der sie verdeckte, eine Tür vermutet.

»Kaffee!«, verkündete er und stellte die Tasse auf die Theke. »Geht’s gut?«

»Es geht«, brummte der Nachtportier.

Donge stieg wieder hinunter. Seine drei Frauen, die »drei Dicken«, wie man sie nannte, waren inzwischen da. Es waren Frauen aus dem Volk, alle drei hässlich und eine von ihnen alt und streitsüchtig. Sie klapperten beim Spülen bereits mit Tassen und Untertassen.

Donge selbst verrichtete die gleichen Arbeiten wie jeden Tag, ordnete die silbernen Kaffeekännchen der Größe nach für eine Tasse, für zwei Tassen, für drei Tassen … dann die Milchkännchen und die Teekannen.

Er sah den Buchhalter Jean Ramuel in seiner Glasloge sitzen, sah, dass er ungekämmt war.

Ach, der hat wieder hier geschlafen, dachte er.

Schon seit drei oder vier Nächten schlief Ramuel im Hotel, statt nach Hause in seine Wohnung am Montparnasse zu gehen.

Eigentlich war das verboten. Ganz hinten im Flur, neben der Tür, die die Treppe zum unteren Kellergeschoss verbarg, wo der Wein lagerte, gab es zwar einen Raum mit drei oder vier Betten, aber diese waren eigentlich für die Angestellten gedacht, die sich zwischen den Stoßzeiten ein wenig ausruhen wollten.

Donge grüßte Ramuel mit der Hand, der ihm ebenfalls zuwinkte.

Bald darauf kehrte der Küchenchef, ein riesiger Mann, der sich sehr wichtig nahm, mit einem Lastwagen von den Markthallen zurück. Der Wagen hielt in der Rue de Ponthieu, und seine Gehilfen luden ab.

Um halb acht hasteten bereits mindestens dreißig Leute in den Kellern des Majestic umher, und man hörte es immer öfter klingeln. Die Speiseaufzüge kamen herunter, hielten an und fuhren mit Tabletts wieder hinauf, während Ramuel weiße, blaue und rosa Bons auf die Eisenspitzen spießte, die auf seinem Tisch standen.

Um diese Zeit nahm der Tagesportier in hellblauer Livree die Hotelhalle in Besitz, und der mit der Post betraute Angestellte sortierte die Briefe. Auf den Champs-Élysées schien vermutlich die Sonne, aber im Untergeschoss bemerkte man nur die vorüberfahrenden Busse, die die Wände erbeben ließen.

Wenige Minuten nach neun – um neun Uhr vier, wie man später feststellte – verließ Prosper Donge die Kaffeeküche und betrat einige Sekunden später den Umkleideraum.

»Ich hatte mein Taschentuch im Mantel vergessen«, erklärte er beim Verhör.

Jedenfalls befand er sich allein in dem Raum mit den hundert Metallspinden. Öffnete er seinen? Niemand war sein Zeuge. Nahm er sein Taschentuch heraus? Vielleicht.

Es waren übrigens nicht ganz hundert, sondern zweiundneunzig Spinde. Die letzten fünf waren leer.

Warum kam Prosper Donge auf den Gedanken, Spind 89 zu öffnen, der von niemandem benutzt wurde und deshalb auch nicht abgeschlossen war?

»Das geschah ganz mechanisch«, versicherte er. »Die Tür stand ein wenig offen. Ich habe nicht darüber nachgedacht …«

In diesem Spind aber war eine Leiche. Vermutlich hatte man sie aufrecht hineingeschoben, und dann war sie zusammengesackt. Es war eine Frau von etwa dreißig Jahren, sehr blond – ein künstliches Blond im Übrigen – in einem Kleid aus feiner schwarzer Wolle.

Donge schrie nicht auf. Kreidebleich ging er zu Ramuels Glaskäfig und beugte sich vor, um mit ihm durch den Schalter zu sprechen.

»Bitte kommen Sie …«

Der Buchhalter folgte ihm.

»Bleiben Sie hier. Lassen Sie niemanden herein …«

Ramuel rannte die Treppe zur Garderobe der Hotelhalle hinauf und rief den Portier, der sich gerade mit einem Chauffeur unterhielt.

»Ist der Direktor schon da?«

Der Portier deutete mit dem Kinn auf das Büro der Direktion.

 

Maigret wollte vor der Drehtür schon seine Pfeife am Absatz ausklopfen, aber dann zuckte er mit den Schultern und steckte sie wieder in den Mund. Die erste am Morgen war immer die beste.

»Der Direktor erwartet Sie, Herr Kommissar.«

In der Hotelhalle war es noch ziemlich ruhig. Ein Engländer sprach mit dem Angestellten, der für die Post verantwortlich war, und ein Mädchen stakste auf langen, dünnen Beinen vorbei, einen Hutkarton in der Hand, den es sicherlich abliefern sollte.

Maigret ging zum Direktor hinein, der ihm wortlos die Hand reichte und auf einen Sessel deutete. Ein grüner Vorhang verhüllte die Glastür, aber man brauchte ihn nur ein wenig zur Seite zu schieben, um alles sehen zu können, was in der Hotelhalle vor sich ging.

»Zigarre?«

»Danke …«

Sie kannten sich schon lange und mussten nicht viele Worte machen. Der Direktor trug eine gestreifte Hose, ein schwarzes Jackett mit einer Litze am Revers und eine Krawatte, die aus einem steifen Material zu bestehen schien.

»Hier …«

Er schob Maigret einen Meldezettel des Hotels zu.

Oswald J. Clark, Industrieller in Detroit, Michigan (USA).

Ankunft: 12. Februar aus Detroit.

Begleitet von: Mrs. Clark, seiner Gattin; Teddy Clark, seinem Sohn, sieben Jahre alt; Ellen Darroman, Lehrerin, vierundzwanzig Jahre alt; Gertrud Borms, Kinderfrau, zweiundvierzig Jahre alt.

Appartement 203.

Das Telefon läutete. Der Direktor meldete sich ungeduldig. Maigret faltete den Zettel vierfach und steckte ihn in seine Brieftasche.

»Wer ist es?«

»Mrs. Clark.«

»Ah!«

»Der Hotelarzt, den ich sofort angerufen habe, nachdem ich die Kriminalpolizei benachrichtigt hatte, ist schon unten. Er wohnt ganz in der Nähe, in der Rue de Berri. Er behauptet, Mrs. Clark sei zwischen sechs und halb sieben Uhr früh erdrosselt worden.«

Der Direktor war düsterer Stimmung. Unnötig, einem Mann wie Maigret zu sagen, dass das Ganze eine Katastrophe für das Hotel war und dass, wenn es irgendeine Möglichkeit gab, die Angelegenheit totzuschweigen …

»Familie Clark ist also schon vor acht Tagen angekommen«, murmelte der Kommissar. »Was sind das für Leute?«

»Sehr anständig … sehr anständig. Er ist ein großer, kühler Amerikaner in den Vierzigern, vielleicht fünfundvierzig … Seine Frau – die Unglückliche! – muss französischer Abstammung sein. Achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre alt. Ich habe sie nur selten gesehen … Die Lehrerin ist hübsch … Die Kinderfrau ist nicht sehr sympathisch … Ach, ich hätte fast vergessen, Ihnen zu sagen, dass Clark gestern früh nach Rom gereist ist.«

»Allein?«

»Soweit ich verstanden habe, hält er sich geschäftlich in Europa auf. Er besitzt eine Kugellagerfabrik und muss in alle großen Städte fahren. Seine Frau, sein Sohn und das Personal sollen solange in Paris bleiben.«

»Mit welchem Zug ist er gefahren?«, fragte Maigret.

Der Direktor nahm den Telefonhörer ab.

»Hallo! Portier? … Welchen Zug hat Monsieur Clark gestern genommen? Ja, Appartement 203 … Haben Sie kein Gepäck zum Bahnhof bringen lassen? … Er hat nur eine Reisetasche mitgenommen? … Im Taxi? … In Désirés Taxi? … Danke.

Haben Sie verstanden, Herr Kommissar? Er ist gestern Vormittag um elf mit dem Taxi weggefahren, mit dem Taxi von Désiré, das fast immer vor dem Hotel steht. Er hatte nur eine Reisetasche bei sich …«

»Darf ich auch kurz telefonieren? … Hallo! Die Kriminalpolizei, bitte, Mademoiselle … Kriminalpolizei? … Lucas? … Fahr sofort zur Gare de Lyon … Erkundige dich nach den Zügen in Richtung Rom seit gestern früh elf Uhr …«

Er gab weitere Instruktionen, worüber seine Pfeife ausging.

»Sag Torrence, er soll das Taxi von Désiré ausfindig machen … Ja … Es steht für gewöhnlich vor dem Majestic … Er soll ihn fragen, wohin er den großen Amerikaner gefahren hat, der gestern hier vorm Hotel eingestiegen ist … Natürlich.«

Er spähte nach einem Aschenbecher, um seine Pfeife zu leeren. Der Direktor reichte ihm einen.

»Möchten Sie wirklich keine Zigarre? … Die Kinderfrau ist ganz außer sich … Ich hielt es für richtig, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass … Die Lehrerin hat letzte Nacht gar nicht im Hotel geschlafen.«

»In welcher Etage ist das Appartement?«

»In der zweiten … Mit Blick auf die Champs-Élysées … Monsieur Clarks Schlafzimmer ist von dem seiner Frau durch einen Salon getrennt, und daran schließen sich das Zimmer des Jungen an, das der Kinderfrau und das der Lehrerin … Sie haben selbst nach angrenzenden Zimmer verlangt …«

»Ist der Nachtportier noch da?«

»Man kann ihn telefonisch erreichen. Seine Frau ist Concierge in einem Neubau in Neuilly … Hallo, verbinden Sie mich bitte mit …«

Fünf Minuten später wusste man, dass Mrs. Clark am Vorabend allein im Theater gewesen und wenige Minuten nach Mitternacht zurückgekommen war. Die Kinderfrau war nicht ausgegangen. Und die Lehrerin hatte weder im Hotel geschlafen noch dort zu Abend gegessen.

»Dann wollen wir mal hinuntergehen«, sagte Maigret mit einem Seufzen.

In der Halle ging es jetzt lebhafter zu, aber niemand ahnte etwas von dem Drama, das sich abgespielt hatte, als alle noch schliefen.

»Hier entlang … Darf ich vorgehen, Herr Kommissar?«

Im selben Augenblick runzelte der Direktor die Stirn. Begleitet von einem Sonnenstrahl, kam eine junge Frau in grauem Kostüm durch die Drehtür. Als sie am Postschalter vorbeiging, fragte sie auf Englisch:

»Nichts für mich?«

»Das ist sie, Herr Kommissar. Miss Ellen Darroman …«

Sie sah sehr korrekt aus, trug feine, gut sitzende Seidenstrümpfe und hatte offenbar sorgfältig Toilette gemacht. Keine Spur von Müdigkeit, ganz im Gegenteil, von der frischen Luft eines schönen Februarmorgens waren ihre Wangen leicht gerötet.

»Wollen Sie mit ihr sprechen?«

»Nicht sofort … Einen Augenblick …«

Maigret ging auf einen Inspektor zu, den er mitgebracht hatte und der in einer Ecke der Halle wartete.

»Lass dieses Fräulein nicht aus den Augen … Wenn sie auf ihr Zimmer geht, stell dich vor ihre Tür …«

Die Garderobe. Der große Spiegel drehte sich in seinen Angeln, und der Kommissar und der Direktor befanden sich auf der engen Treppe. Plötzlich war es vorbei mit den goldenen Verzierungen, den üppigen Grünpflanzen und dem eleganten Treiben. Küchengeruch stieg von unten herauf.

»Führt diese Treppe in alle Etagen?«

»Es gibt zwei Treppen, die vom zweiten Untergeschoss bis zu den Mansarden führen. Aber wer sie benutzt, muss sich im Haus auskennen. Auf den Etagen ist da nur eine kleine Tür wie jede andere, ohne Nummer, und ein Gast würde nie auf den Gedanken kommen …«

Es war fast elf. Nicht mehr fünfzig, sondern vielleicht hundertfünfzig Personen eilten jetzt im Kellergeschoss hin und her. Die einen mit weißer Kochmütze, die anderen im Kellnerfrack oder im Küferkittel, und dann gab es noch die Frauen, wie Prosper Donges »drei Dicke«, die die niederen Arbeiten verrichteten.

»Bitte hier entlang … Aber seien Sie vorsichtig, dass Sie sich nicht beschmutzen und nicht ausrutschen. Die Flure sind sehr schmal.«

Durch die Glaswände beobachteten alle den Direktor und vor allem den Kommissar. Jean Ramuel nahm die Bons entgegen, die man ihm reichte, und prüfte mit einem Blick, was auf den Tabletts stand.

Einen so unerwarteten wie verstörenden Anblick bot ein Polizist, der vor dem Umkleideraum Wache stand. Der Arzt, ein sehr junger Arzt, der von Maigrets Kommen unterrichtet worden war, rauchte eine Zigarette, während er wartete.

»Schließen Sie die Tür.«

Von Metallspinden umgeben lag die Leiche auf dem Fußboden. Der Arzt, der weiter rauchte, murmelte:

»Man hat sie von hinten gepackt … Sie hat sich nicht lange gewehrt …«

»Und die Leiche ist nicht über den Boden geschleift worden«, fügte Maigret hinzu, als er das schwarze Kleid der Toten untersuchte. »Kein Staubkorn zu sehen … Entweder ist das Verbrechen hier begangen worden, oder zwei Leute haben sie hierher getragen, denn im Labyrinth dieser engen Flure wäre es schwierig …«

In dem Spind, in dem man sie entdeckt hatte, lag eine Handtasche aus Krokodilleder. Der Kommissar öffnete sie, nahm einen automatischen Revolver heraus und steckte ihn in seine Tasche, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass er gesichert war. Ansonsten waren bloß noch ein Taschentuch, eine Puderdose und Banknoten im Wert von nicht einmal tausend Franc in der Handtasche.

Hinter ihnen summte es wie in einem Bienenkorb. Die Speiseaufzüge fuhren unaufhörlich auf und ab. Es klingelte in einem fort. Hinter den Glaswänden der Küchen rührte man in großen Kupfertöpfen und briet Dutzende von Hühnchen am Spieß.

»Bis die Staatsanwaltschaft eintrifft, darf hier nichts angefasst werden«, verfügte Maigret. »Wer hat sie gefunden?«

Man deutete auf Prosper Donge, der eine Kaffeemaschine putzte. Ein großer Mann mit karottenroten Haaren, vielleicht fünfundvierzig bis achtundvierzig Jahre alt. Er hatte blaue Augen und Blatternarben im ganzen Gesicht.

»Arbeitet er schon lange hier?«

»Seit fünf Jahren. Vorher war er im Miramar in Cannes.«

»Zuverlässig?«

»Die Zuverlässigkeit in Person.«

Eine Glasscheibe trennte Donge vom Kommissar. Durch diese Scheibe begegneten sich ihre Blicke. Dem Chef der Kaffeeküche, der wie alle Rothaarigen eine durchscheinende Haut hatte, schoss das Blut ins Gesicht.

»Verzeihung, Herr Direktor … Kommissar Maigret wird am Telefon verlangt.«

Jean Ramuel, der Buchhalter, war aus seinem Käfig hergelaufen.

»Sie können gleich hier telefonieren.«

Es war die Kriminalpolizei. Seit gestern um elf waren nur zwei Schnellzüge nach Rom gefahren. Oswald J. Clark hatte keinen von beiden genommen. Der Taxifahrer Désiré, den man telefonisch in seiner Stammkneipe hatte auftreiben können, hatte ausgesagt, dass er seinen Fahrgast am Vortag zum Hôtel Aiglon am Boulevard Montparnasse gefahren hatte.

Stimmen auf der Treppe, darunter die schrille Stimme einer jungen Frau, die sich auf Englisch mit einem Hausdiener stritt, der sie nicht durchlassen wollte.

Es war die Lehrerin, Ellen Darroman, die sich nicht aufhalten ließ.

2Maigret fährt Rad

Die Pfeife zwischen den Zähnen, die Hände in den Taschen seines großen Mantels mit dem legendären Samtkragen, die Melone ein wenig aus der Stirn geschoben, sah Maigret zu, wie sie ungestüm auf den Hoteldirektor einredete.

Und man brauchte den Kommissar nur anzusehen, um zu ahnen, dass zwischen ihm und Ellen Darroman kaum Sympathie entstehen würde.

»Was sagt sie?«, unterbrach er sie mit einem Seufzer, denn er verstand kein Wort von dem, was sie sagte.

»Sie fragt, ob es stimme, dass Mrs. Clark ermordet worden sei, ob man nach Rom telefoniert habe, um Oswald Clark zu benachrichtigen, und sie will wissen, wohin die Leiche gebracht worden ist und ob …«

Aber die junge Frau ließ den Direktor nicht ausreden. Ungeduldig und mit umwölkter Stirn hatte sie zugehört, Maigret dann einen alles andere als liebevollen Blick zugeworfen und redete jetzt wieder wie ein Wasserfall.

»Was sagt sie?«

»Ich soll sie zu der Leiche bringen und …«

Da ergriff Maigret sanft den Arm der Amerikanerin, um sie in den Umkleideraum zu führen. Er wusste, dass sie bei der Berührung zusammenzucken würde. Genau die Art von Frau, die ihn in amerikanischen Filmen auf die Palme brachte. Allein schon dieser energische Gang, entsetzlich! Durch die Glaswände starrte ihr das ganze Kellerpersonal nach.

»Treten Sie bitte ein«, murmelte der Kommissar mit einem Hauch Ironie.

Sie machte drei Schritte, blickte auf die verhüllte Gestalt am Boden, blieb stehen und redete dann von Neuem in ihrer Sprache.

»Was sagt sie?«

»Man möge die Decke von der Leiche nehmen.«

Maigret tat es, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er sah sie erschaudern, aber trotz des furchtbaren Anblicks nahm sie sofort wieder Haltung an.

»Fragen Sie sie, ob Sie Mrs. Clark erkennt …«

Ein Schulterzucken. Diese Unart, mit den hohen Absätzen auf den Boden zu hämmern!

»Was sagt sie?«

»Dass Sie es ebenso gut wissen wie sie.«

»Dann sagen Sie ihr bitte, sie möchte in Ihr Büro hinaufkommen, weil ich ihr einige Fragen zu stellen habe.«

Der Direktor übersetzte. Maigret deckte währenddessen das Gesicht der Toten wieder zu.

»Was sagt sie?«

»Sie will nicht.«

»Wie? Machen Sie sie bitte darauf aufmerksam, dass ich Chef der Kriminalpolizei …«

Ohne auf die Übersetzung zu warten, redete Ellen wieder los und sah Maigret dabei in die Augen. Der murmelte sein ewiges:

»Was sagt sie?«

»Was sagt sie?«, äffte sie ihn nach, mit einer kaum verzeihlichen Gereiztheit.

Dann redete sie wieder Englisch, aber fast wie zu sich selbst.

»Übersetzen Sie bitte, was sie sagt.«

»Sie sagt, dass … dass sie sehr wohl weiß, dass Sie von der Polizei sind, dass …«

»Nur keine Zurückhaltung.«

»Dass man nur den Hut auf Ihrem Kopf und die Pfeife in Ihrem Mund zu sehen braucht … Verzeihen Sie … aber Sie wollten ja, dass ich übersetze … Sie sagt, dass sie nicht in mein Büro hinaufgehen und Ihre Fragen nicht beantworten wird …«

»Warum nicht?«

»Das werde ich sie fragen.«

Ellen Darroman steckte sich eine Zigarette an, hörte dem Direktor zu, zuckte dann noch einmal mit den Schultern und erwiderte etwas.